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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1869
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[401]

No. 26.   1869.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Neue Sprüche.
Von Friedrich Bodenstedt.

     Alles Größte ist mir nichtig,
     Dem der Kern des Ew’gen fehlt;
     Alles Kleinste ist mir wichtig,
     Das der Schönheit sich vermählt.




Vielen ward ein trübes Loos,
Die durch Geist erfreun und Witz;
Nur aus dunkler Wolken Schooß
Flammt der Himmel seinen Blitz.




Ich drang aus tiefer Nacht zur Klarheit,
Da Herz und Geist mir Schwingen lieh;
Durch Poesie kam ich zur Wahrheit,
Durch Wahrheit auch zur Poesie.




Klug zu reden ist oft schwer;
Klug zu schweigen meist noch mehr.




Ueberall und allezeit
Machte sich die Dummheit breit;
Das unmenschliche Geschwätz
Straft kein menschliches Gesetz;
Darum sandte Gott die Dichter
Als der Menschheit höh’re Richter,
Nicht zu singen blos wenn’s mai’t,
Wie die Vögel in den Bäumen,
Sondern auch von Zeit zu Zeit
Mit der Dummheit aufzuräumen.




Dieses athemlose Fächeln,
Um Verlegenheit zu decken!
Dieses Wichtigthun, dies Lächeln,
Um die Dummheit zu verstecken!
Doch, gilt’s Andre durchzuhecheln,
Fremde Fehler zu entdecken:
Wie sie da geläufig reden
Ueber Alles, über Jeden!
Sind die Sel’gen auch wie Diese:
Lieber in der Hölle braten
Möcht’ ich, als im Paradiese
Unter solches Volk gerathen!




Wo Edles und Gemeines sich bekriegen,
Wird nur zu häufig das Gemeine siegen,
Weil ihm das schlecht’ste Mittel nicht zu schlecht ist,
Sein Ziel der Vortheil nur und nicht das Recht ist.




Wer voll Vertraun und Glauben ist,
Gilt als ein wunderlicher Christ;
Doch wer von Allen Schlechtes denkt,
Voll Mißtraun Schritt und Blicke lenkt,
Den preisen gern weltkluge Männer
Als Menschenkenner.




Du schüttelst Deinen Kopf und fragst gerührt:
„Hat man Dich wieder einmal angeführt?“
Ja, Freund, so ist’s, und das ist schlimm, allein
Muß denn einmal betrogen sein auf Erden,
So will ich lieber doch betrogen werden,
Als selber ein Betrüger sein.




Reichsgräfin Gisela.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


„Ihro Excellenz hat Recht, entrüstet zu sein, Herr von Oliveira,“ bekräftigte die Gräfin Schliersen hinzutretend mit ihrem boshaftesten Lächeln. „Daß diese wundervollen Thautropfen ohne Tadel sind, kann Ihnen jedes Kind im Lande sagen – es sind ja die berühmten gräflich Völdern’schen Familiendiamanten.… Zu ihrem hohen Ruf aber sind sie eigentlich erst gekommen, seit sich die schöne Völdern mit ihnen geschmückt hat – sie verstand es, Diamanten zu tragen.“ – Sie strich zärtlich über das aschblonde, in einen Silberschein hinüberspielende Haar Gisela’s. „Ich bin sehr begierig, wie diese junge, reizende Stirn unter dem Diadem da aussehen wird,“ setzte sie mit völlig unbefangener harmloser Miene hinzu, und zeigte auf die brillantenen Fuchsien in den Locken der Baronin Fleury.

Diese Frau besaß die Gabe in seltener Weise, mittels [402] weniger Worte eine empfindliche Stelle in der Menschenseele bloßzulegen und sie spielend mit tödtlich scharfem Messer zu verwunden.

Die schöne Excellenz stand starr, sprachlos vor ihrer unerbittlichen Quälerin – die Fieberröthe erlosch auf ihren Wangen, und die feinen Nasenflügel begannen zu zittern. … Das beneidenswertste Verhältniß zwischen den beiden Damen, infolge dessen sie sich mit lächelnder Anmuth zu zerfleischen pflegten, gab Serenissimus oft genug Gelegenheit, seine Ritterlichkeit und Gewandtheit zu entfalten. Er verhinderte auch diesmal den ausbrechenden Zweikampf.

„Sie lieben schöne Steine, Herr von Oliveira?“ fragte er nachdenklich, mit erhöhter Stimme, die sofort Alles umher schweigen ließ.

„Ich bin Sammler, Durchlaucht,“ versetzte der Portugiese – er zögerte einige Secunden, dann sagte er rasch: „Dieser Schmuck aber“ – er deutete nach dem Diadem der Titania– „interessirt mich um deswillen ganz besonders, als ich den gleichen besitze.“

„Das ist unmöglich, mein Herr!“ fuhr die Baronin auf. „Das Diadem ist vor ungefähr vier Jahren nach meiner eigenen, speciellen Angabe umgefaßt worden, und das Pariser Haus, das die Ausführung übernommen, hat sich verpflichtet, die Zeichnung sofort zu vernichten, weil ich vor der Nachahmung gesichert sein wollte.“

„Ich möchte darauf schwören, daß sich die beiden Schmuckstücke hinsichtlich der Form nicht unterscheiden lassen,“ sagte Oliveira ruhig, mit einem halben Lächeln auf den Lippen und mehr zu dem Fürsten gewendet.

„O mein Herr, Sie verbittern mir mit dieser Behauptung eine meiner liebsten Freuden!“ rief die Baronin halb scherzend, halb mit schmelzend klagender Stimme und hob die Augen mit einem unnachahmlichen Ausdruck von Sanftheit und zärtlichem Feuer zu ihm empor – aber sie schrak entsetzt zurück vor der vernichtenden Kälte, dem strengen, unbestechlichen Ernst in den Zügen des Mannes.

„Jutta, bedenke, was Du da aussprichst!“ sagte der Minister verweisend mit heiserer Stimme – aus Lippen und Wangen schien ihm der letzte Blutstropfen entwichen.

„Warum soll ich denn leugnen, daß es mich unglücklich macht, einen meiner hübschesten Gedanken beraubt und ausgebeutet zu sehen?“ frug sie geärgert und impertinent. Sie warf einen feindselig funkelnden Blick nach dem Portugiesen hinüber, der sich urplötzlich aus einem vermeintlichen glühenden Anbeter in einen rücksichtslosen Widersacher verwandelte. „Ich liebe es nun einmal nicht, irgend Etwas zu tragen, das Gemeingut geworden ist! … Ich gäbe Etwas darum, wenn ich mich mit meinen eigenen Augen überzeugen dürfte, in wieweit Ihre Behauptung begründet ist, Herr von Oliveira!“

„Nun, meine Liebe, das ließe sich doch sehr leicht bewerkstelligen,“ meinte die Gräfin Schliersen. „Ich gestehe, daß auch ich ein wenig neugierig bin, in welcher Weise Herr von Oliveira seine Aussage rechtfertigt – das Waldhaus ist so nahe –“

„Wollen Euer Durchlaucht nicht die Gnade haben, das Zeichen zum Beginn der Quadrille zu geben? … Die junge Welt dort steht auf Nadeln,“ fiel der Minister ein; er ging achtlos über den leidenschaftlich hingeworfenen Wunsch seiner Gemahlin und den Vorschlag der Gräfin Schliersen hinweg, als habe er Beides gar nicht gehört. Die Frau mit den klugen Augen und der feinen Zunge streifte mit einem überraschten, beleidigten und stechend forschenden Blick das Gesicht ihres Verbündeten – er erlaubte sich plötzlich, sie zu ignoriren.

„Zu früh, zu früh, lieber Baron!“’ entschied der Fürst ablehnend. „Das Programm schließt mit dem Tanz.“

„Ich fürchte, Durchlaucht, unsere bezaubernde Titania beruhigt sich nicht eher, als bis sie das Corpus delicti gesehen hat,“ scherzte die Gräfin Schliersen. „Wäre es nicht ein pikantes Intermezzo für alle Damen, wenn Herr von Oliveira uns Gelegenheit gäbe, selbst zu entscheiden, ob er Recht hat?“ – Die Dame schien für einen Moment völlig zu vergessen, daß es sich hauptsächlich heute Abend darum gehandelt hatte, den Portugiesen zu stürzen.

„Allzuviel verlangt, theuerste Gräfin!“ meinte Serenissimus achselzuckend und lächelnd. „Bedenken Sie, in welche zweideutige Gesellschaft Herr von Oliveira seine kostbaren Schätze bringen soll. Wir haben da Räuber, Zigeuner, und Gott weiß was Alles für unheimliche Gestalten! … Sie sehen, Herr von Oliveira,“ wandte er sich an den Portugiesen, „ich möchte mich gern Ihrer annehmen; allein Sie haben unvorsichtiger Weise einen Feuerbrand hingeworfen – ich fürchte, es wird Ihnen nichts übrig bleiben, als – den Beweis zu bringen.“

Oliveira verbeugte sich schweigend – der grelle Schein einer Fackel fiel auf sein ruhiges Gesicht und überhauchte die braune Haut mit einer tiefen Blässe. Er nahm eine Karte aus seiner Brieftasche, warf flüchtig einige Zeilen hin und schickte das Blättchen durch einen Lakaien nach dem Waldhause.

„Wir werden die Brillanten zu sehen bekommen!“ jubelten einige junge Damen auf und klatschten in die Hände. Man kam von allen Seiten herbei; auch die schöne Hofdame, die sich bis dahin fern gehalten, erschien am Arm der zarten, blassen Blondine.

„Aber, Herr von Oliveira, Sie verwahren so viel Kostbarkeiten in dem abgelegenen Hause?“ fragte die Blondine und schlug die großen, blauen Augen, die ein äußerst empfindliches Nervenleben verriethen, ängstlich unschuldig zu ihm auf.

Die Gräfin Schliersen lachte.

„Kindchen,“ rief sie, „haben Sie sich das Waldhaus nicht besser angesehen? … Es steckt freilich nicht hinter Palissaden und Gräben, und ich weiß nicht einmal, ob es Selbstentladungsrevolver besitzt – aber es hat ein Etwas, das da warnt: ,Komme mir nicht zu nahe!’ … Die Wände starren von Waffen und Siegestrophäen – ob auch einige Indianerscalps mit unterlaufen, kann ich allerdings nicht mit Bestimmtheit behaupten; allein, wohin man sieht, liegen Tiger- und Bärenfelle – man überzeugt sich auf den ersten Blick, daß die Kugel des Besitzers unerbittlich zu treffen weiß. … Herr von Oliveira, Sie verstehen es aus dem Grunde, Ihre Residenz durch die Macht des Geheimnißvollen zu schützen; es nöthigt uns einen Schauer ab, man nennt ihn: das Gruseln. … Apropos,“ unterbrach sie ihre scherzhafte Schilderung in sehr lebhafter Weise, „ich gestehe Ihnen aufrichtig, daß ich heute sogar vor Ihrem Papagei die Flucht ergriffen habe! Sagen Sie mir um’s Himmelswillen, weshalb schreit denn das unheimliche Thier mit seiner haarsträubenden Stimme unaufhörlich: ,Rache ist süß’?“

Nahm die lodernde Fackel eine andere Färbung an, oder war es in der That das Gesicht des Portugiesen selbst, das sich so auffallend verwandelte? Es sah aus, als ob eine Flamme aufsteigend über die Wangen hinzüngele und sich in einem glühenden, quer über die Stirn laufenden, breiten Streifen concentrire.

Oliveira sah einen Augenblick schweigend vor sich nieder, während ihn Alle neugierig und erwartungsvoll anstarrten.

„Das Thier hätte vor Zeiten ein blödes Menschenkind beschämen können, so viel gesellschaftliche Phrasen hatte es aufgefangen,“ sagte er. Er verschränkte die Arme in scheinbar unerschütterter Ruhe über der Brust und ließ seinen ernsten Blick über die Umstehenden schweifen. „Es hat sie merkwürdiger Weise über diesem einen Satz vollständig vergessen. … Sein Herr, der es zärtlich liebte, hat die drei Worte im Delirium fast unausgesetzt wiederholt, ja, mit seinem letzten Athemzuge hat er sie noch einmal herausgestoßen. … An diese drei Worte knüpft sich eine seltsame Geschichte.“

Bei den letzten, geflissentlich langsam gesprochenen und schwer betonten Worten wich das Blut aus der stolzen, düsterdrohenden Stirn – das gelbe Fackellicht übergoß sie wieder mit geisterhafter Marmorweiße.

Die Gräfin Schliersen heftete, ihre klugen Augen scharf fixirend auf das Antlitz, das wohl seinen Ausdruck, nicht aber die stürmisch aufbrausenden und sinkenden Wellen, die vom Herzen aus kreisen, zu beherrschen vermochte.

„Sie mystisiciren uns, Herr von Oliveira,“ drohte sie lächelnd mit dem Zeigefinger. „Sie fordern die weibliche Neugierde heraus, um dann achselzuckend und geheimnißvoll sagen zu können: ,Ich darf nicht!’“ …

„Wer sagt Ihnen das, Frau Gräfin? Ich könnte ohne Weiteres beginnen; aber Sie selbst würden es mir sicher am wenigsten verzeihen, wenn ich, ohne specielle Erlaubnis des Durchlauchtigsten Fürsten, mit meiner Erzählung das Festprogramm störend unterbrechen wollte.“

„Ach, Durchlaucht, eine interessante Geschichte aus Brasilien!“ [403] – wandten sich die jungen Damen einstimmig bittend an Serenissimus.

„Ei, meine Damen, ich glaubte; Ihre kleinen Füße ständen bereits auf Nadeln wegen des Tanzvergnügens!“ scherzte er. „Nun gut, ich nehme die Geschichte des Herrn von Oliveira sehr gern in das Festprogramm auf – wir streichen dafür eines der Männerquartette, die im Walde gesungen werden sollen.“


27.

Welch’ eine ironisirende Wendung der Dinge! Der verfehmte Portugiese war der Löwe des Festabends geworden. Freilich stand er auf einem Boden, der auf- und abschwankte wie die Schiffsplanke, und die aufgescheuchten Wespen summten nur weniger laut und hörbar um sein Haupt. Das wußte Niemand besser als die schöne Hofdame. Sie warf ihm einen langen, bedeutungsvollen Blick zu: „Lasse dich nicht beirren,“ warnten die dunklen Augen.

Gisela, die bisher schweigend neben dem Fürsten gestanden und nicht ein einziges Mal gewagt hatte, den Portugiesen anzusehen, während er sprach, fing diesen Blick auf – er durchfuhr ihr Herz wie ein Dolchstoß. … Sie wollte ja nie heftig werden; aber wie schoß ihr jetzt das empörte Blut nach den Schläfen! Wie in der Kindheit, wo sie stets ohne Weiteres ihrer Abneigung Ausdruck gegeben, hob sie auch jetzt die Hand, um das Mädchen dort fortzustoßen. – Worte der tiefsten Erbitterung drängten sich auf ihre Lippen. … Wie thöricht! … Was gab ihr denn das Recht, sich zwischen diese beiden Menschen zu drängen? … Sah er nicht selbst in diesem Moment hinüber nach der reizenden Zigeunerin und erwiderte den langen Blick so ausdrucksvoll, daß das liebliche Gesicht bis unter die dicken, braunen Locken erröthete? … Die Zwei waren wohl längst einig! …

Wie konnte sie es überhaupt wagen, sich neben jenes Mädchen zu stellen? An dem Namen der Hofdame haftete kein schlimmer Leumund, sie war sehr schön, galt für geistreich und handhabte die gesellschaftlichen Formen mit unvergleichlicher Grazie. … Pfui, wie häßlich! … Sie mit dem bleichen Gesicht, mit der tiefen Unwissenheit hinter der Stirn und dem ungelenken Benehmen, sie empfand Neid, blassen Neid gegen jene schöne, gefeierte Rose! …

Das unschuldige Herz, das ja bis dahin nie geliebt, hatte, keine andere Definition für das heiße Gefühl der Eifersucht.

Sie wandte die Augen ab von dem schreiend rothen Käppchen mit den Perlenbehängen, das sich so anmuthig hin und herbewegte, und sah über das Lichtmeer hinweg in den dunklen Weg hinein, der nach Greinsfeld führte. Eine tiefe Sehnsucht nach dem finsteren, schweigenden Wald erfaßte sie. … Fort, fort, alle diese Larven im Rücken lassen und die unausgesprochenen Qualen, die ihr in Kopf und Herzen wühlten, in der Dunkelheit verbergen! … Eilige Flucht aus dieser sogenannten Welt, in die sie nur geblickt, um sofort von grellen Blitzen getroffen und verwundet zu werden! Tausendmal lieber in finsterer Nacht mit bedrohtem Leben an den schauerlichen Abgründen der Steinbrüche vorüberwandeln, als hier gleichsam an der Martersäule stehen, diese schmetternde, jubelnde Musik hören und die lächelnden Gesichter sehen zu müssen, während in den schmerzenden Augen die mühsam verhaltenen Thränen brannten! ….

