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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[65]

No. 5.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



In sengender Gluth.
Von F. L. Reimar.


„Halten Sie ein, Tante! Ich ertrage es nicht, das zu hören, und sage Ihnen, daß ich Sie hassen werde, wenn Sie Ihre Worte wiederholen!“

Die Anrede galt einer älteren Dame, deren etwas grämliches Gesicht in diesem Augenblick einen erschrockenen Ausdruck annahm, während die Wangen des schönen, jungen Mädchens, welches die Worte gesprochen hatte, bleich vor Zorn waren und seine kleinen Hände sich krampfhaft zusammenzogen.

„Aber, Rosalie, ich begreife kaum, was ich gethan, womit ich Dich gekränkt habe!“ stotterte die Erstere endlich.

„Sie haben angegriffen, was mir heilig ist!“ erwiderte das junge Mädchen mit einem Ton, in welchem die bittere Erregung mit dem Schmerz kämpfte, und dabei zuckte es um den feinen Mund wie von verhaltenem Weinen.

Die Entgegnung, welche der alten Dame eben auf der Zunge schwebte, wurde durch das unerwartete Eintreten eines Dritten abgeschnitten, der in diesem Augenblick auf der Schwelle erschien. Es war ein Mann, der in der ersten Hälfte der Dreißiger stehen mochte und dessen Gesicht, wenn es auch nicht gerade schön zu nennen war, doch einen unendlich angenehmen Ausdruck von Güte und Wohlwollen trug. Der erste Blick verrieth ihm, daß etwas zwischen den beiden Damen vorgegangen war, wie er denn auch die letzten Worte Rosaliens gehört haben mußte, und während das Mitleid mit dem Kummer des schönen jungen Geschöpfes in seinen Zügen offenbar wurde, trat er auf sie zu und sagte, indem er liebevoll den Arm um sie legte:

„Fehlt meiner Kleinen etwas und kann ich ihr helfen?“

In dem Augenblick stürzten die heißen Thränen aus den Augen des jungen Mädchens, aber sie entwand sich seinen Armen und sagte, wenn auch in sanfterem Ton, als mit dem sie vorher gesprochen hatte:

„Laß mich, Hermann. Ich spreche nicht gern von dem, was mich schmerzt!“

Damit trat sie auf die Terrasse hinaus, welche vor dem Zimmer hinlief, und entzog sich so den Blicken der beiden Zurückbleibenden.

Hermann sah wie fragend auf die Tante, welche einige Male unruhig auf ihrem Sitze hin- und hergerückt war und nun, da sie begriff, daß er eine Erklärung von ihr erwartete, in die Worte ausbrach:

„Ich habe sie gewiß nicht beleidigen wollen, Hermann, und bin selbst erstaunt über eine Heftigkeit, die sie früher nie gezeigt hat. Ich sprach über einige Mängel ihrer Erziehung, wie mir denn dies ganze katholische Wesen, dem sie anhängt, ein Aergerniß ist, und äußerte meine Ueberzeugung, daß ihre Mutter besser gethan hätte, sie in dem Glauben unseres Landes zu erziehen. Dir selbst muß dieser Gedanke kommen, Hermann, da Rosalie in Kurzem Deine Frau sein wird und solche ungleiche Ehen selten Gutes bringen!“

Hermann konnte ein leichtes Stirnrunzeln bei dem Geständniß der alten Dame nicht unterdrücken, trat dann aber zu ihr und sagte freundlich-ernst:

„Rosalie hat leichtverletzliche Saiten in ihrem Gemüth, welche geschont sein wollen, wenn sie nicht aus ihrer Harmlosigkeit, die mir so theuer ist, erweckt werden soll. Versprich, mir in Zukunft darin beizustehen, liebe Tante, und laß alles Uebrige meine Sorge sein!“

Die alte Dame verstand die Mahnung, welche in den Worten des Neffen lag, und zustimmend und ein wenig beschämt legte sie ihre Hand in seine dargebotene.

Er verließ sie dann und ging zu seiner Braut, die mit abgewandtem Kopf an der Brüstung der Terrasse lehnte! Als er leicht ihre Schulter berührte, sah sie zu ihm auf und mit Freude bemerkte er, daß jeder Zug von Herbigkeit aus dem schönen Gesicht verschwunden war, das wieder den früheren halb kindlichen, halb träumerischen Ausdruck angenommen hatte.

„Rosalie, mein Liebling,“ sagte er weich, „es ist immer eine Hand da, die Dich führen und schirmen wird!“

Mit einer raschen Bewegung ergriff sie plötzlich seine Hand, küßte dieselbe und rief aus:

„Tadle Du mich, strafe mich, wie Du willst, aber laß keinen Menschen zwischen uns treten, weder im Guten, noch im Bösen! Ich will Alles nur von Dir, Hermann!“

Sie hatte sich an ihn geschmiegt und lehnte ihr Haupt an seine Brust. Er streichelte mit der Hand sanft ihr schönes Haar und flüsterte: „Gebe Gott, daß ich Dir immer das sein, das gewähren könne, was Deinem Herzen noth thut.“

Sie waren von der Terrasse in den Garten hinabgestiegen, der sich mit seinen parkartigen Anlagen bis zur Landstraße erstreckte, welche das Gut, dessen Besitzer Hermann von Lossau war, von dieser Seite begrenzte, und in einer der duftenden Fliederlauben, von wo aus man einen Theil jenes Weges überschauen konnte, nahmen die Verlobtem ihren Platz.

Ihm war es, als sei es seine Aufgabe, den letzten Schatten des Kummers zu verscheuchen, welchen ihr die unüberlegten Worte der Tante bereitet hatten, und mit doppelter Genugthuung erfüllte es ihn, daß er sich dazu im Stande wußte.

[66] „Hast Du wohl wieder daran gedacht, Rosalie,“ sagte er, „daß ich Dir einst sagte, wir wollten gleich nach unserer Trauung eine größere Reise miteinander antreten, daß das Ziel derselben aber ein Geheimniß bleiben sollte, bis ich alle dazu nöthigen Anordnungen getroffen hätte?“

Sie nickte und blickte erwartungsvoll zu ihm auf.

„Nun, Rosalie, erräthst Du, wohin ich Dich zu führen gedenke?“ fuhr er fort und sah sie dabei mit glänzenden Augen an, als weide er sich schon im Voraus an ihrer Ueberraschung.

Es war, als ginge eine Ahnung in ihr auf, doch wagte sie nicht, derselben Worte zu leihen.

„Nach Spanien, Deinem Vaterlande!“ antwortete er ihrer stummen Frage.

Ein heller Jubelruf drang aus Rosaliens Brust, dann aber brach sie in Thränen aus, um ihrer tiefen Bewegung Luft zu machen. „O mein Gott, das Glück ist zu groß!“ sagte sie mit halberstickter Stimme.

„Hattest Du solche Sehnsucht dorthin und sprachst sie nie aus?“ fragte er gerührt.

„O Hermann, ich habe mir immer gedacht, wenn ich je recht glücklich werden sollte, müßte ich wieder in Spanien, dem Lande meiner Mutter, sein! Und hernach – hernach begriff ich es nicht, daß nun doch Alles anders geworden ist.“

Es war, als flöge ein leichter Schatten über sein Gesicht, aber er sagte nur: „Warst Du nicht noch sehr jung, Rosalie, als Du mit Deiner Mutter dem Vater nach Deutschland folgtest?“

„Ich war zehn Jahre, Hermann, also alt genug, um die Erinnerung zu bewahren und den Schmerz der Mutter nachzufühlen, die unzählige heiße Thränen vergoß, als sie in das fremde Land kam. Was ich nicht selbst noch wußte, erzählte sie mir, und wenn es hier kalt und trübe und neblig war, dann träumten wir uns in das schöne, sonnige Land zurück und die Mutter sagte wohl, sie würde daran sterben, daß man sie von dort fortgenommen habe.“

„Und der Vater, was fühlte er bei dem Heimweh Deiner Mutter?“ fragte Hermann.

„O, vor dem Vater wußte sie es zu verbergen, denn sie liebte ihn sehr und sagte immer, wegen derer, die man liebe, müsse man bei seinen Leiden lächeln können; und so zeigte sie ihm stets ein heiteres Gesicht, während nur ich wußte, wie krank ihr Herz war. O, ihre Liebe war sehr groß,“ fuhr sie fort, indem Thränen in ihre dunklen Augen traten, „denn als der Vater gestorben war und ich sie fragte, ob wir nun wieder nach Spanien zurückkehren würden, schüttelte sie traurig das Haupt und sagte: ‚Ohne Liebe giebt es kein Leben mehr, Rosalie! Ich werde nun auch sterben!’ Und ehe das Jahr herum war, wurde sie zu dem Vater gelegt.“

Hermann hatte theilnehmend den Erinnerungen seiner jungen Braut gelauscht. Er wußte, daß Rosaliens Vater in jungen Jahren als Kaufmann nach dem südlichen Spanien gekommen war und dort mit der Liebe die Hand der schönen Tochter seines Handelsfreundes gewonnen hatte. Als ihn später seine kaufmännischen Pläne, so wie wohl auch die Liebe zum Vaterland nach Deutschland zurückgeführt, war er selbst auf einer Reise mit der Familie bekannt geworden und in freundschaftliche Beziehungen zu ihr getreten, die bis zum Tode von Rosaliens Vater, welcher unerwartet einem hitzigen Fieber erlag, währten. Der Verlust des heißgeliebten Gatten beschleunigte dann bei der unglücklichen Mutter die Entwickelung einer Brustkrankheit, deren Keim schon länger in ihr gelegen haben mochte, und als Rosalie sechszehn Jahre zählte, waren ihre beiden Eltern bereits gestorben.

Um sie von ihren trüben Gedanken abzubringen, lenkte Hermann ihren Geist wieder ihrem Vaterlande zu und wußte ihre Erinnerungen so anzuregen, daß sie ihm mit beredten Worten und lebhaften Farben die Schönheiten und Herrlichkeiten desselben schilderte. In ihrer Erregung hatte sie sich auf den Boden niedergleiten lassen, und während sie mit auf seine Kniee gestützten Armen zu ihm aufblickte und immer begeisterter zu ihm sprach, sah er mit Entzücken in ihre glänzenden Augen, auf die von innerer Lebendigkeit gerötheten Wangen.

Plötzlich wurden Beide durch den unerwarteten Ausruf einer fröhlichen, lachenden Männerstimme aufgeschreckt. „Holla, Egmont und Clärchen, vivant hoch!“ erscholl es, und als Rosalie erschrocken aufsprang und Beide nach der Richtung schauten, woher die Worte kamen, erblickten sie die schlanke Gestalt eines schönen, jungen Mannes, dessen Näherkommen auf der Landstraße sie nicht bemerkt hatten und der sich in diesem Augenblick über die Hecke schwang, welche ihn noch von dem Garten trennte. Ehe Rosalie sich noch von ihrem Erstaunen erholen konnte, sah sie, wie Hermann dem Fremden entgegeneilte und ihn mit dem Ausruf: „Willkommen, tausendmal willkommen, mein theurer Alfred!“ in die Arme schloß. Dann nahm er ihn bei der Hand und zog ihn nach der Stelle, wo das junge Mädchen stand.

„Rosalie, das ist mein Bruder Alfred, und Alfred, mein lieber Junge, da stehst Du vor meiner Braut, die bald Deine Schwester sein wird!“

„Du sprichst, als ob wir Fremde wären,“ entgegnete Alfred, indem er seine Schwägerin begrüßte, deren ausfallende Schönheit ihn indessen in diesem Augenblick dermaßen frappirte, daß er nicht ohne eine leichte Befangenheit fortfuhr: „Erinnern Sie sich, daß wir uns vor drei Jahren gesehen haben, ehe ich zur Universität ging?“

„O ja, damals lebte meine Mutter noch und ich war ein Kind,“ entgegnete Rosalie.

Die Worte, so einfach sie klangen, berührten ihn eigenthümlich, denn sie erinnerten ihn an die Zeit, wo die schöne fremde Frau mit ihrer vierzehnjährigen Tochter bei seiner damals noch lebenden Mutter zum Besuch auf Lossau gewesen war und wo er selbst der Würde des angehenden Studenten vergessen hatte, um mit dem schönen Kinde in dem Park Haschen und Verstecken zu spielen. Nun stand statt des Kindes die Braut des Bruders vor ihm, und der Park, das Haus, in welchem er aufgewachsen, galt fast schon als ihr Eigenthum, so daß es ihm war, als habe er das Gastrecht von ihr zu erbitten, deren dunkle Augen auf seinen Zügen ruhten. Der Bruder machte jedoch in seiner freundlichen Weise der momentanen Befangenheit ein rasches Ende, indem er ausrief:

„Ich wette, Ihr werdet bald wieder die besten Freunde sein, und Rosalie wird gleich mir es Dir hoch anrechnen, daß Du gekommen bist, um zu des Predigers Segen auch den Deinen zu fügen!“

„Wann wird denn die Hochzeit sein?“ fragte Alfred.

„In drei Wochen!“ rief Hermann fröhlich, während Rosalie erröthend vor sich niederblickte. „Aber wie kannst Du nur fragen? Habe ich Dir nicht alles nach Göttingen geschrieben?“

„Richtig – ich besinne mich jetzt,“ entgegnete Alfred wie aus einer Art Zerstreutheit erwachend. „Die Nachrichten beschleunigten meine Abreise von dort, denn es drängte mich, aus vollem Herzen zu rufen: ,Haus Lossau für immer!’“

„Und jetzt werden Sie immer bei uns bleiben?“ fragte Rosalie erregt.

Alfred lachte. „Dann möchte ich drei Jahre in Göttingen vergeblich zugebracht und die Wechsel meines großmüthigen Herrn Bruders ebenso vergeblich vertilgt haben, meine schöne, kleine Schwägerin!“

„Du denkst nicht daran, liebe Rosalie,“ fiel Hermann, dem diese letzte Erwähnung unangenehm zu sein schien, rasch ein, „daß Alfred sich dem Staatsdienst widmen will, der ihn uns wohl kaum lange gönnen wird. Wohl aber dürfen wir hoffen,“ fuhr er fort, indem er dem Bruder herzlich die Hand bot, „daß er immer wissen wird, wo für alle Zeit seine Heimath ist!“

Die Gesellschaft war während des Gesprächs dem Hause zugeschritten, wo jetzt auch die Tante den Neffen, welcher ihr Liebling war, bewillkommnete. Er war gewohnt, stets in einem neckenden Ton mit der alten Dame zu reden, und dies half ihm auch jetzt dazu, daß er seine frühere Unbefangenheit vollkommen wieder gewann. So herrschte denn bald die heiterste Unterhaltung in dem kleinen Kreise. Unwillkürlich ward dieselbe auf das Gebiet der Jugenderinnerungen gelenkt und manch heitere Erlebnisse wurden aufgetischt, wie denn bei Alfred eine immer fröhlichere, fast übermüthige Stimmung Platz griff, welche ansteckend auf die Uebrigen wirkte. Nur Rosalie war stiller, als es ihre Weise zu sein pflegte, und ihr Ernst mußte Alfred auffallen, denn er bemerkte:

„Vergeben Sie uns unsere Reminiscenzen, Rosalie, die Ihnen fremd sind und Sie daher nothwendig langweilen müssen?“

„O nein, ich höre Ihnen sogar sehr gern zu!“ rief sie und erröthete dann selbst über den Eifer, mit welchem sie dies versichert hatte.

[67] Später machten die beiden Männer noch einen Gang durch das Gut, wo Hermann dem Bruder verschiedene neue Einrichtungen zeigen wollte, und namentlich die Anlage einer Fabrik, auf die er großen Werth legte. Während dieser Zeit war Rosalie mit der Tante allein und hier fragte sie plötzlich:

„Ist Alfred von seinem Bruder abhängig?“

„Wie kommst Du darauf, Kind?“ entgegnete die alte Dame verwundert.

„Es fiel mir auf, daß er sich ihm bei verschiedenen Gelegenheiten unterordnete, ihm eine Art Vormundschaft einräumte.“

„Nun, die Stelle eines Vormunds hat Hermann ja auch an dem Bruder, dem er an Jahren so weit voraus ist, vertreten. Und treu hat er an ihm gehandelt, das ist wahr, und es Alfred nie empfinden lassen, daß dieser alles seiner Güte verdankt.“

„Es sind ja auch Brüder!“ rief Rosalie verwundert.

„Aber nur Halbbruder,“ erklärte die Tante, „das große Vermögen, welches Hermann besitzt, sowie das ganze Gut, stammt von seiner Mutter, der ersten Frau meines Bruders, die einer Seitenlinie unseres Hauses angehörte und denselben Namen trug. Wir übrigen Lossau’s sind ohne Vermögen – und dessen hat sich denn auch Alfred nicht zu schämen, da wir trotzdem in der Welt immer hochgeachtet gewesen sind.“

Die alte Dame hatte sich bei diesen Worten auf ihrem Sitz hoch und gerade aufgerichtet und blickte auf ihre junge Nichte in imponirender Weise, als wolle sie ihre Geringschätzung des Reichthums andeuten, welcher derselben in Kurzem zufallen würde. Rosalie aber achtete kaum darauf und schaute sinnend hinaus in den Park, wo sie Alfred heute zuerst begegnet war und über den sich jetzt bereits abendliche Schatten breiteten.

