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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 4.   1868.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich bis 2 Bogen.0 Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Eine Mahnung, keine Bitte!

Vor fünfundfünfzig Jahren wand sich ganz Deutschland unter dem furchtbaren Druck der Napoleonischen Gewaltherrschaft. Alle deutschen Fürsten beugten sich noch dem Uebermächtigen und ihre Völker bluteten noch in seinen Schlachten, selbst als die Flammen von Moskau und die Wogen der Berezina eine neue Zeit verkündeten. Da wagten es zwei Männer und ein Volk, die Kette zu zerreißen, die sie an Frankreichs Joch festhielt: York und Stein und das Volk der Ostpreußen waren es, an deren helllodernder Begeisterung der Muth der übrigen deutschen Stämme sich entzündete; dort war die Geburtsstätte der Landwehr, des Volks in Waffen, dessen Treue und Tapferkeit das Vaterland den ersten kühnen Schritt zu seiner Befreiung verdankt.

Und heute, nach fünfundfünfzig Jahren, erliegen die Enkel jener Helden von 1813 der gemeinsten Noth: dem Hunger!

Landsleute in Süd und Nord! das deutsche Herz schreckt weder Oesterreichs Schlagbaum zurück, noch kennt es eine Mainlinie, läßt es doch selbst durch das Meer sich keine Trennung gebieten, sondern folgt allezeit dem Rufe der Volksehre und Menschenliebe, die ihm Dankbarkeit zur Pflicht und Hülfe zur Schuldigkeit machen. Und in diesem Geiste bitten wir nicht, sondern ermahnen Alle, die sich Deutsche nennen, zu rascher That für die Rettung der ostpreußischen Brüder. Daß wir dies anscheinend so spät thun, entschuldigen unsere Freunde, welche wissen, daß Das, was sie heute lesen, schon vor drei Wochen, der kürzesten Herstellungsfrist der Gartenlaube, zum Druck abgegeben worden ist.

Die jüngste Zeit war nur allzu reich an deutschem Unglück, und wie alle öffentlichen Organe, hat auch die Gartenlaube die Hochherzigkeit ihrer Leser stark in Anspruch genommen; wo aber die Noth so laut und eine solche Noth ruft, wäre jede Entschuldigung, daß wir den Jammerruf weiter tragen, Sünde.

Unser Opferstock ist bereit; Gott lenke die Herzen und Hände! Die Redaction der Gartenlaube. 




Der Schatz des Kurfürsten.
Historische Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Die drei zurückbleibenden Männer sahen dem Wagen eine Weile stumm nach. Dann wandten sie sich zu ihrem Werke zurück. Ihre Arbeit war erst halb gethan. Sie mußten die in die Untermauerung der Treppe gerissene Oeffnung wieder ausfüllen, so gut es irgend ging. Eine schwierige Aufgabe in der Dunkelheit! Doch war sie nicht so gefährlich mehr wie der erste Theil ihrer Arbeit, das Aufbrechen, gewesen. Wenn jetzt Jemand kam und sie dort überraschte, so hatten sie den Vorwand bereit, daß sie dort nach dem Schatze gesucht, aber vergebens, durch eine falsche Angabe irre geführt … Auch kam es nur darauf an, die durchbrochene Stelle so wieder herzustellen, daß nicht gerade der erste Beste, welcher am andern Tage an dieser Schloßseite vorüberkam, den Schaden sofort entdeckte. Nach einigen Tagen, wenn der Schatz geborgen, mochte er immerhin entdeckt werden.

Nach einer halben Stunde war die Arbeit verrichtet, der zurückgebliebene Schutt fortgetragen, die ganze Stelle rings umher mit einem Rechen geglättet; mit demselben Instrument waren nur noch die Geleise des Fourgons zu vertilgen.

Auch dies gelang, ohne daß unsere drei nur zuweilen wenige Worte sich zuraunenden Männer gestört worden wären.

„Mensing hat Recht gehabt,“ sagte endlich Steitz, „wir hätten keine bessere Nacht wählen können!“

„Es ist wahr,“ versetzte der Amtmann Brethauer, „ich denke, wir können beruhigt heimgehen und Jeder im stillen Kämmerlein Gott danken, daß es bis soweit so gut geglückt ist. Was wir thun konnten, ist wenigstens gethan!“

„Es ist gethan,“ erwiderte der Leibchirurg Mann, „und je rascher wir nun verschwinden, desto besser; kommen Sie, Brethauer, gute Nacht, Steitz!“

„Gute Nacht, gute Nacht!“

Nach einem warmen Händedruck gingen sie auseinander. Brethauer und Mann verschwanden in dem sich dicht bis an den Schloßflügel erstreckenden Gebüsche.

Wilhelm hatte unterdeß seinen Fourgon in das links vom Schlosse liegende Thal gelenkt, das vom Octogon herabströmende Gewässer auf einer Brücke oberhalb des Lac passirt und sich dann links gehalten, bis er das chinesische Dörfchen „Mulang“ erreicht hatte.

Von hier führte eine Allee nach dem Lustschlosse Schönfeld oder Augustenruhe; der Boden derselben war mit Rasen bedeckt, [50] Wilhelm konnte seine Pferde auf dem ebenen Boden in den raschesten Trab fallen lassen; kein Rasseln und kein Geklirr und kein Hufschlag verrieth die eilige Fahrt. So war das Lustschloß in einer Zeit erreicht, welche in Folge der Spannung, in der sich die drei den Wagen begleitenden Personen befanden, ihnen nur noch kürzer erschien.

In der Nähe des kleinen Schlosses führte ein Weg aus der Allee, der sich in die Felder hineinschlug, rechts ab. Das Dunkel der Nacht hatte sich ein wenig gelichtet. Der Wind trieb die Regenwolken an der eben sichtbar werdenden Mondsichel vorüber. Mit Hülfe dieses Lichtes fand Wilhelm die Abzweigung dieses Weges ohne Schwierigkeit, er zog die Zügel an und lenkte hinein, ohne die Hülfe der Laterne zu gebrauchen, die Mensing hervorholen wollte.

„Sie blendet mich nur durch den Widerschein,“ sagte er, „bis zur neuen Mühle finde ich den Weg, auch wenn es noch dunkler wäre. Jenseits der Fulda aber bin ich nicht mehr so sicher – Sie werden dann schon absteigen und mit der Laterne vorausschreiten müssen …“

„Das will ich gern, sag’ mir’s nur, sobald Du’s wünschest … wenn wir nur erst die Strecke hinter der Mühle glücklich hinter uns hätten; in der Gegend, wo der Pachthof meiner Mutter liegt, kenn’ ich die Wege ganz genau.“

„Still,“ flüsterte hier Elise, „hören Sie nicht etwas?“

„Ich höre nichts!“

„Und ich ein Geräusch wie Hufschlag!“

„Das wäre verdächtig … Wilhelm, halt’ einmal!“ rief Mensing aus.

Wilhelm, der bereits eine Strecke weit dem Feldweg nachgefahren war, hielt an.

Alle Drei lauschten.

„Es ist erstorben – aber ich hörte es deutlich,“ flüsterte Elise.

„Wo?“

„Ich weiß das nicht genau, ich denke, vor uns.“

„Soll ich weiter fahren?“ fragte Wilhelm.

„Nur immer zu!“

Wilhelm trieb sein Gespann an, der Wagen rollte mit mäßigem Gerassel auf den weichen Wegen weiter; nur zuweilen wurde ein Klirren und Stoßen laut, wenn der Wagen aus einem Geleise in’s andere fiel oder einen Feldstein berührte.

„Halt, um Gotteswillen!“ rief Elise plötzlich aus, ihre Hand auf die Schulter des vor ihr sitzenden Wilhelm Momberg legend.

Dieser hatte bereits die Zügel angezogen und Mensing war im selben Augenblick aufgefahren.

Das Geräusch, welches Elisen erschreckt hatte, war zu gleicher Zeit von allen Dreien vernommen worden. Es war der Hufschlag schreitender Pferde, die eben in Trab zu fallen begannen.

Das Geräusch war vor ihnen, es war keinen Augenblick zu zweifeln, mehrere Reiter kamen ihnen entgegen – es war eine der gefürchteten Gensd’armerie-Patrouillen, was konnte es anders sein?

„Soll ich querfeldein?“ fragte Wilhelm rasch.

„Nein,“ rief Mensing, „wenn wir auch noch Zeit hätten, aus ihrem Gesichtskreise zu kommen, so würden sie uns immer noch hören können. Also nur vorwärts, nur ruhig vorwärts, fahr’ Schritt.“

Wilhelm fuhr weiter; Elise faltete in ihrer Angst krampfhaft die Hände und sprach ein Stoßgebet.

„Mein Gott, die Maske, die Maske, Elise!“ rief Mensing aus, „verlieren Sie den Kopf nicht jetzt, nur jetzt nicht!“

Während man die Reiter näher und näher kommen hörte, fuhr Elise mit der zitternden Hand unter ihren Mantel und zog eine Maske darunter hervor; Mensing half dem geängstigten Mädchen, sie vor ihrem Gesichte zu befestigen.

Noch einige Minuten und aus dem Dunkel vor ihnen tauchte die Gestalt eines Reiters auf, dann zwei, dann noch einer …

Im nächsten Augenblick war der Wagen erreicht, der vorderste Reiter hielt sein Pferd an und rief ein gebieterisches: „Halte-là – Halt! … Wer seid Ihr?“

„Königlicher Fourgon!“ versetzte Wilhelm laut, während Mensing Elisen zuraunte: „Es ist der Oberst selbst – Gott Lob – Alles wird gut gehen!“

Die andern Reiter hielten neben dem ersten.

„Ein königlicher Fourgon …“ schrie jetzt der Oberst La Croix, „Vertubleue … hier auf den Feldern? … in der Nacht? Du lügst, verdammter Schlingel …“

„Es ist ein Marstall-Fourgon!“ sagte einer der Gensd’armen, der um den Wagen herumgeritten war.

„Aber verdammt verdächtig,“ brummte der Oberst; „Du steigst ab, Bursche, und, die Personen da vorn ebenfalls, ich will wissen, was in dem Wagen ist, er muß geöffnet werden …“

In diesem Augenblick sprang Mensing von dem Vordersitz, unter dessen Verdeck es zu dunkel war, als daß er hätte vom, Obersten erkannt werden können, auf den Boden. Er näherte sich dem Obersten und, die Hand auf den Hals seines Pferdes legend, flüsterte er ihm zu:

„Oberst La Croix, ich bin es, der Lieutenant Mensing –“

„Wer?! Was Teufel? … Sie, Lieutenant Mensing?“

„Ich! Darf ich Sie um eine kleine Unterredung abseits vom Wege bitten?“

Tudieu – was hat das zu bedeuten? Eine Unterredung abseits vom Wege?“

„Ein paar Schritte hierher … ich bitte dringend darum …“

Der Oberst lenkte sein Pferd ein paar Schritte weit auf das nächste Stoppelfeld.

„Nun, also?“ sagte er hier anhaltend, „heraus damit … wie kommen Sie hierher, wie kommt der Marstall-Fourgon hierher, und was ist darin?“

„Drin ist Bettzeug für das Schloß Schönfeld … es soll Ihnen gezeigt werden, wenn Sie darauf bestehen; das ist aber nur hineingeworfen, um den ostensiblen Vorwand für die Fahrt zu bieten. Der eigentliche Zweck derselben ist ein anderer – er ist der, eine Dame, die Dame, die Sie sich in die Ecke des Vordersitzes drücken sehen und deren Name nicht zur Sache gehört, zu entführen …“

„Eine Dame – was Teufel – die Sie entführen, Mensing?“

„Ich verlasse mich auf Ihre Loyalität, Obrist La Croix … und bitte Sie flehentlich, der Dame die Angst und die peinigende Situation, worin sie sich in diesem Augenblicke befindet, abzukürzen; die Beschämung, von Ihren Reitern angestarrt und gemustert zu werden … seien Sie ritterlich, Oberst!“

„Aber Mensing, Sie sind ja ein Teufelskerl. Ritterlich? Gewiß, so viel es der Dienst zuläßt. Wer ist die Dame?“

„Verstatten Sie mir, den Namen zu verschweigen. Genug, wenn ich Ihnen sage, daß ich nur so hoffen durfte, ihre Hand zu gewinnen, und daß ich sie in dieser Nacht zu meiner Mutter bringe, die ihr ein Asyl geben wird, von wo aus wir die Verzeihung der Eltern anflehen werden … wir haben den Maskenball auf dem Schlosse benutzt, um ungehindert zu entfliehen; die Dame ist noch in der Maske, die sie auf dem Balle trug.“

„Ein vollständiger Roman also!“ rief der Oberst lachend aus, und dabei warf er sein Pferd herum und war im nächsten Augenblick dicht neben dem Vordersitz des Fourgons.