Sie hatte mit Enthusiasmus den Gedanken ergriffen, die Menschen lieben zu wollen – wie schwer war er auszuführen! Konnte sie diese eitle, gleißnerische Menge lieben, die, Falschheit im Herzen und auf den Lippen, ihr reines Wollen unmöglich verstand? …

In den Steinbrüchen war es dunkel und todeseinsam – nicht einmal die kleinen Vogelaugen blickten tröstlich auf die heimwärts Fliehende, sie schliefen wohlgeborgen in den Nestern und Felsennarben. Drunten lagen die armen Blumenleichen, die er mit unbarmherziger Hand von sich geschleudert, und am Wegrand zitterten die elastischen Nesselzweige, die ihr Kleid streifte – diese einzige Bewegung hauchte Leben in die Einöde. … Und der Fuß des jungen Mädchens schritt wieder über die Stelle hinweg, wo es eine so schmerzliche Demüthigung erlitten – der Weg war schrecklich, aber er führte ja in das Heim zurück, dort konnte sie die Thüren verschließen und sich für immer verbergen vor Menschenaugen und Menschenstimmen. …

Fort! Fort!

Quer über den Festplatz konnte sie freilich nicht gehen – sie mußte im Waldesdunkel die Wiese umkreisen, wenn sie den gegenüberliegenden Greinsfelder Weg erreichen wollte. Langsam und scheu wandte sie sich um und forschte im Dickicht nach einer Stelle, wo sie unbemerkt entschlüpfen konnte.

Da tauchte plötzlich ein Gesicht vor ihr auf, ein Gesicht mit harten, dunklen Zügen, das sie kannte und fürchtete – es war der alte, strenge Mann aus dem Waldhause. Er trug einen kleinen Koffer, den er auf die nächste Bank stellte; sein finsterer Blick streifte an der jungen Dame vorüber und heftete sich sehr beredt auf den Portugiesen, vor welchem bereits der zurückgekehrte Lakai stand und mit einer entsprechenden Handbewegung die Anwesenheit des alten Soldaten meldete.

„Ah, die Brillanten!“ scholl es von allen Seiten.

Sofort bildete sich ein dichter Kreis um den alten Soldaten und seine kostbare Bürde. … Für diesen Augenblick war Gisela’s Flucht vereitelt – der Fürst stand neben ihr, und die Gräfin Schliersen ergriff schmeichelnd ihre Hand und zog sie dicht an sich heran.

Oliveira schloß den Koffer auf. Der Inhalt war freilich angethan, Frauenherzen zu berauschen; und der stille Gedanke Aller, der Brasilianer wolle mit seinen Schätzen prunken, wurde zur Gewißheit. … Wer aber Gelegenheit hatte, in sein gesenktes Gesicht zu sehen, der wußte sofort, daß der Seele dieses Mannes augenblicklich nichts ferner lag, als die Eitelkeit – ein so furchtbarer Ernst, eine so finstere Entschlossenheit lag auf der düstergefalteten Stirne.

Er nahm mit raschen Händen ein schwarzes, mit Juwelen beladenes Sammetpolster um das andere aus dem Koffer und legte es achtlos auf die Seite. Neben ihm stand die Baronin Fleury mit halbgeöffneten Lippen und vorgebeugtem Oberkörper. Allmählich begann ein leiser Triumph in ihren Augen zu funkeln. Sie sah allerdings glitzernde Wunderdinge aus dem Koffer emporsteigen, die ihr unersättliches Herz klopfen machten, allein es waren lauter antike Schmuckstücke, die „der Sammler“ da aufgehäuft hatte – nicht ein einziges erinnerte an „ihren hübschesten Gedanken“…. Hatte sich der Portugiese hinsichtlich des „Corpus delicti“ doch getäuscht?

Da hob er, bedeutend langsamer als zuvor, ein großes Etui empor und schlug fast zögernd den Deckel zurück.

Ein Ausruf der Ueberraschung ertönte von allen Lippen, und die schöne Excellenz wich bestürzt zurück.

Bis auf das kleinste, in ihren Locken glitzernde Staubfädchen getreu copirt, lag der Fuchsienkranz auf dem Sammetpolster – aber er hatte einen Vorzug: die „gräflich Völdern’schen Familienbrillanten“ erloschen neben dieser funkelnden Steinpracht.

Und der Kranz lag nicht allein – ihn umkreiste dasselbe Halsband, das dort auf dem weißen, stürmisch athmenden Busen Titania’s blitzte, und die Agraffe, die den silberdurchwobenen Schleier auf ihrer Schulter festhielt, leuchtete auch hier mit ihren großen, bläulichen Brillanten.

„Welch’ ein schändlicher Betrug!“ stieß die schöne Frau zornbebend hervor. „Siehst Du, Fleury“ –. wandte sie sich an ihren Gemahl – er befand sich nicht mehr an ihrer Seite – Seine Excellenz stand an einem entfernten Büffet und stürzte ein Glas Wein hinunter. Er wurde alt und stumpf, der Mann, er zeigte für Nichts mehr das wahre, feurige Interesse wie ehedem – war es ihm doch sogar unangenehm geworden, seine schöne Frau diamantengeschmückt zu sehen. … Sie stand allein unter all den schadenfrohen Gesichtern – die ganze furienhafte Leidenschaft dieser Frauenseele, die bis dahin nur Seine Excellenz und die engen Wände des Boudoirs kennen gelernt hatten, war nahe daran, angesichts des Hofes hervorzubrechen.

„Fleury, Fleury!“ rief sie mit unbeschreiblichem Aerger hinüber. „Ich bitte Dich, komme hierher und überzeuge Dich, wie recht ich hatte, gegen das völlig überflüssige Putzen und Reinigen der Steine in Paris zu protestiren! … Du hast es à tout prix durchgesetzt, und diese treulosen Franzosen haben den Moment benutzt, die köstlichen Formen zu stehlen. … O, hätte ich sie doch nicht aus den Händen gegeben!“

Jedes dieser schneidend scharf betonten Worte sollte den Besitzer der Brillanten beleidigen … war er in der That vollkommen [404] unempfindlich gegen die impertinente Art und Weise der gereizten Dame? Kein Zug seines Gesichts bewegte sich, und auf die Frage des Fürsten, wo er diesen Schmuck acquirirt habe, versetzte er lakonisch: „In Paris.“

Der Minister kam langsam über den Platz. Welch’ ein Contrast zwischen diesem grünlich-weißen, steinernen Gesicht und den fieberhaft erregten Zügen der schönen Titania! … Es gehörte ein sehr scharfer Blick dazu, das leichte, nervöse Zucken an den schlaffen Augenlidern zu entdecken. …

„Ich kann Dir nicht helfen, liebes Kind, das Unglück ist nun einmal geschehen, und Du wirst Dich trösten müssen,“ sagte er in seiner ganzen kaltlächelnden Ruhe und Diplomatengleichgültigkeit. Er warf auch nicht einen Blick auf das Etui, das die Gräfin Schliersen in den Händen hielt, während der Fürst die Pracht der Steine bewunderte. „Uebrigens können Dir diese Nebenbuhler weiter nicht gefährlich werden,“ fuhr er mit einem leichten Achselzucken fort, „Herr von Oliveira verwahrt sie, wie es scheint, als Curiosum, und da er sie selbst nicht tragen kann, so werden sie schwerlich Deinen Weg wieder kreuzen.“

Sie wandte ihm zornig den Rücken. So wie sie ihn kannte, war er trotz seiner ausgezeichneten Maske in diesem Augenblick furchtbar erregt – weshalb zeigte er seine gerechte Empörung nicht und behandelte im Gegentheil den abscheulichen Betrug wie eine Kinderei? …

Bei den letzten Worten Seiner Excellenz sahen sämmtliche junge Damen a tempo nach dem Portugiesen, der, die lodernden Augen starr und unverwandt auf das Gesicht des Sprechenden gerichtet, wie eine erzene Bildsäule dastand. … Was fiel dem Minister ein, zu behaupten, weil dieser majestätische Fremde die Steine nicht selbst tragen konnte, sie würden nun auch für immer in der Gefangenschaft des Kastens bleiben müssen? … War es nicht ein naheliegender Gedanke, daß er über kurz oder lang ein beglücktes junges Wesen an seine Seite ziehen und als „sein besseres Ich“ mit all’ diesen wundervollen Schätzen überschütten würde? …

Vielleicht kreiste diese Betrachtung auch hinter der Stirn der Gräfin Schliersen. Sie nahm lächelnd den Kranz vom Polster, und ehe Gisela sich dessen versah, fühlte sie die schweren, kalten Steine auf ihrer Stirn. … Sie ahnte nicht, daß ihr in diesem Moment der Preis der Schönheit und des höchsten Liebreizes von Allen stillschweigend zuerkannt wurde – sie sah auch nicht, wie ein unbezähmbarer Ausbruch leidenschaftlicher Zärtlichkeit secundenlang die düsteren Züge Oliveira’s durchstrahlte – unfern stand die schöne Hofdame, sie schüttelte unwillig die braunen Locken, der tiefste Verdruß spiegelte sich in ihren Augen und schmollte in den herabgesenkten Mundwinkeln – sie hatte bereits Rechte an das Eigenthum des Mannes dort, aber sie waren noch nicht öffentlich anerkannt; und nun mußte sie es stillschweigend leiden, daß eine fremde Stirn mit dem Diadem geschmückt wurde! Bei diesen Gedanken griff Gisela hastig nach den tödtlichkalten Steinen und legte sie mit zitternden Händen auf das Polster zurück – in Gesicht und Geberden lag der Ausdruck einer heftigen, energischen Protestation.

„Um Gott, liebes Kind“ – rief die Gräfin Schliersen erschrocken und ergriff besorgt ihre Hand.

„Da siehst Du ja diese ,ungesunde Kraft’, Leontine!“ rief die Baronin Fleury triumphirend – sie vergaß über dieser Genugthuung selbst ihr tiefes Herzeleid. „Gisela hat eine Aversion vor den Steinen, und Du wirst Dich eben überzeugt haben, daß schon allein eine solche Berührung genügt, ihre Nervosität bis zu einem beängstigenden Grade zu steigern.“

Die Gräfin Schliersen reichte dem Portugiesen schweigend mit fest zusammengekniffenen Lippen das Etui hin. Der Fürst aber, der augenscheinlich wünschte, die Diamantenstreitfrage ad acta gelegt zu sehen, zeigte ein lebhaftes Interesse für die antiken Schmuckgegenstände; sie gingen von Hand zu Hand, wobei Oliveira kurz erklärte, wie er sie aufgefunden, und woher sie stammten – dann wunderten sie zurück in den Koffer.

„Schöne Elfenkönigin, Sie haben nun erreicht, was Sie so lebhaft wünschten,“ sagte Serenissimus zu der sich tief verbeugenden Baronin Fleury, während Oliveira den Koffer schloß. Er sprach halb scherzend, zum Theil aber auch mit ziemlich ernstem Nachdruck. „Ich will hoffen, daß das Ergebniß nicht nachtheilig auf die Laune gewirkt hat, meine Gnädigste. … Und nun wollen wir sehen, was die Büffets enthalten,“ wandte er sich an seine Gäste. „Dann mag Herr von Oliveira seine interessante brasilianische Geschichte erzählen, vorausgesetzt, daß uns die heimtückischen Wolken da oben nicht vorher die Fackeln auslöschen.“

Das Gewitter war allerdings im Anzuge. Auf dem Wasserspiegel des Sees, der bis dahin glatt und unbewegt jedes Lichtlein widergestrahlt hatte, hüpften jetzt Feuerfunken – ein schwaches, kaum hörbares Säuseln zog durch die Waldwipfel, und das Fackellicht, das kerzengerade in die Höhe gestiegen war, flackerte beunruhigt.

Alle diese drohenden Anzeichen wurden vergessen über dem verlockenden Knall der Champagnerpfropfen, dem Gläserklirren und den enthusiastischen Hochs, die dem Durchlauchtigsten Festgeber gebracht wurden.

Gisela hatte es abgelehnt, dem Fürsten an das Büffet zu folgen. Sie hoffte, jetzt den günstigen Moment zu finden, wo sie entfliehen konnte, aber wie täuschte sie sich! Frau von Herbeck wich und wankte nicht von ihrer Seite. … Die kleine, fette Frau war von überströmender Liebenswürdigkeit – sie fühlte sich ja so glücklich! Seine Excellenz hatte ihr eben zugeflüstert, daß er ihr unbedingt vertraue und morgen früh vor seiner Abreise noch eine „vertrauliche Unterredung“ mit ihr wünsche; er hatte es ihr aber auch zur strengen Pflicht gemacht, für den Rest des Festabends wie ein Argus über ihre Schutzbefohlene zu wachen.

Nun hatte sie das junge Mädchen auf eine Bank genöthigt, die hart an den Saum des Waldes stieß, und von welcher aus man den ganzen Festplatz bequem übersehen konnte. Die Gouvernante saß am anderen Ende der Bank neben einer alten Freundin, die sie Jahre lang nicht wiedergesehen. Beide Damen ließen sich von einem Lakai Speisen herbeitragen, und während sie den köstlichen Leckerbissen wacker zusetzten, fanden sie nicht genug Worte für die beispiellose Unverschämtheit des fremden Eindringlings, des Portugiesen. Er war ein Aventurier, ein Prahler erster Sorte – wer konnte denn wissen, wo er alle diese Kostbarkeiten aufgerafft hatte? … Uebrigens ließ es sich die kleine, fette Frau nicht nehmen, daß der „ganze Kram“ unecht sei, er habe einen zu „unnatürlichen Glanz“ gehabt – ein Kind hätte das neben den unvergleichlichen gräflich Völdern’schen Familiendiamanten herausfinden müssen. Seine Excellenz hatte aber auch den Schwindler vortrefflich ablaufen lassen – er hatte ihn und seine Brillantenausstellung nicht eines Blickes gewürdigt.

Gisela legte müde wie ein krankes Kind den Kopf an die Banklehne. Eine rauschende Musik scholl herüber und verschlang die Fortsetzung der geistreichen Conversation. … Wie elend und verlassen fühlte sich diese junge, mit sich selbst ringende Seele! … Sie hatte vorhin schweigend die hämische Bemerkung der Stiefmutter hingenommen – sie war des Kampfes müde, und schließlich war es sehr gleichgültig, was die Welt von ihr dachte. …. Binnen wenigen Stunden verschwand sie für immer wieder von diesem heißen Boden und wurde vergessen, vergessen von Allen. … Sie redete sich in eine dumpfe Resignation und Gleichgültigkeit hinein – bis jetzt waren es noch verunglückte Versuche. … Wie ein Magnet zog das rothe Käppchen, das dort drüben aus der Menge wie ein neckischer Kobold auf- und niedertauchte, ihren verfinsterten Blick immer wieder auf sich; jedes Mal schoß ihr das Blut siedend nach dem Herzen und raubte ihr den Athem, wenn eine hohe Männergestalt sich neben den reizenden braunen Lockenkopf drängte – sie täuschte sich stets – er war es nicht – und doch welche Qualen litt sie immer wieder von Neuem!

Sie wollte nichts mehr sehen und lehnte den Kopf zurück. Aus dem Dickicht kam ein Zweig herüber und legte seine breiten, kühlen Blätter schmeichelnd auf ihre fiebernde Stirn. Sie schloß die brennenden Augen, aber im jähen Ausschrecken hob sie sofort die Wimpern wieder. …

Der Portugiese stand hinter ihr und rief ihren Namen. Sie blieb regungslos, wie versteinert sitzen – es war seine Stimme, allein wie erschütternd verändert klang sie! …

„Gräfin, hören Sie mich?“ wiederholte er lauter, während gewaltige Accorde von drüben her erbrausten.

Sie neigte langsam den Kopf, ohne ihm das Gesicht zuzuwenden.


(Fortsetzung folgt.)
[405]

Projectirte Bauten und Anlagen der internationalen Gartenbau-Ausstellung in Hamburg. Nr. 1.

[406]

Der eiserne Doppelgürtel der Union.

San Francisco, am 14. Mai 1869.