Sie ahnte kaum, daß sie zu derselben Zeit Gegenstand der Unterhaltung zwischen den beiden Brüdern war, die auf ihrem Wege dahinschritten. Alfred konnte sein Entzücken über die schöne Schwägerin nicht verbergen und rief aus:

„Wahrlich, Hermann, wenn ich nicht Dein Bruder wäre, ich beneidete Dich um Dein Glück und könnte es Dir streitig machen.“

Hermann hörte ihm mit stillem und glücklichem Lächeln zu. „Und doch bin ich es allein, der Rosaliens Werth richtig zu erkennen und zu schätzen weiß, denn ich habe das junge Gemüth gekannt seit seiner Kindheit, als mich die innigste Verehrung zu ihrer schönen Mutter hinzog, die mir auf dem Sterbebette ihr Kind gewissermaßen vermachte. War ich doch fast der einzige Freund, der ihr nach dem Tode des Gatten geblieben, und sie mußte für die Zukunft ihres Kindes zittern, das schutzlos einem rauhen Leben preisgegeben war.“

„Aber, wenn ich mich recht erinnere, lebte die Familie früher in glänzenden Verhältnissen,“ sagte Alfred.

„Allerdings; aber Glückswechsel, wie sie in der Kaufmannswelt häufig vorkommen, hatten dieselben mit einem Schlage vernichtet, und als Rosaliens Vater starb, war schon der Ruin seines Hauses erklärt, der Tod vielleicht eine Folge der Erschütterung und des schweren Kummers der Seinigen, die an Glanz und Wohlleben gewöhnt waren und nun allen Luxus, alle Annehmlichkeiten des Lebens entbehren sollten. Als auch die Mutter gestorben war, betrachtete ich mich als Rosaliens natürlichen Vormund und nachdem ich ihre Erziehung in einer Pension hatte vollenden lassen, bot ich der Verwaisten mein Haus an und stellte sie unter den Schutz der Tante, die mir nach dem Tode unserer Mutter die Wirthschaft führte.“

„Nun, das Weitere kann ich mir denken, seit ich in ihre schönen Augen gesehen habe!“ fiel Alfred lachend ein; „sie kam, sah und siegte, nicht wahr, Hermann?“

„Ich liebte sie – ja!“ entgegnete Hermann, und es war, als klänge eine leise Verstimmung über den Ton des Bruders aus seiner Antwort, „aber nicht um ihrer schönen Augen willen, sondern – –“

„Nun?“ fragte Alfred, als Hermann unerwartet stockte.

„Alfred, hältst Du es gerechtfertigt, daß ich, der ältere Mann, dem jungen, unerfahrenen Mädchen die Hand bot?“

„Wie, Hermann?“ fragte Alfred, der den Bruder nicht begriff.

Dieser achtete aber nicht auf ihn und fuhr fort, als müsse er seine Handlungsweise erklären, entschuldigen. „Sieh, das Auge eines Vaters kann nicht liebevoller und sorglicher den Charakter und das Wesen seines Kindes erforschen, als ich mich in Rosaliens Natur hineingelebt habe, und darum glaube ich mir zutrauen zu dürfen, daß ich sie die rechten Wege zu ihrem Glück leiten, sie vor den Gefahren schützen werde, die aus dieser Natur hervorwachsen können!“

Alfred faßte die letzte Bemerkung auf und fühlte sich von ihr betroffen.

„Aber sie ist ja einfach und harmlos wie ein. Kind,“ wandte er ein. „Von welchen Gefahren sprichst Du denn?“

„Laß es gut sein, Alfred!“ versetzte Hermann. „Manchmal erwacht schon ein Dämon, wenn man nur von ihm redet, und ich möchte eben alle Dämonen fern halten von dem Kleinod meines Herzens!“ –

Mit Alfred war ein neues, fröhliches Leben in das Haus gekommen. Beschäftigungen wurden vorgenommen, an die man lange nicht gedacht und die wenigstens Alfred und Rosalie, die beiden jüngsten Mitglieder der Gesellschaft, in die früheren Tage zurückversetzten, wo sie Kinderspiele mit einander getrieben hatten. Hermann war in dieser Zeit vielfach abwesend, oder von Geschäften in Anspruch genommen, welche die Bewirthschaftung des großen Gutes mit sich brachte und die sich gerade jetzt häuften, weil er auf seine nahe Abwesenheit Bedacht nehmen mußte. Um so mehr freute er sich über den Verkehr der jungen Leute, von denen ihm immer Eines, wie er scherzend zu sagen pflegte, die Sorge für die Unterhaltung des Andern abnähme, und forderte namentlich den Bruder auf, den Ruhm der Lossau’s, daß sie allezeit Ritter des schönen Geschlechts gewesen seien, aufrecht zu halten. So kam denn Alfred bald kaum noch von Rosaliens Seite. Er begleitete sie auf ihren Gängen durch den Park, half ihr die zahmen Rehe füttern, die in einer weitläufigen Umzäunung gehalten wurden, oder schiffte sie auf dem zum Gute gehörigen See, was ihr Lieblingsvergnügen war. Sie dagegen sang ihm spanische Lieder vor, die sie theils aus ihrer frühern Kindheit im Gedächtniß behalten, theils von ihrer Mutter gelernt hatte, und er versuchte dann wohl, die Laute nachzubilden und sich die Worte ihrer schönen Sprache, die sie ihn zu lehren strebte, einzuprägen.

Während der ersten Tage hatte sie noch eine gewisse Schüchternheit beibehalten, bald aber riß sie die Lebhaftigkeit des Schwagers hin, so daß die Tante, einmal verwundert zu Hermann sagte: „Was hat nur die Rosalie, und welcher Geist ist plötzlich über sie gekommen, daß sie den ganzen Tag aussieht wie die Glücksprinzessin im Märchen?“

„Laß nur!“ versetzte er, „ihre Jugend hat an Alfred den passenden Gefährten gefunden, während wir Beide der Kleinen wohl manchmal etwas zu ernsthaft sind, und ich danke es ihm von Herzen, daß er ihren fröhlichen, leichten Sinn erweckt hat!“

Und Alfred selbst? – Er fühlte es bald nur zu gut, daß durch ihn ein anderes Denken und Empfinden in die Brust der jungen Schwägerin gekommen war; aber nicht das, welches der arglose Bruder voraussetzte: er fühlte es mit freudigem Triumph, daß ihre Blicke häufiger, feuriger auf ihm ruhten, als auf ihrem Verlobten, daß, wenn sie mit ihm redete, in ihrer Stimme ein Klang lag, den keiner sonst hervorzurufen vermochte – mit einem Wort, daß der Eindruck, welchen das schöne Mädchen gleich bei der ersten Begegnung auf ihn gemacht hatte und der mit jedem Tage wuchs, in demselben Grade von ihm auf sie übergegangen war. Wohl mahnte ihn Anfangs eine innere Stimme, sich bei Zeiten zurückzuziehen, das Vertrauen des Bruders nicht zu täuschen; aber dieselbe wurde schwächer und schwächer, je mehr ihn der Zauber von Rosaliens Schönheit und Lieblichkeit umstrickte, je mehr er sah, daß sie all’ ihre Freude, ihr Glück nur noch in seiner Nähe suchte. Dennoch war zwischen den beiden jungen Leuten nie von ihren Gefühlen die Rede gewesen; er fühlte instinctmäßig, daß sie die ihrigen selbst nicht kannte, und wenn er sich auch an ihnen weidete – er wagte nicht, ihr die Augen zu öffnen, und sie spielte ruhig wie ein Kind am Rande des Abgrunds mit ihren Blumen.

An einem dieser Tage hatte Hermann eine Besichtigung auf dem entferntesten Theile des Gutes vorzunehmen, und da ihn dieselbe bis zum Abend in Anspruch nahm, beschlossen Rosalie und Alfred, einen größeren Spaziergang zu machen und seine Rückkehr dann an einem bestimmten Platz in dem an den Park stoßenden Wäldchen zu erwarten. Der Weg hatte sie auf eins der in der Nähe von Lossau liegenden Dörfer hinausgeführt, und nachdem sie an den ziemlich ärmlichen Hütten vorbeigegangen waren, gelangten [68] sie zum Kirchhof, der eine kleine Erhöhung bildete und die oben befindliche Kirche umgab.

„Lassen Sie uns hier einkehren!“ bat Rosalie und trat in das offen stehende Thor.

„Warum?“ versetzte er etwas unmuthig, „warum wollen wir uns den heiteren Sinn trüben? Ich halte nicht viel von Kirchhofsstimmungen.“

„Und mich zieht ein Friedhof oft wunderbar an!“ sagte sie, plötzlich zu einem eigenthümlichen Ernst übergehend, und beugte sich nieder, um die Grabschrift auf einem der Leichensteine zu lesen. „Aus Tod Leben!“ las sie und blickte sinnend auf das in ziemlich roher Arbeit ausgehauene Symbol, einen Schmetterling, der sich der Hülle entwunden hatte.

„Gott grüß’ die Herrschaften!“ tönte in diesem Augenblick eine bescheidene Stimme hinter ihnen, und als Beide aufblickten, gewahrten sie ein altes, ziemlich ärmlich gekleidetes Mütterchen, das zur Seite einer jüngeren Frau, welche ein kleines, mit einem Tuche verhangenes Kind auf den Armen trug, der Kirche zuschritt. „Wir danken Euch, Mutter!“ sagte Alfred, und er wie Rosalie traten unwillkürlich näher.

„Gehört Ihr zu dem Kinde?“ fragte die Letztere.

„Ja, es ist mein Enkelkind und ich geleite es zur heiligen Taufe. Wir sind aus Wellbach, und da wir keine eigene Kirche haben und meine Kräfte nicht ausreichten für den weiten Weg, hat die Marthe, unsere Nachbarin, das Kleine hergetragen.“

„Und seine Eltern?“ fragte Rosalie weiter.

„Meine Tochter ist noch nicht vom Kindbett erstanden.“

„Und der Vater?“

„Ja, sehen Sie, liebe Dame, das ist eine traurige Geschichte! Der Jakob, welcher der Liebste meiner Tochter war und sie sicher geheirathet hätte, ist als Matrose auf der See gestorben und der Gram darüber hat meiner Anna schier das Herz abgefressen. Als dann der arme Wurm da zur Welt kam, wollten die Leute, die sie früher Alle lieb gehabt, nichts mehr von ihr wissen – und darum müssen wir denn auch so allein zur Kirche gehen,“ setzte sie mit einem kummervollen Seufzer hinzu.

Ein Ausruf des Unwillens entfuhr Rosaliens Lippen und sie wandte sich nach der jungen Bäuerin, die während der Unterhaltung auf einem der Steine Platz genommen hatte.

„Wollen Sie die Kleine sehen?“ fragte diese und schlug das Tuch zurück, welches das Kind bedeckte. Aus der ärmlichen Umhüllung blickten Rosalie ein Paar dunkle Augen, ein Gesichtchen an, das sie durch seine feine Bildung überraschte. Gerührt sah sie auf und begegnete den Blicken Alfred’s, der gleichfalls näher getreten war, um das kleine Geschöpf zu betrachten. Es kam ihr eine plötzliche Eingebung:

„Alfred, wollen wir die Pathen des Kindes werden?“ fragte sie.

„Ja,“ entgegnete er rasch, „wenn die Alte darein willigt, daß es Rosalie genannt wird.“

„Wollt Ihr das, gute Frau?“ fragte das junge Mädchen.

(Fortsetzung folgt.)




Die Inselburg im Rhein.

Welches stolze Schloß entsteiget
Dort dem grünen Rhein?
Seht die Fluth, die seitab weichet,
Brandend an dem Stein.
Wie ein Kriegsschiff kommt’s geflogen
Auf den schnell bewegten Wogen,
Streckt der Thürm’ und Thürmchen viele
Wind und Rhein zum lust’gen Spiele.
                                             G. C. Braun.

Mitten im Rhein, umspült von des Stromes grünen Wogen, steht fest und sicher, dem Zahne der Zeit schon seit Jahrhunderten trotzend, die malerische Inselburg Pfalz.

Wer den Rhein zum ersten Male bereist und in der Strombiegung – bei Oberwesel rheinauf oder hinter Bacharach rheinab – dieses phantastische Felsennest gewahrt, dem dürfte schwerlich sofort ein vernünftiger Zweck für die Erbauung dieses wunderlichen Castells einleuchten. Wer aber gar in mondheller Sommernacht, auf dem Verdecke eines Rheindampfers stehend, die Pfalz zum ersten Male erblickt, dem drängt sich ein Vergleich dieses wundersamen Baues mit einem bewimpelten Kriegsschiffe unwillkürlich auf, ein Vergleich, den die sonderbare Gestaltung des Stromes, der hier wie ein bergumgrenzter Landsee erscheint, und der hohe Mittelthurm in seiner abenteuerlichen Form unterstützt. Kleine Thürmchen flankiren die Seiten des sechseckigen Baues, hier schiebt sich ein Erker, dort eine „Pechnase“ aus dem Hauptrumpfe vor, zahlreiche Schießscharten lugen unter der Schieferbedachung heraus und eine vergatterte Einlaßpforte, hoch genug und dem zeitweilig hohen Wasserstande entsprechend, bietet den einzigen Zugang zu dem Gebäude. Die Pfalz ist in der That die sonderbarste und eigenthümlichste der rheinischen Burgruinen.

Auf einem Thonschieferfelsen der „Valckenaue“, wie dies kleine Eiland nach seinen früheren Besitzern, den Falkensteinern, ehemals genannt wurde, erhob sich nach chronistischen Nachweisen schon um 1267 ein bescheidener Bau, der von den Zollerhebern Philipp’s, des Altherrn von Bolanden, bewohnt war. Die rheinische Geschichte sagt uns wenig darüber, wann die Erbauung der jetzigen „Pfalz“, der „Burg auf dem Rhein“, stattfand; sie erscheint um 1329 in dem Vertrag von Pavia wieder als der „Pallenz Gravenstein“ (Pfalzgrafenstein) und diente auch hier als altpfälzische Zollstätte, eine Bestimmung, welche muthmaßlich der ebenfalls mitten im Rhein auf einer Insel stehende Mäusethurm mit ihr theilte.

Damals aber erhob sich nur der neunzig Fuß hohe, ursprünglich vierseitige, höher – durch eine Aenderung der beabsichtigten Grundform auf der südlichen Seite – in einem Fünfeck verlaufende Mittelthurm auf der Falkenau. Seine Bestimmung verdoppelten die Elemente; er diente gleichzeitig als Eisbrecher und stand, ein treuer Schützer, fest gegen alle Unbill des Hochwassers, gegen die treibenden Eisschollen – ein rüstiger Kämpe, niemals besiegt, niemals gestürzt.

Zur Zeit, als Caub und der Inselthurm pfälzisch wurden, Ende des dreizehnten Jahrhunderts, entstanden, muthmaßlich als Ringmauern um den Hauptthurm, erst die äußeren Baulichkeiten, ein Sechseck mit fünfundzwanzig Thürmchen, gekrönt von Wetterstangen, und die Burg ward abermals – eine ausgesprochene Stromplage, eine Zollerhebungsstätte, welche Handel und Verkehr auf dem Rhein nicht wenig bedrückte. Die Stärke der Mauern mußte wohl, dem mächtigen Anprall des Treibeises entsprechend, in so gewaltiger Weise hergestellt werden; sie beträgt ungefähr sechs Fuß. Die zugespitzte Untermauerung aus rothen Sandsteinquadern ist mit armdickem Eisenwerk verbunden. Gleichzeitig richtete man vorsorglich den ganzen Bau zur Vertheidigung her. Unnahbar war die Veste, denn von den Pechnasen und Erkern aus war jedes herankommende Schifflein zu beschießen und ein doppelter Wallgang deckte die Besatzung von Armbrustschützen, die hier ihres doppelten Amtes, der Unterstützung der Zollerhebung und des Kriegsdienstes, wartete.

Die Rheinpfalzgrafen trieben hier das Raubrittergeschäft gar arg. Schier unaufhörlich läutete die Stromwache das Glöcklein auf dem Thurme der Pfalz, um die Fahrzeuge zu signalisiren, und die rheinischen Schiffer kannten das Zeichen; es hieß: Anhalten und Bezahlen. Bis auf die neueste Zeit aber behielt der Ort Caub seine Zollstätte – das nassauische Steueramt, bis auch dieses durch die Abschaffung des Rheinzolles und die Einverleibung in Preußen beseitigt wurde. Indeß diente ehemals der Thurm der Pfalz auch als Wahrschau für die Schiffer, und sein Thurmglöcklein hat wenigstens in dieser Beziehung Nutzen geschaffen; es warnte die Schiffe vor nahenden Flößen.