„Brigadier,“ rief er dabei, „kommen Sie heran, steigen Sie ab.“

Einer der Gensd’armen warf sich aus dem Sattel.

„Nehmen Sie die Blendlaterne, die da in der Ecke steht, öffnen Sie sie und leuchten Sie damit; ich möchte diese Dame hier sehen! – Madame,“ wandte er sich dann an Elise, „ich hoffe, Sie halten meinem Diensteifer diese kleine Indiscretion zu Gute.“

Der Brigadier hatte mit dem Arm in den Vordertheil des Fourgons gelangt und die Laterne, die sich durch einen schwachen Schimmer verrathen hatte, ergriffen. Er öffnete sie jetzt und erhob sie so, daß der volle Schein auf die Gestalt Elisens fiel.

„Maskirt … in der That …“ sagte der Oberst, „als Griechin maskirt … ah … schöne Maske, ich kenne Dich!“ setzte er plötzlich hellauflachend hinzu … „Lieutenant Mensing, ich wünsche Ihnen Glück … dacht’ ich mir’s doch gleich! Vortrefflich, vortrefflich … fahren Sie zu, in’s Teufels Namen – der Wagen kann fahren, Leute … Lieutenant, ich eile von hier auf den Ball … dort werde ich Ihren Schwiegervater von Ihnen grüßen …“

„Oberst,“ rief Mensing aus, „das werden Sie nicht thun – es würde Ihnen einen schlechten Dank bringen …“

[51] „Glauben Sie, ich thu’s des Dankes wegen?“ lachte der Oberst auf.

„Nein – aber wenn die Sache ruchbar wird, so kann es nicht in Ihrem Interesse liegen, wenn man hinzusetzt: Oberst La Croix ist dem flüchtigen Paare mit einer Patrouille begegnet! Es wäre möglich, daß der König Sie früge: ,weshalb haben Sie die flüchtige Schöne ihren Eltern nicht zurückgebracht, mein Herr Oberst?“ –

„Nun ja, mag sein!“ antwortete der Oberst, „Sie haben Recht. Aber das ist meine Sache. Sorgen Sie nur, daß der König Ihnen nicht Dinge sagt, die ärger lauten. Und nun machen Sie, daß Sie fortkommen – adieu beau masque!“

Damit warf der Oberst lachend sein Pferd herum und ritt davon, der Schönfelder Allee zu. Seine Gensd’armen folgten ihm.

„Bei meiner Seele,“ sagte Wilhelm tiefausathmend und wieder auf seinen Bock kletternd, „das ist wunderbar gut gegangen … ich hätt’s nun und nimmer geglaubt!“

Auch Mensing nahm seinen Platz wieder ein.

„Ich habe zehnfache Todesangst ausgestanden,“ flüsterte Elise ihm zu.

„Aber, ich denke, wir haben jetzt alle Gefahr überstanden,“ sagte Mensing – „die schlimmste wenigstens liegt hinter uns. Jetzt vorwärts, Wilhelm, so rasch es nur geht!“

Wilhelm ließ seine Pferde eilen, so gut es bei dem Dunkel der trüben Nacht möglich war.

So wurde bald die Fulda erreicht. Man kam glücklich durch die Fuhrt und ohne weitere Fährlichkeiten bis zum Pachthofe der Mutter Mensing’s. Es mochte gegen zwei Uhr sein, als sich hinter dem Fourgon die Flügel des Hofthores schlossen. –




4.

Als der Oberst La Croix die Schönfelder Allee erreicht hatte, ließ er sein Pferd in einen gestreckten Trab fallen und ritt zur Napoleonshöhe hinauf, auf’s Lebhafteste mit der Begegnung beschäftigt, welche er eben gehabt hatte. Und zwar in der heitersten Stimmung darüber. Dieser kecke Lieutenant, der mit der Tochter Boucheporn’s bei Nacht und Nebel davon ging, rächte ihn auf’s Gründlichste an seinem alten Widersacher und Feinde. Wie ergötzlich mußte es für ihn sein, da oben im Schlosse den Grafen und die Gräfin in vollster Heiterkeit zu erblicken, ganz dem Vergnügen und dem Genuß des Augenblicks hingegeben, ohne eine Ahnung davon, daß unter den vielen Hundert Masken, welche in den Sälen durcheinander wirbelten, Comtesse Julie nicht mehr sei, daß unter den vielen Griechencostumen, die sicherlich nicht fehlen würden, nicht einer dieser rothen goldgestickten Fez das braune lockige Haupt ihres koketten Töchterchens bedecke! Und welche Scene mußte es später, wenn Alles sich demaskirte, geben … wenn Comtesse Julie fehlte, wenn Graf und Gräfin durch die Menge irren würden, vergebens das theure Haupt, welches ihnen fehlte, suchend! Welches Aufsehen, welche Bewegung, welcher Scandal! Es war doch ein wenig leichtsinnig und unüberlegt gehandelt von diesem deutschen Lieutenant, seine Geliebte just von einem Maskenball bei Hofe zu entführen! Freilich, eine vortreffliche Gelegenheit, um unerkannt mit ihr zu entkommen, mochte es gewesen sein – dafür mußte aber auch der Lärm, welcher darüber entstand, hundert Mal größer werden. Man war an König Jerôme’s Hof an starke Dinge gewöhnt. Es waren tollere Liebesabenteuer da vorgekommen, und gegen die Verführungen der Leidenschaft mußte man Nachsicht zu üben. Doch wer wußte, ob der König nicht diesen Streich, der auf seinem Balle ausgeführt, zu dem sein Fest wenigstens benutzt worden, desto ernsthafter, wohl am Ende gar als eine persönliche Beleidigung nahm und den Lieutenant sehr schwer die Folgen seiner Verwegenheit fühlen ließ?

Aber was ging das Alles den Oberst an – er hatte nur Ursache, sich recht herzlich darüber zu freuen, und das that er aus dem Grunde seiner Seele, und wäre es nicht Nacht gewesen, man hätte die Schadenfreude aus seinen Augen leuchten sehen können, wie er jetzt trotz der Dunkelheit raschen Trabes durch die Schönfelder Allee dahinritt.

Als er vor dem Schlosse oben angekommen war, sprang er aus dem Sattel, gab sein Pferd einem seiner Leute, damit dieser es in den Marstall führe, und entließ die Gensd’armen.

Er eilte alsdann in’s Schloß, durch das hell erleuchtete, mit exotischen Pflanzen geschmückte Vestibül, die Treppen, an deren Fuß zwei Gardes du Corps in ihrem theatralischen, mit Gold bedeckten Costüme Wache standen, hinauf, durch die Gruppen geschäftiger Dienerschaft, an den Festsälen vorüber und in den obern Stock empor, in die Zimmer, welche Graf Boucheporn dort zu seinem Aerger ihm hatte einräumen müssen.

Sein Kammerdiener erwartete ihn. Er hatte Alles, was zum Ballanzuge des Obersten gehörte, zurecht gelegt.

„Wie spät ist es, Jean? – ich glaube, wir müssen uns sputen,“ rief der Oberst eintretend aus.

„Es ist ein Viertel nach Zwölf, Herr Oberst,“ antwortete der Kammerdiener. „Sie kommen also noch immer früh genug zum Souper, das um ein Uhr für die Damen und um halb zwei für die Herren beginnen wird.“

„Und wie ist das Fest?“

„Im höchsten Grade animirt,“ antwortete Jean, eben damit beschäftigt, die Reiterstiefel des Obersten auszuziehen, „der König hat noch kein schöneres, glänzenderes gegeben, höre ich, – die Masken sollen ganz ausgezeichnet schön und reich sein. Hier sind die Ballschuhe und hier die seidenen Strümpfe. Majestät trägt nur einen rosaseidenen Domino. Der Herr Oberst haben sich für Ihren Dienst wahrhaft aufgeopfert, daß Sie unterdeß draußen in dem abscheulichen Wetter umhergeritten sind!“

„Was willst Du, Jean – Dienst ist Dienst und außerdem – gieb mir den Schuhlöffel – außerdem hatte ich besondere Veranlassung, einmal selbst ein wenig zu vigiliren und zu sehen, ob die Posten auf dem Qui vive! sind. Es war mir da eine kleine anonyme Warnung zugekommen … wegen des Schatzes, weißt Du, Jean, der noch immer irgendwo hier auf der Napoleonshöhe verborgen sein muß, weil alle unsere Informationen dahin gehen, daß ihn der Kurfürst nicht mitgenommen hat …“

„Ich weiß, ich weiß,“ sagte Jean aufhorchend. „Der Herr Oberst haben ja geschworen, sich die hunderttausend Franken, die auf die Entdeckung gesetzt sind, nicht entgehen zu lassen – zum Troste gewisser ungeduldiger Leute in Paris …“

„Ach, das Gesindel kann warten!“ sagte der Oberst, „aber die Hunderttausend will ich ma foi verdienen …“

„Und eine anonyme Warnung war Ihnen wegen des Schatzes zugegangen?“

„Eine Andeutung, daß er just in dieser Nacht entführt werden solle …“

„Ah!“ machte der Kammerdiener, seinem Herrn den Frack mit dem Stern der Westfälischen Eichenkrone und dem Kreuz der Ehrenlegion reichend.

„Anfangs,“ fuhr der Oberst fort, „hielt ich die Sache für einen schlechten Spaß, eine Mystifikation, um mich vom Ball fern zu halten, – dann dacht’ ich später, es sei doch leichtsinnig, gar kein Gewicht darauf zu legen, und so ließ ich mich denn hinaus locken … und ma foi, Jean, auch nicht ganz umsonst …“

„Wie, Sie haben doch nicht den Schatz aufgefangen, Herr Oberst?“ rief Jean, seinem Herrn in den Frack helfend, aus.

Der Oberst antwortete nicht. Er reckte die Arme, um den Frack auf die Achseln zu ziehen, dabei aber blickte er, als ob ihn etwas plötzlich stutzig gemacht, starr vor sich hin.

„Wunderlich!“ murmelte er für sich. „Der Lieutenant versicherte mich, die junge Boucheporn habe das Billet geschrieben oder schreiben lassen, – aber wenn sie mit ihm in dieser Nacht durchgehen wollte, so war es doch gegen ihr Interesse, mich in dieser selben Nacht in den Sattel zu bringen! C’est drôle! Vielleicht war die Flucht damals, als sie schrieb, noch nicht beschlossen! So muß es sein!“

Der Oberst legte die letzte Hand an seine Toilette, ließ sich von Jean ein parfümirtes Taschentuch reichen, einen schwarzseidenen Domino an die Schultern befestigen und eilte davon, auf den Maskenball zu gelangen.

Er war an solche Feste zu sehr gewöhnt, um sich lange mit der Bewunderung des glänzenden Schauspiels, das ihn umfing, als er den ersten Saal betreten, aufzuhalten. Er schritt durch das wogende Gedränge dem Saale zu, worin sich die königlichen Herrschaften aufhielten, um sich in der Nähe der Majestät zu befinden, falls diese seine Abwesenheit bemerkt haben sollte und die Gnade haben würde, ihn deshalb zu interpelliren. Aber es schien nicht, daß er durch seine Abwesenheit „geglänzt“ hatte. König Jerôme flatterte in seinem rosafarbenen „Flügelkleide“ viel zu beschäftigt [52] von einer Dame zur andern, hatte bald diese, bald jene reizende Maske am Arm, bald hier bald dort eine pikante Neckerei zu erwidern – er kümmerte sich heute sehr wenig um seine Gensd’armerie-Officiere. Die Königin Katharine saß, von einigen älteren Damen umgeben, in einem blau ausgeschlagenen Boudoir hinter dem Thronsaal, um vom Tanzen auszuruhen.

So hatte der Oberst nichts Besseres zu thun, als die Zeit bis zum Souper, nach welchem sein durch den nächtlichen Ritt gesteigerter Appetit sich sehnte, dadurch auszufüllen, daß er seinerseits begann eine der Masken zu intriguiren. Aber eben begann die Musik zu einem neuen Tanze, dem letzten vor der allgemeinen Demaskirung; die Masken strömten dazu in dem vordern Saal zusammen – Oberst La Croix folgte dahin und sah die Paare antreten.

Dabei fiel sein Blick auf eine reich costumirte, höchst graciöse Griechin, die den kleinen Kopf mit einem Uebermuth umherwarf, daß sie höchst lebhaft an Comtesse Julie Boucheporn erinnerte.

Auch die Gestalt war dieselbe.

„Tudieu!“ murmelte der Oberst, „das ist doch nicht … ah bah, wie wäre das möglich!“ Dabei eilte er in die Nähe der schönen Griechin zu kommen.