Der 10. Mai 1869 war in den Annalen Amerika’s ein bedeutungsvoller Tag; es war der der Vollendung der Pacific-Eisenbahn, jenes gewaltigen eisernen Doppelgürtels, welcher durch die beispiellose Thatkraft der Amerikaner in einem Zeitraum von wenigen Jahren über die Breite dieses Continents geschlungen wurde.

Bereits im Jahre 1862 ward der Plan zum Bau der großen Pacific-Eisenbahn (d. h. der Schienenverbindung zwischen der Atlantischen Küste und der des Stillen [friedlichen, pacific] Meeres von Nordamerika) vom Congreß definitiv festgestellt. Der im Jahre zuvor ausgebrochene und immer größere Verhältnisse annehmende Bürgerkrieg ließ eine engere Verbindung der am Stillen Meere liegenden Staaten und Territorien mit dem Osten doppelt nothwendig erscheinen, sowohl aus commerciellen Rücksichten, als auch um sie im Falle eines Krieges mit den europäischen Seemächten leichter schützen zu können. Zugleich dachte man den Gelüsten einer Trennung vorzubeugen, indem man das Nationalgefühl jener so weit entlegenen Länder durch einen engeren Anschluß an die Mutterstaaten kräftigte.

Der Bau dieser Rieseneisenbahn war aber ein außergewöhnlich schwieriges Unternehmen. Nicht allein die ungeheure Länge der Bahn und die ihrem Bau sich entgegenstellenden natürlichen´ Hindernisse mußte man berücksichtigen; es kam noch der Umstand hinzu, daß fast die ganze Länge der projectirten Eisenbahn durch eine fast nur von feindlichen Indianern bewohnte Wildniß lief und sie sich den zu ihrem Bestehen nöthigen Verkehr erst selbst schaffen mußte.

Um den Bau dieses wichtigen nationalen Werkes schneller zu fördern, ertheilte die Regierung dazu außergewöhnliche Privilegien und gab zum größten Theil selbst die Mittel her, und zwar an zwei Gesellschaften, die Central-Pacific- und die Union-Pacific-Eisenbahn-Compagnie, von denen die erstgenannte von Californien aus, letztere vom Missouri her ihre Linien nach Ost und West bauen und beide sich in der Mitte des Continents vereinigen sollten. Beide Compagnien wurden gleichmäßig von der Regierung durch Landschenkungen und Subventionen unterstützt. Jene beliefen sich auf zwölftausendachthundert Acker pro englische Meile; diese bestanden in nach dreißig Jahren zahlbaren und von der Regierung garantirten sechsprocentigen Obligationen, deren Zinsen aus dem Staatsschatze gezahlt werden sollten, zu der Durchschnittsrate von 28,250 Dollars per englische Meile. Die Regierung nahm als Sicherheit eine zweite Hypothek auf die Bahnen und gestattete diesen eine gleiche Summe in Obligationen, mit Sicherheit erster Hypothek, in ihrem eigenen Namen zu emittiren.

Im Jahre 1863 begann die Central-Pacific-Eisenbahn-Compagnie im fernen Westen den Bau von der Stadt Sacramento aus; die Union-Pacific eröffnete zwei Jahre später ihre Linie bei der Stadt Omaha am Missouri. In den ersten Jahren schritten beide genannte Bahnlinien nur langsam vorwärts. Nach Beendigung des Krieges aber, als das Vertrauen in die finanziellen Kräfte des Landes zurückgekehrt war, ward die Arbeit von beiden Gesellschaften mit frischem Muthe und frischer Kraft fortgesetzt, und in den letzten zwei Jahren war es ein Riesenwettlauf über den halben Continent.

Im April 1868 erstieg die Union-Pacific bei Evans-Paß, fünfhundertundfünfzig englische Meilen westlich von Omaha, 8242 Fuß über dem Meere, den höchsten Punkt auf ihrer Linie. Seitdem hat sie über ein, namentlich in den Felsengebirgen und in dem Hochland von Utah, außerordentlich schwieriges Terrain fernere fünfhundertundsechsunddreißig Meilen bis an das nördliche Ufer des großen Salzsees erbaut, wo sie mit der Central-Pacific zusammentraf. Die Central-Pacific war erst im Juni 1868 im Stande, hundertundsechzig Meilen östlich von Sacramento, von dem Ostabhange des Gebirgszugs der Sierra Nevada in das Flachland am Humboldtfluß hinabzusteigen. Das Ueberschreiten der Sierra Nevada, wo lange Tunnels durch den Granitfels gesprengt werden mußten, war wohl die schwierigste Arbeit im Eisenbahnbau, welche bis jetzt in Amerika vollbracht worden ist. Siebentausendunddreiundvierzig Fuß über dem Meere überschritt die Central-Pacific jenen Gebirgszug. Sobald das Hochland erreicht war, ging’s dagegen mit Riesenschritten vorwärts und in eilf Monaten wurden fünfhundertdreißig Meilen bis zum Verbindungspunkte mit der Union-Pacific vollendet. Promontory Summit, der Punkt, wo die beiden Linien zusammentrafen, liegt eintausendundsechsundachtzig englische Meilen westlich vom Missouri und sechshundertundneunzig Meilen östlich von Sacramento, nördlich vom großen Salzsee.

Wie in Washington City bestimmt worden, wird die Union-Pacific-Eisenbahn-Compagnie die letzten von ihr erbauten dreiundfünfzig englischen Meilen gegen Entschädigung der Baukosten an die Central-P.-E.-E. abtreten und der künftige Verbindungspunkt der beiden Linien nicht bei Promontory Summit, sondern bei Ogden, einer blühenden Mormonenstadt, vierzig englische Meilen nord-nordöstlich von Salt Lake City gelegen, stattfinden.

In den letzten sechszehn Monaten bauten beide Bahnen zusammen eine Wegstrecke von eintausendeinhundertundzwölf englischen Meilen, neunundsechszigundeinehalbe englische Meilen per Monat. Eintausendunddreihundert Meilen dieser Linie liegen dreitausendundfünfhundert Fuß über dem Meeresspiegel, und einhundertsechszig Meilen fünftausend bis mehr als achttausend Fuß über der See. Die Entfernung von Newyork bis nach San Francisco, den Endpunkten der transcontinentalen Eisenbahn, beträgt dreitausendunddreihundert englische Meilen, also mehr als achtundvierzig Längengrade und etwa den achten Theil des Erdumfangs.

Mit gerechtem Stolze blickt Amerika auf die Vollendung dieses gigantischen Unternehmens. In Wolkenhöhe, am Rande gewaltiger Felsabhänge, durch die unzugänglichsten Gebirgsschluchten, über weite Thäler und reißende Ströme, durch die Tiefen des Gebirges hin rast der menschenbeschwerte Dampfzug, durchkreuzt endlos scheinende Wüsten und trägt die Cultur in brausendem, die Ufer weit überfluthendem Strome in das Innere eines Erdtheils, in Gegenden, welche vor Kurzem noch gegen die Civilisation hermetisch geschlossen schienen und nur die Heimath von Indianern, Wölfen, Bären, Büffeln und Antilopen waren.

Für San Francisco namentlich ist die Vollendung dieses Riesenwerks von immenser Wichtigkeit, denn durch die Pacific-Eisenbahn tritt jene Metropole Amerika’s am Stillen Ocean in directe Verbindung mit den älteren Staaten der Union, man kann sagen mit Europa. Sind die täglichen Dampferlinien, welche Amerika mit der alten Welt verbinden, doch eigentlich nichts weiter als riesige Fährboote; der Atlantische Ocean ist so zu sagen zusammengeschrumpft und für den Verkehr kaum noch so breit als z. B. das Mittelländische Meer es in früheren Jahrhunderten war. Aber nicht nur dem Osten und Europa ist San Francisco nahe gerückt. Bereits entsendet es allmonatlich nach dem fernen China und Japan gewaltige Dampfer, und die Zeit liegt nicht mehr fern, wo das große Stille Meer von hier aus, ebenso wie das Atlantische zwischen Europa und Amerika, mit täglichen Dampffähren überbrückt sein wird. San Francisco ist jetzt schon die Hauptwegstation zwischen Europa und den uralten Culturreichen von Ostasien, und die Pacific-Eisenbahn ist die große Schlagader des nordamerikanischen Zwischen-Festlandes.

Wie gesagt, der 10. Mai war der ereignißvolle Tag, an welchem die letzte Schiene auf der großen transcontinentalen Eisenstraße niedergelegt wurde, welche die alte Atlanta jetzt mit dem Stillen Meere verbindet. In der Mitte des Continents, am nördlichen Gestade des großen Salzsees, jenes wunderbaren herrlichen Binnenmeeres inmitten unermeßlicher Wildniß, vollzog sich das welthistorische Ereigniß, und dort standen die Arbeiterheere der Union- (östlichen) und der Central- (westlichen) Pacific-Eisenbahn endlich einander dicht gegenüber. Im Osten waren es meistens Europäer – Irländer und Deutsche –, welche die Bahn gebaut, hier, an der Wasserscheide des Stillen Oceans, Chinesen. Aber Amerikaner hatten jene Arbeitercolonnen geführt, und ihrer nie ermüdenden Energie hat die Welt vor Allem die rasche Vollendung dieses beispiellosen Eisenbahnbaues zu verdanken.

Seit Jahren, und insbesondere während der letzten Monate, hatten die Mitglieder der beiden Arbeiterheere jede Muskel angestrengt, um es sich gegenseitig an Schnelligkeit im Eisenbahnbau [407] zuvorzuthun und ihre respectiven Linien, ehe sie zusammenträfen, möglichst weit nach Westen und nach Osten vorzuschieben. Auch lag es im Interesse der beiden rivalisirenden Compagnieen, vor dem Zusammentreffen der beiden Linien so viele Meilen ihrer Bahn als möglich fertig zu bringen, da die Vereinigten Staaten ihre Obligationen und Landschenkungen nach der von jeder Gesellschaft vollendeten Wegstrecke berechneten. Jeden Abend blitzte der Telegraph seit Monaten das Resultat der Tagesarbeit über die Länge und Breite des Continents, das namentlich in San Francisco mit fieberhafter Aufregung gelesen wurde, da Californien es als einen Ehrenpunkt ansah, sich vom Osten nicht besiegen zu lassen.

Die Schwierigkeiten, welche sich dem raschen Fortbau der Eisenbahn entgegenstellten, waren fast unglaublich. Die Schwellen mußten auf den Ebenen und in den baumlosen Wüsten, welche die Bahn durchschnitt, aus Entfernungen von hundert und mehr Stunden an Ort und Stelle gebracht werden, sowohl mit Wassermangel als mit dem Herbeischaffen von Feuerungsmaterial zum Bedarf für die Locomotiven hatte man zu kämpfen; die riesigen Felsengebirge mußten überschritten, lange Tunnels durch den Granit der Sierra gesprengt werden; Schneestürme unterbrachen im Winter wochen- und monatelang die Arbeit, und in der Sierra Nevada überdachte man die Bahn auf einer Strecke von nicht weniger als zweiundzwanzig englischen Meilen, um die Lawinen abzuhalten. Auf den Ebenen zwischen dem Missouri und den Felsengebirgen wurden die Arbeiter an der Union-Pacific oft durch Angriffe feindlicher Indianer beunruhigt, welche sich dem Bau der Eisenbahn durch ihre Jagdgründe mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln widersetzten. Die Büchsen auf der Schulter rückten die Arbeiter zum Tagewerk aus und waren nicht selten gezwungen, die Picke und Schaufel mit dem Feuerrohr zu vertauschen, um ihre wilden Feinde von der Bahnlinie zu vertreiben. Nachts wurden Vorposten ausgestellt, als ob man sich im Kriege befände.

An jedem Morgen brachen die nach vielen Tausenden zählenden Arbeiterheere ihre Zeltlager ab und transportirten ihre beweglichen Städte, wie sie vorschritten, per Roß und Wagen mit sich. Schwellen und Schienen, das ganze massenhafte Material zum Eisenbahnbau, wurde, als die Bahnen vorschritten, von Ost nach West täglich an die Fronte nachgeschafft. Alles dieses mußte in einer Urwildniß vollbracht werden, wo zum Lebensbedarf, außer den schwer beizukommenden Büffeln und Antilopen, absolut gar nichts vorhanden war.

In der Schnelligkeit des Eisenbahnbaues trugen die Chinesen an der Central-P. noch in der letzten Woche dieses Riesenwettlaufes über einen Continent über ihre kaukasischen Rivalen an der Union-Pacific-Eisenbahn den Sieg davon. Diese konnten sich rühmen, sieben Meilen eines nagelneuen Bahngeleises als Maximum einer Tagesarbeit gelegt zu haben, wogegen fünftausend gezopfte Söhne des blumigen Reiches der Mitte, mit einem Enthusiasmus, als ob die Eisenbahn direct nach Peking gebaut würde, am 28. April in elf Stunden etwas über zehn englische Meilen (etwa zwei und eine Viertel deutsche) fertig brachten, und gleichzeitig das ganze Inventarium des Eisenbahnbaues, Schwellen und Schienen, unzählige Wagen und Karren, Schmiedewerkstätten, Gerätschaften aller Art, ihre Küchen, Häuser, Zelte, Betten Lebensmittel, Feuerholz etc. mitforttransportirten.

Die Legionen mit Picke und Schaufel, welche am 10. Mai an dem nördlichen Ufer des großen Salzsees in der Wildniß aufeinanderstießen, waren in letzter Zeit allerdings bedeutend zusammengeschmolzen, da viele Arbeiter keine Beschäftigung mehr an den Bahnen fanden, als die noch zu bauende Wegstrecke täglich mehr und mehr zusammenschrumpfte; aber immer noch war es ein imposanter Anblick, der sich dem Zuschauer an jenem Tage dort zeigte.

Noch standen die letzten weißen Zelte der zusammengeschmolzenen Arbeiterheere auf den mit graugrünem Salbeigestrüpp bewachsenen Hügeln, Rosse und Reiter jagten hin und her, zahlreiche Fuhrwerke standen an der Bahnlinie und Freude und Jubel scholl himmelan. Im Süden lag der schimmernde Spiegel des großen Salzsees, mit silbernen Schaumwogen seine romantischen Gebirgsinseln umschließend, und jenseits desselben, im Südost, hoben die bläulichen Wasatchgebirge ihre schneegekrönten Gipfel hoch in den klaren Aether.

Von Ost und von West kamen die Eisenrosse hergesprengt und hielten nahe einander gegenüber, sich mit der gellenden Stimme des Dampfes begrüßend. An dreitausend Zuschauer, worunter mehrere Damen, hatten sich hier in der Wildniß zusammengefunden, um der Vollendung des großen Werkes beizuwohnen. Chinesen in ihrer Nationaltracht, Europäer und Amerikaner aus allen Theilen der großen Union drängten sich fröhlich untereinander, und alle Racenvorurtheile schienen vergessen zu sein. Die Hauptingenieure, die Directoren und Präsidenten der Central- und der Union-Pacific-Eisenbahn, sowie die mehrerer östlichen Bahnen, angesehene Personen aus Ost und West, sogar ein Mormonenapostel und zwei Mormonenbischöfe waren zugegen.

Nevada sandte einen schweren Silbernagel, Arizona einen zweiten, aus Eisen, Silber und Gold verfertigten Nagel, Californien die letzte Schwelle aus einheimischem Lorbeerholz und einen langen Goldnagel, womit die letzte Schiene der Pacific-Eisenbahn befestigt werden sollte. Chinesenarbeiter von der Central-P. brachten die letzte Schwelle von californischem Lorbeerholz an die für sie bestimmte Stelle, Angestellte von der Union-Pacific legten die letzte Schiene darauf nieder, und um die Mittagsstunde fielen die letzten Hammerschläge auf den Goldnagel.

Der dienende Blitz hatte es übernommen, die letzten Hammerschläge gedankenschnell nach allen Hauptstädten der Union zu tragen, denn der Silberhammer, den man dazu gebrauchte, war mit dem elektrischen Draht verbunden.[1]

In den großen Städten des Ostens wurde der ereignißvolle Tag überall mit Glanz und Enthusiasmus gefeiert; namentlich in Chicago war die Feier eine überaus großartige. Willkomm-Telegramme wurden im Laufe des Tages zwischen vielen Städten des Ostens und San Francisco ausgetauscht.

In San Francisco und in Sacramento fand die Hauptfeier bereits am 8. Mai statt, an welchem Tage, wie zuerst bestimmt war, die letzte Schiene an der Pacific-Eisenbahn gelegt werden sollte.