[69]

Der innere Hof in der Pfalz.
Nach einem Originalgemälde von Sachs.

Bauliche Aenderungen bedingte wohl das Alter der Burg, und sie sind denn auch zeitweise an den Außenwerken und der Bedachung des Gebäudes vorgenommen worden. Zu Anfang dieses Jahrhunderts kam die Pfalz, die bei jeder historischen Wandlung, welche am Rheine vorging, ihre Rolle spielte, die im dreißigjährigen, im Orleans’schen Erbfolgekriege und während der französischen Revolution ihre Stürme zu bestehen hatte, an Nassau, und die kurpfälzische Besatzung, bestehend aus etwa zwanzig Mann Invaliden, zog ab, ohne militärischen Nachfolgern Platz zu machen.

Die glänzendste That der neueren deutschen Geschichte aber kennzeichnet die Pfalz als ein siegkündendes Erinnerungszeichen für das ganze deutsche Volk. Hier überschritt in der Neujahrsnacht 1814 das Blücher’sche Heer, die schlesische Armee (erstes Armeecorps und eine russische Abtheilung unter Langeron) den Rhein. Hier beginnt der Siegeszug der preußischen und verbündeten Truppen gegen den Feind deutschen Nationalsinns und deutschen Nationalbewußtseins. Ueber die russischen Pontons, welche in edler Begeisterung die rüstigen, noch heute am ganzen Rhein mit Recht berühmten Schiffer des Städtchens Caub an den Schieferfelsen der Pfalz festankerten, zogen die ersten Rächer, „die wackeren Jungens des alten Marschall Vorwärts“, hinüber und öffneten den Weg nach Paris, der in so unendlich kurzer Frist zurückgelegt ward.

Blücher, der auf der Straße von Weisel, heute zur Erinnerung das Blücherthal genannt, herangezogen war, hatte in Caub alle Kähne mit Beschlag belegt und ließ Schiffer und Fergen des Orts in die evangelische Kirche zusammenrufen. Niemand wußte um seinen Plan; Todesstille und bange Erwartung [70] herrschte in der Stadt. Blücher trat mit dem Ortspfarrer Ahles, der im vollen Ornate erschien, an der Spitze seiner Officiere in die Kirche. Ahles hielt eine begeisterte Anrede an die Schiffer, und der preußische Major v. Klücks ertheilte den Versammelten seine Instructionen zur Förderung des Truppenübergangs. Jubelnd schwuren die Männer von Caub Gehorsam und Treue und erklärten sich zur kühnen That bereit. Ahles sprach darauf ein kurzes Gebet, in dem er den Segen des Himmels für das patriotische Werk erflehte. Mit dem Glockenschlage Zwölf durchschnitten die ersten Kähne die eisigen Wellen, und in kurzer Frist spannte eine zum größten Theil improvisirte Schiffbrücke ihren Arm über den winterlichen Strom.

Die Füsiliere (zweihundert Mann) eines Brandenburgischen Regiments beginnen den Uebergang um drei Uhr, und während die französischen Posten drüben in guter Ruhe ihren Nachtdienst verschlafen, springen die Brandenburger am jenseitigen Ufer hinauf und ihr begeistertes Hurrah mischt sich mit den Schüssen der plötzlich ermunterten Wachen. Erst jetzt erwidern die heldenmüthigen Angreifer das Feuer; aber nicht lange währte hier der Widerstand, die Feinde flohen, die Bahn war geöffnet, der Siegeszug der wiedererwachten Nation begann. Eingedenk dieser That ehre jeder deutsche Vorüberfahrende das wunderliche Felsennest Pfalz als ein Denkmal der vaterländischen Geschichte.

Warm muß es in jener Neujahrsnacht eben nicht gewesen sein, denn Blücher soll, nach einer ziemlich verbürgten Anekdote, zu einem etwas dünnen und noch sehr jungen Lieutenant v. Falkenstein gesagt haben: „Sie armer Junge können mir ooch dauern! Mich ist’s nich so kalt!“ Worauf ihm der an seiner Ehre gekränkte Lieutenant derb und bestimmt das Ersuchen aussprach, den „Jungen“ zurückzunehmen, was denn auch Vater Blücher ohne viele Umstände und von Herzen that.

Zum Gedächtniß jenes Uebergangs erhebt sich am linken Rheinufer an der Stelle, wo die ersten Preußen dasselbe betraten, eine eiserne Tafel mit Gedenkstein und der Inschrift: „Im Jahre des Heils 1813 am 31. December um Mitternacht zog siegreich an dieser Stelle Fürst Blücher von Wahlstatt, Feldmarschall genannt Vorwärts, mit seinen Tapfern über den Rhein, zur Wiedergeburt Preußens und des deutschen Vaterlandes. Errichtet im November 1853 von Ferd. Diepenbrok und E. Denzin.“ Das Jahr 1864 feierte das fünfzigjährige Jubiläum dieser Waffenthat, bei welcher Gelegenheit die noch lebenden Schiffer, welche in jener Nacht thätig mit eingriffen, von dem König von Preußen und dem Herzog von Nassau decorirt wurden. An der Eingangspforte zur Pfalz aber ward 1864 eine Metalltafel eingelassen, deren Inschrift meldet:

„Zur Befreiung Deutschlands von drückender Fremdherrschaft ging hier in der Nacht vom 1. Januar 1814 der Feldmarschall Blücher mit der schlesischen Armee über den Rhein, und die Schiffer von Caub förderten kräftig das Werk der Befreiung bei diesem Rheinübergang. Diese Tafel wurde gestiftet bei der Feier des fünfzigjährigen Gedenktages am 31. December 1863.“

Schon im März des Jahres 1793 war übrigens hier unter König Friedrich Wilhelm dem Zweiten ein preußisches Corps über den Rhein gegangen. –

An der westlichen Spitze der Pfalz thront noch als Schildhalter der Löwe des pfälzischen Wappens, den Schild erhoben und in Vertheidigungsstellung, als habe er seines Herrn Rechte zu schützen gegen alle drohenden Angriffe.

Die Pfalz, die gerade an dieser Stelle, nahe unterhalb des sogenannten wilden Gefährts, ihren früheren Dienst als Eisbrecher noch heute mit Erfolg versieht, ist in der Winterzeit ein gefährlicher Platz. So ward bei dem fürchterlichen Eisgange am 30. Januar 1850 dem erwähnten pfälzischen Löwen die Schwertklinge entrissen, die er bis dahin mit der einen Pranke in treuer Anhänglichkeit geschwungen hielt. Bei jenem Eisgange war die Pfalz Zeuge eines Ereignisses, das leicht hätte sehr tragisch werden können. Der Schiffer Engel von Caub, der im Orte selbst keine Wohnung fand, erhielt von der Behörde die Erlaubniß, zeitweilig die ehemalige Commandantenwohnung in den Burgräumen mit seiner Familie zu beziehen. Er begab sich über den festgefrorenen Rhein nach Caub, um Lebensmittel herbeizuschaffen, und plötzlich, unvermittelter als dies sonst wohl zu geschehen pflegt, setzten sich die Eismassen des Stromes in tosende Bewegung. An den Rückweg war nun nicht mehr zu denken. Der Eisgang war plötzlich so gewaltig, daß die Pfalz haushoch unter Wasser gesetzt wurde, die Schollen thürmten sich, das ganze äußere Gebäude überragend, auf, die Stadt Caub selbst war in kaum einer halben Stunde gleichfalls gänzlich überschwemmt. Aus der obersten Thurmluke des Mittelbaues der Pfalz aber streckten Frau und Kinder des Schiffers flehend die Hände empor, jammernd um Rettung und Hülfe. So verging die Nacht. Keine menschliche Hülfe war hier möglich. Wer konnte es wagen, dem wüthenden Strom bei Eisgang zu trotzen! Caub und seine Umgebung, eingezwängt zwischen den Felsen der Lurlei und den Stromschnellen des wilden Gefährts, haben stets die Wirkungen eines Eisgangs am gefahrdrohendsten zu bestehen. Dabei schwankte der Mittelthurm der Pfalz in dem tobenden Elemente wie der Mastbaum eines Seeschiffes. Der nächste Morgen endlich brachte der beunruhigten Einwohnerschaft Caubs die Kunde, daß die Eingeschlossenen auf der Pfalz noch lebten, und am Nachmittag gelang es dem geängstigten Vater bis an die Außenwerke zu rudern, von wo er sich an einer über der Eingangspforte angebrachten Schiffsrolle zu den Seinen emporzog.

Zur Zeit ist die Pfalz unbewohnt. Sie diente unter Kurpfalz auch eine Zeitlang als Staatsgefängniß, hatte einen Commandanten und wurde dann zum Magazin für verschiedene Gegenstände degradirt; da aber die Ratten und Mäuse nichts verschonten, was irgend vertilgbar war, so mußte auch diese Benutzung aufgegeben werden. Jetzt steht sie gänzlich leer.

Die äußere Ansicht der Pfalz ist ziemlich bekannt. Wer aber auf flüchtiger Rheinreise an dieser Inselburg vorübereilt, legt sich unwillkürlich die Frage vor: Wie das Felsennest im Innern ausschauen mag? Nun, die Gartenlaube giebt in der beifolgenden Illustration eine getreue Abbildung des Innern dieses wunderlichen Gebäudes und zwar des Hofraumes gleich hinter der Eingangspforte.

Der Nachen legt an den neuen „Krippen“ – wie die Schutzbauten der Rheincorrection am ganzen Strome heißen – an; wir klettern die Felsplatten hinauf und bahnen uns einen Weg durch den angeschwemmten Triebsand auf der Insel. Wie ehedem die Falkenau mit grünem Buschwerk umgeben war, „das dem Commandanten mußte mit zu einem Garten dienen“, so hat man auch im letzten Jahre wieder versucht, das längst durch die Stromschnellen hinweggerissene Strauchwerk durch ein Weidicht zu ersetzen. Wir steigen die hölzerne Zugtreppe hinauf; rechts derselben befindet sich die oben erwähnte Gedenktafel. Den ganzen inneren Burgraum umgiebt eine Holzgalerie, und ein geräumiger Hof umschließt den mächtigen Mittelthurm, der noch bis zur obersten Spitze zu besteigen ist und eine prachtvolle Aussicht nach allen Seiten gewährt. Im Burghofe befindet sich ein überdeckter, mehr denn dreißig Fuß tiefer Brunnen, welcher ein vortreffliches Quellwasser führt. Er liegt wesentlich tiefer als das Rheinbett. Die sämmtlichen Räumlichkeiten im Innern sind über alle Erwartung ausgedehnt. Auch heute noch hätte eine Compagnie Raum in dem Gemäuer, wenn schon zur Zeit nur zwei bewohnbare Zimmer sich vorfinden, die ehemalige Commandantenwohnung und das enge „Gemach der Pfalzgräfinnen“, welches man dem Fremden als eine Absonderlichkeit zu zeigen pflegt.

Schon der alte rheinische Antiquarius von 1775 erzählt: „Es sollen in den ältesten Zeiten in diesem Schloß die Pfalzgrafen seyn gebohren worden, zu welchem Ende sich die ehemaligen Pfalzgräfinnen in diesen Ort begeben und ihre Kindbetten allda aushalten mußten.“ Wer, der jemals Deutschlands schönsten Strom bereist, hätte nicht von dieser Sage gehört? Eine Vertauschung der edlen Sprößlinge des pfalzgräflichen Geschlechts sollte durch diese Absperrung verhindert werden. Allein dies Blättchen aus dem poetischen Erinnerungskranze der Pfalz müssen wir ihr leider rauben. Jene Tradition ist eben nur Sage. Wenn auch der Dichter Simrock ihr ein poetisches Gewand verlieh und mancherlei für die Wahrscheinlichkeit der Sage anführt, so läßt der Geschichtsforscher Simrock doch schließlich „ihren historischen Gehalt auf sich beruhen“.

Wer bei Gelegenheit einer Rheinreise es irgend einzurichten vermag, versäume also nicht, nach Requisition des Schlüssels zur Pfalz bei dem Amtsdiener Studer in Caub, dem alten Gemäuer einen Besuch abzustatten.

H–l.



[71]

Eine Audienz bei dem König von Italien.

Mit der Eisenbahn in der freien Schweiz angekommen, durchzog ich dieselbe zu Fuß und eilte dann raschen Schrittes dem schönen Italien zu. Ausgeruht und gestärkt im gastlichen Hospiz, drückte ich zum Dank hierfür und als einzige Belohnung den braven Vätern vom Orden St. Bernhard nochmals die Hand, blickte wiederholt rückwärts auf die Schweiz und beflügelte sodann meinen Fuß, die prächtige Simplonstraße abwärts steigend, um Italien zu erreichen. Wenig kümmerten mich die schwindelnden Höhen der Alpen und das Riesigschöne der Natur; nur vorwärts dachte mein Sinn. Nach Italien hieß die Losung, und nach Italien hieß die Parole.

Endlich erblickte mein Auge einen hohen Marmorstein mit der einfachen Inschrift Italia. Es war die Grenze. Schneller eilte ich nun abwärts und vorbei an den italienischen Zollwächtern und Carabinieri, ihnen ein „Evviva Italia!“ zurufend. Freudig und mit Enthusiasmus wurde mein Ruf erwidert. Rascher und rascher ging ich durch die schönen Städte und Dörfer, am herrlichen Lago Maggiore entlang, nach dem glänzenden reichen Turin. Gastfreundlich und großherzig von der edlen und freien Stadt aufgenommen, war mein Erstes, mich auch im königlichen Schlosse umzusehen. Ich schritt durch das Schloßthor und dessen Hofraum. Beides war der eisernen Gitter und der Thorflügel entledigt, gleichsam zum Zeichen, daß hier nur Friede und Einigkeit herrsche und daß man das Schloß nur der Obhut des Volks anvertraue. Eine Doppelschildwache der activen Armee und der Nationalgarde stand am Hauptportale, und beide Posten unterhielten sich gerade so miteinander, als wenn sie nur einer und derselben innig verbündeten Familie angehörten.

Weiter schreitend, gelangte ich an eine Marmortreppe, an deren Fuß ein herculischer Portier, gleich einem Riesen, in scharlachrothem, goldverbrämtem Rocke, mir auf alle Fragen mit einer Gefälligkeit und Höflichkeit Auskunft gab, wie es nur bei Italienern und Südländern überhaupt vorkommt. Meine Frage, ob ich wohl Audienz bei Seiner Majestät dem Könige erhalten könne, wurde schnell beantwortet. Der Portier lächelte bei dem Aufdrucke „Sr. Majestät“, und sagte einfach: „Der König verweigert Niemand, wer es auch immer sei, eine Audienz;“ zu diesem Behufe habe ich mich nur in ein Buch einzuschreiben, worauf dann das Nöthige erfolgen würde. Er wies mich sodann an einen andern Diener, welcher mich in das Secretariat des Königs begleitete. In einem schönen, aber nicht überreich geschmückten Zimmer wurde ich hier empfangen und zum Sitzen genöthigt. Ohne mich nur zu fragen, was ich denn eigentlich bei dem Könige wolle, ließ man mich meinen Namen in ein großes Buch einzeichnen und bedeutete mir hierauf, daß ich des andern Tags Morgens neun Uhr wieder nachfragen könne, wann die Stunde der Audienz bestimmt sei. Ein Diener begleitete mich abermals die Treppe hinab und bemerkte mir sogar dabei, daß ich, wenn ich morgen nicht selbst kommen wolle, die Bezeichnung der Stunde brieflich in meine Wohnung zugesandt erhalten würde. Ich dankte jedoch für das letztere Anerbieten und antwortete, daß ich selbst kommen würde, indem ich müßige Zeit genug besäße.

Andern Tags um neun Uhr Morgens war ich wieder im Schlosse und in dem mir bekannten Secretariatszimmer. Hier erhielt ich eine Karte, auf welcher mein Name stand und daß ich morgen um eilf Uhr mich zur Audienz bei dem Könige einzufinden hätte. Innerhalb achtundvierzig Stunden von meiner Anfrage an sollte ich also vor dem Könige stehen. Dies ist gewiß schnell und pünktlich. Ich machte deshalb auch dem Secretär eine Bemerkung hierüber, indem ich zugleich meinen Dank beifügte. „Nicht dankenswerth, ist gern geschehen, Signor,“ hieß die freundliche Antwort, „wenn Sie aber mit der Audienz Eile haben, so ist vom Könige der Befehl gegeben, daß Jedermann allsogleich angemeldet werden solle; Sie können deshalb auch, wenn Sie Dringliches haben, in wenigen Stunden zur Audienz zugelassen werden.“ Ich verneinte die große Dringlichkeit, verbeugte mich, noch mehr verwundert, und ging dann auf dem nämlichen Wege wieder fort, den ich gekommen war.