Als er sich bis zu dem Platze hinter ihr durchgedrängt hatte, reichte ihr eben ihr Tanzpartner, ein hochgewachsener Bergschotte, die Hand, um sie in die Verschlingungen des beginnenden Tanzes zu führen.

Je angestrengter aber die Blicke des Obersten ihr folgten, desto beunruhigender wurde ihm die ganze Erscheinung der jungen Dame – ihr ganzes Wesen legte eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem der Comtesse Julie Boucheporn an den Tag.

„Zum Teufel,“ sagte er sich, „das muß sie sein und kann es doch nicht sein – oder …“

Sie kehrte aus dem Tanze zu ihrem Platz zurück; dabei blitzte sie aus den Augenlöchern ihrer Maske mit ihren braunen Augensternen den Obersten an und sagte lachend:

„Wenn Sie auch nicht maskirt sind, mein Herr Oberst, treten Sie doch in einer Rolle auf – in der als Ogre! Sie verzehren mich ja mit Ihren Blicken!“

„Comtesse Julie de Boucheporn!“ schrie wie elektrisirt vom Klänge dieser Stimme, welche die schöne Griechin sich nicht die Mühe gegeben hatte zu verstellen, der Oberst auf, „sind Sie’s oder ist’s ein Blendwerk der Hölle? Lassen Sie mich Ihr Gesicht sehen, nehmen Sie die Maske ab, die Maske fort …“

Damit streckte er die Hand aus, wie um die Maske zu erfassen.

„Oberst La Croix,“ sagte zornig der Bergschotte, ihm in den Arm fallend, „Sie vergessen, wo Sie sind …“

„Ich vergesse nichts, nehmen Sie die Maske ab, ich verlange es amtlich, ich fordere es im Dienste des Königs!“ schrie der Oberst ganz außer sich.

„Herr,“ rief der Schotte zwischen ihn und die Griechin tretend, „ich werde nicht dulden, daß …“

„Um Gotteswillen, es wird ja Alles aufmerksam auf uns,“ rief die Griechin dazwischen, „ich will lieber die Maske abnehmen.“

Sie löste die Maske von ihrem Gesichte, und zornig den Obersten anschauend sagte sie: „Nun sehen Sie mich! Was wollen Sie von mir, Oberst La Croix?“

Es war Comtesse Julie de Boucheporn.

„Ich bin betrogen,“ knirschte in höchster Wuth der Oberst mit den Zähnen, „Höll’ und Teufel – betrogen!“

Damit wandte er sich und stürzte davon, durch die Säle, die Treppe hinauf, in seine Wohnung zurück.

Jean war nicht mehr da – aber die Lichter brannten noch. Der Oberst riß sich den Domino ab, nahm seinen Säbel, seinen Mantel, seine Feldmütze und stürzte wieder hinaus.

Wenige Minuten nachher war er unten im Zimmer der Ordonnanzen; die Leute waren durch das Fest wach erhalten; er gab ihnen einige rasche Befehle und dann stürmte er in den Marstall, um sich mit Hülfe der Stallwache selber ein Pferd zu satteln.

(Fortsetzung folgt.)




Skizzen aus dem Land- und Jägerleben.

Wort und Bild von Ludwig Beckmann.
2.0 Das Deputatstück.

Vor längeren Jahren erhielt ich einst ganz unerwartet von einem befreundeten Forstbeamten eine Einladung zum Pürschen seines „diesjährigen Deputatstückes“. Unter dieser etwas zopfigen Bezeichnung verstand man in dortiger Gegend ein Stück Wild, dessen Abschuß für eigene Verwerthung den Grünröcken vom Oberjagdamte alljährlich ein oder mehrere Male gestattet wurde, je nachdem der Bestand der Wildbahn dies erlaubte[WS 1]. Selbstverständlich wurden für diesen Zweck eben keine Capitalhirsche angewiesen und es ging selten über einen Spießer oder ein Geltthier, beim Schwarzwilde über einen Ueberläufer hinaus. Da aber der Abschuß dieser Deputatstücke in der Regel mit irgend einem kleinen Familienfeste in Verbindung gebracht wurde, so amüsirte man sich in befreundeten Kreisen bei solchen Gelegenheiten weit besser, als auf den großen Hofjagden, welche nach der Ansicht mancher Jäger doch immer „Krähenbeine“ haben. Und wie freute ich mich darauf, die altbekannten Reviere mit ihren ernsten, prächtigen Hochwäldern und den lustig grünen Tannendickungen, das stille Försterhaus am Eichenkamp mit seinen lieben Bewohnern nach jahrelanger Abwesenheit einmal wieder zu sehen!

Am festgesetzten Tage schritt ich daher wohlgemuth – mit der Pürschbüchse im Lederfutteral über der Schulter – dem Posthause zu und rumpelte bald als einziger Insasse einer gelblackirten sogenannten „Beichaise“ Thurn und Taxis’schen Angedenkens, zum Städtchen hinaus. Nachmittags zwei Uhr war ich am Ziele, d. h. am Ziele meiner Postfahrt. Hier erwartete mich mein alter Freund, der Revierförster, mit seinem flotten, offenen Jagdwägelchen, und nach einer dreistündigen lustigen Fahrt, zum Theil durch herrlichen Buchenhochwald, erblickten wir am Ausgange einer Schonung junger Edeltannen die Baumkronen des Eichenkampes, unter denen das Forsthaus mit seinen Nebengebäuden und Stallungen, rings von einer kolossalen Bruchsteinmauer umschlossen, lag.

In dem kleinen, von einer niedrigen Taxushecke eingerahmten Blumengärtchen vor dem Wohnhause blühten noch Georginen und Astern in voller Pracht, und die Damen des Hauses, Mutter und zwei Töchter, waren emsig beschäftigt, die letzten Kinder der Flora in mächtige Sträuße zu binden, um sie nicht dem tückischen Nachtfrost zur Beute werden zu lassen, als sie uns bemerkten und uns freudig entgegenkamen, die jungen Mädchen, zwei reizende Erscheinungen.

Gemüthlich saßen wir nach dem Abendessen noch ein paar Stunden beisammen und plauderten bei einem Glase Punsch von vergangenen Zeiten, so daß ich erst spät mein Bett aufsuchte. Mitten in der Nacht aber ward ich durch ein eigenthümlich hohles Sausen erweckt. Es war der Nordwestwind, welcher hoch oben durch die Wipfel der alten Eichen brauste, unter denen das Forsthaus lag. Gegen Morgen legte sich der Sturm, dafür klatschten einzelne schwere Tropfen an die Fensterscheiben und bald brach ein wahrer Landregen herein, der allem Anschein nach ein paar Tage anhalten konnte. An Jagd war also vorläufig nicht zu denken. Nach dem Frühstück bewaffnete ich mich zunächst mit einem rothen Familienregenschirm und ein paar riesigen Holzschuhen, welche ich auf der Hausflur vorfand, und schritt über den in einen See verwandelten Hofplatz, um die verschiedenen Stallungen zu besichtigen und dann meine alten Bekannten aufzusuchen, den Hundezwinger mit seinen fürstlichen Schweißhunden; auch dem Pferdestalle hatte ich bereits meinen Besuch abgestattet und wollte mich eben auch zu den Kuh- und Schweineställen begeben, als Max, der jüngste Sohn des Försters, gelaufen kam und mich fragte, ob ich vielleicht Herrn Müller’s Schuhe und Regenschirm von der Hausflur genommen, Herr Müller wolle seinen Morgenspaziergang machen und Herr Müller suche seine Sachen vergebens im ganzen Hause.

Ich erfuhr alsdann beiläufig, daß besagter Herr Müller als Hauslehrer im Forsthause fungire, und beeilte mich ihm sein Eigenthum wieder einzuhändigen. Leider hatte Herr Müller inzwischen seine Morgenpromenade bereits angetreten. Der Förster zeigte mir ihn vom Fenster aus, wie er, in einen Mackintosh

[53]

Herr Müller und das Deputatstück.

[54] gehüllt, in dem strömenden Regen auf der Chaussee rüstig bergan schritt. Aus einigen hastigen Gesticulationen des Herrn Müller schloß ich, daß derselbe vielleicht ungehalten auf mich sei, allein der Förster meinte lachend, dies Händefechten habe weiter nichts zu bedeuten; er habe das schon oft an Herrn Müller beobachtet.

Der Rest des Vormittags verging uns rasch in Betrachtung der stattlichen Geweihsammlung. Viel Neues war seit meinem letzten Hiersein hinzugekommen und höchst wundersame Geschichten knüpften sich namentlich an die Erwerbung der „monströsen Rehbocksgehörne“.

Beim Mittagstisch hatte ich denn auch das Vergnügen, Herrn Müller vorgestellt zu werden. Es war ein schmächtiger junger Mann, mit blassem Gesicht und glatt am großen Kopf herabgekämmtem flachsgelben Haar. Um Kinn und Oberlippe wucherte ein Wald weißlicher Stoppeln, welche noch unentschieden zu sein schienen, ob sie sich zu Haar oder Federn ausbilden sollten. Dazu trug er eine große, blaue Brille und einen deutschen Rock wie Vater Arndt’s Statue auf dem alten Zoll in Bonn. Uebrigens war Herr Müller sehr schweigsamer Natur und nahm an der ziemlich lebhaften Conversation während der Tafel nur geringen Antheil. Als ich ihn bei einer geeigneten Gelegenheit wegen der heute Morgen verursachten Störung um Entschuldigung bat, lächelte er sehr zerstreut, murmelte einige unverständliche Worte und fuhr mit den gespreizten fünf Fingern der rechten Hand langsam von den Augen herauf über die Stirn und durch das Haar, wobei sein Blick dieser Bewegung folgte und an der Zimmerdecke träumerisch haften blieb.

Sobald das Dessert aufgetragen wurde, erhob sich Herr Müller und verließ mit einer höchst ceremoniellen Verbeugung das Zimmer. Sein ganzes Wesen stand in so auffälligem Contrast mit dem offnen herzlichen Tone, der in diesem Hause herrschte, daß ich nicht unterlassen konnte zu fragen, ob Herr Müller immer so schweigsam und zurückhaltend sei.

„Leider ja,“ versetzte mit einem tiefen Seufzer die gutmüthige Hausfrau, „und wir bieten doch gewiß Alles auf, um ihm den Aufenthalt bei uns so angenehm zu machen, wie das eben in der Waldeinsamkeit möglich ist.“

„Das einzige Wesen, dem er sich angeschlossen hat,“ setzte der Förster hinzu, „ist der Hund, den Sie eben draußen auf der Hausflur bellen hörten. Das Thier ist uns kürzlich zugelaufen, und unser Herr Müller will sich nicht wieder von ihm trennen. Nun, ich hätte ja nichts dagegen, er soll mir nur seinen Fixköter aus der Wildbahn lassen, oder wenigstens mit ihm auf den Wegen bleiben und ihn hübsch an der Leine führen, wie sich’s gehört, sonst muß ich ihn doch nächstens auf’n Kopf schießen.“

„Ach, Papa, thu’ das doch nicht!“ baten die Mädchen, „dann wird der arme Mensch ja ganz melancholisch; er geht so schon immer so trübsinnig umher.“

„Wenn man nur wüßte, was ihm eigentlich fehlt,“ sagte die Mama, „oder was ihm nicht recht ist; aber das ist ja eben das Unglück, daß er sich gegen Niemand ausspricht.“

„Er hat ganz gewiß eine unglückliche Liebe gehabt!“ flüsterten die beiden Mädchen fast einstimmig.

„Mit Euren Sentimentalitäten!“ brummte der Papa; „die Sache liegt ganz anders. Vor vierzehn Tagen war ich ’mal Morgens mit dem alten Kiekebusch oben auf der Platte bei den Hünengräbern wegen der Holzdiebe. Gegen acht Uhr kommt unser Herr Müller die Chaussee herauf und geht an den Tannen vorbei, zwischen die großen Granitblocke, wo wir versteckt lagen. Hier klettert er auf den dicksten Hünenstein, zieht ein langes, blaues Buch aus der Rocktasche und declamirt und gesticulirt in einer Weise, daß ich wirklich besorgt um den jungen Mann ward. Na, stören wollt’ ich ihn damals nicht, habe ihn aber von der Zeit an schärfer beobachtet und weiß, daß er diese Komödie jeden Morgen da oben bei den Steinen aufführt. Am vorigen Sonntag traf ich nun zufällig seinen Bruder, den Apotheker in Ringsdorf, und hielt es für meine Pflicht, ihm darüber Mittheilung zu machen. Der war aber ganz indignirt über meine Auffassung der Sache und fragte mich, ob ich denn noch gar nicht wisse oder bemerkt habe, daß sein Bruder ein ganz ungewöhnlich begabter Mensch sei und gewiß eine ,innere Berechtigung’ zum Dichter habe. Er arbeite seit zwei Jahren an einem antiken Trauerspiel in fünf Acten, es fehle ihm nur noch ein recht packender, tragischer Schluß, dann solle es sofort in Druck erscheinen und werde gewiß ,durchschlagen’.“

„Ein Trauerspiel also?“ seufzte die Mama und fügte scherzend hinzu: „dann haben die Mädchen am Ende doch Recht!“

„Aber er wird doch nicht sein eigenes Herzleiden drucken lassen?!“ meinte Maria, die älteste Tochter.