Der Aufschub der Feier bei Promontory Summit am großen Salzsee ward durch ein tragikomisches Intermezzo veranlaßt. Durant, der Vice-Präsident der Union-Pacific-Eisenbahngesellschaft, war mit einem Gefolge von Directoren, Contractoren und anderen hohen Herrschaften von Omaha unterwegs, um an der Feier [408] Theil zu nehmen, als er bei Piedmont in Utah von mehreren Hundert Arbeitern und Angestellten an der Bahn angehalten und gefangen genommen wurde, welche schworen, sie würden ihn nicht eher weiter reisen lassen, als bis er ihnen den seit Monaten rückständigen Tagelohn ausbezahlt hätte. Achtundvierzig Stunden saß der arme Mann in Haft und mußte haarsträubende Lynch-Drohungen anhören, ehe das von ihm per Telegraph requirirte Geld (vierundachtzigtausend Dollars) anlangte und er unter den Glückwünschen der Arbeiter weiter fahren durfte.

In Folge dieses Aufschubs am Salzsee feierte San Francisco, wie gesagt, das Pacific-Eisenbahnfest am 8. Mai. Am frühen Morgen kündigten hundert Kanonenschüsse von den schweren Batterien bei Fort Point am goldenen Thor und auf der in der Bai liegenden befestigten Insel Alcatraz den Bewohnern der großen Goldstadt an, daß heute der Tag da sei, an dem die Pacific-Eisenbahn fertig oder vielmehr nicht fertig werden würde. Aber was that’s, ob man das Fest am 8. oder am 10. Mai feierte? Die schlechten Bezahler an der Union-Pacific sollten uns den Spaß nicht verderben, zumal bereits Alles zur Feier vorbereitet war und ein Aufschub große Störungen verursacht hätte.

Die meisten Geschäfte in der Stadt waren geschlossen, Fahnen rauschten von allen Dächern und die Straßen waren lebendig von frohen Menschen. Nach amerikanischer Sitte durfte ein Mammuths-Festzug nicht fehlen. Bei dem prachtvollsten Wetter, Schlag elf Uhr, setzte sich dieser in Bewegung, mit allen Blechinstrumenten und Trommeln in der Stadt, unter dem Läuten sämmtlicher Glocken, dem unausgesetzten schrillen Pfeifen und Geheul aller Dampfmaschinen in den zahlreichen Maschinenwerkstätten, Eisengießereien und Fabriken, auf den Dampfschiffen im Hafen und von den Dampffeuerspritzen in den Straßen, – ein großartiger Spectakel. Als der Festzug sich durch die elegante Montgomerystraße bewegte, wo ein Meer von Fahnen wogte und alle Gebäude bis an’s Dach voll waren von Menschen, war das Schauspiel im höchsten Grade imposant.

San Francisco kann man mit Recht eine Stadt von Vereinen nennen, und heute waren sie Alle in Gala ausgerückt. Es giebt deren hier fast so viele als Sand am Meere. Tagtäglich sieht man Abtheilungen von Bürgersoldaten, Turnern, Schützen und Vereinen aller Art mit hochklingenden Namen durch die Straßen paradiren. Italiener, Deutsche, Franzosen, Irländer, Skandinavier, Portugiesen, Slavonier, Illyrier, Neger, Amerikaner, Mexikaner, – Grenadiere mit gewaltigen Bärenmützen und thurmhohen rothen und weißen, wie Cardinalshüte geformten Käppis, Dragoner mit griechischen Helmen und Pferdeschweifen und in mittelalterlichen Sturmhauben, Jäger, Infanterie, Zuaven, Alle mit schweren Epauletten, so daß jeder Gemeine wie ein General aussieht, Turner, Schützen und Rothmänner wetteifern mit Leuten in Civil, in schwarzen Tuchröcken und weißen Baumwollenhandschuhen, mit unverwüstlicher Geduld, unter rauschender Janitscharenmusik und mit fliegenden Bannern Straße auf und Straße ab zu marschiren.

In dem großen Festzuge gingen natürlich Alle mit, – Vereine, Bürgersoldaten, das reguläre Militär, die californischen Pioniere (ersten Ansiedler des Landes), die Gewerke, Maschinenbauer etc., jede Abtheilung mit rauschender Musik und mit fliegenden Fahnen, und an Phantasiebildern und poetischen Darstellungen, die sich auf die Pacific-Eisenbahn bezogen, war kein Mangel. Die deutschen Turner, welche an einem auf einem Wagen angebrachten Barren Turnübungen anstellten und im Fahren einige menschliche Pyramiden zu Stande brachten, wurden mit besonderem Jubel begrüßt, und mancher Blumenstrauß flog von schöner Hand ihnen zu. Sieben blankgeputzte, mit prächtigen Pferden bespannte Dampffeuerspritzen, wie man sie schöner nirgends in der Welt sieht, die mit gellendem Schreien des Dampfes hintereinander herfuhren, und eine von zwanzig Pferden gezogene Locomotive verdienen besondere Erwähnung.

Nachdem der Festzug durch die Hauptstraßen der Stadt marschirt war, ging’s nach dem „Pavillon“, ein Gebäude, das viertausend Menschen faßt. Hier wurden die unvermeidlichen Festreden gehalten, der Dichter des Tages trug seine eleganten Verse vor, die Nationalhymne „star spangled banner“ ward unter der Begleitung von dreihundertundfünfzig Instrumenten gesungen. Abends brannten gewaltige Feuer, wobei das Brennmaterial aus Brettern, Fässern, Kisten und Kasten bestand, an den Straßenecken und auf den Hügeln in und um die Stadt, die Hauptstraßen waren illuminirt, Raketen sausten in den Himmel – so war das Pacific-Eisenbahnfest hier in der großen Goldstadt am Gestade des Stillen Oceans.

Theodor Kirchhoff in San Francisco.




Vor fünfzig Jahren.

Von Robert Keil.

„In einem Zeitpunkte, wo sich der Deutsche dem Deutschen überall nähern, wo nur Ein Geist alle Deutsche beleben und ganz Deutschland überströmen soll, wäre es eine Schande, wenn gerade auf Universitäten, von denen doch alles Bessere ausgehen und sich über das gemeinsame Vaterland verbreiten sollte, wenn auf diesen dieser schöne Geist erstarren und Kleinländereien und Erbärmlichkeiten weichen sollte, die doch nur in einem Getrenntsein der verwandten deutschen Stämme ihren Ursprung und ihre Rechtfertigung finden konnten. Nur in der edlen Liebe, nur in dem großen Gedanken an ein gemeinschaftliches, allumfassendes Vaterland, an den gemeinsamen deutschen Vaterheerd, kann sich der Deutsche groß und zu jeder Heldenthat entschlossen fühlen, denn der Gedanke eines Brudervolkes, in dem sich alle einzelnen Stämme vereinen, das lebende Bewußtsein, Kinder des Einen großen mütterlichen Landes zu sein, umschlungen von den Banden des Einen germanischen Volkes, erhebt zu jenen gewaltigen Empfindungen des wahren Gemeingeistes und Volkssinnes, welche die Wunder der Vaterlandsliebe in der Geschichte verrichten lassen.“

Erfüllt von diesem neuerwachten deutschen Nationalgefühl, wie es in vorstehenden, wörtlich treu wiedergegebenen Sätzen der Jenaer Burschenschafts-Verfassungsurkunde vom 12. Juni 1815 ihren energischen Ausdruck gefunden, hatten bekanntlich die aus dem Befreiungskriege nach der Universität Jena zurückgekehrten Jünglinge die erste deutsche Burschenschaft gegründet. Von dort aus war das erste deutsche Nationalfest, die Doppelfeier der Befreiung von kirchlicher Knechtung und napoleonischer Gewaltherrschaft, jenes erhebende Wartburgfest vom 18. und 19. Oktober 1817 und damit zugleich die durchgreifendste Reform des deutschen Universitätslebens in patriotischem Sinn veranlaßt und eingeleitet worden.

Dieser Wartburggeist, diese Wartburgstimmung hatte belebend und befruchtend sich über die deutschen Universitäten ergossen und überall Sittlichkeit, Wissenschaftlichst und Vaterlandsliebe erweckt. In diesem Sinne entstanden die Burschenschaften von Berlin, Breslau, Erlangen, Gießen, Halle, Heidelberg, Kiel, Königsberg, Leipzig, Marburg, Rostock, Tübingen und Würzburg, und gründeten im Verein mit der Jenaer Burschenschaft am 18. Oktober 1818 auf dem Burschentag zu Jena die allgemeine deutsche Burschenschaft.

Diese hohe und heilige Idee deutscher Einheit und Freiheit war der Grundgedanke der allgemeinen deutschen Burschenschaft. Sie wollte, wie sie in ihrer Constitution geradezu aussprach, „ein Bild des in Freiheit und Einheit erblühenden Volkes sein, wollte ein volkstümliches Burschenleben in der Ausbildung einer jeden leiblichen und geistigen Kraft erhalten und im freien, gleichen und geordneten Gemeinwesen ihre Glieder zum Volksleben vorbereiten“. Sie hat diese hohe Aufgabe redlich erfüllt. Die ganze große Einheitsbewegung des deutschen Volkes hat dort ihren Ausgang genommen, dort ihre Basis gefunden.

Aber eben damit war die Veranlassung zu den schmachvollen Anfeindungen und Verfolgungen gegeben, denen die Burschenschaft von ihrem ersten Entstehen an von Seiten der Reaktion ausgesetzt war. Wohl hatten die deutschen Fürsten beim Aufruf des deutschen Volkes zum Befreiungskampf gegen Napoleon's Tyrannei „Rückkehr zu Freiheit und Unabhängigkeit , Wiedergeburt eines ehrwürdigen deutschen Reiches, ein verjüngtes, kräftiges, aus dem [409] ureignen Geiste des deutschen Volkes hervorgehendes, in Einheit gehaltenes Deutschland“ zugesichert; doch als darauf das deutsche Volk in blutigem Verzweiflungskampfe die Ketten fremder Zwingherrschaft gebrochen und Vaterland und Fürsten gerettet hatte, – dachte von all den geretteten deutschen Fürsten (einen Karl August von Weimar ausgenommen) keiner daran, das so feierlich gegebene Wort auszulösen. Das deutsche Volk war von der Diplomatie verrathen und betrogen um seine heiligsten Güter. Dies trat schon auf dem Wiener Congreß zu Tage. Sehr treffend und wahr sprach es Jakob Benedey 1865 am Jubelfest der deutschen Burschenschaft auf dem Jenaer Markt aus: „Der Wiener Congreß ist ein tiefdemüthigendes Schauspiel für den denkenden Geschichtsbeobachter, wenn er die kleine Eifersucht der Großen und Mächtigen steht, der das Heil der Völker zum Opfer gebracht wird; für den deutschen Vaterlandsfreund aber ist er der bitterste Wermuthtropfen in der ganzen Geschichte Deutschlands, wenn er nach den edeln Opfern und der blutigen Hingebung des deutschen Volkes überall die Selbstsucht und die Herrschsucht, die Eitelkeit und die Frivolität, die List und die Eifersucht am Werke sieht, die eigenen Vortheile auf Kosten des Ganzen zu fördern; die Weltgeschichte kennt kein Beispiel, daß ein edles Volk unwürdiger von seinen eigenen Vertretern verlassen, von seinen Neidern herabgeschraubt, von seinen Feinden hintergangen, mißachtet und mißbraucht wurde, wie dies in Wien dem siegreichen, so hoffnungs- und zukunftsreichen Volk deutscher Nation widerfahren ist.“

Bald wagte die Reaction mit den heiligsten und edelsten Gefühlen ganz offen vor aller Welt Spott und Hohn zu treiben. Der Herr Geheime Rath Schmalz in Berlin meinte: „Nur aus Gehorsam sei das Volk zum Befreiungskrieg aufgestanden, der König habe gerufen und das Volk sei gekommen, ohne Begeisterung, nur aus Pflichtgefühl, etwa wie man auf den Lärm der Feuertrommel zum Löschen eilt;“, man erlaubte sich, das deutsche Volk von 1813 mit einer Koppel Jagdhunde zu vergleichen, die sich gierig auf die Beute stürzen, nachdem der Jäger sie vom Stricke losgemacht; und als die deutsche Jugend auf dem Wartenberg bei Eisenach die erbärmlichen Schandschriften eines Ancillon, Janke, v. Kölln, v. Kamptz, v. Haller, Schmalz etc. in das Feuer geworfen, erhoben diese Autoren großes Geschrei über das Schicksal ihrer sauberen Producte. „Euer Königlichen Hoheit ist es ohne Zweifel bereits bekannt, daß ein Haufen verwilderter Professoren und verführter Studenten auf der Wartburg mehrere Schriften öffentlich verbrannt und dadurch das Geständniß abgelegt haben, daß sie zu ihrer Widerlegung unfähig. Wenn in Euer Königlichen Hoheit Staaten wahre Denk- und Preßfreiheit wirklich blüht, so ist mit derselben eine durch Feuer und Mistgabeln, von Schwärmern und Unmündigen geübte Censur und ein terroristisches Bewahren gegen die Denk- und Preßfreiheit in anderen Staaten gewiß nicht vereinbarlich, und immer wird es für die Geschichte ein Räthsel bleiben, wie unter Euer Königlichen Hoheit Regierung jene klassische Burg, von welcher unter Höchst Ihren Ahnherrn deutsche Denkfreiheit und Toleranz ausging, wie der Tag der Feier wiedererlangter deutscher Freiheit, und wie das Andenken an jenen großen und toleranten Mann, ja, wie überhaupt unser Jahrhundert und ein deutscher Boden durch einen solchen recht eigentlichen Vandalismus demagogischer Intoleranz so stark entwürdigt und so tief entheiligt werden konnte etc. Euer Weisheit und Gerechtigkeit unterwerfe ich submissest und im ehrfurchtsvollsten, unbegrenztesten Vertrauen die deshalb gnädigst zu nehmenden Maßregeln, fest überzeugt, daß Eure etc. nicht wollen, daß Höchst Dero Land, auf welches Deutschlands Staaten noch vor Kurzem nur mit Neid und Bewunderung blickten und welchem bisher Deutschland die Bildung seiner Jugend vorzugsweise gern anvertraute – die Pflanzschule von Staatsverbrechern, Pasquillanten und Injurianten sein solle, fest überzeugt, daß Euer etc. nicht wollen, daß das Land, dem bis jetzt kein Staat den Rang und Namen des deutschen Parnasses zu bestreiten wagte, das Asyl für Staatsverbrecher und Pasquillanten sei etc.“

Herr C. A. v. Kamptz, „Königlich preußischer wirklicher Geheimer Oberkriegsrath und Kammerherr, auch Director im Polizeiministerium“ (wie er selbst sich unterschrieben), war es, der sich erdreistete, diese für jene Zeit so äußerst bezeichnende Denunciation an Karl August zu richten, – einer jener „Schmalzgesellen“, welche vor Kurzem noch die deutschen Anhänger und Schmeichler Bonaparte’s gewesen waren. Man kann unschwer zwischen den Zeilen den Ingrimm lesen, mit welchem die Reactionärs jener Tage gegen das kleine liberale Weimar und dessen Preßfreiheit erfüllt waren. Von eben diesem Gesichtspunkt aus mischten sich denn auch die beiden deutschen Großmächte in die Sache, und erst als die deshalb nach Weimar gekommenen Gesandten, Fürst v. Hardenberg und Graf v. Zichy, sich persönlich von „der Ordnung, der Disciplin und den trefflichen Gesinnungen“ der Jenaer Studirenden überzeugt und daraus entnommen hatten, „daß die Sache nicht so sei, wie man sie dargestellt hatte,“ ging diese erste Anfechtung der Burschenschaft ohne ernstliche Folgen vorüber:

Vom Oktober 1818 an tagte aber in Aachen der Congreß der europäischen Hauptmächte und berieth, wie man zu sagen beliebte, die Mittel zur Erhaltung der äußern und innern Ruhe Europas und zur Abwendung der Revolution, d. h. zur gänzlichen Niederwerfung des Volksgeistes, zur Befestigung des absolutistischen Princips. Hier traten die Bestrebungen der in- und ausländischen Reaction, dem patriotischen akademischen Burschenbunde zu Leibe zu gehen, schon entschiedener hervor. Der russische Staatsrath Alex. von Stourdza überreichte dem Congreß seine ebenso schamlose als von gänzlicher Unkenntniß des deutschen Universitätswesens zeugende Schmähschrift gegen die deutschen Universitäten, – und wer weiß, ob er nicht die gewünschten Maßregeln gegen die Akademien erreicht hätte, wenn nicht die rücksichtslose Abfertigung, welche ihm von Seiten der Jenaer Professoren wurde, und die allgemeine und tiefe Indignation, welche jene Schandschrift in Deutschland überall erregte und den Verfasser selbst, in Furcht vor den Jenaer Klingen und der ihm gewordenen Herausforderung, zur Flucht bewog, den russischen Kaiser veranlaßt hätte, die (auf seinen Befehl geschriebene) Schrift zu desavouiren. Als aber von Kotzebue, der sich zum Vertheidiger jener Stourdza’schen Schrift aufgeworfen hatte und selbst seine verräterischen, freiheitsfeindlichen Bulletins nach St. Petersburg schrieb, am 23. März 1819 vom Dolche des Jenaer Studenten und Burschenschafters Karl Ludwig Sand fiel, hatte man den langersehnten Vorwand zum Einschreiten gegen den verhaßten Burschenbund gefunden. Zwar wurde die Mitschuld der Burschenschaft, die man anfangs geglaubt und gehofft hatte, durch die Untersuchung nicht bestätigt, sondern widerlegt. Wohl war die Theilnahme, welche Sand’s Schicksal erregte, eine innige und allgemeine, es wurden Ringe und Medaillons, worin sich Haare von Sand und Splitter vom Schaffot befanden, getragen, und die Wiese, auf welcher die Hinrichtung vor sich gegangen, vom Volke mit ewigem Klee und Vergißmeinnicht besät und „Sand’s Himmelfahrtswiese“ genannt; weiter als der allgemeine Unwille über Kotzebue’s Verrätherei, weiter als die allgemeine Theilnahme an dem Schicksal des aus edelsten Motiven zum Meuchelmörder gewordenen Jünglings gingen auch die Beziehungen der Burschenschaft zur Sand’schen That nicht. Aber die Herren Diplomaten und Minister erfüllte Sorge und Angst. Konnte nicht in jedem Augenblicke zu der Thür, an der es eben pochte, ein anderer Sand hereintreten? Konnte nicht auf jeder Promenade ein schwärmerischer Jüngling den Dolch zücken?