Am nächsten Tage suchte ich mich in mein bestes Aussehen, nämlich in ein militärisches, zu werfen. Ich besorgte mit einer gewissen Sorgfalt Haar und Bart, weil ich hörte, daß auch der König viel auf seinen langen Schnurr- und Knebelbart und auf sein militärisches Aussehen halte. Schon etwas vor eilf Uhr traf ich nun ein, wo ich in den Saal der ehemaligen Schweizer, welcher, als eines der äußeren Vorzimmer des Königs, jetzt der Leibgarde zu Fuß als Versammlungsort dient, geführt wurde. Der Saal ist groß und geräumig, mit schönen Frescomalereien, Gold- und Silbersachen, sowie Möbels mit Sammet überzogen, geziert. Von dem Plafond herab hängen in schönster Symmetrie fünf große Gaskronleuchter, ebenso sind an den Wänden noch viele Vorrichtungen für Gasflammen. An einer Thür zu den innern Gemächern des Königs stand ein Leibgardist mit einfacher, aber dennoch schöner und praktischer Uniform und Armatur als Schildwache. Dieser Gardist gehörte zur Leibwache zu Fuß, bei der alle Soldaten Unterofficiersrang besitzen. Dem gedienten Soldaten sah man die Garde aber nicht allein an den Orden und Medaillen an, die ihn zierten, sondern auch an seinen wahrhaft schönen Gesichtszügen und dem hohen und schlanken Wuchse des Italieners. Mit dem Schlage eilf Uhr erschien aus den Zimmern des Königs ein Kammerherr und ein Adjutant und bedeuteten uns – da mittlerweile alle Gesuchsteller, sieben an Zahl, eingetroffen waren – einstweilen hier Platz zu nehmen. Nachdem man uns einiges Nöthige erklärt hatte, wurde bemerkt, daß nunmehr die Audienz beginnen werde, und daß wir nach der Reihenfolge unserer Anmeldung und Einzeichnung vorgerufen werden würden.

Vom Schweizersaal aber sah man in einen anderen kleineren und offen stehenden Saal, in welchem es ungemein anmuthig und lieblich aussah. Feine Teppiche lagen hier auf dem Boden und außer anderen Zierrathen standen auch in den Ecken des Zimmers auf vergoldeten Etageren viele wohlriechende Gewächse und Blumen. An der inneren Thür war von der Leibgarde zu Pferd eine Schildwache aufgestellt. Von dieser Garde ist jeder Soldat Officier und aus den besten und tüchtigsten langgedienten Officieren der Armee ausgewählt. Diese Schildwache hatte etwas wahrhaft Imposantes, man glaubte einen Kriegsgott selbst zu sehen. Auch hier war nichts mit Flitterwerk überladen; eine dunkelblaue Uniform mit scharlachrothem Kragen, silbernen Litzen, Epaulettes mit Fransen, Bandelier und Cartouchier von Silber, sowie ein Säbel mit gerader Klinge, dienten allein als Schmuck und Waffe zugleich. Die blaue Officiersschärpe hing über Schulter und Brust und ein Federhut mit der Tricolorkokarde bedeckte – schräg auf den Kopf gedrückt – die halbe und hohe Stirn; Schnurr- und Knebelbart aber zeigten schon viele graue Haare; die rechte Hand des Officiers hielt den Carabiner. Auch diese Wache trug, wie jene der Garde zu Fuß, die Orden des Unabhängigkeitskrieges. Nach dem kleineren Saale aber kam das Gemach des Königs selbst und hier stand die Officiersschildwache. Wir saßen nun Alle, wie wir uns angemeldet hatten, ohne Rücksicht auf Stand oder Alter. Der erste der Eingezeichneten schien mir, dem Aeußern nach, ein gewöhnlicher Arbeiter zu sein. Derselbe that aber nichts weniger als fremd, vielmehr als wenn er hier zu Hause und heimisch wäre. Er ließ sich ohne weiteres auf den ersten Sammetsessel nieder. Der zweite war ein schlichtes Bäuerlein, der sehr extrem-demokratische Grundsätze haben mochte, denn währenddem alle Anwesenden im Saale die Kopfbedeckung natürlich abnahmen, behielt der Bauer den Hut auf dem Kopfe. Wir mußten Alte lachen, den Bauer genirte dies aber nicht. Er behielt noch so lange den Hut auf dem Kopfe, bis ihm ein Adjutant freundlich lächelnd bedeutete, daß er doch den Hut abnehmen möge, indem er sich hier in den Vorzimmern des Königs befinde und er auch mit dem Hute in der Hand mit dem Könige sprechen müsse. Der bäuerliche Demokrat nahm nun ganz gelassen den Hut ab und meinte, daß hier eine andere Mode als bei seinem Bürgermeister sei. Dieser spräche nie mit ihm, ohne daß er zuvor gesagt hätte: „Aufgesetzt!“ und er dürfe nur mit dem Hute auf dem Kopfe mit dem Bürgermeister sprechen. Der Adjutant gab unter abermaligem allgemeinem Lachen nun wieder die Antwort, daß es überall Ausnahmen gäbe, und so bestände auch eine solche hier, wo man gewöhnt sei, den Hut abzuziehen; wenn er, der Bauer, aber wieder zu seinem Bürgermeister komme, so könne er immerhin seinen Hut aufbehalten.

Höchst auffallend ist es wirklich, mit welcher wohl beispiellosen [72] Freiheit und Gleichheit man in Italien behandelt wird. Fast überall behält der Italiener den Hut auf dem Kopfe und häufig wird man, selbst von Behörden und in Zimmern, ersucht, ehe man spricht, sich wieder zu bedecken. Mir begegnete es mehrmals, daß man sagte, man spräche nicht eher mit mir, bis ich mich wieder bedeckt habe. Man sei hier dies gewöhnt und dies sei Sitte und Gleichheit vor dem Gesetze. Der Arbeiterstand und dergleichen Leute halten viel auf dies Vorrecht; sie treten häufig sans façon mit bedecktem Kopfe vor Hoch und Niedrig, vor Behörde und Gericht.

Weil das gute Bäuerlein so redselig war, so erfuhr man auch schon im Audienzsaale, was er wolle. Er hatte nämlich eine Ziege verloren und den Verlust sollte ihm der König ersetzen.

Nach dem Bauer aber kam eine hohe, feingekleidete, junge Dame mit einem etwa vierjährigen Kinde. Das Kind mit seinen großen, schwarzen Augen und seinem Lockenhaare, mit seinen naiven Fragen und Bewegungen schien die Anmuth und der Liebreiz selbst. Die Mutter, denn dies war gewiß die Dame, schien eine Officierswittwe. Sie war ganz schwarz gekleidet und spielte bald mit dem Kinde, bald suchte sie an dessen Kleidung etwas zu ordnen. Ein Bouquet, wohl für den König bestimmt, hielt das Kind in seiner Hand. Ich selbst kam neben die Dame und deren Kind zu sitzen, denn ich war der Viertangemeldete. Nach mir kamen ein Pole und ein Ungar und dann wieder eine Dame. Diese Letzte von uns Sieben war eine ältere Frau oder vielleicht auch eine alte Jungfrau. Jedenfalls war sie etwas Xanthippe und zur Herrschsucht geneigt, denn sie wollte durchaus nicht die Letzte sein, trotzdem, daß sie erst nach allen Anderen zur Anmeldung gekommen war. Der Protest der vergilbten und veralteten Jungfrau nützte aber nichts. Man sprach offen, bezugnehmend auf unsere Zahl und auf die Alte selbst, von bösen Sieben und bewies ihr deutlich, daß ihr nur dieser und der letzte Platz gehöre. Sie mußte sich, die hier wohl allein Aergerliche, in das Unvermeidliche fügen und bekam auch noch ein Lachen und Zischen mit in den Kauf. Wahrlich, Geselligeres und Ungenirteres habe ich noch nie gesehen, als hier in den Zimmern des Königs. Unsere Ausgelassenheit war so groß, daß der Adjutant mehrmals mit „Bst! Bst!“ erinnern mußte.

Nachdem wir Alle geordnet waren und Platz genommen hatten – es war noch nicht halb zwölf Uhr – öffnete sich schon die innere Thür und das Königsgemach selbst. Ein Kammerherr stand innerhalb der Thür, da, wo die Officiersschildwache außen stand. Der Ruf: „Avanti!“ – es war des Königs Stimme – ertönte und Nr. 1, der Arbeiter, erhielt vom Adjutanten das Zeichen, in den innern Saal und dann sofort in des Königs Zimmer selbst zu treten. Nur wenige Minuten blieb der Arbeiter aus, kam dann mit einem Papier und freudiger Miene zurück und entfernte sich. Nun kam es an den Bauern. Auch er war nur kurze Zeit bei dem Könige, klapperte bei dem Austritte mit Thalern in der Hand und schien somit seine Rechnung oder vielmehr seine Ziege wiedergefunden zu haben. Wieder rief es: „Avanti!“ wobei die junge und zarte Dame sichtlich erschrak, denn an ihr war nun die Reihe. Schnell und sicher erhob sie sich jedoch nunmehr und schritt zierlichen und leichten Schrittes, mit dem Kinde an der Hand, vorwärts in des Königs Gemach. Etwas länger, als die Vorhergehenden, blieb diese; sodann kam auch sie, ohne daß man eine besondere Veränderung der Gesichtszüge an ihr bemerkt hätte, wieder in unsern Saal und entfernte sich. Nur das Kind schien noch freudiger zu sein und hüpfte spielend und tändelnd an der Mutter empor. Statt des Straußes trug das Kind eine Papierrolle.

Wieder erscholl der bekannte Ruf „Avanti!“, diesmal, wie mir schien, noch stärker, als zuvor. Es galt jetzt also mich selbst. Bei mir machte jener Ruf jedoch gerade die umgekehrte Wirkung, wie bei der Dame. Er erinnerte mich an die volle und helle Stimme eines Feldherrn und eines Patrioten. Das „Avanti!“ war hier für mich das Commando eines gewaltigen Kriegers, der seine Truppen vorwärts sendet zur Schlacht. Des Königs Ruf ermunterte und ermuthigte mich. Rasch und freudig mich erhebend, eilte ich festen und sicheren Schrittes durch die Gemächer, um mich dem König vorzustellen. Jetzt stand ich vor ihm und jetzt erst konnte ich dessen Gemach überblicken. Es war freundlich und schön. Es schien ein Arbeitszimmer des Königs, denn viele Papiere und Bücher sah man in demselben. An einem kleinen Tische saß ein Secretär mit der Feder in der Hand. Der König selbst, eine hohe und stattliche Gestalt, mit einem großen und dichten Schnurr- und Knebelbarte, trug einen einfachen Civil- oder Jagdrock. Nur ein einziges Bändchen – es war das Band zur Erinnerung an den Unabhängigkeitskrieg – zierte ein Knopfloch des Rockes. Die Gesichtszüge des Königs schienen auf den ersten Blick streng und markirt, doch sprach bei näherer Betrachtung eine ungemeine Gutmüthigkeit und Leutseligkeit aus den Augen des Monarchen. Er stand gerade aufrecht, wie ein Soldat, sich nur mit einer Hand auf einen großen runden Tisch stützend. Auf dem Tische selbst lagen wieder viele Papiere und unter einem marmornen Briefbeschwerer zeigten sich auch verschiedene Banknoten. Eine große silberne Schüssel war fast voll von Thalern, eine andere mehr tellerartige flache Schüssel war angehäuft mit Goldstücken. Zur Seite des Königs stand ein graubärtiger General in voller Uniform und mit vielen Orden geschmückt. In einer Ecke des Zimmers aber lag auf einem einfachen Teppiche ein großer Jagdhund und schlief den Schlaf des Gerechten. Der treue Hund mochte wohl wissen, daß sein Herr und Gebieter nichts zu fürchten habe. Im Ganzen zeigte das Zimmer weniger Luxus und Reichthum, als die beiden äußeren Säle. König, General und Secretär richteten bei meinem Eintritt die Augen fest auf mich und schienen nicht unangenehm berührt zu sein. Ich aber trat bis auf drei Schritte auf den König zu und brachte nach einer kurzen Kopfneigung sogleich mein Anliegen vor. „Bene!“ sagte der König, „Sie zeigen sich als Mann und als Soldat. Melden Sie sich morgen bei meinem Adjutant und nun addio!“ Indem ich mich abermals etwas verbeugte, trat ich einige Schritte rückwärts und entfernte mich, um meinem Nebenmanne, dem Polen, und den noch Uebrigen Platz zu machen. Somit war die Audienz schnell und leicht beendigt.

Ich bemerke ausdrücklich, daß diese Audienz noch in Turin, also vor der Uebersiedelung nach Florenz stattfand, zur Zeit, als der König noch in der höchsten Volksgunst stand. Jetzt ist das anders. Man zürnt dem König, die Garde grüßt ihn nicht mehr so enthusiastisch wie früher, und er selbst ist um Vieles verschlossener, zugeknöpfter. Nur im engsten Kreise seiner Vertrauten thaut er auf und es mag wahr sein, was neulich der Mailänder Correspondent der Independance mitgetheilt. „Ich glaube,“ erzählt dieser, „man macht sich über Victor Emanuel viele Illusionen außerhalb Italiens. Man denkt ihn sich gewöhnlich wie einen biedern Landjunker, großen Nimrod und ,flotten Kerl’, der seine Minister regieren läßt und nur hier und da auf der Bühne erscheint, wenn er die Kanonen der Schlachten donnern hört. Die, welche dies behaupten, befinden sich im tiefsten Irrthume. Der König beschäftigt sich viel mit Politik, er hält sehr fest an seinem Königreich Italien und hat nicht immer so große Lust abzudanken, wie die Blätter häufig aussprengen. Und noch mehr, er hat viel röthere Ansichten oder wenigstens Geschmack für rothe Ansichten und ihre Vertreter, als die Royalisten seines Parlaments. Er verabscheut durchaus nicht die ,Corporale der Linken’, und ich würde Sie sehr in Erstaunen setzen, wenn ich Ihnen die ,Fortschrittsmänner’ nennte, die er jede Woche einmal zu Tische einladet. Neulich waren Crispi und Nicotera dabei. Letzterer hat selbst folgende Episode der lieblichen Tafelgespräche berichtet. Man trank tüchtig. Der König neckte Nicotera mit seinem ,eiligen Rückzug’ nach Neapel. Dieser wurde ärgerlich und sagte:

,Unter solchen Umständen wären Sie auch fortgelaufen, Majestät!’

,Ich brauche gar keine Courage zu haben,’ sagte lachend der König, ,dazu sind die Rothjacken da.’

,Die Mentana noch röther gemacht hat,’ sagte Crispi sehr beißend.

,Nun – wir zahlen’s den Leutchen noch einmal heim,’ erwiderte Victor und sein Gesicht verdüsterte sich. Und darauf declamirte er – eine der furchtbarsten Tiraden Alfieri’s gegen die Franzosen, welche bekanntlich der Turiner Poet ärger als den Tod haßte.

,Die Verse sind gut,’ sagte Nicotera.

,Und wir werden sie einmal in Prosa übersetzen,’ sprach lachend der Monarch, der offenbar sehr guten Vino d’Asti bei Tische führt.“

v. G.



[73]

Im Hause Robert Stephenson’s.

Von M. M. v. Weber.
I.

Es giebt noch keinen Ruhm für den deutschen Techniker! Noch ist das Wissen, das die Körper von der bindenden Macht der Schwere befreit, den Gedanken so schnell als er entsteht um den Erdball wandern läßt, das uns kleidet, nährt und behaust, in denjenigen Kreisen der civilisirten Welt, in denen der Ruhm entsteht und wohnt, jenem Können nicht ebenbürtig erklärt worden, welches die Geister schmückt und die Seelen erquickt. Noch ist die Technik nicht salonfähig in der guten Gesellschaft, noch ist die gute Erziehung nicht verpflichtet, von ihr Notiz zu nehmen. Geht durch die Säle einer Bildersammlung. Alle die ersten Fragen, die ihr von den hohen Werken thun hört, gelten dem Namen des Meisters, der sie schuf, die zweiten erst dem Gegenstande des Werkes; wohlweislich fragt der Hörer im Concert: von wem ist diese Sonate? ehe er sich erlaubt, sie göttlich oder trivial zu finden. „Haben Sie den neuesten Roman gelesen?“ – „Von wem?“ lautet die sofortige Erkundigung. Jede Kostschülerin oberer Classe eines Pensionats würde erröthen, die nicht einige Notizen aus dem Privatleben Mirza Schaffy’s, oder Homer’s, oder Firdusi’s, oder sonst eines Dichters, von dem man wenig weiß, zu citiren wüßte, jedes gebildete Ladenmädchen kann sich gar nicht darin irren, daß die Geheimnisse von Paris von Eugen Sue, Soll und Haben von Freytag, und der Werther von Goethe ist.