„Na, ich bitte Euch, Kinder,“ versetzte der Förster, „das Stück spielt vor zweitausend Jahren und ist betitelt: ,Cambyses’. Es kann also von einem Herzleiden nicht die Rede sein.“

In diesem Augenblick hüpfte Max in’s Zimmer und meldete, der Waldschütz Kiekebusch sei vom Reviergange zurückgekehrt und wünsche Rapport abzustatten.

„Soll herein kommen!“

Kiekebusch trat ein und meldete, daß er am Salzberge drei Stück Wild gesehen und gespürt, nämlich ein altes Thier mit seinem Schmalthier, welches wohl dieselben wären, die immer dort ständen; das dritte aber sei jedenfalls das alte Geltthier, das sonst immer oben auf der Platte in den Tannen, dem Steinbruche gegenüber, gestanden habe und welches der Herr Förster in diesen Tagen als Deputatstück abschießen wollte. Wahrscheinlich, setzte er leise flüsternd hinzu, habe es das viele „Predigen“ nicht vertragen können!

Der Förster war bei dieser Mittheilung vor Aerger aufgestanden und ging verdrießlich im Zimmer auf und ab. Kiekebusch ward mit der Weisung entlassen, morgen früh wieder im Försterhause zu erscheinen, das Wetter möge sein, wie es wolle.

Nach einer Pause hub die Mama an: „Na, um wieder auf das Trauerspiel zu kommen, Papa, Du willst uns aber doch nicht aufbinden, daß das ganze Stück von fünf Acten sich blos um den König Cambyses dreht?“

„Ich weiß es wahrhaftig nicht, Kind, ich weiß es nicht,“ versetzte der Förster ungeduldig, „ich weiß nur, daß es Thatsache, constatirtes Factum ist, daß Euer Herr Müller mit seinem Cambyses uns das Stück Wild von der Platte herunterdeclamirt hat! Da oben hatten wir es, so zu sagen, im Sacke – jetzt steht es unten im Salzberge und der Salzberg ist groß, da mag es der Kuckuck suchen bei dem Regen! Wenn Ihr nun zum Sonntag keinen Wildpretsziemer habt, so ist das nicht meine Schuld, dann könnt Ihr ein Paar von Euren magern Gänsen schlachten.“

Am Sonntag war nun aber Anna’s neunzehnter Geburtstag und man erwartete zu diesem Familienfeste eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft. Die Damen erschraken daher nicht wenig ob der Mittheilung des Herrn Papa, sie steckten flüsternd die Köpfe zusammen und hielten einen Rath, dessen Endresultat war: ein Wildpretziemer müsse bis morgen Abend beschafft werden auf gutem oder bösem Wege!

Der Revierförster hatte inzwischen seinen Humor wiedergewonnen und wandte sich lachend zu mir: „Nun, sehen Sie ’mal, Herr B., ein vollständiges Weibercomplot! Da werden wir uns morgen früh doch wohl ’n Bischen zusammennehmen müssen, sonst sind unsere Damen capable, sich wegen der Wildpretlieferung direct an Herrn Müller zu wenden.“

Als wir am nächsten Morgen ausrückten, erwartete uns Kiekebusch schon vor der Hausthür mit dem Schweißhund am Riemen. Das Wetter war hell, aber kalt und stürmisch; wir schritten rüstig mitten auf der Chaussee bergan, während links und rechts kleine Bächlein gelben Lehmwassers in Folge des anhaltenden Regens herabrieselten.

Bei der Tannendickung oben auf der Platte angelangt, spähten wir vergebens am Boden nach einer frischen Fährte, dafür drang der laute Schall einer menschlichen Stimme von den Granitblöcken hinter den Tannen her an unser erstauntes Ohr.

„O du blutiger Heiland,“ sprach der Förster, „da ist der unglückliche Müller schon wieder im Gange! Nun, kommt nur hinunter nach dem Salzberge, hier oben suchen wir doch vergebens!“

Wir gingen nun seitwärts hinter den Tannen vorbei, um Herrn Müller nicht zu stören. Als wir eine Schneiße passirten, erblickte ich ihn von der Hinterseite; er stand auf dem höchsten Steinblocke des Hünengrabes, trug den aufgespannten Schirm zum Schutz gegen den Wind im Nacken, fuchtelte mit einer langen Papierrolle in den Lüften umher und rief eben ein dreifaches Wehe! über „Pelusium und Memphis“ in den Sturmwind hinaus.

Der Alte schüttelte den Kopf und meinte im Hinabsteigen, er könne es dem alten Geltthier gar nicht verdenken, daß es dort [55] ausgewandert sei; jeden Morgen so’n Schauerspiel, das könnte ihn auch aus dem Bette treiben.

In einem alten Wasserlaufe dicht vor dem Schlagholze am Salzberge fanden wir zuerst die frischen Fährten unsers Wildes. Kiekebusch sollte nun hier mit dem Schweißhunde halten, bis wir den jenseitigen Rückwechsel besetzt haben würden, worauf er mit dem Hunde, langsam der Fährte folgend, das Wild aus der Deckung lanciren sollte. Dieses war aber schon rege; wir waren etwa noch sechszig Schritt von unsern Ständen entfernt, als das Wild schon aus dem Schlagholz trat und, mitten auf der breiten Schneiße stehend, rückwärts sicherte nach der Gegend zu, wo Kiekebusch sich postirt hatte. Das Geltthier zeichnete sich durch seinen feisten, glatten Körper und seine helle, fast isabellgelbe Färbung auffällig und vortheilhaft vor seinen beiden Gefährten aus. Indeß schien es fast zu wissen, um was es sich handle, denn es hielt sich fortwährend im Hintergrunde, bald durch das Altthier, bald durch das Schmalthier gedeckt, so daß es trotz der kurzen Distanz höchst schwierig war, einen Schuß anzubringen. Endlich trat es einen Schritt vor, und ich zog vorsichtig das Gewehr an.

„Noch nicht!“ flüsterte mein Freund, „lassen Sie sich nur Zeit; jetzt könnte es bald gehen, schießen Sie mir um Gotteswillen das Schmalthier nicht todt – Pang! – bravo, der sitzt gut!“

Auf den Schuß war die ganze Wildgruppe wie durch einen Zauberschlag verschwunden. Während der Anschuß verbrochen und die Büchse geladen wurde, kam Kiekebusch heran und meldete, das alte Geltthier sei langsam und augenscheinlich schwer krank den Berg hinaus gezogen nach seinem alten Stande in den Tannen. Er war darüber sehr erfreut, denn wenn das Wild im Feuer gestürzt wäre, meinte er, so hätten wir saure Arbeit gehabt, es den schiefen Berg hinauf zu schleppen. Jetzt wäre es aber dicht an der Chaussee und könnte direct auf den Schiebkarren geladen werden, denn er sei überzeugt, daß es binnen zehn Minuten verendet sei. Wir beschlossen, eine halbe Stunde zu warten, ehe wir den Hund zur Fährte legten.

Gleich darauf erscholl aber von der Platte her das heftige Gebell eines kleinen Köters, dann hörten wir, wie er an dem Wilde in den Tannen hin und her und zuletzt in’s Freie hinaus jagte. Wir eilten den Berg hinan und hatten oben einen höchst überraschenden Anblick. Das Wild ging ziemlich flüchtig über die offene Haide, stellte sich aber alle Augenblicke vor dem Hunde und schlug nach diesem mit den Vorderläufen. Hinter dem Hunde drein lief Herr Müller in riesenhaften Sätzen, wahrscheinlich bemühte er sich, auf die nachschleifende Leine des Hundes zu springen, dann wieder schlug er mit seinem rothen Regenschirm nach dem Köter. Unser lautes Rufen verhallte in dem uns entgegenstehenden Winde, die tolle Hetze ging weiter und weiter und zuletzt verschwanden alle Drei in dem jungen Buchenaufschlag, welcher den Rand des Steinbruches umsäumte. In diesem Augenblick hörten wir das helle Knacken und Krachen eines niederbrechenden Stangenzaunes, dann war Alles still.

„Das giebt ’n Unglück,“ meinte Kiekebusch; „geben Se mal Acht, wenn wir ankommen, liegt die ganze Sippschaft unten im Steinbruch!“

Als wir in die Buchenschonung eindrangen, stießen wir zunächst auf das bereits verendete Wild, an welchem der Hund noch herumzausete. – Kiekebusch schoß ihm im Vorbeigehen in den Nacken, daß er kopfüber schlug. Einige Schritte weiter stießen wir auf einen eingetriebenen Filzhut, desgleichen auf einen Holzschuh. Beide Gegenstände wurden als Herrn Müller zugehörig erkannt, ebenso der rothe Familienschirm, welcher in höchst melancholischer Stellung in einem Buchenbusche schwebend angetroffen wurde. – Es handelte sich nun darum, den Eigenthümer ausfindig zu machen. Auf mehrfaches Rufen erfolgte endlich ein schwaches: „Hier!“ und wir athmeten wieder freier.

Dicht vor dem niedergebrochenen Geländer kniete der Gesuchte auf allen Vieren am Boden und tastete suchend mit den Händen unter dem hohen, nassen Haidekraut umher.

Sobald wir ihn erblickten, schrieen wir ihn einstimmig an, ob er Schaden genommen?

„Nein – nur etwas versimpelt – ich suche meine Brille“ – antwortete er trocken, indem er, ohne aufzusehen, noch immer links und rechts am Boden umhertastete.

Ueber das, was mit ihm vorgegangen, wußte Herr Müller nur wenig Auskunft zu geben. Unvorsichtigerweise war er in seinem Bestreben, den widerspenstigen Hund einzufangen, dem bedrängten Wild zu nahe gekommen, so daß diesem kein anderer Ausweg übrig blieb, als in den Steinbruch zu stürzen oder Herrn Müller über den Haufen zu rennen. Es wählte das Letztere, brach aber in Folge dieser letzten Anstrengung zusammen und verendete. Herr Müller war mit dem bloßen Schrecken und einer leichten Schramme über den Rücken davon gekommen.

Trotzdem hätte die Sache um ein Haar noch einen kläglichen Ausgang genommen. Kaum hatte sich Herr Müller nämlich wieder aufgerichtet und den verlorenen Holzschuh wieder angelegt, als er plötzlich kurz Kehrt machte und eiligst über den niedergetretenen Stangenzaun hinaus wollte. Kiekebusch erwischte ihn eben noch bei den Rockschößen und der Förster schrie ihm zu, wo er denn da eigentlich hinaus wolle?

„Wo hinaus?“ fragte Herr Müller verwundert; „ich wollte mein Manuscript holen – es muß bei dem Hünenstein liegen –“

„Da hinaus geht’s aber nicht nach dem Hünenstein,“ war die Antwort, „da geht’s in den Steinbruch hinunter! Verehrtester, kommen Sie mal eben hier durch den Busch – nanu?“ –

Herrn Müller’s Kniee begannen zu schlottern, als er in den Abgrund vor seinen Füßen hinabschaute. Es war todtenstill in dem weiten Raume da unten, nur ein heller, pickender Ton scholl aus der Tiefe leise, leise zu uns heraus, es war das Hämmern eines Arbeiters, welcher an der riesigen, hellen Sandsteinwand wie ein winzig kleines dunkles Pünktchen erschien.

„Nun, sehen Sie mal, Herr Müller,“ fuhr der Förster fort, „Ihr Herr Bruder sagte mir kürzlich, daß Ihnen blos noch ’n recht tragischer Schluß zu Ihrem Schauerspiel fehlte. Diesen Schluß hätten Sie hier sicher gefunden, wenn Kiekebusch Sie nicht noch erwischt hätte.“

„Jawohl, jawohl, Herr Müller,“ bekräftigte Kiekebusch, der diesen noch immer zur Sicherheit beim Rockschoße festhielt, „wenn Sie dahinunter gesegelt wären, dann könnten Sie jetzt Ihre sämmtlichen Knochen in ’n Schnupptuch nach Hause tragen.“

Herr Müller trat jetzt schaudernd zurück und meinte, auf seine Uhr sehend, es sei die höchste Zeit, daß er nach Hause gehe, um den Unterricht zu beginnen. Der Förster aber rieth ihm, sich direct in’s Bett zu begeben und Thee zu trinken, denn er schüttelte sich wie im Fieberfrost. Kiekebusch ward beordert, ihn zu begleiten und dann mir einem Tagelöhner und Schubkarren zurückzukommen, um das Wild heimzuführen.