Diese Angst vor der akademischen Jugend und der langgehegte Wunsch, das in der Burschenschaft sich darstellende Bild deutscher Einigung, den in der Burschenschaft lebenden Gedanken nationaler Einheit und Freiheit zu vernichten, ließen Sand’s That trotz aller Nichtschuld der Burschenschaft als Vorwand zu deren Verfolgung mißbrauchen. Schon wenige Tage nach Kotzebue’s Ermordung erging von der preußischen Regierung an alle zu Jena studirenden Preußen der Befehl, die Universität Jena binnen vierundzwanzig Stunden zu verlassen.

Von Ostern 1819 an durften in Jena nur solche Ausländer aufgenommen werden, welche eine besondere Erlaubniß, in Jena zu studiren, von ihrer Regierung vorzeigen konnten. Noch suchte Karl August, der warme Freund der Burschenschaft, die akademische Freiheit und die Burschenschaft dadurch zu schützen, daß er beim Bundestag durch eine energische Erklärung seines Gesandten die Universitäten überhaupt und insbesondere die Jena’sche gegen die erhobenen Beschuldigungen rechtfertigte. Aber seine Vorstellung, sein Protest konnte leider die Schritte nicht verhüten, welche die Diplomatie gerade gegen das kleine liberale Weimar und gegen die deutsche Burschenschaft vorbereitete. Mit rücksichtsloser Verhöhnung Weimars wurde auf dem Karlsbader Minister-Congreß im August 1819 die Knebelung der Presse, die Maßregelung der Universitäten und Schulen, die Verfolgung der sogenannten demagogischen [410] Umtriebe und namentlich der deutschen Burschenschaft beschlossen.

Dem deutschen Michel, der (um mit den Worten seiner „wahrhaftigen Geschichte“ zu reden) an seiner neuen Livrée kein sonderliches Gefallen fand, weil sie nicht aus einem Zeuge geschnitten und über die Brust ihm viel zu eng war, – der auch bemerkte, daß man nach zwölf Lappen den dreizehnten völlig vergessen wolle, so daß er seine sämmtlichen Blößen nicht wohl bedecken konnte, – der deshalb Ursache zu haben glaubte, sich beschweren zu dürfen, ihm sollte ein fester, wohlschließender Maulkorb angelegt werden. Was half es, daß einzelne einsichtsvolle Staatsmänner ihre Indignation über diese Beschlüsse äußerten, daß der preußische Staatsminister Wilhelm von Humboldt sie „schändlich, unnational, ein denkendes Volk aufregend“, der würtembergische Staatsminister von Wangenheim sie „schamlos“ nannte? Im September darauf wurden doch diese Beschlüsse durch den Frankfurter Bundestag zum Bundesgesetz erhoben, und insbesondere wurde verfügt, daß mit aller Kraft und Strenge gegen die allgemeine Burschenschaft einzuschreiten sei, da diesem Vereine „die schlechterdings unzulässige Voraussetzung einer fortdauernden Gemeinschaft und Correspondenz zwischen den verschiedenen Universitäten zu Grunde liege“. Die Vertreter der deutschen Regierungen nahmen keinen Anstand, ihrem Bundestagsbeschlusse diese ebenso lächerliche als erbärmliche Motivirung zu geben. War auch damals, als es Fürst und Volk von napoleonischer Botmäßigkeit zu retten galt, die Gemeinschaft eine „schlechterdings unzulässige“ gewesen? Und war dies das verjüngte, kräftige, in Einheit gehaltene Deutschland, welches der Aufruf von Kalisch zugesichert hatte? O, das war ja nur ein Verzweiflungsruf gewesen, wer von den hohen Herren hätte sich dadurch von der gänzlichen Niederwerfung des erwachten Volksgeistes abhalten lassen sollen?! Ja, man ging noch weiter, man setzte die Central-Untersuchungsbehörde in Mainz ein, damit sie ganz Deutschland mit ihrem Netz überziehe, jeden Vaterlands- und Freiheitsfreund als einen dem Absolutismus gefährlichen Demagogen einfange und durch gehorsame Richter dem Zuchthaus, überliefere!

Dem Bundesbeschlusse mußte auch Weimar sich fügen. Eine Studenten-Deputation, A. v. Binzer an der Spitze, eilte von Jena nach Weimar und bat um Schutz der patriotischen Verbindung, konnte aber nur abschläglichen Bescheid erhalten. Von dort aus erging am 26. November 1819 der Befehl an den akademischen Senat zu Jena, die Burschenschaft aufzulösen. Noch an demselben Tage wurde der Befehl dem Vorstande der Burschenschaft eröffnet und von Letzterem sofort für den Abend die letzte Versammlung der Burschenschaft in den Rosensaal berufen. Die Versammlung war zahlreich, Alle in der gespanntesten Erwartung. Der Sprecher verkündigte die landesherrliche Verfügung. Stumm und lautlos hörte man sie an. Erst als die gepreßten Gefühle wieder frei geworden, da wollte des Umarmens und Weinens kein Ende nehmen. Der Vorstand gab den Empfindungen der Trauer und Wehmuth, welche Alle erfüllten, Ausdruck und verband damit beruhigende und Hoffnung erweckende Ansprachen.

Alle Anwesenden waren tief bewegt. Feierlich sang man das von E. M. Arndt gedichtete, von G. F. Hanitsch componirte Bundeslied, mit dem man vier Jahre zuvor, am 12. Juni 1815 im Gasthof zur Tanne in Jena die erste Burschenschaftsversammlung eröffnet hatte, das Lied: „Sind wir vereint zur guten Stunde etc.“

Dann beschlossen die Jünglinge als einen Ausdruck ihrer Dankgefühle für den bisherigen Schutz und zugleich als eine Rechtfertigung der Burschenschaft vor der deutschen Geschichte die nachstehende, von Robert Wesselhöft entworfene Adresse an den Großherzog Karl August. Sie ist für den wahren Geist und die unvergängliche große Bedeutung der Burschenschaft zu bezeichnend, als daß sie nicht wörtliche Aufnahme finden sollte. Sie lautete:

„Durchlauchtigster Großherzog!
Gnädigster Herr und Fürst!

Das Vertrauen, welches wir zu Ew. Königlichen Hoheit gewonnen haben, veranlaßt uns, zu glauben, daß wir es ungehindert wagen dürfen, auch jetzt noch unsere Gesinnung gegen Ew. Königliche Hoheit auszusprechen, wo wir zergliedert und losgerissen sind von den schönen Hoffnungen, welche wir in der Einheit und Eintracht eines geduldeten sittlichen Zusammenlebens in unsern jungen Herzen genährt hatten.

Es ist der Wille Ew. Königlichen Hoheit gewesen, die Burschenschaft aufzulösen. Er ist ausgeführt. Wir selbst erklären hiermit feierlich und öffentlich, daß wir dem Befehl strengen Gehorsam geleistet haben; wir selbst haben die Form zerstört, wie es uns anbefohlen war; wir haben niedergerissen, was wir nach bester Einsicht, nach reiflicher Prüfung mit arglosem unschuldigem Glauben und mit dem frohen Bewußtsein, etwas Gutes zu thun, aufgebaut hatten. Die Folgen hatten unserer Erwartung entsprochen. Ein sittliches freies Leben hatte sich gestaltet, zuversichtliche Oeffentlichkeit war an die Stelle schleichender Heimlichkeit getreten; wir konnten ohne Scheu und mit gutem Gewissen den Augen der Welt darbieten, was wir aus unserem innersten Herzen hervorgesucht und in die Wirklichkeit versetzt hatten; der Geist der Liebe und der Gerechtigkeit hat uns geleitet, und die bessere öffentliche Stimme hat bis auf die neuesten Zeiten unsere Bestrebungen gebilligt.

Tief in das Leben des Einzelnen hat der Geist eingegriffen, der uns vereinigt hatte. Es ist von dem Einzelnen begriffen, wie der deutsche Jüngling zum Andern stehen müsse. Das Recht des Stärkeren war in seiner veralteten Form vernichtet. Sittlichkeit war die erste und letzte Triebfeder unseres vereinigten Handelns. Unser Leben sollte eine Vorschule des künftigen Bürgers sein. Ew. Königlichen Hoheit ist dieses nicht entgangen, und die zwiefache Auslieferung unserer Papiere hat nach unserem besten Wissen kein anderes Resultat liefern können.

Jetzt ist die Schule geschlossen. Jeder geht hinweg mit dem, was er in ihr gelernt hat; er wird es behalten, und es wird in ihm fortleben. Was als wahr begriffen ist vom Ganzen, wird auch wahr bleiben im Einzelnen. Der Geist der Burschenschaft, der Geist sittlicher Freiheit und Gleichheit in unserm Burschenleben, der Geist der Gerechtigkeit und der gegenseitigen Liebe zum Vaterland, das Höchste, dessen Menschen sich bewußt werden mögen, dieser Geist wird dem Einzelnen inwohnen und nach dem Maße seiner Kräfte ihn fortwährend zum Guten leiten.

Das aber schmerzt uns tief: einmal, daß uns die Wirksamkeit genommen ist auf die, die nach uns kommen werden, das andere Mal, daß unser Streben verkannt und öffentlich verkannt ist. Wahrlich, schmerzlicher konnte man uns nicht verwunden! Nur das gute Bewußtsein[WS 1] in unsrer Brust kann uns lehren, daß unsre innere Ehre Niemand vernichten kann, und uns die Mittel zeigen, wie wir dieses Unrecht verschmerzen.

So bloßgestellt jedem Urtheil, überlassen wir es der Zeit, uns zu rechtfertigen, und geben gern dem Trost in uns Raum, daß es wenigstens eine Zeit gegeben hat, wo unsere Bestrebungen selbst von unserm edlen Fürsten und Herrn nicht mißkannt worden sind. Nichts wird die Liebe zu ihm ändern, und eine bessere Zeit gestattet uns vielleicht dereinst, sie ihm dankbar an den Tag zu legen.

Mit heißen Wünschen für unser Vaterland und für das Wohl Ew. Königlichen Hoheit unterzeichnen wir uns in unwandelbarer Liebe als

Ew. Königlichen Hohen

getreueste Diener

Die Mitglieder der ehemaligen Burschenschaft.“

Fürwahr, eine wahrere, würdigere Gedächtnißrede bei der Bestattung der Burschenschaft hätte sich nicht denken lassen.

Noch einmal erscholl aus ganzem, vollem Herzen die Schlußstrophe des Bundesliedes:

Rückt dichter in der heil’gen Runde
Und klingt den letzten Jubelklang!
Von Herz zu Herz, von Mund zu Munde
Erbrause freudig der Gesang:
Das Wort, das unsern Bund geschürzet,
Das Heil, das uns kein Teufel raubt
Und kein Tyrannentrug uns kürzet,
Das sei gehalten und geglaubt!

Dann ging man in bewegtester Stimmung, aber still und ruhig auseinander.

Eine Anzahl innigst befreundeter Jünglinge, unter ihnen die bisherigen Vorstandsmitglieder, blieb aber noch in ernster Berathung zusammen. Die der Adresse an den Großherzog zu Grunde liegenden Ideen und Hoffnungen waren der Gegenstand der vertraulichen Verhandlung und fanden endlich ihren treuesten, wärmsten Ausdruck in dem einzig schönen, tiefgemüthvollen, an diesem Tage zum ersten Male gesungenen Liede des Vorstands-Mitgliedes August von Binzer:

Wir hatten gebauet
Ein stattliches Haus etc.

[411] Ihm hat die Gartenlaube (Nr. 25, Jahrgang 1868) dafür das verdiente Denkmal gesetzt.

Wie in Jena wurde auch auf den anderen Universitäten die Burschenschaft aufgelöst; und nur mit innigem Behagen glaubte die Reaction den verhaßten Bund deutscher akademischer Jugend gänzlich und für alle Zeit vernichtet. Sie täuschte sich. Man kann (um mit den Worten Palmerston’s zu reden) Ideen nicht mit Kartätschen niederschmettern, man kann sie auch nicht durch Bundestagsbeschlüsse vernichten. Was nicht mehr aufflammen durfte, glühte doch unter der Asche fort.

In Jena folgte noch an jenem oben geschilderten denkwürdigen Abende der bisherige Burschenschafts-Vorstand der Aufforderung seines Mitgliedes Robert Wesselhöft, in dessen Wohnung die Stunden der Nacht zu Berathungen über das Verbindungswesen der nächsten Zukunft zu benutzen. Dort beriethen sie, bis der Morgen graute, wie trotz der zerbrochenen Form der burschenschaftliche Geist und die burschenschaftliche Sitte zu retten, zu bewahren, zu befestigen sei. Wenige Monate später, am 4. Juni 1820, zog der Rest der alten Burschenschaft hinauf auf die sogenannte Wölmse bei Jena und verband sich unter dem Namen „Germania“ mit Wort und Handschlag, die Grundsätze der alten Burschenschaft treulich und energisch aufrecht zu erhalten.

Hörschelmann, derselbe Hörschelmann, der (jetzt Superintendent zu Tonndorf) am 18. October 1867 beim Wartburgfest-Jubiläum vom Treppen-Altan des Landgrafenhauses die kernigen Worte sprach – er war es, der damals die Eröffnungsrede hielt und jetzt in Erinnerung daran uns schreibt: „Wenn ich zurückdenke an jene Zeit, fließt mir das Blut immer wieder rascher durch die Adern und ich höre meines Herzens Schläge.“ – Fast gleichzeitig entstanden auch in Berlin, Erlangen, Heidelberg, Leipzig etc. neue Burschenschaften heimlich wieder. Wohl war diese Heimlichkeit ein Hinderniß für die edle patriotische Sache und mit deren eigentlichstem Wesen unvereinbar; – wohl hatte ein Haupt jener heimlichen Jenaer Burschenschaft vollkommen Recht, als es im Jahre 1821 seinem Freunde in das Album schrieb: „Wie kann ich des Lichtes Werke in der Finsterniß vollziehen? unser erstes Streben möge nach Oeffentlichkeit gehen, denn nur in der Oeffentlichkeit kann ein kräftigeres Leben emporkommen,“ – wohl ist auch eben durch den Mangel der Oeffentlichkeit die Burschenschaft in einzelnen Perioden hie und da vom einfach patriotischen Standpunkt auf den Standpunkt einseitiger Partei gedrängt worden; – trotzdem, trotz alle dem und trotz der achtjährigen Dauer der hochnothpeinlichen Mainzer Inquisition, trotz der servilsten und verfolgungssüchtigsten Demagogenriecherei, trotz Zuchthaus und Verbannung hat die deutsche Burschenschaft ihre große, heilige Mission erfüllt, hat als Trägerin des Gedankens der nationalen Einheit das Volk in immer weiteren, weiteren Kreisen mit den Ideen vaterländischer Einheit und Freiheit befruchtet und so allmählich (wie Freund Hofmann in seinem Jenaischen Jubiläums-Festlied es so treffend bezeichnet) „das ganze Volk der deutschen Erde zu einer großen Burschenschaft“ gemacht.