Und nun fragt im selben Augenblicke, wo ihr diese präcisen Auskünfte erhalten, den vielgewiegten Diplomaten, der eben eine hochwichtige Depesche von Paris nach New-York abgesendet, also um den halben Erdball herum, dem Laufe der Sonne um einen halben Tag voraus, und die Antwort zurückhalten hat, ehe er von seinem Dejeuner aufsteht, fragt ihn, wer der große Mann sei, der dem Eisen gelehrt hat, Eisen auf Befehl des Menschenwillens anzuziehen; fragt den vielgereisten Kaufmann, der heut mit diesem Geschäftsfreunde in Paris, morgen mit jenem in Berlin die Conjuncturen vertraulich Auge in Auge bespricht; der euch, wenn ihr ihm von den herrschenden Stürmen und seinen Sendungen nach auswärts sprecht, mit dem Schmunzeln der Sicherheit antwortet: „Ich habe per Dampfer verladen“; fragt ihn, wer die Männer gewesen seien, die den Dampf, den er gedankenlos täglich aus seinem Theekessel aufsteigen sah, zu dem Geisterrosse der Apokalypse gemacht habe, auf dem die Menschheit ihren Zielen zubraust; fragt die hochwohlerzogene Dame, die in ihrem von süßen Parfüms durchdufteten, tageshell erleuchteten Salon in prachtvoll farbiger Robe ihre Gesellschaft in Erstaunen setzt, indem sie alle Geigengaukler und Clavierequilibristen der Neuzeit bis zum zweiundzwanzigsten Range hinab an den rosigen, beringten Fingern herzählt – fragt sie, wer die Leute waren, die es verstanden, den dunkeln Kohlenlagern drunten den Blumenduft, den Sonnenglanz, die Farben der jahrtausendalten Vorzeit abzugewinnen, die jetzt als Parfüms, als Gaslicht, als Seidenpurpur ihren Salon füllen, ihre zierliche Gestalt schmücken – sie werden alle, alle Nichts, oder Wenige sehr wenig von allen den Männern wissen. Und doch sind diese nicht weniger Evangelisten des Weltgeistes, als die größten und besten Denker und Schöpfer in irgend einem Bereiche des Wahren und Schönen. Aber noch gilt die Technik der civilisirten Welt, und vornehmlich in Deutschland, als unbequemer Eindringling aus den Schichten der materiellen Arbeit da drunten, noch wird sie im Staatsleben unmündig gegängelt – nicht ohne Schuld der Techniker, fügen wir gerecht hinzu, die es bei dem Streben nach fachlicher Tüchtigkeit noch allzusehr vergessen, daß wir Gentlemen sein müssen, wenn man uns unter Gentlemen gelten lassen soll –; noch ist die Technik nicht zutrittsberechtigt in der wahrhaft guten Gesellschaft, und deshalb steht noch in der Technik der Name der Meister nicht als schützender Geist neben den Werken wie in der Wissenschaft und Kunst. Und daher haben nur einzelne Namen aus ihrem großen segenvollen Bereiche den Weg zu den Schichten der civilisirten Gesellschaft gefunden, in denen der Ruhm zwar selten gesäet, aber immer ganz allein geerntet wird.

Diese bevorzugten Namen sind an den Fingern einer Hand herzuzählen; und wenn sie gleich zu den Besten gehören, so haben doch die Träger derselben fast immer es eben so sehr dem Reize einer meist mehr oder weniger verdächtigen, stets aber pikanten, mit ihrer Hauptleistung verknüpften Anekdote, als dem wirklichen Werthe der erstern zu verdanken, daß ihr Name unter Tausenden erwählt wurde. Die Geschichten vom Cirkel des Archimed, vom Apfel Newton’s, von dem Froschschenkel Galvani’s, vom Theekessel Watt’s, vom Mörser Berthold Schwarz’s sind die eigentlichen Handhaben, an denen die Welt den Ruhm dieser großen Männer anfaßt. Andere Namen wieder macht die Unablässigkeit, mit der, Menschenalter hindurch, die Tagesgeschichte sie an die trockene Registrirung von bedeutsamen Friedensthaten für das öffentliche Wohl knüpft, doch endlich den Ohren jenes Publicums zugänglich. Es sind dies meist solche, die von mehreren Generationen bedeutender Techniker hintereinander getragen werden.

Zu den letzteren gehört der Name Stephenson, den ein großer Vater dem großen Sohne mit gleicher Kraft des Geistes vererbte. Die Keime, die das Genie des Vaters trieb, hat das des Sohnes mit gleicher Energie kraftvoll entwickelt. Wir sehen in den verschmolzenen Existenzen dieser beiden Männer einen der in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit so seltenen Fälle, wo das Regiment der Welt es sich gleichsam zum Vorwurf gesetzt zu haben scheint, eine große Erfindung durch Licht und Wärme eines Genius vom Samenkorn bis zur Blüthe zu treiben und, da hierfür die Dauer und die Leistungskraft eines Menschenwirkens nicht ausreichte, dieselbe schon im nächsten Nachkommen zu repetiren. Beide Stephenson’s, Vater und Sohn’, sind Geister jener festen, klarblickenden, reinwaltenden Art, die der Engländer gern als die seinem Volk specifisch eigene betrachtet und mit dem stolzen Namen „starker angelsächsischer Geist“ bedeutsam kennzeichnet. Das, was von Eisenbahnen vor der That des älteren Stephenson existirte, war weniger eine Basis für sein Schaffen, als ein Vorspiel für dasselbe. Die Eisenbahn wurde erst zum Rüstzeug des Geistes der Civilisation durch die Erfindung der schnellen Locomotive. Mit den langsam dahinkriechenden „Puffing Billy’s“ der alten nordenglischen und schottischen Kohlenbahnen wäre sie ewig nichts weiter als nützliches Lastthier der Industrie geblieben.

Georg Stephenson, der Vater, erdachte die Locomotive, die den Menschen fünf Mal schneller durch die Welt trug, als er sich vordem jemals bewegt hatte – und die Distanzen in der materiellen und Geisterwelt schrumpften mit einem Schlage auf ein Fünftel zusammen; das Leben wurde länger, die Lebenskreise größer, die Grenzen weiter. Robert Stephenson, der Sohn, verdoppelte die Eilkraft des Apparats seines Vaters, verzehnfachte seine Fähigkeit, Lasten zu bewegen – und die dauernde Hungersnoth verschwand aus der civilisirten Welt, die Völker strömten ineinander, der Krieg erhielt neue humanere Formen, der unermeßliche Wagenzug, der aus der Provinz der Kohlen Wärme in die Provinz des Getreides geführt hatte, trug Brod aus dieser in jene zurück. Die menschliche Existenz trat in eine neue Phase, in deren Anfang wir uns erst befinden. – Robert Stephenson’s kolossale Leistungskraft umfaßte den ganzen sich mit ungeahnter Schnelligkeit ausbreitenden Bereich seiner Erfindung. Er baute die Bahnen auf allen Hauptarterien des englischen Verkehrs, als oberster technischer Leiter derselben, war Orakel und in allerhöchster Instanz angerufener Berather bei fast allen größeren Eisenbahnanlagen, nicht allein des europäischen Continents, sondern auch in Afrika und Amerika, und leitete endlich, bis in das Detail persönlich, die mächtige Fabrik von Locomotiven, die sein Vater im Jahre 1822 gegründet hatte und aus der seitdem über zweitausend solche Maschinen unter dem Einflusse seines zeichnenden und rechnenden Stiftes, eine jede immer die Vorgängerin an Kraft, Schnelligkeit, Reife der Construction, Tüchtigkeit der Ausführung und Eleganz der Erscheinung übertreffend, hervorgegangen sind.

Die in seine letzte Lebenszeit fallenden Pläne und Ausführungen, welche, bei aller Weisheit und allem Wissensreichthum der Conception und Durcharbeitung, in ihrer Erscheinung etwas von der Großheit der Ideen eines Pharaonen haben, gewähren das amnuthende Schauspiel eines Lebens, das, bis zur Abberufung des Meisters von seinem irdischen Wirkungskreise, an Freiheit und Größe des Schaffens gewinnt. Die Engländer pflegten ihn in dieser [74] Zeit gern The Hengist of Railways zu nennen und mit Freuden zu sehen, wie ihrem „Eroberer des Eisenbahnwesens“ auch fürstliche Reichthümer zuströmten, daß die Wahl der Nation ihn in’s Parlament berief, die Königin ihm Gelegenheit bot, stolz-bescheiden die Ernennung zum Baronet abzulehnen, und so den großen Landsmann auch der Glanz, der der Größe gebührt, umgab. Stephenson reiste, wenn er durch England fuhr, auf allen Stationen von ehrerbietig wartendem Personal der Bahn, stolz auf ihn blickendem Publicum begrüßt, mit wahrhaft fürstlichem Geleit; zur See in mit allem Luxus, den Geschmack, Technik und Reichthum vereinigen können, ausgestatteter eigener Yacht.

Diese Yacht erlangte ihrer Zeit eine Berühmtheit durch die Munificenz, mit der sie ihr Besitzer der astronomischen Expedition, die 1850 der Astronom Piazzi Smith nach dem Pik von Teneriffa unternahm, ein volles halbes Jahr lang auf seine eigenen Kosten zur Verfügung stellte und so das Zustandekommen dieser so erfolgreichen Unternehmung möglich machte.

Meine schon 1844 angeknüpften Beziehungen zu dem großen Manne hatten sich nie ganz gelöst, und in mancher bedeutsamen Frage war ich glücklich genug gewesen, sein gewichtiges Urtheil herbeiziehen zu können. Stephenson’s Rathschläge waren stets die eines bedeutenden Menschen. Sie bezogen sich fast niemals, eng und klein, auf einen vereinzelten Fall, sondern sie deckten immer eine ganze Kategorie von Vorkommnissen und sind mir stets werthe und zuverlässige Vorbilder und Geleiter geblieben. Diese Beziehungen sollten mit etwas anderem Localtone im Jahre 1851 durch einen Brief seines Freundes Lindley, dem Hamburg seine unvergleichlichen Sielbauten verdankt, aufgefrischt werden. Lindley hatte mir diesen Brief mitgegeben, als ich, um die erste große Industrie-Ausstellung und die Britannia-Brücke zu sehen, im August 1851 nach England ging. Stephenson war unwohl, auf dem Lande, von London abwesend, als ich an seinem prächtigen Hotel in Grosvenor-Square vorsprach. Doch ließ ich den Brief zurück. Schon gab ich es auf, den Verehrten bei diesem Aufenthalt in England wieder begrüßen zu können; da erhielt ich ein Billet von seinem General-Agent, „alterego“ und „factotum“ Starbuck, der mir anzeigte, der Meister werde am 8. September in Bangor an der Britannia-Brücke sein.

Natürlich änderte sich nach dieser Notiz mein ganzer übriger Reiseplan, und am siebenten flog ich durch das im ganzen saftstrotzenden Schmucke eines englischen Hochsommers leuchtende Wales dahin, den riesigsten und kühnsten Werken der neuen Ingenieurkunst, den Eisenbrücken bei Conway und Bangor zu. Beide bilden feste Eisenpfade über Meeresarme in Form viereckiger, aus starkem Eisenblech zusammengenieteter, mächtig verrippter Tunnels, die mit ihren Enden auf den Pfeilern ruhen und durch welche die Züge mit einem Dröhnen und Donnern hinschießen, das sich zu dem Lärm, den sie in einem gewöhnlichen Tunnel erregen, verhält, wie ein Schlag auf einen Tamtam zu dem auf einen Stein. Zu dem Staunen über die Gewalt des Genius, der den Gedanken zu diesem Riesenwerk empfing und ausbildete, gesellte sich schon beim Anblick der kleineren Brücke bei Conway die Bewunderung für den zarten Respect, den der Meister bei seinem Baue vor der Schönheit der Natur an den Tag gelegt hat. Fast unter der prachtvollen Ruine des alten Conway Castle, an deren majestätischen alten Rundthürmen die feuchte Seeluft weithin wehenden, tief herabhängenden, grünen Epheu hegt, führt seine mächtige Brücke hin – und kein Epheublatt hat der Meister bei seinem Riesenbaue knicken lassen! Sorgsam ist der Fels gehöhlt und wieder untermauert worden, um da oben Nichts von der alten Herrlichkeit zu stören. Er war eben der Sohn des Mannes, der in eine gerade Eisenbahnstrecke eine schlanke Curve legte, weil er es nicht über’s Herz bringen konnte, eine gar zu schöne Eiche niederschlagen zu lassen, die in der Richtung derselben lag. Welch Beispiel für so viele unserer Techniker, deren Gesinnung sich oft so barbarisch zeigt, wie die eines Sappeurs, wenn das unwichtigste Organ ihrer Wunderwerke mit der Existenz von irgend etwas Schönem der Welt in Conflict kommt! Ich fand in Bangor die Stadt voll der Nachricht, daß der Meister des gigantischen Baues, der sich dort, dicht vor der Stadt, thurmhoch über das blaue brausende Meer nach der Insel Anglesea hinüberstreckt, am kommenden Morgen dort eintreffen werde.

„Wissen Sie?“ fragte mich beim Gruße gleich die Wirthin des George-Hotel, „der große Ingenieur kommt morgen!“ Sie nannte keinen Namen, ich war ein Gentleman – ich mußte ja wissen, daß kein Anderer als Stephenson gemeint sein könne. Ein angenehmer Schotte, mit dem ich dinirte, äußerte: „Wir werden morgen die Brücke sehen, – das ist merkwürdig – aber Jeder kann sie sehen. Aber wir werden auch die Personification des Zeitgeistes, wir werden Stephenson sehen, und das ist Glück!“ Und wie bin ich am andern Morgen von den Ladies and Gentlemen beneidet worden, die sich an der Britanniabrücke versammelt hatten, „um den großen Mann zu sehen“, da ich an seiner Seite nach Bangor zurückschreiten durfte! Im hellsten Sonnenglanze des nordischen Sommers ging ich am folgenden Tage, von einem Brückenwächter geleitet, auf dem Dache der unabsehbaren Riesenröhre dahin, um Stephenson zu suchen, der „irgendwo auf der Brücke“ sein sollte.

Schwindelhoch, thurmhoch und in der That auf den schlanken Thürmen der Pfeiler ruhend, liegt das zweihunderttausend Centner schwere, gewaltige Eisenrohr über dem vierzehnhundert Fuß breiten Arme des St. Georgs-Canals, der die Insel Anglesea von der Westküste von Wales trennt. Selbst wie eine Schöpfung, die nur der Allmacht gelingen zu können scheint, steht das Bauwerk ohne Gleichen, mit feinem Formensinn, seiner ungeheuern Gliederung gemäß, aus Elementen ägyptischen Styls in hohem Ernste aufgebaut, an beiden Ufern von riesenmäßigen Sphinxen bewacht, in der tiefblauen Meeresfluth zwischen paradiesischen Küsten. Mitten auf der Hauptröhre stehend, erschüttert von dem vor mir entrollten Bilde, entfuhr mir der Ausruf: „Ist die Welt wirklich so schön? ist der Mensch so werth, sie zu bewohnen?“ Tief drunten die tiefazurne, mit weißem Schaum um die Brückenpfeiler brandende Fluth und auf ihr vor der frischen Morgenbrise hingleitende sanftgeneigte, schwellende Segelmasten tragende Schiffe. Wie die Vögel des Himmels schauen wir von der Himmelhöhe der Brückenröhre hinab auf das schlanke Spierenwerk der darunter hinrauschenden Dreimaster. Vor uns stehen die zauberisch feinen, streng geometrischen und doch so unnachahmlich graziösen Linien von des großen Telford Wunderwerke, der Menai-Kettenbrücke, die, nur eine Viertelmeile von der Britanniabrücke entfernt, die Chaussee seit dreißig Jahren über dieselbe Meerenge führt, über welche die letztere die Eisenbahn trägt. Von welch großer anregender Wirkung ist der Contrast der Formen dieser beiden Meisterstücke der neuern Brückenbaukunst, die der Blick gleichzeitig umfaßt! Feenhaft fein, wie aus Sonnenfäden gewebt, bogig, leichtgeschwungen, scheint die Brücke Telford’s über dem Wasser zu schweben, während Stephenson’s Bau massig, gewaltig, unerschütterlich in scharfen, geraden Linien und Kanten darüber her ruht und sie mit unermeßlichem Gewichte bedrückt und beherrscht. Rechts von beiden Brücken heben sich, hinter einem Vorlands wie ein Garten Gottes voll wundervollen Baumschlags, goldenen Feldern und lachenden Villen, die nobeln Linien des höchsten Berges in England, des Snowdon, im ganzen Zauber der feinblauen Luftperspective der englischen Küsten, und der Meeresarm öffnet sich breit und azurn sonnig hinaus in das offene Meer, während links, sanft lehnan in prachtvoller Bewaldung, so frischgrün, wie auch nur an den Küsten Englands möglich, das Anglesea-Ufer ansteigt, von der Brandung mit feinen, scharfen weißen Linien eingegürtet.

Welche Gewalt des Culturdranges der Menschheit, die solche Wege über das Meer legt! Welche Provinzen, die sie vereinen!

Ist die Welt so schön? Strebt der Mensch so stark zum Menschen?