Wir selbst blieben oben bei diesem zurück, da es aber anhub zu regnen, suchten wir Schutz unter den Hünensteinen und suchten zu gleicher Zeit versprochenermaßen nach dem Manuscript. Es war jedoch nirgends zu entdecken; wenn es wirklich von Herrn Müller auf dem Steine zurückgelassen war, mußte ein Vorübergehender es gefunden und mitgenommen haben.

Nach einer Weile erschienen die Leute und führten das Wild heim. Ich begleitete meinen Freund noch zu einem andern District, wo er den Fortgang verschiedener Waldarbeiten inspiciren wollte. Als wir heimkehrten, baumelte das „Deputatstück“, sauber aufgebrochen, bereits hoch am Haken unter der Rollwinde. Kiekebusch stand daneben und schaute, sein Pfeifchen schmauchend, den Hunden zu, welche gierig das auf dem Hofe liegende Gescheide verzehrten. – Herr Müller lag im Bette und schwitzte Trübsal.

Das Manuscript ward im folgenden Frühjahr völlig verwittert und verwaschen in den Buchen am Steinbruche durch Kiekebusch aufgefunden. Herr Müller hatte den Verlust inzwischen bereits verschmerzt, soll auch gar keine Versuche zur Fortsetzung des „Cambyses“ gemacht haben, überhaupt nach jener Katastrophe ganz vernünftig geworden sein.

Wie ich höre, ist er später nach Amerika gegangen, hat in New-York in Verbindung mit einem Landsmanne eine Guttaperchafabrik angelegt und später in Petroleumspeculationen in kurzer Zeit bedeutendes Vermögen erworben. Im vorigen Jahre kam er zurück, um die immer noch reizende Anna als seine Gattin in die neue Heimath jenseits des Oceans zu führen.

Der große Hünenstein auf der Platte aber heißt bis auf den heutigen Tag in der ganzen Umgegend: Müller-Kanzel.



[56]
Die größte Papiergeldfabrik der Welt.

Es ist eine bekannte Thatsache, daß seit dem zweiten Jahre der südlichen Rebellion das schöne Gold- und Silbergeld der Vereinigten Staaten von Nordamerika gänzlich aus dem täglichen Verkehre, und mit ihm eine andere jener schönen Illusionen des Eingewanderten verschwunden ist, in dessen Augen es ein erheblicher Vorzug seines Adoptivvaterlandes war, daß es, weder „Cassenscheine“ noch die kleine Kupferscheidemünze hatte. Was aus dem Gold- und Silbermünzen der Vereinigten Staaten geworden, ist eine schwer zu beantwortende Frage, die ihre Lösung wohl erst dann findet, wenn der Congreß die Wiederaufnahme. der Baarzahlungen beschließen wird, was schwerlich vor dem 1. Januar oder 4. Juli 1869 geschehen dürfte, nicht etwa weil man die Vereinigten Staaten nicht genügend erstarkt dazu hielte, sondern weil man auch die Interessen der mit dem jetzigen Zustande eng verbundenen Capitalien zu berücksichtigen hat und einen allmählichen Uebergang anzubahnen wünscht.

Die Summe des in Circulation befindlichen Papiergeldes, der sogenannten Greenbacks (als Gesammtheit werden sie auch legal tenders, gesetzliches Zahlmittel, oder Currency, zur Unterscheidung von Gold, genannt), beträgt etwa dreihundert Millionen Dollars, ist jedoch seit Anfang 1867 durch den Schatzsecretär, auf Grund einer Ermächtigung des Congresses, monatlich um vier Millionen Dollars reducirt worden. Kaum an irgend eine Folge des Kriegszustandes konnte das Volk sich so schwer gewöhnen wie an das Papiergeld, und jetzt hat man sich so sehr damit ausgesöhnt, ihm so viele gute Seiten abgewonnen, daß die Rückkehr zu Baarzahlung nicht allein unter den Speculanten von Wallstreet in New-York, der bekannten Börsenmännerstraße, sondern auch im Volke Gegner findet.

Unserm großen Staats- und Finanzmann Salomon Chase lag mit der unendlichen Last der Beschaffung der Geldmittel zu den beispiellosen Ausgaben auch die Aufgabe ob, das Papiergeld herzustellen, und es ist ihm und seinen Gehülfen gelungen, nicht nur das am schwierigsten nachzuahmende Papiergeld vom Tausend-Dollarscheinen bis zu dem von fünf Cent zu beschaffen, sondern auch die großartigste und wunderbarste Papiergeldfabrik zu errichten, die je existirte.

Bei Papier und Druck ging man von der gewiß richtigen Ansicht aus, daß ersteres so dauerhaft wie möglich sein solle, ohne jedoch der durch den schnellen Umschlag bedingten Biegsamkeit Eintrag zu thun, und daß letzterer einmal Feinheit und größte Complication verbinden und weiter jede Note mehrere schwierige Druckprocesse durchgehen müsse. Zeit und Geschicklichkeit mochten die ersten beiden Erfordernisse auch im verschwiegen abgeschlossenen Zimmer des Künstlers liefern, aber diese Druckprocesse erheischten theure Maschinen, vielen Raum und daher eine gefährliche Oeffentlichkeit. Der Feind, vor dem man sich am ängstlichsten zu hüten hatte, war die Photographie, da sie jede Linie mit der absolutesten Genauigkeit wiedergiebt. Dr. Gwyne, ein alter geistreicher Erfinder, entdeckte indeß gleich Anfangs ein Papier, das nachzuahmen selbst der Photographie unmöglich war. Kein Mensch hat je ausgespürt, wie er das Wasserzeichen von matten, sich ausspreizenden Linien, unter dem Namen „Spinnenbeine“ bekannt, herstellte. Keine chemische Substanz vertilgte sie, ohne zugleich das Papier zu zerstören. Selbst gegen ein starkes Licht gehalten, waren nur mit Mühe die matt-gelben Linien zu entdecken, während auf der photographirten Nachahmung ein ganzes Netz von groben, verrätherischen und ganz schwarzen Spinnenbeinen dem· Auge bestimmt entgegentrat. Ueberdies konnte man das Papier waschen und reinigen, selbst mit Seife, ohne Nachtheil; die Substanz blieb fest, der Druck klar, der Golddruck unverlöscht. Dieses wunderbare Papier wurde während sechs Monaten benutzt. Schatzsecretär Mac Culloch schaffte es, wie es scheint, aus sehr schwachen Gründen ab.

Vielleicht kann ich mir hier ein kleines Verdienst um bedrängte europäische Regierungen erwerben, wenn ich ihnen mittheile, daß jüngst der Regierung der Vorschlag gemacht wurde, die Scheine auf eine besondere Gattung Leinwand zu drucken, mit einem neuen, unvertilgbaren Zeichen, ähnlich dem Wasserzeichen. Die dazu nöthige Jaquardmaschine kostet zwanzigtausend Dollars.

Für die Mehrzahl der Leser werden diese Mittheilungen über das jetzt in den Vereinigten Staaten gangbare Papiergeld genügen. Mögen sie nun mit mir die Bureaux betreten, in denen dieses Tauschmittel, das vom atlantischen bis zum stillen Oceane und von den britischen Besitzungen in Amerika bis zum Rio Grande in Jedermanns Händen ist, geschaffen wird. Es befinden sich dieselben in der Westseite des Schatzamtgebäudes, das unter den großartigen, meistens von weißem Marmor erbauten öffentlichen Gebäuden der Bundeshauptstadt Washington an Ausdehnung nur dem Capitol und in edlem Stile und Verhältnissen blos dem Patentamte nachsteht. Das Material ist weißgrauer Granit und die ungeheuren Säulen sind alle aus einem Stücke.

Die verschiedenen Maschinerien werden von dreizehn, im Kellergeschoß aufgestellten Dampfmaschinen, mit einer Gesammtpferdekraft von dreihundert Pferden getrieben. Einige sind wahre Wunder, die durchaus ohne Geräusch oder Reibung, gleichsam auf Strümpfen gehen, aber mit dem Arme eines Riesen eingreifen. Neben dem Dampfmaschinen liegen in dem Kellerraume die Schmiede, wohin Roheisen und Stahl zum Verarbeiten gebracht werden, und die große Maschinenwerkstätte, wo jeder Apparat, vom größten und schwersten bis zum kleinsten und complicirtesten, reparirt und gestaltet wird. Auf sie folgt die Farbenfabrik. In ihr wird wöchentlich eine Tonne Farbe von zwölf verschiedenen Farben und Schattirungen zubereitet. Geschäftig summende kleine Dampfmühlen mahlen die Bestandtheile; die mit dem Mischen, Messen und Abwägen beschäftigten Arbeiter gleichen wandelnden Regenbogen; ihre Kleider, Angesichte und kräftigen Arme schimmern schwarz und blau, grün und röthlich. Dann kommt die Papiermühle. Das Rohmaterial erhält sie aus den Abschnitten des Binde- und Umschlagraumes und anderen Abfällen des Schatzamtes. Der Vorrath ist stets größer als der Bedarf. Hohe Gewölbe sind vollgestopft mit beschmutzten Bogen und Streifen, die ihrer Verarbeitung entgegensehen. Ganze Haufen von unbenutzten Formularbüchern für das innere Steuersystem, wegen kleiner Fehler verworfen, erwarten ihre Auferstehung zum vielbewegten Leben eines Greenback. Alle abgenutzten, beschmutzten, theilweise oder ganz zerstörten Greenbacks werden ersetzt. Nach den bisherigen Erfahrungen wird angenommen, daß zehn Procent der ersten Ausgabe nie zurückkehren werden, ein Gewinn für die Regierung von dreißig Millionen Dollars. In dem Maschinenraume fällt dem Besucher zunächst ein langsam sich umdrehender kolossaler Cylinder auf, von dem Durchmesser eines Oxhoft und vierfach von dessen Länge. Er wird mit drei Schlössern verschlossen, deren Schlüssel sich im Verwahr von drei vom Schatzsecretär dazu bestellten Vertrauensmännern befinden.

Wenn die abgenutzten und alten Scheine zerschnitten und durchlöchert worden, um sie unbrauchbar zu machen, werden sie in Gegenwart der drei Schlüsselbewahrer in den Cylinder geschüttet und von diesen die Schlösser verschlossen. Vierundzwanzig Stunden dauert das Umschütteln in Wasser und Chemikalien.Nach Ablauf dieser Zeit kommen die Bewahrer mit ihren Schlüsseln zurück, Jeder ein Beobachter des Andern und Alle zusammen des Papiermachers, und halten eine genaue Schau, ob nicht Scheine unverletzt geblieben, so daß sie aufgeflickt, wieder zusammengesetzt und als Geld in Umlauf gesetzt werden könnten. Regelmäßig sind sie jedoch sämmtlich vollständig zersetzt und erheischen keinen weiteren Verschluß. Diese Masse wird nun von einer Dampfpumpe in ungeheure Behälter in einem darüber gelegenen Raume gepumpt, worin die Farbestoffe so rein ausgewaschen werden, daß die Masse geronnener Milch (Quark) vollkommen ähnlich sieht, worauf diejenigen Farbestoffe beigemischt werden, welche für das neue Papier erforderlich sind. Die breiartige Masse wird hierauf durch ein außerordentlich feines Sieb hindurchgezwängt und demnächst auf einem anderen Siebe von Stahldraht dünn und gleichmäßig ausgebreitet. Obwohl sie nun das Ansehen von Papier gewinnt, so besitzt sie doch noch zu wenig Stärke, um selbst das eigene Gewicht zu tragen. In diesem Zustande wird der Masse vermittels eines Drahtrahmens, der auf dieselbe von oben herabdrückt und sie an den gedrückten Stellen verdünnt, das Wasserzeichen gegeben. Es besteht aus einem T in einem kleinen Viereck, das in dem fertigen Papiere leicht sichtbar ist, wenn es gegen Licht gehalten wird.

Der endlose Breibogen auf dem endlosen Siebe bewegt sich fort zwischen erhitzten Rollen, die das Wasser theils ausquetschen und theils verdampfen, während die Masse immer fester und fester wird, bis sie, am Ende des langen Raumes, als eine endlose Rolle fertigen und sechs Fuß breiten Papieres herauskommt, [57] das von durch Maschinen bewegten Messern in Bogen zerschnitten wird, die sich bequem aufrollen lassen. Diese Papiermühle ist ein geräuschvolles Ungeheuer, weshalb sie nur bei Nacht arbeitet, indem sie sonst die Ruhe des ganzen Gebäudes und der darin arbeitenden über eintausend achthundert Beamten und über fünfhundert Beamtinnen allzusehr stören würde.