Sie hat es in ihren großen edeln Festen, dem Burschenschaftsjubiläum 1865 und den unvergeßlichen Eisenacher Octobertagen 1867 bethätigt, und die ganze gebildete Welt hat es anerkannt. Es ziemt sich, jetzt, im Jahre 1869, des feierlichen Actes zu gedenken, in welchem vor fünfzig Jahren der patriotische Bund der deutschen akademischen Jugend aufgelöst wurde, und auch zu einem äußern Zeichen der Erinnerung und Sympathie ist den Gliedern und Freunden der Burschenschaft Gelegenheit gegeben. Ehrt man das Andenken des treuesten, des edelsten Burschenschafters wegen seiner Treue zur Burschenschaft, so ehrt man diese selbst. Einer der edelsten, treuesten Burschenschafter war aber Karl Hermann Scheidler. Am 8. Januar 1795 zu Gotha geboren, zog er, ein achtzehnjähriger Jüngling, als freiwilliger Jäger in den Befreiungskrieg, studirte dann in Jena die Rechte. Im Winter 1814 zu 1815 reichten sich auf dem Jenaer Markt Scheidler, Riemann und Dortü die Hand zur Gründung des patriotischen Bundes, der am 12. Juni 1815 erstehen sollte. Scheidler war es namentlich, der im Verein mit seinem lieben Freund Riemann die Veranstaltung des Wartburgfestes betrieb; er wurde Oberanführer des Ganzen, trug das Jenaische Burschenschwert dem Auge voran, leitete am 19. October die freie Burschengemeinde und schuf durch seine Aufforderung jene Versöhnung der Parteien, jene freundschaftliche Einigung, aus welcher die allgemeine deutsche Burschenschaft sich erst gestaltete.

Nach Beendigung seines Studiums in Jena und Berlin trat er in den preußischen Staatsdienst, mußte denselben aber nach einigen Jahren in Folge einer aus dem Felde mitgebrachten fortwährend zunehmenden Harthörigkeit wieder aufgeben, betrat 1821 in Jena die akademische Laufbahn als Docent der Philosophie und der Staatswissenschaften und erlangte im Jahre 1826 die Professur. Ueber einhundert Werke und Aufsätze in literarische Zeitschriften hat er seitdem geschrieben, und in allen, allen hat er für politische und religiöse Freiheit, für Aufklärung und Charakter-Fortbildung der Jugend, für ein veredeltes deutsches Universitätsleben mit ganzem vollen Herzen und mit den Waffen eines klaren, scharfen Geistes wacker gekämpft. Mit derselben Wahrheits- und Freiheilsliebe sprach er vom Lehrstuhl zur akademischen Jugend und stand mit ihr in treuem, liebevollem Verkehr. Diese Treue, diese Frische zeigte er noch im Greisenalter. Beim fünfzigjährigen Jubiläum der deutschen Burschenschaft 1865 war er der Erste im Festausschuß, und als die Wartburgfahne, das vielverfolgte schwarz-roth-goldene Banner deutschen Einheitsstrebens, sich unter dem jauchzenden Zuruf von tausend Alten und Jungen zum ersten Mal wieder entfaltete, wurde im großen Festzug Scheidler (begleitet von den Jugendfreunden, jetzt Jubilaren Horn und Riemann) ihr Träger. Doch dies sollte zugleich der letzte helle Sonnenblick seines Lebens sein, die Gedächtnißfeier des Wartburgfestes sollte er nicht mehr erleben, – tief betrauert von Jugend und Alter, von Docent, Student und Bürger, von jedem Vaterlands- und Freiheitsfreund, starb er am 22. October 1866 und ruht auf dem Jenaer Friedhofe. Ihm ein einfach-würdiges Grabdenkmal, „gewidmet von der deutschen Burschenschaft“, auf seine Ruhestätte zu setzen, ist die Idee, welche, aus den Kreisen der Wartburgfestgenossen hervorgegangen, bereits in Nähe und Ferne warme Theilnahme gefunden hat. Selbst aus Buenos Ayres ging ein Beitrag ein von „einem alten enthusiastischen Jünger dieses vaterländischen Burschenvereins, dem man mit Fug und Recht die Begründung der Einigung Deutschlands, soweit sie kürzlich zur Ausführung gelangt ist, zuschreiben darf, und dem von unparteiischen Geschichtsschreibern in der Zukunft gebührendermaßen noch weit mehr Anerkennung gezollt werden wird, als es bisher geschehen ist und namentlich eben jetzt geschieht“. Der Anfang ist also gut! So sorgt denn, ihr alten und jungen Burschenschafter im Norden und Süden Deutschlands und ihr Treuen jenseit der Alpen und des Meeres, daß die Worte, mit welchen Friedrich Hofmann in seiner Weihedichtung zu unserm Wartburgfestbuche dieses Denkmal begrüßt, recht bald zur Wahrheit werden:

Hier ist das Grab. Hier schließe
Den Kreis der Burschen Schaar,
Das alte Banner grüße
Ihn, der sein Führer war.
Ihm, unter dieser Erden,
Schwört hoch und hehr auf’s Neu’:
„Wenn Alle untreu werden,
So bleiben wir doch treu!“ – –

Der deutschen Mannestugend
Gilt diese Huldigung:
Daß Dein Bild uns die Jugend
Erhalte deutsch und jung!
Und ist der Kranz der Trauer
Verwelkt mit seiner Zeit:
Des Ehrenkranzes Dauer,
Das sei die Ewigkeit!

Gewiß, ein solch ehrendes Denkmal auf dem Grabe des größten, treuesten Burschenschafters wird auch das schönste, sinnigste Zeichen des Andenkens an die verhängnißvollen Stunden vor fünfzig Jahren sein. Die Mahnung zu Beiträgen (zu deren Empfangnahme die Brüder Dr. Robert und Richard Keil in Weimar sich bereit erklären) geht nicht nur an die ehemaligen und jetzigen Burschenschafter, sondern auch an jeden Freund der Burschenschaft, an die „große deutsche Burschenschaft“. Sie ergeht auch an euch, ihr deutschen Brüder in Oesterreich! Ihr gehört zu uns, wie wir zu euch! Und giebt euch nicht die Entwickelung der Burschenschaft und des Burschenschaftsgeistes, des nationalen Einheitsgedankens selbst die beruhigendste, tröstlichste Hoffnung?

Das Haus mag zerfallen –
Was hat’s denn für Noth?
Der Geist lebt in uns Allen,
Und unsre Burg ist Gott!



[412]
„Die Nachbarin des Donners.“



Geweihtes Erz! für Ewigkeit
Hat dich des Dichters „Lied“ geweiht.
Wer kann dich höher noch erheben,
Der Glockenstimme Heimathklang,
Als Friedrich Schiller’s Hochgesang?
„Hoch überm niedern Erdenleben
Soll an dem blauen Himmelszelt
Die Nachbarin des Donners schweben
Und grenzen an die Sternenwelt;
Soll eine Stimme sein von oben,
Wie der Gestirne helle Schaar,
Die ihren Schöpfer wandelnd loben
Und führen das bekränzte Jahr.
Nur ewigen und ernsten Dingen
Sei ihr metall’ner Mund geweiht,
Und stündlich mit den schnellen Schwingen
Berühr’ im Fluge sie die Zeit.
Dem Schicksal leihe sie die Zunge;
Selbst herzlos, ohne Mitgefühl,
begleite sie mit ihrem Schwunge
Des Lebens wechselvolles Spiel.
Und wie der Klang dem Ohr vergehet,
Der mächtig tönend ihr entschallt,
So lehre sie, daß nichts bestehet,
Daß alles Irdische verhallt.“


Als man am Begräbnißtage des Kurfürsten Johann, des Beständigen, in Wittenberg zur Trauer läutete, sprach Luther: „Die Glocken klingen viel anders denn sonst.“ Mit diesen Worten hat er die wunderbare Macht des Glockentons über unser Gemüth, unsere Stimmung fast kindlich einfach und doch so wahr bezeichnet. Wohl klangen die Glocken damals nicht anders, als immer, aber so innig ist ihr Ton mit den Gefühlssaiten unseres Herzens verbunden, daß er stets mit ihm in Harmonie bleibt, in Dur wie im Moll, von der Begeisterung, die auf Choralwogen schwebt, bis zum Heulen des Sturms, von der sanften Abendwehmuth bis zum tiefen Schmerz hinter’m Sarg der Lieben.

Diese Wirkung auf das Gemüth verleiht der Glocke den eigentümlichen Werth vor allen sonstigen Stücken des Gemeinde- Eigenthums. Sie gehört ausnahmslos Allen. Dem Aermsten wie dem Reichsten giebt ihr schallender Klang die Tageszeiten an, vom „Morgen-“ bis zum „ Abendläuten“, und ruft sie zu den Festen der Kirche wie der Familie, zum Taufstein und zum Altar; und nicht überall ist’s so schlimm, daß ihr Trauerton nur denjenigen, für welchen es bezahlt wird, auch auf dem letzten Wege begleitet. Diese enge Verknüpfung der Glocke mit dem Lebensgang jedes Menschen macht sie zu einem Schicksalsgenossen und verbindet sie mit der Geschichte des Dorfs, der Stadt, der Heimath der Bewohner. Schon die lebhafte Erinnerung an die heimische Glocke erweckt in der Ferne das Heimathsgefühl oft bis zum Heimweh.

War aber eine solche Glocke seit der Mitte des dreißigjährigen Kriegs bis auf die Gegenwart mit dem Schicksal einer Stadt, wie Leipzig, verbunden, so thut sich ein Stück Weltgeschichte vor uns auf, wenn wir hinblicken auf den vor unserm geistigen Auge vorüberwogenden Strom so vieler Völker, Fürsten und Führer, so vieler einzelnen Hervorragenden, so vieler Gewaltigen an Macht oder Geist und Kunst, und der großen Massen, der friedlichen Züge der Messen und Feste und der donnernden Heere der blutigen Schlachten! Und all’ diese Tausende und aber Tausende haben den tiefen Klängen dieser Glocke gelauscht, in Andacht und Gebet, im Siegesjubel, in Angst und Elend, in Festespracht, in Noth und Jammer, im Zittern und Toben des Sturms, beim Weinen der Geliebten auf dem Sterbepfühl und draußen im Todesröcheln auf dem kalten, nassen, zerstampften „Bette der Ehre“. Welch ein Menschengeschick ist nur zu erdenken, auf das in fast dritthalbhundert der ereignißschwersten Jahre des Vaterlandes die große Glocke vom Thurme der Nicolaikirche nicht herniedergehallt hätte! Ist es anders möglich, als daß an solch’ einem „geweihten Erz“ nicht blos das Herz des Glöckners und Thürmers hängt, sondern daß eine ganze Bewohnerschaft sie mit dem Gefühle erschallen hört und betrachtet, welches so mächtige Erinnerungen in jeder Menschenbrust erwecken müssen?

Ebendarum war es auch ein gemeinsamer Verlust, als diese alte große Glocke in jüngster Zeit zersprang, und ebenso nimmt die Herstellung eines vollständig neuen Geläutes aus dem alten Erze sämmtlicher vier Glocken des Nicolaithurms eine allgemeine Theilnahme für sich in Anspruch und hat in den letzten Wochen die Schritte vieler Leipziger nach dem großen Eckhause der Sternwarten- und Glockenstraße gelenkt, wo der alte Meister G. A. Jauck, der Rathsglockengießer von Leipzig, seine große und stattliche Werkstatt aufgeschlagen hat. Aus derselben sind bis jetzt nahe an vierhundert große Kirchenglocken, einzelne von mehr als hundert Centner Gewicht, hervorgegangen, deren mehrere ins Ausland, ja bis nach Indien kamen. Die vier alten Nicolai-Glocken hatten ein Gesammtgewicht von 158¾ Centnern, die aber in einem solchen Mißverhältniß vertheilt waren (die große Glocke 119 Centner, die drei übrigen 33¾, 4½ und 1½ Centner), daß dem Geläute alle Harmonie abging. Die vier neuen Glocken sind 80, 40, 23¾ und 10 Centner schwer und stimmen in dem Accord G, H, D, G.

Der Klang der Glocken geht ja um die ganze Erde, und so weit er zu Herzen spricht, reicht auch die Theilnahme für sie; ebendarum dürfen wir es wohl wagen, die hier gegebene Gelegenheit zum Versuch eines technologischen Commentars zu Schiller’s „Lied von der Glocke“ zu benutzen.

Merken wir uns nun vor Allem die technische Bezeichnung der einzelnen Theile jeder Glocke. Da, wo sie ihren größten Umfang hat, bei der Mündung, hat die Glocke auch ihre größte Metalldicke, den Schlagring, Schlag oder Kranz, d. i. den Umkreis, gegen welchen der Klöppelball schlägt. Von der Schlagmündung bis zur Mitte verengert sie sich nahezu um die Hälfte; der dann folgende Obersatz vollendet diese Verengerung, so daß der Durchmesser des obersten Theils der Glocke, der Haube oder Platte, nur die Hälfte von dem des Bordes beträgt, wie der schmale Rand heißt, in welchen der Schlagring nach unten ausläuft. Auf der Haube steht die gleich durch den Guß mit ihr verbundene Krone von sechs Henkeln (deren zwei von dem dritten, dem Mittelbogen, überspannt werden), welche zur Befestigung des Helms, Wolfs oder Jochs dient, eines im Verhältniß zur Schwere der Glocke starken Stückes Eichenholz, das, mit eisernen Ringen und Bändern verstärkt, mit beiden Enden cylindrisch in den eisernen Zapfen ausläuft, mit welchen die Glocke in der Messingpfanne des Glockenstuhls ruht, um geläutet werden zu können. Letzteres geschieht entweder am Glockenstrang mittels des Schwängels, also durch Ziehen von unten, oder durch Treten von oben auf das auf dem Schwängel befestigte Trittbret. Zur Befestigung des Klöppels dient das Hängeeisen, ein Oehr aus Schmiedeeisen, das in die Haube eingegossen ist, und ein starker, mehrfacher Riemen aus Rindsleder.

Unmittelbar vor dem Schmelzofen ist die Dammgrube ausgegraben, in welcher die Form aufgebaut wird. – Die Herstellung der Form ist des Glockengießers Meisterstück. Von ihr hängt Gestalt, Gewicht und Ton der Glocke ab.

[413]

Die Gießhalle von G. A. Jauck’s Glockengießerei in Leipzig. Nach der Natur aufgenommen von G. Sundblad in Leipzig.

[414] Nichts ist da der Willkür überlassen, Alles folgt strengster Berechnung, selbst die Bogenlinien des Glockenkörpers zieht nicht die freie Hand, sondern nach bestimmten Gesetzen der Cirkel oder das Lineal. Zur Grundlage dieser Berechnungen nimmt man die Glockendicke am Schlagring, die den vierzehnten Theil von der Länge des Durchmessers der Glocke am Borde derselben beträgt. Zu diesem Behufe theilt man diesen Durchmesser in vierzehn Schläge ein und bestimmt darnach alle übrigen Maße, namentlich die vom Schlagring aus abnehmende Stärke der übrigen Glockenwand. Dieser Länge entspricht zugleich die Höhe der Glocke mit der Krone.

Soll z. B. eine Glocke von 10 Centner Gewicht gegossen werden, so dient zur Berechnung der Verhältnisse der Form, damit diese genau das bestimmte Quantum des flüssigen Metallstromes in sich aufnehme, eine Normalglocke, welche erfahrungsmäßig nach Ton, Dimensionen und Gewicht bekannt sein muß. Das ist eine Glocke von 1 Centner Gewicht, welche den Ton As der einmal gestrichenen Octave und einen unteren oder Bord-Durchmesser von 19,58 Zoll sächsisch hat. Um nun die Verhältnisse der 10-Centner-Glocke zu finden, muß die Kubikwurzel aus 10 gesucht werden, das ist 2,1545, welche Zahl alsdann mit den bekannten Dimensionen der 1-Centner-Glocke multiplicirt die Größe und zugleich den Ton der 10 Centner schweren neuen Glocke auf das Genaueste bestimmt.