„Mr. Stephenson erwartet Sie an der Ostseite der Brücke,“ sprach uns ein Clerk an, während ich und der junge Schotte, der sich mir angeschlossen hatte, einen Augenblick schauend standen. Rasch schritten wir auf der Röhre, dann auf dem Gerüst hin, das damals noch hier und da an der Brücke angebracht war, und indem wir das Piedestal eines der ungeheuern, die schwarzgähnende östliche Oeffnung der Röhre, wie den Eingang zu einer Pyramide, bewachenden Sphinxe umschritten, befanden wir uns plötzlich Angesicht gegen Angesicht mit dem großen Meister, der mit Edwin Clark und noch einigen seiner Jünger und Beamten zwischen den riesigen Pranken des ruhenden Ungeheuers stand. Er hatte die Ellenbogen auf eine dieser Tatzen gestützt, den Hut abgenommen und schaute nach seinem Werke empor. In diesem Blick auf das vollendete Wunderwerk lag weder Enthusiasmus noch heiteres Genügen, sondern nur ernstes auf sich beruhendes Erwägen, objectives Schauen des Gethanen.

[75] Unwillkürlich wurde mir in diesem Momente das ungeheure Werk nur zum Hintergrunde für die Gestalt seines Schöpfers. Es schien, als wäre es in diesem Augenblicke durch einen Schöpfungsact aus dieser Stirn hervorgegangen, die keine bleiche, über dem Papier gebeugte Denkerstirn, sondern eine von der Sonne dreier Welttheile gebräunte, feste, stark gegliederte Thatenstirn war, ein tüchtiges Gewölbe, um gute Dinge darin sicher zu behüten. Eine kühn geschnittene, etwas herb gebogene, scharfe Nase, die sich mit breiter Wurzel nach dem Schädel hin verlief, eine etwas lange angelsächsische Oberlippe, ein fest gezeichneter, schön geschnittener Mund, breite, willenskräftige Backenknochen, gaben dem Kopfe etwas Erzenes, Gemeißeltes, das indeß von einem Grübchen im Kinn wahrhaft lieblich gemildert wurde. Mit breitem, starrem Nacken richte der dünn umlockte edle Kopf auf einem mächtig gezimmerten, groß proportionirten Körper, der für englische Lebensformen fast zu fest und gerad aufgerichtet getragen wurde.

Im Augenblick, als wir vor ihn hintraten, wendete Stephenson den Kopf von seinem Werke weg auf uns und sprach die Worte: „Es ist gut gemacht!“ Ob er damit den Kopf der ungeheuern Sphinx meinte, die hell im Sonnenlicht, riesenhaft scharf gegen den dunkelblauen Himmel gezeichnet, hoch über ihm hinweg die leeren Augen ernst und geheimnißvoll in das Unendliche richtete, oder sein Werk – das könnte nur Edwin Clark sagen, zu dem er sprach.

Acht Tage später empfing ich von Stephenson ein Billet in London, das mich einlud, bei ihm die contrastirendsten Menschenwesen, Italiens berühmtesten Bildhauer, Baron Marochetti, und Amerikas talentvollsten Schiffbaumeister, Stevenson, kennen zu lernen.

Es gemahnte mich seltsam, als ich zu ihm hin an Westminster-Abbey vorüberfuhr, daß ich mich zu einem lebenden Manne begab, zu dessen Erzbild da drinnen, in diesem echten Pantheon nationaler Größe, bereits der Sockel errichtet wurde. Etwas früh für die Dinnerzeit hielt mein Wagen vor der Thür von Stephenson’s Hause, und so kam es, daß er im selben Augenblicke mit mir vorfuhr. Er begrüßte mich freundlich für seine ernste Weise, und wir stiegen eine Treppe hinauf, die sich auf bronzenen, durchbrochenen Spiralen, in welche graumarmorne, mit rothem Plüsch belegte Stufen eingefügt waren, emporwand. Auf einem Podest dieser Treppe blieb er stehen, und auf die hier in ein Capitäl auslaufende erzene Treppensäule deutend, fragte er: „Haben Sie das entzückende, marmorne Griechenkind aus Amerika auf der Ausstellung gesehen?“

„Sie meinen die berühmte griechische Sclavin von Hieram Powers?“

„Dasselbe,“ sagte er und fügte lächelnd im Weitergehen hinzu: „dies kleine gefesselte Wesen hat mir mein altes Junggesellenherz gefangen. Ich habe das Bildwerk erworben und ihre Liebe theurer wie ein Roué von 1703 bezahlt! Da soll sie künftig stehen!“

Starbuck sagte mir später, daß er zweitausend Pfund Sterling für das zierliche Bildwerk bezahlt habe.

Wir traten in einen kleinen, aber unbeschreiblich behaglich anmuthenden Salon. Auf dunkelgrauen Wänden einige sehr gute Bilder und ernstgefärbte, treffliche Bronzen, dunkelblaue, tiefe und breite Sammtmeubles und dunkelorange Gardinen vom allerschwersten Faltenwurfe, Alles aus dem Vollen und Ganzen und Großen geschnitten und geformt. Auf einer Causeuse saß eine ältliche Dame, echt „ladylike“ von strengstem englischem Typus. Von ihrer Seite erhob sich bei unserem Eintritt eine herculische, aber wohlproportionirte Männergestalt mit prachtvoll modellirtem Krauskopfe: Baron Marochetti. Der Dame, seiner Schwester, die bei einem armen alten Junggesellen die Hausehre wahrte, stellte mich Stephenson vor. Im lebhaft und rasch entwickelten Gespräche frug mich Marochetti mit Interesse nach Rietschel, Kiß und den damals emporblühenden Talenten von Hänel und Bläser. Stephenson hatte nach keinem Fachgenossen in Deutschland sich zu erkundigen. Das Warum beantwortet der Eingang dieser Skizze. Marochetti beneidete Deutschland um Rietschel, dessen Sinn für Formenschönheit und Gleichgewicht er hohe Bewunderung zollte, schüttelte aber den Kopf zu Kiß’ genialen, aber allzuschnell bewegten Schöpfungen, besonders aber zu dem Enthusiasmus, den damals dessen „Amazone“ auf der Ausstellung erregte. „Eingeweide, Pferdehufe und Klauen! Das ist Alles!“ sagte er, und lenkte meine Aufmerksamkeit auf Stephenson’s Profil, das sich, während er, mit einem eben eingetretenen jungen, blassen, interessant aussehenden Manne sprechend, am Fenster stand, scharf gegen das Licht loshob: „Ist es nicht ein Kopf,“ rief er aus, „dem man es ansieht, daß er in Erz gegossen werden muß?“

Der Betrachtete trat auf uns zu, als er bemerkte, daß er Gegenstand unseres Beschauens war. „Der Ritter,“ sagte er, „kann doch keinen Augenblick vergessen, daß er ein ähnliches Bild von mir liefern soll.“ Marochetti hatte den Auftrag von der Königin, Stephenson’s Statue zu machen. In dem Neuangekommenen lernte ich zu meiner Freude den besonders durch seine Gelehrsamkeit berühmten Ingenieur Wild kennen; ein feiner, schlanker, schwarzgekleideter Gentleman mit poetischen, fast störend träumerischen Augen. „Ich erwarte,“ sagte Stephenson, „noch Swinburne, der eben aus Aegypten zurück ist, Starbuck mit seiner reizenden Frau und einem ,halb und halb’ Namensvetter Stevenson aus Boston, mit dem ich gestern um seine unbegreifliche Yacht ,Amerika’ gehandelt habe, die unserem Yachtclub eine so tiefe Niederlage bereitet hat. Leider habe ich fast keine Hoffnung mehr, das Wunderschiff zu erlangen, da Lord E. viel höher bot.“



Ein Bild deutscher Volkslust.

Keine schöneren Volksfeste, als die, deren Mutter die Freude ist. Ihnen verdankt man überall die schönsten Bilder der Volkslust, denen das Auge zu jeder Jahreszeit gern begegnet. Daher nehmen wir keinen Anstand, unsere Leser hinter den Winterfenstern auf ein deutsches Herbstfest blicken zu lassen, dessen Freudennachhall den Glücklichen ja ohnedies bis in den Winter nachklingt.

Noch allgemeiner übt kein Freudenfest sein frohes Regiment über die ganze cultivirte Welt, als das Erntefest. Geerntet wird überall, wo der Mensch durch die Sorge für sein Dasein auf die ersten Stufen menschlicher Gesittung erhoben ist; wo aber geerntet wird, hat auch die Freude ein Fest geschaffen, dem der Volkshumor die Gestalt und der Glaube seine Weihe ertheilt.

Die oft unerklärlichen Verschiedenheiten des örtlichen Ausschmuckes gerade dieses allgemeinen Volksfestes finden zum Theil ihre Erklärung darin, daß sie ursprünglich wirklich als Jahresfeste der Einweihung der einzelnen Kirchen und demnach in allen Jahreszeiten begangen und erst später in den Herbst verlegt und mit dem Erntefest verbunden worden sind. Jedes dieser Localfeste behielt auch in der neuen Zeit und Verbindung seine alten Formen bei, mochten sie dem Winter, Frühling oder Sommer ihre Entstehung zu verdanken haben. In manchen Ländern, wie am Rhein und in den Niederlanden, sind noch die Kirchweihen durch das ganze Jahr zerstreut; sehr klug waren die Oesterreicher, denn als Kaiser Joseph im ganzen Reiche alle Kirchweihen auf den dritten Sonntag des October verlegte, feierten sie gehorsamlich an diesem Tage die Kaiser-Kirmeß, vernachlässigten aber auch die alten Kirchweihtage nicht und erfreuen sich daher einer doppelten Kirmeß.

Weil Geld zum Fröhlichsein gehört, so versteigern in der Eifel die Burschen vier bis fünf Wochen vor der Kirmeß ihre Mädchen und stellen einen besondern Hüter an, der darüber wacht, daß bis zum Nachmittagsgottesdienst des ersten Kirmeßtages jede Versteigerte nur mit ihrem Ansteigerer verkehre.

Was die Kirchweih in der Pfalz zu bedeuten hat, spüren dort die Hühnerhöfe, Speisekammern und Weinkeller am meisten; die Gasterei blüht dort so üppig, daß sogar der geputzte „Kerwabaam“ darüber vergessen worden ist. Desto lustiger flattern am Kirmeß- oder Plans- oder Platzbaum in Franken die langen bunten Bänder der Tannenkrone, welche die hohe Stange desselben schmückt. Das „Putzen“ und Ausrichten des Planbaums geschieht in der dem Fest vorhergehenden „Kirwewoche“, und am Fest selbst wird um diesen Bann, der feierliche Umzug und der Tanz abgehalten. In vielen fränkischen Dörfern werden zu diesem Zweck Lindenbäume gepflegt und diese „Dorflinden“ sind oft gar kunstreich und wunderlich verschnitten und verschnörkelt. Der ehemalige Hauptanspruch an eine „richtige“ Kirchweih im bairischen Franken [76] daß sie mit einer so handfesten Schlägerei ende, daß wenigstens ein Paar Bursche in Backtrögen heimgetragen werden müssen, wird jetzt nicht mehr so entschieden erhoben.

Nachahmenswerth ist die Kirchweihsitte zu St. Peter im Schwarzwald. Dort muß jeder Hofbauer mit seiner Frau sein sämmtliches Gesinde drei Tage lang eigenhändig bewirthen. Sitzen sie nicht da, wie an fürstlicher Tafel die Herren und Damen? Vom Großknecht bis zum Kuhjungen und von der Altmagd bis zum Gänsemädchen behaupten sie in zwei Reihen am Tisch ihren Platz und ihr Recht. „Buwr, i bring der’s zue!“ schreit’s bald da, bald dort, und der Bauer muß Bescheid thun und die „Buwri“ auch. Nur das Tanzen unterbricht von Zeit zu Zeit die herzhafte Arbeit am immer gedeckten Tisch.

Wo es die Wohlhäbigkeit der Landwirthschaft hergiebt, geschehen die festlichen Umzüge der Planburschen zu Pferde, wie im Niederhessischen; dort stolzirt der Zugführer sogar in Husarenuniform mit dem Säbel in der Faust einher.

Unter den mancherlei Kirchweihspielen (wie Hahnenschlag, Wettlaufen, Huttänze, Klettern nach Taschentüchern an hohen, glatten Stangen und dergl.) nimmt der Fuldaische Hammelkrieg keine schlechte Stelle ein. Unter die Dorflinde führt man in festlichem Aufzuge und mit Musik einen Hammel, welcher mit Bändern und Tüchern reich aufgeputzt ist. Dann bilden die Eheleute und die Ledigen des Dorfes zwei feindliche Heerhaufen, die beide nach dem unglücklichen Hammel hindrängen, um sich in dessen Besitz zu setzen. Die Sieger haben den Vortheil, daß die Besiegten Hammel und Zeche bezahlen müssen, denn zum gemeinschaftlichen Hammelschmauß gehört auch ein entsprechender Trunk.

In vielen Gegenden ist man so vorsichtig, alljährlich die Kirchweihe zu begraben, denn man freut sich dabei schon im Voraus ihrer Wiederauferstehung im nächsten Jahr. Wie ehedem überall in der Pfalz, versenkt man noch heute in Lahr mit allen Zeichen ganz beweglicher Trauer eine wohlverschlossene Flasche Wein in die Erde, und zwar auf einem Hofe mitten im Dorfe, der lieben Sicherheit wegen. Im Remsthale geschieht dies außerhalb des Dorfes und man fügt dort dem Wein, den man leichtsinnigerweise in’s Loch schüttet, noch ein Viertel Kuchen, einige bunte Bänder und ein Häufchen alte Lumpen hinzu. Die tiefe Bedeutung von letzterer Zugabe ist noch zu ermitteln. Umgekehrt wie bei einer Soldatenleiche zieht man hier singend, schäkernd und lachend zur Stätte, wo „die Kirwe vergrabe“ wird, und kehrt dafür unter lautem Jammern und Wehklagen zum Tanzboden, daselbst aber vom Trauermarsch sofort zum Walzer zurück. Am Niederrhein vergrub man in älterer Zeit als Kirmeßbild einen Pferdekopf, jetzt widerfährt dem Conterfei des heiligen Zachäus diese Ehre. Hoch zu Roß wird der aus Holz geschnitzte Patron am Ende der Kirmeß zu seiner Ruhestätte gebracht, und ebenso stattlich ist der Zug, der ihn am Vorabend des Festes wieder ausgräbt und, auf eine hohe Stange gesteckt und mit Bändern, Blumen und der Kirmeßkrone geschmückt, zur Tanzbühne befördert.

Auch in Thüringen verstehen sie’s, eine gute Kirmeß zu halten. Für Ordnung hat in den meisten Dorfschaften der „Platzmeister“ mit seiner langen Pritsche zu sorgen, und ein „Platzknecht“ ist sein Adjutant. Er schafft vor Allem Proviant. Sehen wir ihn nicht, ein hohes Paßglas voll Bier in der Rechten und einen Rosmarinstengel in der Linken, an der Spitze der Musik von Haus zu Haus ziehen? Und in jedem Hause hält er ein Ehrentänzchen mit Frau oder Tochter, und wird mit einem Kuchen beschenkt, zu dessen Weiterbeförderung ein Bursche mit einem Schiebkarren hinter dem Zuge herfährt.

Nach einem festlichen Zug zum Tanzplatz unter den Dorflinden holt jeder Kirmeßbursch sein Mädchen zum Kirmsentanz ab. Da gehört es denn, trotz der längst abgemachten Sache, zum Dorfceremoniell, daß der Bursche in aller Form und mit wohlgesetztem Gruß bei den Eltern die Tochter sich zur Planjungfer erbittet und daß letztere nicht etwa schon in vollem Putz auf ihn wartet, sondern sich, wie sehr überrascht, erst gar fertig machen muß. Es ist, als ob in den vielen Thüringer Fürstenhöfen doch das Volk sich ein wenig habe spiegeln müssen; weiter geht aber eines Hofmarschalls heimliche Freude nicht, denn nachdem das Mädchen dem Burschen das Kirmstuch, ein buntes, seidenes Halstuch, auf die linke Schulter befestigt hat, geht sie hemdärmelig hinter ihm her bis zum Schenktisch am Kirmsplatz, wo sie auf das Wohl aller Festcameraden aus einem großen Bierglas trinkt. Indeß wimmelt längst der Platz von Alt und Jung, und sobald die Kirmeßpaare vollständig sind, beginnt ein Schleifer, dieser deutsche Urtanz, das eigentliche Kirchweihvergnügen für zwei Tage und Nächte lang. Den dritten Kirmeßtag verherrlicht der „Hammelritt“. Auf bunt ausgeputzten Pferden und selbst den Hut und Rock mit Bändern und Blumen geschmückt und mit Degen und Pistolen bewaffnet reiten die Bursche, voran die Spielleute und der Platzknecht, der allerlei seidene Bänder und Tücher als Fahne an einer Stange trägt, auf das Feld zur Heerde. Hier wird ein Hammel ausgewählt, ebenfalls mit Bändern behängt und einem Fleischer auf das Pferd gehoben, und nun kehrt der Zug zur Plan- oder Mahlstätte zurück, wo auf einem großen Stein unter den Linden der Hammel geschlachtet und dann zum Abendschmauß zugerichtet wird. Ein harmloses Spiel um Aepfel und Nüsse beschließt friedlich die Schmaußerei und das Fest.