Unmittelbar neben der Papierfabrik sehen wir eine der wunderbarsten Maschinen dieses Papiergeldpalastes, – die zum Anfertigen von Briefumschlägen. Ein stählernes Messer, ähnlich einer umgekehrten Zinnschüssel mit scharfem Rande, wird auf einen Haufen Papier gelegt, das stark gepreßt ist. Mit einem Drucke des Hebels schneidet das Messer fünfhundert Umschläge aus. Diese werden zu je einhundert noch offen so auf Bretter gelegt, daß der untere über den oberen einen Achtelzoll hervorragt. Ein Mädchen streicht mit einem Pinsel den Gummi auf, den der Briefschreiber später anfeuchtet, um den Umschlag zu schließen. Diese Bretter werden der Luft zum Trocknen ausgesetzt, und sobald dies der Fall, gehen die Umschläge, ungefaltet, in dicken Bündeln zu einer kleinen, ungeduldigen und wie mit Magie arbeitenden, höchst gefräßigen Maschine. Diese erfaßt sie mit gierigen Zähnen, streicht sofort Gummi auf jedes Ende und den unteren Lappen, faltet die vier Lappen scharf ein und drückt die drei unteren fest auf, den oberen zur Aufnahme des Briefes offen lassend, und basta – da ist der Umschlag fertig! Dieser kluge, wunderbare Automat, nicht größer als eine gewöhnliche Nähmaschine, faltet, beschmiert, siegelt und stößt zweitausend Umschläge in der Stunde aus. Sie hat etwas Bezauberndes, und nur mit Zögern trennt sich der Besucher von dem kleinen Wunder, um sich nach dem Zimmer der Stecher zu begeben.

Oestliche Façade des Schatzamtes in Washington.

Hier schauen ein halbes Dutzend Arbeiter, mit Schirmen über den Augen, mit gespanntester Aufmerksamkeit durch Vergrößerungsgläser auf kleine Platten von erweichtem Stahl, die wie Spiegel blenden. Sie ziehen mit dem Grabstichel Linien so klein und fein, daß das bloße Auge sie kaum wahrnehmen kann. Wir lehnen uns über des Einen Schulter und nehmen wahr, daß er von einem Papier eine Skizze in zwei Gruppen copirt, die eine das Abschneiden des Weizens mit der veralteten Sichel, die andere dessen Abmähen mit der modernen Erntemaschine darstellend. Es ist ein kleines Ding, woran er arbeitet, etwas größer als ein Champagnerthaler, allein wahrscheinlich arbeitet er ein ganzes Jahr daran, ehe er es vollendet. Jeder Arbeiter fertigt blos einen kleinen Theil einer Note an; er muß auf’s Genaueste der ihm vorgelegten Skizze folgen, und dennoch – wie wunderbar sich doch die Individualität geltend macht! – erkennt ein Sachverständiger selbst in diesen unendlich kleinen Linien ebenso sicher ihren Urheber, wie wir eine Unterschrift. Die Amerikaner behaupten, daß, wenn auch andere Nationen sie in Stahlstich und Holzschnitt für Bücher übertreffen, sie dagegen in derartiger Arbeit jenen weit voraus sind, wobei freilich erwähnt werden muß, daß die besten und meisten Arbeiter Fremde, namentlich Deutsche, sind. Amerikanische Banknoten sollen den feinsten Stahldruck von allen aufweisen. Ein guter Arbeiter erhält von der Regierung dreitausend Dollars das Jahr, in Privatdiensten manchmal bis zu zehntausend Dollars.

Die feinen, verschlungenen Ornamente auf dem Rücken und um die Zahl der Staatsschuldscheine (wie fein verschlungen sie sind, ist nur mit dem Vergrößerungsglase zu entdecken) werden jedoch mechanisch und zwar mit einer von einem Yankee, Asa Spencer, vor etwa fünfzig Jahren erfundenen Maschine gravirt. Das System derselben ist alt und einfach, der Apparat selbst aber höchst complicirt. Die Stahlplatte wird auf einer Unterlage sehr stark befestigt und dann bewegt sich der Grabstichel, von kräftigen Stahlmuskeln erfaßt und durch die Maschine getrieben, über dieselbe, leichte Furchen überallhin zurücklassend. Keine Menschenhand ist im Stande, irgend einen Zug, ein Netz oder eine regelmäßige und schwierige Devise mit solch’ ausgezeichneter Feinheit, Genauigkeit und mathematischer Präcision zu graviren. Sie wird die „geometrische Drechselscheibe“ genannt und kostet von dreitausend bis achttausend Dollars, was freilich manchem Fälscher ein zu hoher Preis sein dürfte. Früher wurden zu derartigen Zwecken Kupferplatten gebraucht, weil es leichter und billiger war, sie zu graviren; von ihnen konnten aber nur acht- bis zehntausend Abzüge gemacht werden, während eine Stahlplatte deren dreißigtausend liefert, ehe sie abnutzte.

Nach einem neuen in dem Schatzamte adoptirten Verfahren ist die Zahl der Abzüge endlos. Es wird nämlich die so sorgfältig gravirte Stahlplatte nie gebraucht, um davon abzuziehen. Sie wird die „Grundlage“ genannt, und wenn der letzte Strich des Stichels an ihr geschehen, fünf bis sechs Stunden der stärksten Hitze ausgesetzt, bis sie die Härte eines Diamants gewonnen hat, worauf sie auf das Lager einer riesigen Presse aufgelegt und einem

Südliche Hauptfaçade des Schatzamtes in Washington.

Drucke von dreitausend Pfund ausgesetzt wird, während ein kleiner Cylinder von weichem Stahl auf ihr hin- und herrollt. Sobald dieser die ersten schwachen Eindrücke zeigt, nimmt ein Arbeiter ihn heraus, um zu prüfen, wo ein schwächerer und wo ein stärkerer Druck erforderlich ist, und danach den convergirenden Druck zu reguliren. Beim Zurückbringen des Cylinders würde die Abweichung um eines Haares Breite Stempel und Platte verwischen und verderben, aber die genau gestellte Maschine macht unter seinem geübten Auge keinen Fehler. In einer bis zwei Stunden prägt der Cylinder oder Stempel einen vollkommenen Abdruck der Note, in Relief, bis zur feinsten Linie und bis zum delicatesten Ton. Die ursprüngliche Platte (die „Grundlage“) wird nun in einer eisernen Kiste verwahrt, bis sie wieder nöthig ist, Der Cylinder, im Feuer gehärtet, wird ein vollkommener Stempel, der so lange über eine große, glatte Platte von erweichtem Stahl gerollt wird, bis dieselbe vier Abdrücke der Note erhalten hat. Dann wird auch der Cylinder für gleichen Gebrauch sorgfältig eingeschlossen, während die neue Platte nun fertig ist, um vier Noten zu gleicher Zeit abzudrucken. Platten für Papierscheidemünze, Coupons und dergleichen ertragen von je zwölf bis zu vierzig Abdrücken. Diesen sinnreichen Uebertragungsproceß empfahl im Anfange dieses Jahrhunderts in Amerika zuerst ein anderer Yankee, Jakob Perkins aus Massachusetts.

Verfügen wir uns nunmehr nach einem der Druckerräume. Beim Thüröffnen trifft unser Ohr das Geklapper von vierundvierzig Pressen, jede von drei Personen bedient, nämlich von einem Manne der die glänzende große Platte mit Schwärze bestreicht und, wenn die Zwischenräume angefüllt sind, den übrigen Theil [58] der Oberfläche rein und trocken reibt; einem zweiten, welcher die Platte auf das Untergestell auflegt, sie unter den Deckel der Presse schiebt, um dessen mächtigen Druck zu empfangen, und die Platte dann dem Ersten wieder aushändigt, und einem Mädchen, das den reinen Bogen hinlegt und den bedruckten wegnimmt und zwischen je zwei ein Blatt braunes Papier ausbreitet, um Beschmutzung zu verhüten. Jede Presse macht ungefähr einhundert und fünfzig Bogen in der Stunde, kann jedoch im Nothfalle bedeutend Mehr liefern. Auf einer weht die amerikanische Flagge zur Erinnerung daran, daß sie einmal in sieben und einer halben Stunde dreitausend Abdrücke lieferte. Die Platten sind künstlich geheizt, weshalb sie der Drucker hastig behandelt, indem sie auf den Fingern des Unerfahrenen Blasen brennen würden. Im Sommer ist der Raum wie das Innere eines Ofens; der Schweiß strömt an den Arbeitern herab, und die· großen Palmfächer der Mädchen sind in beständiger Bewegung. Diese Arbeit ist außerordentlich schwer und anstrengend. Früher wurde auf angefeuchtete Bogen gedruckt, Mr. Clark, der Chef des Druckbureaus, hat jedoch, gegen starke Opposition, das trockene Drucken durchgesetzt. Es gewährt mehr Sicherheit gegen Moder, weil trockene Bogen in abgezählten Paketen von je tausend sich leicht verwahren, während feuchte in großen, ungleichen Haufen gehalten und häufig von einem Haufen auf den andern umgelegt werden müssen. Auch hat sich erwiesen, daß Trockendruck fünfundzwanzig Procent billiger und weniger anstrengend als die frühere Weise ist, welche bei den Druckern häufig Brüche erzeugte.

Beim Druck von Schrift, Stereotypplatten oder Holzschnitten erheben sich die Buchstaben und Linien so bedeutend über die Oberfläche, daß ein leichter Druck genügt, um ihre geschwärzte Seite leserlich auf dem Papier abzudrucken. Allein bei Stahlstichen sind die Linien in die Platte vertieft eingeschnitten, dann mit Farbe gefüllt, und es ist ein ungeheurer Druck erforderlich, um das Papier in diese feinen Linien hineinzustrecken und zu zwängen. Jede Presse hier ist ein Ungeheuer an Kraft. Die zärtliche Umarmung eines Bären ist im Vergleich nicht mehr als die Berührung einer Fliege. Man lege eine geschwärzte Platte und einen Papierbogen in ihren Rachen, drehe eine kleine Feder, und das stählerne Gebiß kommt herab mit einem Gewichte von achtzehntausend Centner. Diese Kraft wird von dem Potomacflusse heraufgepumpt und der Mechanismus beruht auf dem einfachen Satze, daß, wenn man den Druck von zwanzig Centnern (einer Tonne) auf eine kleine Wassersäule von einem Zoll Quadrat wirken läßt und dann diese Wassersäule durch eine Röhre mit einem Teiche (hier der Potomac) von einer achthundert Mal größeren Oberfläche verbindet, man die zwanzig Centner jedem der achthundert Quadratzolle mittheilt und dann das ganze Gewicht auf einen Punkt nicht größer als eine Fingerspitze concentriren kann.

Wir kommen in unserem Umgange nun zum Bronzirraume, den wir in der Reihenfolge der Processe, denen das Papiergeld von der Papiermühle bis zum Verpacken unterworfen wird, eigentlich hätten früher beschreiben sollen, weil das fertige Papier hier zuerst behandelt wird. Das reine Papier geht nämlich in diesem Raume durch eine Hoe’sche Cylinderpresse, worin es mit Druckschwärze die Figuren, Buchstaben und Ziffern erhält, welche auf der Vorder- wie auf der Rückseite der fertigen Note später glänzen sollen. Es passirt dann durch eine zweite Dampfpresse, in der gelbes glänzendes Pulver mittels Bürsten auf die Stellen gestrichen wird, wo die Bronze erscheinen soll. Dies Pulver klebt auf der nassen Druckerschwärze fest, worauf in derselben Maschine andere Bürsten auch die geringsten Partikelchen von Metallstaub von den übrigen Theilen des Papieres sorgfältig wegfegen. Ein eiserner Rahmen stößt dann die Bogen aus und häuft sie auf. Die Bronze wird aus Kupfer und Zink dargestellt. Sie trocknet von selbst und kann nicht vermischt werden, ohne die Substanz des Papieres zu zerstören. Die diese Pressen bedienenden Mädchen tragen Hauben von weißem Papier, um ihr Haar gegen die Bronzetheilchen zu schützen, die herumfliegen wie Mehl in einer Mahlmühle.