Was den Glockenton an sich betrifft, so ist das Größenverhältniß der in einer Octave liegenden Scala von zwölf Glocken durch Ausrechnung einer Zahlenreihe zu finden, welche genau den Schwingungen der betreffenden Töne in einem gewissen Zeitraum entspricht. Der Glockengießer, welcher nicht blos an handwerksmäßigen Erfahrungen und Ueberlieferungen festhält, arbeitet nach einer auf wissenschaftlicher Grundlage ruhenden Theorie, welche untrüglich ist. Wenn indeß doch die Herstellung eines rein harmonischen Glockengeläutes immer ein Meisterstück bleibt, so liegt dies an der Ausführung der verschiedenen Manipulationen beim Formen und Gießen, welches mit äußerster Genauigkeit erfolgen muß, weil jede, auch die kleinste Ungenauigkeit sich, wenn nicht durch Mißlingen des Gusses, so doch durch Störung der Harmonie auf das Empfindlichste rächt.

Zu diesen einzelnen Manipulationen führe uns nun unser Schiller! Er beginnt:

„Fest gemauert in der Erden
Steht die Form, aus Lehm gebrannt.

Richtiger, kürzer und bestimmter konnte dies nicht ausgedrückt werden. Die Form besteht aus drei Theilen: dem Kern, welcher beim Guß die innere Seite der Glocke giebt; dann dem Hemd oder der Dicke, das heißt dem Modell der künftigen Glocke; – endlich dem Mantel, welcher die äußere Bedeckung des Modells bildet und der Glocke ihre äußere Gestalt verleiht.

Ist der Durchmesser der Glocke bestimmt, so schlägt man in der Mitte des Raumes in der Grube, auf welchem sie gegossen werden soll, einen Pfahl ein, der ungefähr bis zur Hälfte der Höhe der künftigen Glocke aufragt. Hieraus wird etwa anderthalb „Schläge“ (s. oben) über den Durchmesser der beplanten Glocke hinaus in Form eines breiten Ringes ein Fundament (der Stand) aus Back- oder Ziegelsteinen aufgemauert und auf diesem, ebenfalls von Ziegeln, ein Körper von nahezu der Größe und Form des hohlen Raumes der Glocke aufgeführt, jedoch so, daß er in der Mitte eine cylindrische Höhlung erhält, zu welcher von vier Seiten des „Standes“ niedrige Canäle führen, welche den nöthigen Luftzug unterhalten, wenn später, zur Austrocknung der Form, Feuer darin angeschürt wird. Oben auf den Pfahl wird ein langes Stück Eisen („Grenzeisen“) so gelegt, daß es auf beiden Seiten fest in’s Gestein mit eingemauert werden kann; es ist mit einer Pfanne zur späteren Aufnahme eines Eisenstiftes versehen. Ist dieser Kern bis zur Haubenhöhe der Glocke aufgemauert, so wird ihm mittels eines Lehmüberzugs die genaue innere Glockenform gegeben. Zu diesem Behufe wird in die Pfanne des Grenzeisens im Cylinder des Kerns eine eiserne Spindel gesteckt, die mit ihrem oberen Zapfen in einem mit Eisen überfütterten Loche eines starken Balkens läuft, welcher über die Dammgrube gelegt ist und die Spindel fest in senkrechter Stellung erhält. An diese Spindel sind, zwischen dem Balken und dem gemauerten Glockenkern, zwei gabelförmige Eisen (Scheeren) befestigt, zwischen deren Schenkeln ein sogenanntes Drehbret (auch Lehre oder Schablone genannt) eingeschraubt ist. Dieses Formbret ist so ausgeschnitten, daß es genau so viel Raum frei läßt, als zwischen dem Steinkern und der künftigen inneren Seite der Glocke Lehmlage Platz finden soll. Der Lehm dazu muß frei von allen fremden Körpern sein und wird, um ihm mehr Bindekraft zu geben, mit Pferdemist, Kälberhaaren, Flachs- oder auch Hanffasern untermengt. So wird nun Schicht um Schicht, jede neue nach völligem Trocknen der vorigen, aufgetragen. Entspricht endlich dieser Theil der Form der aufgestellten Berechnung, so entfernt man die Schablone aus dem Kern und unterhält nun darin ein gelindes Feuer zur soliden Austrocknung der Lehmmasse, die außerdem nun noch mit gesiebter, in Bier oder Wasser eingerührter Asche mittels Pinsels bestrichen (geäschert) wird, um eine zarte Scheidewand zwischen diesem Kernlehm und dem nun auf ihn kommenden Modelllehm zu ziehen und später die leichtere Ablösung dieses von jenem zu erwirken.

Der nächste, zweite Theil der Form muß das vollständige Modell der Glocke liefern. Die Spindel kommt wieder zwischen Grenzeisen und Balken, aber zwischen ihre Scheerenschenkel eine neue Schablone, genau nach dem Profil ausgeschnitten, welches die Glocke nach außen zeigen soll. Das Auftragen des Lehms erfordert jetzt noch mehr Aufmerksamkeit, als vorher, jede Schicht muß durch gelindes Feuer getrocknet, jeder Sprung und Riß in demselben gut zugestrichen und wieder getrocknet werden, bis endlich der letzte Ueberzug gegeben werden kann, welcher aus einer Mischung von geschmolzenem Talg und Wachs besteht. Aus dieser Mischung oder bloßem Wachs bestehen auch alle über die glatte Oberfläche des Metalls hervorragenden Glockentheile, wie Reifen, Stäbe, Gesimse, Laubwerk, Wappen, Bilder, Inschriften und sonstige Verzierungen.

Und nun kommt die Herstellung des dritten Haupttheils, des Mantels der Form. Hier kommt die Schablone (das Formbret) erst zuletzt in Anwendung. Die ersten Schichten des Mantels bestehen aus einem aus zerstoßenem und gesiebtem Lehm und feinem Ziegelmehl hergestellten Gemenge (Zierlehm), das mit Wasser in einen dünnen Brei verwandelt, ebenfalls mit Kälberhaaren und Pferdemist versetzt ist und mit einem Pinsel sorgfältig aufgestrichen wird. Mit diesem Zierlehm müssen namentlich alle Vertiefungen zwischen den Inschriften, Bildern und sonstigem Zierwerk vollständig ausgefüllt sein. Die Trocknung geschieht hier durch die Luft. Erst wenn hierauf eine Schicht Formlehm mit der Hand sorgfältig, um nicht durch Druck an den Wachsverzierungen und Inschriften zu verderben, darüber gelegt ist, beginnt wieder das Trocknen durch Feuer im Kern, alle Wachs- und Talgtheile im Innern schmelzen, ziehen sich in den Lehm und lassen nicht nur zwischen Modell und Mantel ringsum einen hohlen Raum, sondern namentlich die Eindrücke aller Verzierungen und hervorragenden Theile an der innern Seite des Mantels zurück. Der Mantel wird nun durch Auflegen und Abtrocknen immer neuer Lehmschichten und Lagen von Hanffasern bis zu einer Stärke von vier bis sechs Zoll gebracht. Nun erst wird wieder die Schablone angewendet, die nun im obersten Theil des Mantels eine kreisrunde Oeffnung ausschneidet, in welche später die Form der Krone eingesetzt wird. Ist dann der Mantel durch die Schablone gleichmäßig abgerundet, so wird er schließlich noch mit eisernen Schienen und Reifen umlegt, an welchen sich Haken zur Befestigung von Seilen befinden, an denen er nun, ohne irgendwelche Beschädigung der Kern- und Modellformtheile, mittels Krahns oder Flaschenzugs in die Höhe gezogen werden kann. Dies muß aber geschehen, damit die Arbeiter zu der noch auf dem Lehm des gemauerten Kerns ruhenden Lehmschicht des Glockenmodells gelangen können, um diese vollständig zu entfernen.

So weit sind die Arbeiten auf unserer größeren Illustration gediehen, welche das Innere der Jauck’schen Glockengießerei, zugleich mit dem alten Meister selbst, darstellt. Hart vor der Wand des Schmelzofens (im Hintergrund) ist die Dammgrube, aus welcher wir die Kernformen von drei Glocken hervorragen sehen. An der einen wird soeben die Lehmschicht des Modells vom Kern abgeschlagen. Die drei Mäntel dazu sehen wir oben, den einen zur Linken hinter dem Korb mit Hanf, der zweite ist umgelegt; dies geschieht, um etwa nöthige Nachbesserungen in dem Schrift- und Zierwerk anzubringen. Der dritte Mantel ist soeben aus der Grube emporgehoben und ruht mit auf dem Balken, dessen eisenausgelegtes Seitenloch vorher den Spindelzapfen des Schablone- oder Formbrets mit senkrecht hielt. Die Formen der drei Glockenkronen [415] stehen vorn rechts um den Meister Jauck, die durchgeschobenen Eisenstangenpaare dienen zum Tragen derselben; der obere oben offene Aufsatz ist später die Mündung für die einfließende Erzmasse. Die beiden Löcher zu Seiten der Oeffnung dienen zur Einführung der Windpfeifen, durch welche das einströmende Erz die in der Form enthaltene Luft austreibt. Links auf dem Lehmhaufen sieht der obere Theil eines Schablonebrets hervor.

Ist der Kern gereinigt und das Innere des Mantels, von dessen Zustand die künftige äußere Erscheinung der Glocke abhängt, für fertig erklärt, so wird der Kern noch einmal mit in einer Mischung von Milch und Ei zerrührter Asche überstrichen, damit sich keine Theile desselben beim Gießen mit dem Metall vereinigen können. Den Cylinder des Kerns füllt man mit Erde aus, schließt die Oeffnung desselben fest mit Lehm, gleicht diesen, der künftig den innern obersten Theil der Glocke bildet, gehörig ab und drückt in ihm den Ring des Hängeeisens (für den Klöppel) fest, damit er vom Metallfluß unberührt bleibe, während die mit Widerhaken versehenen Schenkel desselben hervorragen und so beim Guß vom Metall eingeschlossen werden.

Nun erst senkt man den Mantel wieder auf und über den Kern herab und verstreicht alle Fugen rund um seinen untern Rand mit Lehm und füllt endlich die Grube völlig, das heißt bis zum Rand des Gießlochs der Kronenform, mit Erde zu, stampft diese sogar mit Handrammen fest, um der Form, die schon ebendeshalb in ihren unteren Manteltheilen mehr Lehmstärke hat, größere Widerstandsfähigkeit gegen den Druck der einströmenden Metallmasse zu geben; und hat man endlich auch noch die Gußrinne vom „Stichloch“ des Schmelzofens bis zum Gießloch der Form angelegt, dann erst ist man da, wo unser Schiller beginnt. Gewiß nur wenige unserer Leser kannten die Fülle von Arbeit, die zu überwinden war bis zu dem Worte: „Fest gemauert in der Erde steht die Form, aus Lehm gebrannt.“

Lassen wir nun den Guß beginnen, dessen Schilderung unser Schiller seiner lyrischen Homilie von der Glocke als Text zu Grunde legte.

„Nehmet Holz vom Fichtenstamme,
Doch recht trocken laßt es sein,
Daß die eingepreßte Flamme
Schlage in den Schwalch hinein!“

Der Schmelzofen zum Glockengießen ist ein sogenannter Reverberir- oder Flammenofen und besteht demnach aus einem Feuerheerd und einem Schmelzheerd, und zwar ganz aus Mauerwerk. Der Schmelzraum ist von kreisrunder oder ovaler Form, so wenig vertieft, daß das Metall in einer verhältnißmäßig großen und nur wenige Zoll dicken Schicht ausgebreitet wird, und von einem niedrigen Gewölbe überspannt. Die inneren, der Hitze am meisten ausgesetzten Theile werden von feuerfesten Ziegeln (aus Porcellankapselmasse) ohne Mörtel, blos mit Lehm verbunden, construirt. Zwei gewölbte, durch Thüren verschließbare Gänge führen die Luft über den aus gußeisernen Stäben zusammengesetzten Rost des Feuerheerdes, von dem dann die Flamme in niederwärts gehender Richtung über das Erz des Schmelzheerdes durch einen Canal geleitet wird, welcher der Schwalch heißt.

„Kocht des Kupfers Brei,
Schnell das Zinn herbei,
Daß die zähe Glockenspeise
Fließe nach der rechten Weise!“

Es gab eine Zeit, wo fromme Seelen zu manchem schönen Silberopfer für neue Kirchenglocken vermocht wurden, obwohl in die Glocken selbst derlei schwerlich je mit verwendet wurde, denn das Glockenmetall besteht, nach uralter Erfahrung, am besten nur aus Kupfer und Zinn, und zwar soll das Kupfer das Vierfache des Zinns ausmachen.

„Weiße Blasen seh’ ich springen;
Wohl, die Massen sind im Fluß.“

Ehe diese Zeichen geschehen, vergehen vier bis sechs, bei großen Metallmassen auch noch mehr Stunden der Feuerung. Auch macht es einen Unterschied, ob altes Glockengut umgeschmolzen, oder eine neue Mischung bereitet wird. In letzterm Fall kommt erst das strengflüssigere Kupfer allein in den Ofen und wenn dies völlig geschmolzen ist, wird das Zinn beigefügt. Dann

„Laßt’s mit Aschensalz durchdringen,
Das befördert schnell den Guß!“

Der Schmelzofen hat zwei Schornsteine, den einen rechts, den andern links vom Feuerheerde; ehedem zog man statt derselben einige Löcher im Ofengewölbe vor, durch deren beliebiges Oeffnen oder Schließen der Zug der Flamme nach den verschiedenen Theilen des Schmelzheerdes geregelt und eine gleichmäßige Erhitzung bewirkt wurde. Diese Löcher hießen Windpfeifen, und sie sind gemeint, wenn der Meister spricht:

„Wie sich schon die Pfeifen bräunen!
Dieses Stäbchen tauch’ ich ein,
Seh’n wir’s überglast erscheinen,
Wird’s zum Gusse zeitig sein.“

Dieses Stäbcheneintauchen geschah ehedem durch dieselbe Arbeitsöffnung („Fenster“), durch welche man überhaupt das Einbringen und das Umrühren des Metalls mit einer etwa zehn Fuß langen hölzernen Stange besorgt. Mittels eines eisernen Hakens an einer hölzernen Stange wird die Schlacke oder das Oxyd von der Oberfläche des Metalls abgezogen, denn:

„Auch von Schaume rein
Muß die Mischung sein,
Daß vom reinlichen Metalle
Rein und voll die Stimme schalle.“

Ein eiserner Löffel mit einem langen Stiel dient dazu, eine Probe des Metalls herauszunehmen und in den Sand zu gießen, um aus dem „Bruch“ die Beschaffenheit der Legirung zu entnehmen. Das ausgeflossene Stückchen Metall wird nämlich nach dem Erkalten zerschlagen. Zeigen sich dann auf der Bruchfläche grobe Zacken, so hat man zu wenig Zinn beigesetzt, ist dagegen das Bruchkorn kaum zu bemerken, so war der Zinnzusatz zu groß. Kann aber der Meister sagen:

„Schön gezacket ist der Bruch!“

so ist die Erzmasse zum Guß reif.

In der Vordermauer des Schmelzofens (vergl. unsere größere Illustration) befindet sich das Stichloch oder Auge, eine Oeffnung am Boden des Schmelzheerdes, die während des Schmelzprocesses durch einen thönernen oder eisernen Pfropf verschlossen ist. Dieser Pfropf geht nach außen verjüngt zu, so daß er durch den Druck des flüssigen Metalls fest getrieben wird; der Schmelzheerd selbst ist von beiden Seiten nach der Mitte und gegen das Stichloch hin ein wenig abhängig, so daß der Druck der Masse auf den Pfropf dadurch noch gesteigert, aber zugleich bewirkt wird, daß der Ablauf des Metalls in die Gußrinne ein rascher und vollständiger ist. Selbstverständlich werden vom Stichloch aus so viele Gußrinnen gezogen, als Glocken zu gleicher Zeit, d. h. aus der einen geschmolzenen Metallmasse, gegossen werden sollen.

Ist nun die aus Backsteinen und Lehm hergerichtete Gußrinne, die durch Kohlenfeuer in hohem Grade erhitzt wird, mittels großer Zangen, hanfener Hand- oder vielmehr Armschuhe und der Handblasbälge von Kohlen, Asche und Staub völlig gereinigt, so kann endlich der Mann mit der langen eisernen „Abstechestange“ bereit sein, den Pfropf in den Schmelzheerd hineinzustoßen. Es ist ein Moment voll banger, aufregender Erwartung.