Aber wie untergegangene Dörfer giebt es auch verlorene Kirmsen. Nach O. von Reinsberg-Düringsfeld („Das festliche Jahr“), dem wir mehrere der obigen Kirmeßnotizen verdanken, haben einige schwäbische Ortschaften keine Kirchweihe, weil sie entweder einen Bettelmann hätten verhungern lassen, wie die Betzinger, oder weil sie schuld daran gewesen, daß zwei Bettler sich gegenseitig todtgeschlagen, wie die Weilheimer bei Tübingen. Von Bietigheim erzählt er, es habe das Recht der Kirchweihe verloren, weil einst zwei Weiber während des Kirchweihkuchenbackens sich mit den Kuchenschüsseln erschlagen, und die Leute von Hepsisau werden Guckigaug gescholten, weil sie ihre Kirchweih in alten Zeiten für einen Kukuk verkauft haben sollen.

Und welch ehrwürdiges Alter haben die meisten unserer Kirmsen! Sie gehen bis in unsere Heidenzeit zurück, denn das Hammelschlachten auf dem Stein unter der Linde, Hammelritt, Hahnenschlag und Begraben der Kirmeß deuten darauf hin, daß auf dem Grund alter heidnischer Opferfeste die christliche Kirchweihe erstanden ist. Ist doch auch manche fromme Kirche weiland ein Götzentempel gewesen, wie die Belsener Capelle auf einem Vorhügel des Farrenberges, von dem aus man nicht nur hinab in das Steinlachthal blickt, das bei Tübingen in das Neckarthal mündet, sondern auch auf den benachbarten Roßberg, den höchsten Berg der schwäbischen Alb, auf welchem einst die Sonnenpferde, wie auf dem Farrenberg die Opferfarren, geweidet worden sein sollen.

Uebrigens sind der würtembergische Weiler Belsen und das liebliche Steinlachthal eigentlich daran schuld, daß wir diesen Wandelgang durch die deutsche Kirmeß- und Erntefestlust angetreten haben, denn dort findet sich ein so urwüchsiger Beitrag dazu, daß sich ein Künstler veranlaßt fühlte, den Hauptvorgang derselben für unsere Leser bildlich darzustellen.

Wenn nämlich im Steinlachthale die Ernte glücklich geborgen ist, so rüstet man sich zur Begehung des Erntefestes der Sichelhänget, die in Südwestdeutschland, namentlich in Schwaben und Oberbaiern, das von Alt und Jung ersehnteste Volksfest ist. Es wird stets an einem Sonn- oder Feiertag gehalten und beginnt mit einem Vormittagsgottesdienst, der dem Dank gegen Gott für das Glück der Ernte ganz allein geweihet ist. Mit desto leichterem Herzen giebt man sich am Nachmittag der weltlichen Freude hin. Alles Volk zieht hinaus auf die Wiese, wo eine Art Galgen errichtet ist, dessen sonst so verhängnißvoller Querbalken hier einen doppelten Beruf hat. Auf der Galgensäule steht ein Korb, in welchem ein mit allerlei Seidenbändern gar bunt herausstaffirter Hahn steckt. Vorne am Querbalken ist ein Bret so angebracht, daß es mit dem auf ihm stehenden Kübel voll Wasser leicht umkippt. Auch die Musik ist bereit und aus einer Clarinette, einer Baßgeige und einem Waldhorn zusammengesetzt. Erstere hat allein die Ehre, den Festmarsch zu führen, welchem die Paare mit hellem Jauchzen drei Mal um den Galgen folgen. Sobald aber der Marsch in einen Walzer übergeht, fallen auch die beiden anderen Instrumente ein und Paar um Paar schwebt nun im Kreise dahin um die wunderlich aufragende Vorrichtung. Bald jedoch wird „das Warum uns offenbar“. Sobald ein Paar in die Nähe des Querbalkens kommt, packt das Mädchen den Burschen beim Knie an der Hose und sucht ihn so hoch emporzuschnellen, daß er mit dem Kopf an den Kübel stoßen muß, dann walzen Beide eiligst davon, ohne den Erfolg des kühnen Aufschwungs abzuwarten. Dieses Spiel ist außerordentlich ergötzlich und giebt zu vielfachem Aufjubeln Gelegenheit; es ist deshalb auch immer den Leuten noch zu bald, wenn endlich die Preisrichter auftreten, um den „Hahnentanz“

[77]

Sichelhänget und Hahnentanzen im Steinlachthal in Schwaben.
Nach der Natur gezeichnet von Friedrich Ortlieb.

[78] zu enden und die Sieger zu belohnen, d. h. dasjenige Pärchen, welchem es gelungen ist, das meiste Wasser aus dem Kübel herausbefördert zu haben und dennoch am wenigsten begossen worden zu sein. Das Mädchen dieses Paars wird vom Aeltesten der Preisrichter zur Leiter am Galgen geführt, um sich den Hahn im Korb herunter zu holen. Der Tänzer aber erhält aus der Hand seiner Schönen besagten Hahn und damit die Ehre, bis zum nächsten Hahnentanz der erste Bursch im Orte zu sein. Mit dem „Hahn im Korbe“ voran, zieht Volk und Musik in’s Wirthshaus, wo die Sichelhänget in Tanz, Gesang und Trunk das Ende aller Volksfeste findet.

Jedes Fest, das dem Volke zur Erfrischung seines Wesens dient, gehört zu den Nationalschätzen, die man wahren muß. Es ist viel gegen Volksfeste und Volkssitten gesündigt worden, am meisten von Zeloten der Kanzel und Aufklärern in Actenstuben. Manchen Festen hat das Volk mit Thränen Lebewohl gesagt und sie sind noch heute nicht vergessen; andere sind selbst verwelkt und abgefallen, weil ihre Zeit vorbei war. Gerechtigkeit wird auch den Volksfesten erst werden, wenn es in des Volkes Willen und Einsicht allein gestellt ist, über seine Herzensangelegenheiten zu verfügen.

Fr. Hofmann.




Der Schatz des Kurfürsten.

Historische Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Wir haben den Fourgon mit seiner kostbaren Ladung glücklich auf dem Pachthofe der Mutter Mensing’s bergen sehen. Er war in eine versteckt hinter den andern liegende Scheuer gebracht worden; Mensing hatte den Schlüssel der Scheuer zu sich gesteckt, und während nun Wilhelm ging, die Pferde, die in einen Stall gezogen worden, zu versorgen, wandte der Lieutenant sich dem erhellten Wohnzimmer im Pachthause zu, wo seine Mutter eben in Aufregung und Herzensangst beschäftigt war, für Elisen zu sorgen und sie durch ein warmes Getränk zu stärken.

Mensing setzte sich ihr gegenüber und nachdem er seiner Mutter auf ihre sich überstürzenden Fragen Bescheid gegeben, sagte er: „Was nun, Elise? Wir müssen Kriegsrath halten und rasch zu einem Entschlusse kommen.“

„Haben Sie denn den Plan, in der nächsten Nacht weiter zu fahren, aufgegeben?“ fragte das junge Mädchen.

„Ja,“ versetzte Mensing. „Der Transport mit dem Fourgon ist zu gefährlich. Ein Mann kann Verfolgungen leicht entgehen, ein Wagen aber nur schwer. Und man wird uns verfolgen.

Man wird uns verfolgen, sobald der Oberst La Croix entdeckt, daß er getäuscht wurde, sobald es im Stalle auffällig wird, daß Wilhelm mit seinem Wagen nicht zurückkehrt. Ich fühle etwas wie eine Gefahr über uns hängen. Deshalb habe ich meinen Plan geändert. Er lautet so: wir verbergen den Schatz in einem alten trocknen, zur Hälfte mit Feldsteinen angefüllten Brunnen, der sich auf einem entlegenen Grundstücke meiner Mutter befindet.

Dann fährt Wilhelm den Fourgon in eine andere Gegend und läßt ihn dort durch einen Burschen, den ersten, besten, der ihm aufstößt, zum Schlosse zurückfahren, wo der Mensch angiebt, er habe ihn leer und verlassen auf dem Felde stehen sehen und als königliches Eigenthum erkannt. Es hat dies nebenbei das Gute, daß König Jerôme alsdann nicht sagen kann, wir hätten ihm Pferde und Wagen gestohlen.“

„Und dann?“ fragte Elise.

„Dann wird es meine und Wilhelm’s Aufgabe, den Schatz getheilt, jedes Mal so viel wie ein Mann davon bei sich tragen kann, fortzuschaffen. Wir werden dazu verkleidet, bald in diesem, bald in jenem Costüme und hauptsächlich des Nachts wandern müssen. Die nöthigen Kleidungsstücke können wir uns in dem Grenzorte, bei dem Agenten, der uns erwartet, verschaffen.“

„Das scheint mir allerdings besser,“ sagte Elise, „als wie Sie es ursprünglich vorhatten. Und wo bleibe ich?“

„Sie bleiben hier, bei meiner Mutter … verborgen, unter einem andern Namen … als eine Hausarbeiterin, welche sie angenommen hat. Sind Sie damit einverstanden?“

„Ich bin es zufrieden.“

„Nicht wahr, es ist auch besser, als wenn Sie die Gefahren einer heimlichen Reise mit dem Wagen theilten?“

„Es ist besser, gewiß!“

„So wollen wir nicht säumen!“

Mensing sprang auf und ging hinaus. Nach etwa einer Viertelstunde kam er zurück. Er trug vier lederne Beutel, die er auf den Tisch stellte.

„Wir haben eine der Kisten geöffnet,“ sagte er zu Elisen, die er auf ihrem alten Platze fand, während die Mutter hinausgegangen war. „Hier ist, was unsern ersten Transport bilden soll. Wilhelm spannt eben die Pferde wieder ein, um zu dem Brunnen zu fahren … es ist noch so dunkel und nächtig draußen, daß uns Niemand entdecken wird – –“

Er hatte kaum ausgesprochen, als draußen ein Hufschlag erscholl – gleich darauf hörte man das Hofthor rütteln und den Ruf:

„Holla he!“

„Teufel,“ rief Mensing erschrocken auffahrend, „was ist das?

… wenn das La Croix mit seinen Gensd’armen ist …“

„So sind wir verloren!“ fiel tief erblassend Elise ein.

„Nur die Ruhe bewahrt,“ flüsterte Mensing, „ich will sehen, was es ist. …“

„Holla he!“ scholl noch einmal ein donnernder Ruf durch die Stille der Nacht.

„Es ist der Oberst – kein Zweifel – ich erkenne seine Stimme. Elise, zu meiner Mutter; sie soll Wilhelm mit dem Fourgon über den hintern Hof auf’s Feld hinaus zu dem Brunnen führen – rasch fort – nur rasch … ich öffne dem Obersten unterdeß und denke ihn schon zu beschäftigen, bis Ihr fort seid.“

Dabei warf er die vier Beutel unter den Tisch und eilte hinaus.

„Ich komme, ich komme,“ rief er, über die Schwelle der Hausthür tretend, um auf einen dritten Anruf zu antworten.

Ueber den Hofzaun herüber sah er die Gestalt eines Reiters, der eben abstieg; ein Fußgänger im Kittel stand neben ihm.

Es war der Oberst La Croix, der Mensch neben ihm ein Müllerbursche, den der Oberst in der Neuen Mühle bei seiner nächtlichen Arbeit gefunden und als Wegweiser zu dem Pachthof mitgenommen.

„Oeffnen Sie … öffnen Sie!“ rief der Oberst.

„Ich werde den Schlüssel holen,“ versetzte Mensing, „im Augenblick.“

Er ging zurück und ließ ein paar Minuten verfließen, ehe er kehrte.

„Zum Teufel, wo bleiben Sie? Auf mit dem Thor!“

Mensing öffnete langsam und zögernd das Hofthor.

„Wie, Sie, Oberst?“ sagte er mit dem Tone großer Ruhe, als La Croix, sein Pferd hinter sich ziehend, in den Hof kam.

„Ich bin’s, mein Herr Lieutenant, um Sie für den Maskenanschlag, den Sie sich mit mir erlaubt haben, zur Rede zustellen und mir ein wenig genauer Ihren Fourgon anzusehen. Im Namen des Königs, Sie sind verhaftet, Lieutenant Mensing.“

„Ich beuge mich vor dem Namen des Königs,“ antwortete Mensing mit demselben äußern Gleichmuth.

„Führen Sie mich augenblicklich zu dem Wagen.“

„Der Wagen … was wollen Sie bei ihm?“

„Das ist meine Sache.“

„Er ist nicht mehr hier …“

„Herr,“ donnerte der Oberst, „gehorchen Sie oder …“

Der Oberst griff zu seinem Säbel.

„Herr Oberst,“ versetzte Mensing achselzuckend, „Ihr Säbel ist keine Zauberruthe, womit Sie den verschwundenen Wagen wieder herbeizaubern. Er ist nun einmal fort und aus Ihrem Bereich!“

„Halte mein Pferd,“ schrie der Oberst den Müllerburschen an.

Der Bursche sprang herbei, das Pferd zu nehmen. In diesem Augenblick wurde aus der Gegend des zurückliegenden Oekonomiegebäudes das Rollen eines Wagens vernehmbar.

[79] „Ah – das ist er, da ist der Wagen!“ rief der Oberst erregt und machte einen Schritt, dorthin zu eilen, von woher das Geräusch erscholl.

Im selben Augenblick hatte Mensing ein Reiterpistol aus seiner Brusttasche hervorgezogen. Er setzte es mit gespanntem Hahn dem Obersten auf die Brust.

„Noch einen Schritt weiter, und ich jage Ihnen eine Kugel durch die Brust, Obrist La Croix!“ sagte er.

Sacre!“ fluchte der Oberst, seinen Säbel fallen lassend … er sah, daß sein Gegner die Ueberlegenheit der Waffe für sich hatte.

„Sie werden mir Ihr Ehrenwort geben,“ fuhr Mensing fort, „daß Sie mir ruhig in’s Haus folgen und dort anhören werden, was ich Ihnen zu sagen habe … Ihr Ehrenwort … binnen zwei Minuten … oder ich tödte Sie – bei meinem Ehrenwort! … Nur eine Bewegung mit Ihrem Arm, als ob Sie mir das Pistol aus der Hand schlagen wollten … und Sie haben die Kugel im Leib!“

„Desperater Schurke!“ knirschte der Oberst in seiner Wuth.

„Hab’ ich Ihr Wort oder hab’ ich’s nicht?“

„Zum Teufel, ich gebe es Ihnen! Was fragen Sie, da Sie sehen, daß ich muß?“

„So kommen Sie … hierher … in’s Haus!“

Der Oberst folgte – Mensing führte ihn in’s Haus, in das Wohnzimmer neben dem Flur, und hier wies er auf den Stuhl, den eben Elise eingenommen.

Der Oberst setzte sich, die wuthblitzenden Augen auf Mensing richtend, der ihnen gefaßt und ruhig begegnete.

Mensing setzte sich an die andere Seite des Tisches; er legte das Pistol vor sich nieder, ohne den Hahn zur Ruhe zu setzen.

„Was ich Ihnen zu sagen habe, Oberst La Croix,“ hub er an, „ist kurz gefaßt dies: Der Fourgon enthält den Schatz des entflohenen Kurfürsten. Ich habe mich entschlossen, diesen Schatz seinem Eigenthümer zu retten. Ich weiß, daß es nur auf Gefahr meines Lebens geschehen kann. Desto weniger Federlesens werde ich dabei mit dem Leben Anderer machen, die mir hemmend in den Weg treten. Sie begreifen das?“

„Vollkommen!“

„Sie begreifen also die Bedeutung dieses Pistols für Sie, der Sie weniger gut bewaffnet, wie ich sehe, noch im Ballcostum sind?“

„Ich begreife auch das!“

„Aber Ihre Leute werden Ihnen folgen – Sie hoffen darauf, daß sie jeden Augenblick da sind?“

„Ich hoffe darauf; sie würden mich bald gerächt haben, mein Herr Lieutenant.“

„Möglich! Doch ist das Gerächtwerden ein schlechter Trost für einen Todten! Lassen Sie uns deshalb eilen, zu Ende zu kommen.“

Mensing faßte rasch unter den Tisch und hob einen der Beutel darauf; er legte ihn neben das Pistol.