Weiter kommt das Numerirzimmer. Ein Dutzend Mädchen sitzen bei winzigen, durch Tretschemel in Bewegung gesetzten Maschinen. Eine ergreift einen Staatsschuldschein, man sieht ihn sich in ihrer gelenkigen Hand unter dem Stempel hierhin, dahin bewegen, – klick – klick – klick –, und schneller als das Picken einer Uhr ist die Nummer 264,720, eine Zahl nach der andern, in Scharlachfarbe auf den Schein selbst und seine vierzig Coupons aufgedruckt. Sie berührt eine Feder und die letzten Ziffer 0 wird durch 1 ersetzt, und wieder verrichten die fleißigen Finger ihr Werk wie zuvor. Das Mädchen an der nächsten Maschinchen hat einen Bogen von Zehn-Dollars-Noten der ersten Nationalbank in Chicago. In der unteren linken Ecke der Note steht die Banknummer 40, sie druckt an die obere rechte Ecke die Schatzamtsnummer 270,832. So klicken die thätigen Arbeiterinnen fort und numeriren Millionen von Dollar jeden Tag.

Der interessanteste von allen Räumen aber ist ohne Frage der Abschneideraum; hier befinden sich die Maschinen zum Durch- und Zurechtschneiden. Ein Bogen mit kleiner Scheidemünze enthält von zwanzig bis fünfzig Scheinen. Die Schneidemaschinen schneiden die Bogen durch, beschneiden die einzelnen Scheine, zählen dieselben und legen sie auf regelmäßige Haufen von Fünfdollars, Zehndollars oder Zwanzigdollars, wie man will. Wenn jeder der ersten sechs Haufen Zehndollars (oder Zwanzigdollars oder Fünfzigdollars, wie gewünscht wird) enthält, dann setzt die Maschine, wenn auf diese Nummer gestellt, kleine Schelle in Bewegung, um diese Thatsache anzukündigen, bewegt einen Zeiger an einer uhrartig eingerichteten Platte, um die Zahl festzustellen, und setzt dann unmittelbar ihre alte Arbeit des Aufhäufens etc. wieder fort. Es ist eine wunderbar geheimnißvolle, fast möchte ich sagen beängstigende Maschine. Sie schneidet in einer Stunde tausend Bogen durch, beschneidet die Masse kleiner Scheinchen und häuft sie auf. Von zwei Mädchen gefüttert, verrichtet sie die Arbeit von vierzig. Sie vereinigt mit maschinenmäßiger Genauigkeit fast menschliche Intelligenz, und sie macht nie einen Fehler. Die Haufen kleiner Noten, wie sie die Maschine aufgehäuft, und ohne einer Wiederzählung unterworfen zu werden, gehen, mit einem Band gebunden und in Pappschachteln von je eintausend bis dreitausend Dollars verpackt, an das Schatzamt, wo sie zum Verkehr ausgegeben werden.

Ueberall auf unserem Umgange sahen wir Mädchen, welche mit der Hand undurchschnittene Bogen von Noten, Staatsschuldscheinen und Postmarken gewöhnlich in Pakete von tausend zählten. Durch lange Erfahrung erlangen sie eine wunderbare Gewandtheit. Man bemerkt blos ein verwirrtes Herumfliegen von Blättern, während sie tausend Bogen in vier Minuten zählen.

Bei den abgeschnittenen Noten verrichten diese Mädchen mit großer Schnelle eine seltsame doppelte geistige Operation. Jeder Bogen mit Greenbacks enthält nämlich ursprünglich vier Noten. Jene Maschine läßt diese, nachdem sie den Bogen zerschnitten, in vier Kasten fallen. Da die Greenbacks mit aufeinanderfolgenden Zahlen numerirt sind, so muß nothwendig ihre Ordnung in jedem dieser Kasten vier überspringen. Wäre z. B. die oberste Note mit 102,640 numerirt, so muß die zweite die Zahl 102,644 tragen, und so weiter bis zum Ende. Das Mädchen nimmt eine Handvoll dieser Noten heraus. In einer Gedankenrichtung muß sie dieselben in Pakete von je hundert abzählen und sich zugleich überzeugen, daß die Schatzamtsnummern in gehöriger Reihenfolge kommen. Wollte sie bei jeder Note die lange Zahl 102,640 etc. wiederholen, so würde dies entsetzlich aushalten. So spricht sie, während ihre Finger über jede Note hinlaufen, zugleich mit dem Abzählen blos die Endziffern der Schatzamtsnummern aus, z. B. 1–0, 2–4, 3–8, 4–2, 5–6, 6–0 etc. bis zum vollen Hundert. Das Auge kann kaum ihrer Blitzesschnelle folgen, die nur selten für eine Secunde unterbrochen wird, um eine an unrechter Stelle liegende Note zurecht zu legen. Sie wird an diese eigenthümliche doppelte Zählung so gewöhnt, daß sie nicht mehr im Stande ist, ein einfaches Hundert zu zählen, ohne in ihrem Geiste die beilaufende Nummer zugleich mitzuschleppen.

Die fertigen Staatsschuldscheine gehen an den Registrator; die Nationalbanknoten an den Controleur; Greenbacks und Scheidemünzscheine an das Schatzamt. Achtundzwanzig Millionen Dollars solcher Scheidemünzscheine sind im Umlauf und sie nutzen sich so schnell ab, daß jede Woche viermalhunderttausend neue Dollars ausgegeben werden. Die abgenutzten werden vernichtet.

Dem Druck- und Gravirbureau gehen täglich von zwei bis sechszig Millionen Dollars von öffentlichen Werthpapieren durch die Hand. Es hat im Ganzen für über siebentausend Millionen solcher Werthpapiere fabricirt, und doch – mit Ausnahme eines Falles von elfhundert Dollars zu einer Zeit, als die Organisation des Bureaus noch unvollständig war – nie auch nur Einen Dollar verloren. Gewiß ein wunderbares Finanzkunststück!

[59] Aehnlich jenem im Eingange erwähnten Cylinder, der die alten Noten empfängt, um daraus neues Papier zu machen, haben die eisernen Kisten (Safes), worin Stempel und „Grundlagen“ verwahrt werden, und die andere eiserne Kiste von der Größe eines anständigen Empfangszimmers, welche die fertigen Noten und Staatsschuldscheine enthält, je drei Schlösser, wovon der Schlüssel eines jeden in den Händen eines andern Bewahrers ruht, so daß sie nur in Gegenwart dieser drei Personen eröffnet werden können. Ein Stempel oder eine „Grundlage“ in eines Arbeiters Hand entschlüpft nicht für einen Augenblick dem wachsamen Auge des für ihn verantwortlichen Bewahrers, weil sonst ein Abdruck genommen und so eine Fälschung begangen werden könnte.

Ebenso wunderbar wie vollkommen ist das System von Control- und Sicherheitsmaßregeln, vermittels deren diese ungeheuern, durch Hunderte von Händen laufenden Beträge gegen Nachlässigkeit und Unredlichkeit geschützt werden, und sie beruhen auf den nachstehenden einfachen Grundsätzen:

1. Jedes Papier-Paket oder jeder Bogen, bestimmt Geld daraus zu machen, wird von dem Augenblicke ab, wo er rein in das Bureau kommt, als Geld behandelt. Nie wird ein Bogen oder eine Note, die mangelhaft oder im Laufe der vielfachen Operationen beschmutzt ist, weggeworfen. Auch das kleinste Stückchen Papier, wenn einmal empfangen, muß in irgend einer Weise dem höheren Beamten im Schatzamte überliefert werden.

2. Jedes Paket, das von einer Hand zur andern oder von einem Bureau zum anderen übergeht, wird gezählt, quittirt und das Resultat in ein Buch mit Lederband eingetragen. Ueberdies setzt die Zählerin die Anfangsbuchstaben ihres Namens auf das Band des Pakets. Sollte daher ein Paket oder Bogen verloren gehen, so kann er leicht bis zu der Hand verfolgt werden, die ihn zuletzt empfing und ihn versäumte abzuliefern. Dreiunddreißig Mal wird jedes Paket auf seiner Wanderung durch die verschiedenen Stadien seines Vervollkommnungsprocesses gezählt. Selbst dem Schatzsecretär würde ohne schriftlichen Befehl und Quittung nicht ein Dollar verabfolgt.

3. Irgend ein Irrthum oder Widerspruch wird im selben Augenblicke verfolgt und verbessert oder beseitigt, in welchem er entdeckt wird. Die Bücher werden jeden Abend verglichen und abgeschlossen, und kein Arbeiter oder Aufseher darf weggehen, bis alle Rechnungsabschlüsse als übereinstimmend berichtet sind.

Um die Zuverlässigkeit des Systems zu prüfen, ordnete an einem Tage des verflossenen Januar der Schatzsecretär einen finanziellen Generalmarsch an, d. h. er ließ plötzlich, während Alles in voller Arbeit und ohne daß ein Mensch davon etwas wußte, alle Arbeit einstellen. Die Abrechnungen wurden genommen, wie sie gerade lagen, und eine allgemeine Revision aller Bureaux abgehalten. Sie besaßen an dem Tage über siebenhundert Millionen Dollars, und doch wurde nicht nur die Gesammtsumme richtig befunden, sondern der Betrag in jedem einzelnen der sechszig Räume stimmte mit den Büchern bis zum letzten Cent.

Die nachstehenden Fälle „verschwundener“ Werthpapiere dürften von Interesse sein, nicht nur weil sie die Genauigkeit der Buchführung dieses großartigen Instituts beweisen, sondern auch weil sie dem deutschen Leser eine Idee des in den Vereinigten Staaten in solchen Fällen beobachteten Verfahrens geben.

Einmal verschwanden Dollars von Zinses-Zinsen-Noten des Schatzamtes in der Versiegelungsabtheilung. Da die emsigsten Nachforschungen vergeblich waren, so zahlten die in der Abtheilung Beschäftigten den Betrag, und man nahm an, daß die Noten von der Maschinerie erfaßt und in Stücke zerschnitten worden. Allein es wurde kein neuer Bogen mit dieser Nummer mehr erlassen, so daß, wenn ein Diebstahl stattgefunden, er einst herauskommen muß, wenn diese Noten zur Zahlung eingesandt werden.

Zweihundert Bogen von Fünfundzwanzig-Cent-Noten im Gesammtwerthe von elfhundert Dollars konnten nicht gefunden werden. Durch die Nachlässigkeit eines Aufsehers, welcher den Verlust nicht augenblicklich berichtete, wurde es unmöglich nachzuspüren. Allein nach einigen Wochen stellte sich heraus, daß eines der Mädchen verdächtig große Summen ausgab, nicht für sich, sondern mädchenhaft zur Bequemlichkeit ihres Vaters, dessen Aufenthalt in einem der theuersten Gasthöfe sie bezahlte. Des Diebstahls beschuldigt, bekannte sie sofort. Sie hatte die Noten unter ihren Unterkleidern versteckt herausgetragen. Hätte der Aufseher seine Schuldigkeit gethan und den Verlust gleich bekannt gemacht, so hätte sie nicht mit denselben wegkommen können. Die Mädchen der Abtheilung würden ein Comité erwählt haben, um die Kleider Aller genau zu durchsuchen. Dieser Betrag wurde nie ersetzt und ist in der That der einzige Verlust, den das Schatzamt erlitten.

Der bedeutendste Diebstahl, der bisher im Schatzamte vorgekommen, war der von „Sicherheiten“ (securities), welche das Fabrikations-Bureau bereits an den Registrator abgeliefert und dafür dessen Quittung erhalten hatte. Ein Beamter in dem Anleihe-Bureau beseitigte hunderttausend Dollars in sechsprocentigen Coupons von Staatsschuldscheinen. Wochenlang blieb die Entwendung unbekannt; der Dieb legte mittlerweile unter dem Vorwande, daß sein Großvater gestorben sei und ihm ein großes Vermögen hinterlassen habe, seine Stelle nieder, zog nach New-York, miethete ein prachtvolles Gebäude und lebte in Saus und Braus. Er machte keinen Versuch, die Schuldscheine zu veräußern, sondern präsentirte nur alle halbe Jahre die fälligen Coupons und strich seine dreitausend Gold-Dollars ein. Allein da jeder Coupon dieselbe Nummer trägt wie der ihm entsprechende Staatsschuldschein, und da eine Liste der vermißten Schuldscheine an alle Agenten des Schatzamtes mitgetheilt war, so fügte er mit einem Stempel mit rother Tinte eine Ziffer zu der Nummer jedes Coupons, indem er zum Beispiel 46,918 in 469,181 u. s. w. verwandelte. Sein extravagantes Leben erweckte aber Verdacht. Großvater und Erbschaft erwiesen sich als ein Märchen; er wurde verhaftet, gestand und erklärte, daß er die Schuldscheine verbrannt habe, zeigte jedoch die Stelle seines Hauses an, wo die Coupons versteckt waren; er wurde zur Strafarbeit verurtheilt, aber begnadigt und starb bald nachher. Durch diesen Fall gewitzigt, wird jetzt beim Numeriren der Coupons die Vorsicht genommen, die Nummer auf dem Rücken durchscheinen zu lassen, so daß keine Zahl zugefügt werden kann.