Mit diesem Gefühl umstanden auch wir die Stätte, wie das Initialbildchen es zeigt, als die eherne Fluth fertig war zum Guß der großen und der kleinsten der neuen Nicolaiglocken. Alle Vorbereitungen für den wichtigsten und schönsten Augenblick des Werkes waren getroffen, jeder Mann stand an seinem Platz, und Schweigen herrschte im Kreise, als der alte Meister sprach: „Nun denn, in Gottes Namen, stoß auf!“ – Der Zapfen weicht dem Druck des Eisens – und hervor bricht der zischende Gluthstrom, in beide Rinnen zugleich, und

„Rauchend in des Henkels Bogen
Schießt’s mit feuerbraunen Wogen“ –

treibt aus den Windpfeifen die Luft der Form mit Feuerstrahlen empor und schäumt und sickert hinab, unsichtbar in der Tiefe die fest vorgezeichneten, neuen Gebilde schaffend.

Und bis zum erhabenen, belohnenden Ende geschieht nun Alles, wie Schiller es gesungen. Wenige Tage später wird „das Gebäude zerbrochen“, denn

„Wenn die Glock’ soll auferstehen,
Muß die Form in Stücke gehen“ –

und freudig erhoben sehen wir Alle das herrliche Werk vollendet vor uns und

„Auch des Wappens nette Schilder
Loben den erfahrnen Bilder!“

[416] Volle Wahrheit verkündet nun kommenden Geschlechtern die eherne Inschrift der neuen großen Nicolai-Glocke:

„Gegossen nach dem Bruderkriege in Dankestagen, 1452,
Ward ich von einer kaiserlichen Kugel zerschlagen, 1633.
Wieder gegossen trotz Krieg und betrübter Zeit, 1634,
Diente ich 233 Jahre in Freude und Leid.
Am Sterbetag des Herrn bin ich beim Läuten zersprungen, 1867.
Gott zu Preis und Ehre ist mein dritter Guß gelungen, 1869.“

Welcher Stadt im gesammten deutschen Vaterlande ist es aber mehr zu gönnen, als der Stadt Leipzig, die in ihrem Weichbilde mehr Schlachtfelder zählt als manches ganze Land, daß ihr und dem deutschen Volke und der Bildung und Gesittung aller Menschen zum Heil Schiller’s Weihespruch auch für diese Glocke gelte:

„Freude dieser Stadt bedeute,
Friede sei ihr erst Geläute!“

Friedrich Hofmann.




Blätter und Blüthen


Ein Brief von Fr. Hecker. Wir können heute unseren Lesern die gewiß Allen willkommene Mittheilung machen, daß Fr. Hecker auf unsere ausdrückliche Bitte hin die Gartenlaube mit einer Reihe von „Bildern und Erinnerungen aus seinem Leben“ erfreuen wird, die schon nächstens beginnen werden. Er schrieb dem Redacteur dieser Blätter schon Ende April:

„Ich habe allerdings hier ein merkwürdiges Leben durchgerungen. Losgeschleudert aus einem glänzenden, behäbigen Leben, hat die Hand, voll Schwielen, den Weg bahnen müssen, da ich zum politischen Aventurier nicht gemacht bin, die von der Aemterjägerei unzertrennliche Selbsterniedrigung verabscheute, die Advocatur meist stark in der Nähe des Galgens arbeitet, und ich für das Wort smartness keinen anderen Ausdruck als Hallunkerei auftreiben konnte. Ich zog eine ärmliche Unabhängigkeit einem glänzenden, oder besser gesagt, gleißenden Leben aus dem öffentlichen oder anderer Leute Seckel vor und schwang lieber die schwere lange Ochsenpeitsche, als daß ich beim König im Frack antichambrirt hätte.

Trotzdem nahm ich am öffentlichen Leben den regsten Theil, wurde mit den meisten politischen Größen persönlich genau bekannt, und verfolgte sie mit ebenso scharfen Augen, als ich dem Roßtäuscher und Viehhändler in’s Gesicht zu schauen hatte, um nicht über’s Ohr gehauen zu werden.

Als ich mich hier niederließ, war Alles weite wilde Prairie; wo jetzt Eisenbahnen sausen und blühende Städte stehen, jagte ich den Hirsch, den Turkey, das Prairiehuhn, oder fing meine Stiere mit der Schlinge, um sie jochbändig zu machen. Heute auf einer stamptour (Fußtour) gegen die Sclavenhalter-Aristokratie, bald darauf in toller Jagd zu Pferde hinter dem Wilde in tiefen Wäldern her, und gehend schlafend auf dem gefrorenen Boden zwischen mächtigen Feuern. Hier in der Hinterwäldlerhütte primitivsten Styls, derb in ungesuchtem Verkehr mit Rowdies und Desperados. Den treusten Freund im Gürtel, den Revolver und das lange Bowie-Messer. Dann drei Jahre Bivouac, nur neunmal ein Dach und Fach über dem Kopf, hungernd fechtend, die Kleider modernd auf dem Leibe, und wieder herrliche, frohe Tage, voll Aufregung und Genuß. Mit welch’ merkwürdigen Menschen bin ich zusammengestoßen! Grant war eine meiner ersten Bekanntschaften, da er das einundzwanzigste und ich das vierundzwanzigste V.-St.-Reg. commandirte. Lincoln hatte mir Anekdoten von einem Hunde erzählt, als ich neue Uniformen für meine zerlumpten, strapazirten, halb und ganz barfüßigen Truppen verlangte; und ein bekannter Bravo hatte so den Narren an mir gefressen, daß er mir seine Liebe nicht besser ausdrücken konnte, als daß er mir sagte: Wenn ich einen Kerl in die Ewigkeit wissen wolle, möge ich’s ihm nur zu wissen thun, in vierundzwanzig Stunden sei er verschwunden.

Kurz, wenn ich auf die letzten zwanzig Jahre zurückblicke, so liegt ein so buntes Bild vor meinen Augen, als ich es sah, da ich an der afrikanischen Küste zum ersten Mal landete und meine Reisegefährten, Mecca-Pilger, von ihren Glaubensgenossen friedlich empfangen wurden und Esel, Kameele, Berberhengste und der ganze Menschencarneval die Solo’s dazu lieferten.

Nun müssen Sie wissen, daß ich, besonders im Sommer, im Felde, Weinberg, Obstgarten etc. thätig sein muß und nur ruck- und zeitweise am Schreibtisch verweilen kann. Auch schreibe ich nur dann, wenn ich so recht mich dazu aufgelegt und angeregt fühle. – Wenn man Erlebtes wiedergeben will, ist es sehr schwer, rein objectiv sich zu verhalten, und so wenig ich es liebe, das liebe Ich wie eine Monstranz im Publicum herumzuschleppen, so ist bei solchen Darstellungen doch nicht ganz zu vermeiden, daß die schreibende Person sichtbar wird.

Wahrscheinlich werde ich diesen Sommer die erste Excursion auf der Pacific-Bahn von St. Louis nach San Francisco mitmachen. Das gäbe sicher einen interessanten Reisebericht. Ein interessantes Charakterbild wäre auch ein Thüringer, der, ein Theilnehmer am Frankfurter Attentat, hierher geflüchtet, sich 1835 als Jäger und Trapper der Pelzhandelsgesellschaft auf drei Jahre engagiren ließ, dann elf Jahre in den Rocky-Mountains als Free-Trapper zubrachte und 1848 nach Belleville zurückkam. Ich lernte ihn 1849 kennen. Aus dem fröhlichen Thüringer war ein schweigsamer Mensch geworden, der viel vom Indianer angenommen hatte. Es gelang mir nach einiger Zeit, ihn mittheilsam zu machen, und ich lauschte seinen Erzählungen mit höchstem Interesse. Sein Name war Schreiber. Er starb in dem Delirium des Nervenfiebers, den Todtengesang singend, den die Blackfeet-Indianer am Marter- und Todespfahl singen.

Mit herzlichem Gruße Ihr Hecker.




Ausstellungsgebäude der nächsten Zukunft. (Mit Abbildung. S. Seite 405.) In Hamburg wird soeben eine große internationale Gartenbau-Ausstellung vorbereitet, von deren in der Ausführung begriffenen Baulichkeiten und Baumpflanzungen wir unsern Lesern vor der Hand die erste Ansicht mittheilen, Näheres über die Ausstellung selbst uns seiner Zeit für einen besonderen Artikel vorbehaltend. Schon jetzt sprechen Fachmänner die Ueberzeugung aus, daß ein Bild des deutschen Gartenbaues noch niemals so glänzend und in solchem Umfange vorgeführt worden sei, wie es in Hamburg geschehen werde. Die Wahl des Platzes ist die günstigste, um den Festhallen der Flora Gäste aus allen Bevölkerungsschichten und die Fremden aller Länder zuzuführen. Die weitläufigen Anlagen breiten sich auf dem sogenannten Stintfang, demjenigen Theile des alten Festungswalls von Hamburg aus, welcher über die zur Linken desselben sich ausdehnende Stadt und über den auf unserm Holzschnitte noch sichtbaren Hafen sammt dem Steinwärder mit seinen zum Theil recht imponirenden Fabrikessen bis zu den jenseitigen Elbuferhügeln eine ebenso reizende als großartige Aussicht gewährt. Kein Fremder versäumt den Besuch dieses Walltheils, an dessen Fuß sich noch der alte Stadtgraben, jetzt von einer eleganten Brücke überspannt, hinzieht, und dem Hamburger ist es der liebste Erholungspunkt; um so lebhafter wird es von Beiden hier durcheinander wogen, wenn neben dem gewohnten Bilde der großen schönen Stadt des Weltverkehrs noch die Lieblichkeit, Fülle und Pracht der Welt der Blüthen und Früchte das Auge fesselt. Der Beginn dieser Ausstellung ist auf den 2. September festgesetzt.




Bock’s Briefkasten.

Gegen Bruch-Pflaster und -Salben (von Sturzenegger, Krüsi-Altherr, Menet, Simon etc.) glaubte Verf. in Nr. 29 der Gartenlaube, Jahrgang 1868 sich sattsam ausgesprochen zu haben und zwar durch die doch wahrlich nicht unklaren Worte: „Die entsetzliche Bornirtheit und die ganz kindische Aber- und Leichtgläubigkeit der Menschen in Allem, was auf Gesundheit und Krankheit Bezug hat, macht es erklärlich[WS 2], daß sogar bei Leiden, die, wie die Bruchschäden, durchaus mechanische oder operative Hülfe verlangen, doch noch Geheimmittel empfohlen und gekauft werden, die nichts als schimpfliche Attentate auf die Geldbeutel dummer Gimpel sind.“ Trotz dieser meiner Expectoration werde ich doch fortwährend noch mit schriftlichen Anfragen über jene Geheimmittel incommodirt und darüber immer ärgerlicher. Man lasse sich also ein- für allemal gesagt sein: jene Bruchmittel sind nicht nur nichtsnutziges Zeug und stehlen dem Käufer geradezu das Geld aus der Tasche, sondern sie sind auch deshalb gefährlich, weil sie den leichtgläubigen Bruchkranken abhalten, reelle Hülfe (besonders durch ein gutpassendes Bruchband) in Anspruch zu nehmen. Der Bandagist Hr. Reichel in Leipzig, der von sehr vielen Bruchkranken consultirt wird und dabei jene nichtsnutzigen Bruchschwindeleien kennen zu lernen Gelegenheit hat, übergab dem Verf. folgenden, neuerlichst erst (April 1869) geschriebenen Brief von Hrn. G. E. in B. (der Name ist natürlich zu erfahren): Zur Steuer der Wahrheit! Nachdem ich für zwölf Thaler Bruchsalbe von Sturzenegger in Herisau, durch Herrn Kirschbaum in Leipzig bezogen, verwendet habe, ist mein Bruch noch von derselben Größe und Gestalt wie früher, und ich habe nicht den geringsten Nutzen von dieser Salbe gehabt. Möge sich Jeder hüten, sein schönes Geld für diese nichtsnutzige Salbe wegzuwerfen.“ Also man traue solchen Geheimmitteln gegen Bruchschäden, wie überhaupt allen Geheimmitteln, niemals, selbst wenn sie von angeblichen Doctoren empfohlen werden.

Bock.




Inhalt: Neue Sprüche. Von Friedrich Bodenstedt. – Reichsgräfin Gisela. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Der eiserne Doppelgürtel der Union. Von Theodor Kirchhoff in San Francisco. – Vor fünfzig Jahren. Von Robert Keil. – „Die Nachbarin des Donners.“ Von Friedrich Hofmann. Mit Abbildungen. – Blätter und Blüthen: Ein Brief von Friedrich Hecker. – Ausstellungsgebäude der nächsten Zukunft. Mit Abbildung. – Bock’s Briefkasten.




Nicht zu übersehen!


Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

Die Verlagshandlung.




Mit der nächsten Nummer beginnt eine größere historische Erzählung aus dem Spessart von Levin Schücking: „Verlassen und Verloren“, zugleich finden die Leser in dem dritten Quartal Fortsetzung und Schluß der „Reichsgräfin Gisela“ von E. Marlitt, außerdem „Bilder und Erinnerungen von Friedrich Hecker, „Aus Weimars Glanzzeit“ von Ludwig Storch, Beiträge von Bock, Brehm, Gutzkow etc. etc.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die deutsche Presse hat der amerikanischen längst die Schilderung des großen Telegraphenfestes nacherzählt, welches mit dieser Feierlichkeit verbunden war. Da jedoch der geschilderte Augenblick zu den großartigsten der Weltgeschichte gehört, so halten wir es für unsere Pflicht, ihn nach dem Wortlaute der New-Yorker Handels-Zeitung vom 13. Mai auch der Gartenlaube einzuverleiben.
         „Es war mit der Zeremonie eine Telegraphenfeier verbunden, welche etwas in hohem Grade Anregendes hatte. Die Arrangements waren so getroffen, daß jede Bewegung aus jenem obscuren Punkt des Erdkreises sofort über das ganze Land telegraphirt wurde, sodaß das ganze Volk Zeuge dessen sein konnte, was dort im engsten Kreise stattfand. Die Einrichtung war, daß der Telegraphendraht an den letzten Bolzen befestigt wurde, und daß die Hammerschläge auf diesen, in jeder Telegraphenstation gefühlt, der Welt das Geschehene im gleichen Moment verkündeten. Omaha war der Centralpunkt dieses großartigen Arrangements; von dort wurden rings in der Runde die Befehle ausgetheilt. Der Vorsteher des Telegraphendepartements in Washington setzte den Draht mit einer Glocke in Verbindung. Jene Glocke mußte von den Hammerschlägen auf dem zweitausendvierhundert Meilen entfernten Promontory Summit getroffen und in Bewegung gesetzt werden! Das Signal wurde gegeben: ‚Macht euch bereit!‘ Washington, Neworleans, Chicago, Boston etc. antworteten: ‚Wir sind fertig!‘ Es war nach zwei Uhr. Auf den Telegraphenbureaux herrschte dieselbe Spannung, welche man unmittelbar vor dem Eintreffen einer Sonnenfinsterniß empfindet. Einige wurden ungeduldig und richteten Fragen an Omaha. Von dort erfolgte die Antwort: ‚Seid ruhig. Stört den magnetischen Kreis nicht, sondern wartet den Hammerschlag ab.‘ Um zwei Uhr siebenundzwanzig Minuten, nach der Washingtoner Zeit, sagte Promontory Summit: ‚Beinahe fertig. Die Hüte ab! Es wird gebetet!‘ Unwillkürlich gehorcht ein Jeder, dem das Signal kund wird. Tiefes, feierliches Schweigen. Um drei Uhr vierzig Minuten lautet das Wort: ‚Das Gebet ist zu Ende, der Bolzen soll eben überreicht werden!‘ Chicago erwidert: ‚Der Osten ist bereit!‘ Promontory Summit spricht: ‚Fertig! Gleich kommt’s! Dreimal wird gezuckt vor den Hammerschlägen!‘ Das Signal erfolgt, Eins, Zwei, Drei! Eine Pause von einigen Minuten. Und dann fühlt man die Hammerschläge im Osten, im Westen, im Norden und im Süden, die Glocke in Washington klingt, einmal, zweimal, dreimal! Die Fahnen steigen empor, die Kanonen donnern, und hier läutet das Glockenspiel des Trinitythurmes: ‚Nun danket Alle Gott!‘ Der Moment wird allen denen unvergeßlich sein, welche an der Feier betheiligt waren. So bildet die Völkerfamilie Einen harmonischen Körper, dessen Nervensystem die Fäden des elektromagnetischen Telegraphen repräsentiren, und was im entlegensten Winkelchen geschieht, das beseelte Ganze kann es spüren und empfinden.“
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Bewußsein
  2. Vorlage: erkärlich