„In diesem ledernen Sack,“ sagte er dabei, „sind fünfzigtausend Thaler in gutem, vollwichtigem Gold. Eine Summe, fast doppelt so groß als der Preis, der auf die Entdeckung des Schatzes gesetzt ist. Und hier daneben ist das geladene Pistol. Ich aber, mein Herr Oberst, das werden Sie einsehen, bin in einer Lage, worin ich mein Heil nur durch rasches und rücksichtsloses Handeln finde. Also Eins oder das Andere. Wenn Sie ruhig heimkehren und dabei auch Die, welche Ihnen auf Ihrem Rückwege begegnen mögen, mit sich zurücknehmen wollen; wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben wollen, daß Sie mich weder selbst, noch durch Andere, weder direct noch indirect verfolgen oder hindern werden, mein Vorhaben auszuführen und dem früheren Herrn dieses Landes ein Eigenthum zu sichern, das nur ihm gehört und Niemandem in der Welt sonst … dann sind diese fünfzigtausend Thaler für Sie! Wo nicht, so ist es die Kugel in diesem Laufe, und, wenn sie fehlt, die zweite in diesem!“

Mensing zog dabei den Griff eines zweiten Pistols aus seiner Brusttasche hervor.

Der Oberst betrachtete ihn mit einem eigenthümlichen Zucken der Gesichtsmuskeln – sein Auge irrte von Mensing’s Zügen zu dem schweren Lederbeutel und zu der Mündung des Pistols und wieder zu Mensing’s Zügen, worin er nichts als den entschlossensten und drohendsten Ernst wahrnahm.

„Wenn ich für das Geld meine Dienstpflicht verrathe, wer steht Ihnen dafür, daß ich nicht auch mein Ehrenwort verrathe?“

„Ich glaube an das Ehrenwort eines guten Soldaten – das sind Sie, Oberst …“

„So könnte ich auch an das Ihrige glauben, das ich mir doch auch ausbitten müßte …“

„Ich verstehe Sie und sehe, daß Sie gewählt haben!“ fiel Mensing hochaufathmend ein. „Ja, Sie können an mein Ehrenwort glauben, daß nie Jemand diesen Handel erfahren soll … ich werde schon deshalb nie vergessen, was ich Ihnen schuldig bin, weil Sie mir eine der größten Wohlthaten erweisen, die ein Mensch dem andern erweisen kann … weil Sie mir die Nothwendigkeit ersparen, einen Mord zu begehen! Nehmen Sie das Geld! Es gehört Ihnen!“

Der Oberst zog es mit raschem Griff an sich und stand auf.

„Der Teufel mag lange wählen,“ sagte er plötzlich auflachend. „Lieutenant[WS 1] Mensing, ich will Ihnen wünschen, daß Sie glücklich durchkommen! Von mir sollen Sie nichts mehr zu befürchten haben. Aber täuschen Sie sich nicht darüber, wenn Sie auch mit mir fertig geworden sind, verfolgt werden Sie doch – die Sache wird doch ruchbar werden und ich kann meine Mouchards nicht hindern, zu spüren. Es wäre schade um Sie, wenn man Sie faßte und füsilirte. Sie sind ein Mensch von respektabler Entschlossenheit. Aber der König würde gegen einen solchen Deserteur keine Gnade kennen. Also – nehmen Sie sich in Acht – und Adieu!“

„Ich habe Ihr Ehrenwort, Herr Oberst,“ antwortete Mensing; „Ihre Mouchards ängstigen mich nicht!“

„Sie haben mein Wort!“

Der Oberst ging und Mensing begleitete ihn auf den Hof.

Das Pferd stand draußen an der Thür angebunden – der Müllerbursche hatte sich aus dem Staube gemacht.

Mensing hielt das Pferd und den Beutel, während der Oberst aufstieg – dann reichte er diesem die goldene Last hinauf – Oberst La Croix verbarg sie unter seinem Mantel und ritt mit einem letzten lakonischen „Adieu!“ davon, über den einsam und stille daliegenden Hof.

Mensing blickte ihm hoch und frei aufathmend nach. „Dem Himmel sei Dank!“ sagte er. „Der wäre unschädlich gemacht! Und nun sehen wir nach unserem Schatze!“




5.

Der Schatz war für’s Erste gerettet. Mensing eilte auf die Felder hinaus, und beim Grauen der Dämmerung fand er bald den Fourgon und Wilhelm, Elise und die Mutter beschäftigt, die schweren Kisten in den Brunnen zu versenken, der etwa nur sechs Fuß Tiefe hatte. Er selbst griff wacker zu, und bald war Alles geschehen; die Oeffnung des Brunnens wurde mit Feldsteinen ausgefüllt und überdeckt.

Wilhelm nahm nun sein Gespann und fuhr damit in der Richtung eines nordwestlich, nach Cassel hinaus liegenden Dorfes. Noch bevor er dies Dorf nach einer halben Stunde erreicht hatte, begegnete er einem auf sein Geschäft ausziehenden Metzgergehülfen.

„Wollt Ihr ein starkes Trinkgeld verdienen?“ redete er ihn an.

„Weshalb nicht?“

„So fahrt diesen Wagen auf die Wilhelmshöhe – in den Marstall.“

„Wem gehört der Wagen?“

„Dem König.“

„Ah – und ich soll ihn auf die Wilhelmshöhe bringen?“

„Ja. Aber Ihr sollt sagen, Ihr hättet ihn so, wie er ist, ohne Führer hier in dem Felde haltend gefunden, und da Ihr an der Krone daran das königliche Eigenthum erkannt, brächtet Ihr ihn zurück. Wollt Ihr das?“

Der Mensch sah ihn mißtrauisch an.

„Wollt Ihr nicht, so finde ich schon einen Andern, der sich das Trinkgeld verdient!“

„Nein, nein, gebt nur die Zügel her!“

Wilhelm sprang vom Bock und ließ den Menschen aufsteigen, der mit dem Wagen weiter dem Dorfe zufuhr, aber, von Zeit zu Zeit sich zur Seite beugend, verwundert dem zurückeilenden Wilhelm nachblickte.

[80] „Der Geselle wird mich wahrscheinlich da droben verrathen und ganz genau beschrieben, wie ich ausgesehen und aus welcher Richtung ich gekommen,“ sagte sich Wilhelm, während er querfeldein den Pachthof wieder zu erreichen suchte, „aber was schadet’s jetzt?!“

Als er auf dem Hofe ankam, fand er Mensing bereits in voller Verkleidung. Er stak im Kittel eines Schäferknechts; die schwarze lederne Tasche, die quer über seiner Schulter hing, bauschte sich ziemlich hoch über den Goldsäcken, welche hineingeschoben waren.

„Schlüpf’ auch Du jetzt in einen solchen Kittel!“ sagte Mensing; „es liegt Alles bereit dazu – der ganze Anzug eines Knechts – hier in der Kammer. Es ist gut, wenn wir fortkommen, bevor die Hausmägde auf sind!“

Eine Viertelstunde später schritten die beiden jungen Männer mit ihrem ersten Goldtransport in den nebeligen Morgen hinaus. Der Tag drohte mit Regen, wie die vorigen ihn gebracht hatten.

„Es ist desto besser,“ bemerkte Mensing, „der Regen wird desto schneller die Geleise vertilgen, welche unser Wagen über die Felder gezogen hat. Beim Brunnen sind meine Mutter und Elise beschäftigt, mit Schaufel und Rechen die Geleise auszulöschen, so gut es geht.“

„Führt unser Weg uns an der Stelle vorüber?“ fragte Wilhelm.

„Gewiß, ich will Dich nicht fortführen auf unsern gefährlichen Pfad, ohne daß Du Deiner Elise Lebewohl gesagt hast.“

Auf dem halben Wege zum Brunnen begegneten ihnen die Frauen. Sie hatten gethan, was sie gekonnt hatten, die Spuren des Wagens zu vertilgen, und kamen jetzt heim, weil der Morgen vorrückte und bereits ein Arbeiter auf dem Felde in der Ferne sichtbar geworden war.

Mensing drückte einen Kuß auf die Stirn seiner Mutter, die ihm mit bebender Lippe ihre Segenswünsche mit auf den Weg gab.

„In der zweiten oder dritten Nacht kommen wir zurück,“ sagte er. „Laß das hintere Hofthor unverschlossen – ich werde an das Fenster des Wohnzimmers klopfen. Hat sich etwas ereignet, was uns bedroht, so laß ein Licht hinter dem Fenster des obern Giebelstübchens brennen. Das soll heißen: ‚Bleibt zurück?‘ So lange es brennt … man sieht es fast eine halbe Stunde weit, denk’ ich … so lange es brennt, werden wir uns fern halten. Wenn man kommt und Untersuchungen anstellt, so weißt Du, was Du zu sagen hast. Ich bin in der Nacht mit einem Fourgon gekommen und gleich darauf wieder weitergefahren – das ist Alles, was Du weißt, Mutter ... auch bei dem Gesinde, wenn dies etwas erfahren und nachfragen sollte ... Du mußt Dich schon ein wenig im Lügen üben, Du gutes Mütterchen … auch wegen Elisen, um über sie dem Gesinde Auskunft zu geben …“

„Sorg’ nicht, ich werde es ja können, da es so sein muß,“ antwortete sie … „und so geh’ mit Gott, mein Kind!“

„Geh’ mit Gott!“ war auch Elisens letztes Wort beim letzten Händedruck zu Wilhelm … dann wandte sie sich ab, um ihr Schluchzen zu verbergen, während die beiden jungen Männer davongingen und nach wenigen Augenblicken in der Nebelluft verschwunden waren.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Bischof und Poet. Der schreibselige Bischof von Mainz, Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler, hat eine neue Flugschrift veröffentlicht, welche den grimmigen Titel führt: „Die öffentliche Beschimpfung der katholischen Kirche auf der Bühne. Ein Appell an Alle, welche Sinn für Gerechtigkeit und Ehre haben und mit ihren katholischen Mitbürgern auf Grund gegenseitiger Achtung in Frieden leben wollen.“ Welches entsetzliche Werk hat nun diesen „Appell“ hervorgerufen? Es ist ein Lustspiel von Arthur Müller, das den Titel führt: „Gute Nacht, Hänschen“, und seit einigen Jahren unbeanstandet über viele Bühnen gewandert ist. In Mainz nun findet es einen treuen Zionswächter, der ihm ein donnerndes Halt zuruft.

Das Stück spielt am Hofe der Kaiserin Maria Theresia und behandelt Intriguen, die gesponnen werden, um die Kaiserin zu bewegen, fünftausend der in Portugal, Spanien etc. vertriebenen Jesuiten aufzunehmen. Wie im Lustspiel natürlich, werden die Intriguen entdeckt und die Jesuiten nicht aufgenommen.

Was hat nun in diesem Stücke den Zorn des frommen Bischofs erregt? Es ist zunächst folgender Ausspruch Joseph’s des Zweiten, den der Verfasser wörtlich anführt:

„Ich bilde mir’s nicht ein, ich weiß es, daß unser Haus schwer gesündigt hat an unserm deutschen Vaterlande. An unserm Hause ist Deutschland zu Grunde gegangen. Wer schützte die Kirche in ihrem Unrecht, als jener Tetzel die Lüge an die verrottete Menschheit verkaufte, und wer verfolgte das Recht, als alle Guten dem kühnen Mönch von Wittenberg zujauchzten? Wer war es? Unser Haus, das Haus Habsburg. Und als das Volk und mit ihm fast alle seine Fürsten aufstanden gegen den Kaiser, um ihr gutes Recht zu wahren, wer rief den Feind in’s Land und warf mit seiner Hülfe die Deutschen nieder? Wieder war es unser Haus, das Haus Habsburg. So wurde Deutschland ein Spott, ein Hohn, ein Raub der Fremden; denn es ward schwach und uneinig in seinem Innern und lag Jahrhunderte lang in wahnsinnigem Bruderzwist. Wer aber schürte diesen Zwist in’s Unendliche? Zum dritten Male unser Haus, das Haus Habsburg mit Hülfe Roms. Einst war der König der Deutschen Herrscher der Welt. Was liegt im Wege, daß er’s nicht wieder werden könnte? Das Volk ist dasselbe in seiner Treue, seinem Muthe, seiner Stärke, seiner Hingebung. Aber wir, wir sind entartet. Wer über Deutschland herrschen will, muß ein deutscher Mann sein, ein deutscher Fürst, aber kein Römling. Wir müssen wieder Deutsche werden, wenn wir wieder mächtig werden wollen.“

Diese Worte nehmen sich allerdings seltsam im Munde Joseph’s des Zweiten aus, allein zur Unehre gereichen sie ihm eben nicht.[1] Diese Worte enthalten ein historisches Urtheil oder eine historische Ansicht, die von Millionen getheilt wird. Der fromme Bischof von Mainz muß in der That nur die Kirchenväter lesen, höchstens noch den Syllabus und die Hirtenbriefe des Bischofs Dupanloup gegen eine gute Erziehung, daß er dem armen Lustspieldichter einen Ausspruch übel nimmt, der von tausend Anderen in weit schärferer Form gethan und von der Geschichte bestätigt worden ist.

Genug, der fromme Bischof von Mainz findet in diesem Ausspruche eine „Beschimpfung“ der katholischen Kirche. Der treue Zionswächter wendet sich, nachdem er so den Geist des Stückes charakterisirt hat, zu der Handlung desselben. Und da entdeckt er denn, daß die Thatsachen im Stücke nicht wahr, daß sie erdichtet sind, und nennt das Stück eine Lüge, einen „entsetzlichen Betrug am Publicum, wie sich kein größerer und frecherer denken läßt.“ (Als Gewährsmann, daß die Handlung nur erdichtet ist, dient ihm ein „angesehener“ Wiener Gelehrter, Herr Dr. Sebastian Brunner. Dieser Herr ist allerdings berüchtigt durch seine fanatischen Schmähungen des Protestantismus.) Im Definiren hat es der fromme Bischof von Mainz noch nicht weit gebracht. Eine Lüge ist eine Behauptung, die man für wahr hinstellt, wissend, daß sie falsch ist. Ein Dichter giebt aber seine Dichtung für Erfindung, für ein freies Spiel seiner Phantasie. Wie kann da von einer Lüge die Rede sein? Ist die Braut von Messina eine Lüge, weil die Handlung erfunden ist? Sind Wallenstein, Don Carlos Lügen, weil sie von der historischen Wahrheit abweichen? Der Dichter lügt nie, er kann höchstens irren, wenn er von der psychologischen Wahrheit abweicht. Doch die Kenntniß solcher Wahrheiten können wir von dem frommen Bischof von Mainz nicht verlangen, sie stehen ja nicht im Syllabus.

Nach der Verdammung des Lustspiels ergeht sich der Freiherr von Ketteler in bitteren Klagen über die gedrückte Stellung der Katholiken in Deutschland, über die Intoleranz, die man gegen sie übe. Es steht wirklich so gedruckt; der Leser darf es glauben. Der Zustand der Katholiken bei uns ist nachgerade unerträglich geworden. Solch eine Beschuldigung wagt ein Kirchenfürst auszusprechen. Wir wollen uns nun aber nicht auf die oben stehende Definition der Lüge beziehen, sondern dem frommen Bischof das dichterische Recht der Erfindung, der freien Phantasie zugestehen. Allerdings geht diese Beschuldigung nun verblümt gegen die Freisinnigen, welche nicht mehr auf „des Pastors Wort“ schwören, allerdings meint der Kirchenfürst, die Frommen unter den Protestanten würden ebenso angefeindet, allerdings ruft er zum Kampfe gegen die Freisinnigen. Allein er kann sich trösten. Die Freisinnigen, die ihren Verstand nicht mehr unter verrottete Anschauungen und die Macht des Buchstabens beugen wollen, bilden Gott sei Dank eine übergroße Mehrzahl in unserm geisteshellen Vaterlande, allein sie sind keine kämpfende Partei und sie gehen nicht darauf aus, Proselyten zu machen. Sie überlassen es der immer mehr erwachenden Vernunft der Menschheit, Licht in die Finsterniß zu bringen.

Ein seltsames Zeichen der Zeit ist aber diese Broschüre. Ein Kirchenfürst donnert gegen ein Lustspiel. „So viel Lärm um Nichts!“ könnte man sagen, wenn der Bischof seine Arbeit nicht mit den Worten schlösse: „Lieber Kampf und Martyrium, das muß die Parole des ganzen katholischen Volkes in Deutschland werden.“

Nach sechs Seiten voll schöner Reden über die Toleranz der Aufruf zum Kampfe! Freilich die katholische Kirche nennt sich ja die „streitbare, kämpfende“ – und im vorigen Jahre sind trotz aller Protestationen des Stadtraths und der Bürgerschaft sechs Jesuitenpatres von dem Bischof Ketteler nach Mainz berufen worden.

„Wie Wölfe werden sie uns verjagen,
Wie Füchse werden wir wieder kommen.“

R. B.
  1. Und hoffentlich werden diese Anklagen jetzt auch unwahr gemacht, was sie bis jetzt nicht waren. D. Red.

Inhalt: In sengender Gluth. Von F. L. Reimar. – Die Inselburg im Rhein. Mit Abbildungen. – Eine Audienz bei dem König von Italien. – Im Hause Robert Stephenson’s. Von M. M. v. Weber. I. – Ein Bild deutscher Volkslust. Von Fr. Hofmann. Mit Abbildung. – Der Schatz des Kurfürsten. Historische Erzählung von Levin Schücking. (Fortsetzung.) – Blätter und Blüthen: Bischof und Poet.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Leutenant