Das Stück Staatsschuldscheine kommt der Regierung sechs Cent zu stehen; das Stück kleiner Münzscheine den zehnten Theil eines Cent. Die ganze Maschinerie des Bureaus hat zweihundertfünfzigtausend Dollars gekostet.

Die Arbeitszeit beginnt um neun Uhr Morgens und dauert bis vier Uhr Nachmittags mit halbstündiger Unterbrechung um die Mittagszeit für das sogenannte Lunch (Gabelfrühstück). Doch ist dem Ab- und Zugehen der Arbeiter und Arbeiterinnen keine Schranke aufgelegt und überall begegnet man Mädchen, allein, zu Zweien und mehr. Die so schöne Achtung der Amerikaner vor dem weiblichen Geschlechte bewährt sich auch hier und überrascht den Europäer auf das Angenehmste. Obwohl Arbeiterinnen, sind sie doch „Ladies“. Manche Gattung Arbeit ist so schwer, daß diese sechs- bis siebenstündige Arbeitszeit lange genug ist. Der Tagelohn für Männer ist von zwei und einem halben bis fünf Dollars; für Mädchen ein und ein halber bis zwei und ein halber Dollar. Einige Mädchen sahen erschöpft und ungesund aus, die meisten aber gesund und fröhlich. Fast ausnahmslos sind sie nett und geschmackvoll gekleidet. Für Diejenigen, welche Familie haben, ist die Arbeit passend und angenehm; für Andere dagegen ist Washington die unangenehmste und gefährlichste aller amerikanischen Städte. Wenige mit Washington bekannte Männer würden ihre Töchter oder Schwestern der Gnade seines Kosthauslebens anvertrauen wollen.

Wenn wir in Vorstehendem ein getreues Bild einer Anstalt zu geben versuchten, die uns die Menschenhändler des Südens aufzwangen und die der unermüdlich erfinderische Geist des „unvermeidlichen Yankee“, geleitet von einem Meister wie Chase, allein in’s Leben rufen konnte, so mögen unsere Leser unserer Versicherung Glauben schenken, daß wir es nicht mit freudigem Herzen gethan. Es geht ein unheimlicher Geist durch unser amerikanisches Haus; er nagt am untersten Marke unseres materiellen Wohlergehens, unseres socialen Lebens und, was das Gefährlichste, unserer Moralität: der Papierschwindel. Aber schon sind kräftige Arme bereit ihn zu fassen, und der 1. Januar 1869, wir wagen die Voraussagung, wird die Vereinigte-Staaten-Regierung, zur Baarzahlung zurückkehren sehen.

Riotte in Washington.
[60]
Ein deutsch-böhmischer Minister Oesterreichs.

Vier bürgerliche Männer und nur drei Herren vom Adel in einer Großmachts-Ministerium! In welchem Lande ist so Außerordentliches möglich geworden? Im Lande Metternichs! – Kein Wunder, daß die Namen der vier Bürger-Minister Giskra, Brestel, Berger und Herbst nicht blos in Oesterreich, sondern in ganz Deutschland von Mund zu Mund gehen; ist doch jeder Einzelne derselben ein würdiger Gegenstand theilnehmendster Beachtung und zwar nicht blos wegen der Thatsache, daß er in Oesterreich Minister geworden, sondern auch wegen des Weges, auf welchem er dahin gelangt ist. Heute sei Herbst, der Justizminister, im Doppelbild der Illustration und des Wortes unseren Lesern vorgestellt.

Als im Jahre 1861 der böhmische Landtag der bisherigen ständischen Vertretung folgte, that sich gleich in den ersten Sitzungen ein Mann hervor, der mit seltener Schlagfertigkeit, Schärfe und Entschiedenheit gegen die Regierungspartei auftrat. Es war dieser Mann der Professor des Strafrechts an der Prager Universität, Eduard Herbst.

Es war ein neuer Name, bisher nur den Juristen bekannt. Die Bewegung des Jahres 1848 hatte ihn nicht in den Vordergrund gebracht. Er hatte sich damals als Professor in Lemberg befunden, welches beinahe die einzige Stadt im Kaiserstaat war, welche für ihn so gut wie ruhig geblieben, weil dort nur Kämpfe zwischen Polen und Ruthenen stattfanden. Er mußte sich darauf beschränken, den dort lebenden Deutschen ein Interesse an der freiheitlichen Strömung einzuflößen, und er hat dies durch die Gründung einer Zeitung gethan, die er durch längere Zeit redigirte.

Als Oesterreich nach einer langen und schweren Reactionsepoche wieder aufthaute und das Volk sich nach Vertretern umsah, war es einigermaßen in Verlegenheit. Die Namen von 1848 waren mit einem Banne belegt. Der traurige Ausgang der Revolution war von den Regierungsfreundlichen trefflich benutzt worden. Ein Theil der ehemaligen Größen war ausgewandert oder lebte im Lande selbst als gleichsam verbannt. Ein anderer Theil, und beinahe der größere, war durch fette Staatsanstellungen gewonnen worden und hatte über seine eigene Vergangenheit wie über eine Zeit jugendlicher Thorheit lächeln und spotten gelernt. Von den früheren Parteimännern sah man mit wenig Ausnahmen völlig ab. Es galt neue Kräfte zu finden, was in einem Lande, in welchem zehn Jahre lang alles öffentliche Leben geruht hatte, keine kleine Aufgabe war. Die Comité’s, welche zu diesem Zwecke gebildet waren, hatten manchen Mißgriff auf dem Gewissen. Und doch wollte es ein gutes Geschick, daß das Vertrauen der Bevölkerung auf mehrere Männer fiel, welche das seit 1848 unterbrochene Werk im freisinnigen Geiste fortsetzten.

Herbst hatte bald durch Clubbildung eine gewisse Festigkeit in die Partei gebracht und so einiges Vorgehen ermöglicht. Er wurde, der Deutschböhme aus Warnsdorf, nun mit Brinz, dessen Scheiden aus Oesterreich Minister Belcredi veranlaßte, der Führer der Deutschen in Böhmen.

In den Kämpfen, welche die unsern Lesern ja hinlänglich bekannte Czechenpartei anregte, deren Streben deutlich dahin geht, innerhalb Deutschlands ein zweites Kleinrußland zu gründen und die Unterjochung der Deutschböhmen weit über das errungene Sprachzwangsgesetz hinaus zu betreiben, in diesen Kämpfen war es namentlich Herbst, der für die Interessen der Deutschen in Böhmen einstand. Die Sitzungen im Hause auf dem Fünfkirchenplatz der Kleinseite Prags nahmen bei solchen Gelegenheiten einen tumultuösen Charakter an. Mit jeder Rede wuchs die leidenschaftliche Erregung in beiden Lagern. Den ganzen Platz füllten dichte Volksmassen, welche das Resultat der Sitzungen spannungsvoll abwarteten. Die Galerien waren überfüllt und unterbrachen die Redner nicht selten mit wilden Rufen. Von Morgens neun bis Abends zehn dauerte der Kampf. Nach einer solchen Sitzung, in welcher Palacky eine Stunde, Herbst zwei Stunden lang gesprochen, wurde mit Hülfe der deutschfreundlichen Fraction der Großgrundbesitzer der den Deutschen ungünstige czechische Antrag auf Aenderung der Wahlordnung abgelehnt. Von dieser Sitzung angefangen war der Einfluß Herbst’s in der deutschen Partei sowohl, als in der des sogenannten verfassungstreuen Adels der vorherrschende.

Nicht weniger hervorragend war die Thätigkeit, welche Eduard Herbst im Reichsrath zu Wien entwickelte. Bald gab es keine wichtige Angelegenheit, in welcher er nicht ein entscheidendes Wort mitgesprochen hätte. Scherzhaft nannte man ihn den Reichsrathsomnibus, weil er in allen Fragen Bescheid wußte. Ein Gegner des Schmerling’schen Scheinconstitutionalismus, war er Führer der Linken und mußte sich nur zu oft mit moralischen Siegen und der großen Wirkung seiner Reden begnügen, da die Regierung und ihre damals noch zahlreiche Partei das Haus beherrschten. Erst heute wird das Abgeordnetenhaus auf die Principien zurückkommen, welche Herbst damals entwickelte.

Herbst, der Professor des österreichischen Strafrechts, war allmählich die hervorragendste Capacität in Finanzsachen geworden. Er wurde Berichterstatter der Bankacte, beanspruchte die größte Unabhängigkeit der Bank vom Staate und errang im Hause den Sieg, denn die von ihm vertretene Fassung der Bankacte ging durch, allerdings um nur wenige Jahre gehalten und durch die Finanzoperationen von 1866 gebrochen zu werden, welche dann die Ueberfluthung mit Staatsnoten hereinführten. Thatsächlich wurde Herbst der erste Finanzmann des österreichischen Reichsrathes, und es ist bezeichnend, daß der österreichische wie der ungarische Finanzminister in wichtigen Fragen nicht bei den Wiener Geldgroßmächten, sondern bei Herbst Vorfrage hielten.

Seine Thätigkeit in Finanzsachen brachte ihn in die Staatsschuldencontrolcommission – bei der finanziellen Lage Oesterreichs die schwerste und undankbarste Thätigkeit! Er behielt diese Stelle auch nach der bekannten „Sistirung der Verfassung“ unter Belcredi, zog sich jedoch nicht wie andere seiner Collegen zurück, weil er in der Rettung einer auch nur theilweisen Controle schon einen Vortheil für das Land sah.

In den Landtagsberathungen, welche das Ministerium Belcredi nach Königgrätz aufrief, war die des böhmischen Landtags von größter Bedeutung. Hier traten die Freunde des Ministeriums, der feudale Adel und die Czechen für Belcredi in die Schranken, hier hielt aber auch Herbst die Anklagerede gegen das Ministerium, die dessen Stellung erschütterte. Abermals gab es eine Abendsitzung von wild-dramatischem Charakter. Herbst’s Rede wurde in Tausenden von Exemplaren verbreitet, die Städte Deutschböhmens wetteiferten durch Votirung von Adressen und Ernennung zum Ehrenbürger den verdienten Führer auszuzeichnen. Eine Reise durch Nordböhmen, die er damals unternahm, glich einem Triumphzuge.

Seitdem ist man von den Principien des Sistirungsministeriums zurückgekommen, der Reichsrath hat seine gebührende Stellung im österreichischen Staatsleben wieder erhalten. Die erste Adresse desselben hat Herbst zum Verfasser. In der Concordatsfrage suchte er den gordischen Knoten, den Rom geflochten, nicht sowohl zu zerhauen, als zu lösen, indem er beantragte, Gesetze unbekümmert um das Concordat zu votiren und die Regierung zu deren Sanctionirung zu zwingen. Die Entschiedenheit, mit der dieser Standpunkt festgehalten werde, drängte die Regierung auf die Bahn, welche die kaiserliche Beantwortung der Adresse der Bischöfe kennzeichnet.

In die Deputation gewählt, welche die Grundlagen des finanziellen Ausgleichs mit Ungarn berieth, wurde Herbst in hervorragendster Weise thätig, eine bei seiner Kenntniß aller Daten gleich gesuchte Persönlichkeit; auch die Mitglieder der ungarischen Deputation traten seinen Anträgen bei.

Es ist begreiflich, daß bei solchen Erfolgen es nicht an Versuchen fehlte, Herbst zur Uebernahme eines Ministerportefeuilles zu bewegen. Freiherr von Beust kam wiederholt darauf zurück, aber Herbst blieb lange hartnäckig in der Ablehnung. Der Grund davon lag nicht sowohl in seiner allzu genauen Kenntniß der österreichischen Finanzlage, die fortwährend von einer Krisis bedroht ist, als in seinem Mißtrauen, daß der vom Reichsrath entworfenen liberalen Verfassung zwar nicht die Sanctionirung, doch aber die energische Durchführung fehlen werde.

Unterdeß wurde der Ausgleich mit Ungarn in legislativem Wege vollendet, die ihn besiegelnden Gesetze waren im Reichsrathe angenommen worden. Fürst Karl Auersperg wurde mit der Bildung eines Ministeriums beauftragt. Der Ruf: „Rechtsgleichheit mit Ungarn!“ war Schlagwort der Parteien geworden. Die neue [61] Regierung mußte eine parlamentarische sein. Nur wenige Tage waren zu deren Bildung gegönnt und es galt ein Heer von Schwierigkeiten zu besiegen. Die Furcht der Capacitäten des österreichischen Reichsrathes, die Zügel der Regierung zu ergreifen, war noch immer keine ungerechtfertigte, aber die patriotische Rücksicht auf den Staat, die Zusagen der ungarischen Minister, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln das cisleithanische Ministerium zu stützen, endlich feierlich gebotene Garantien gaben den Ausschlag. Das neue Ministerium kam zu Stande, und Herbst übernahm das Portefeuille der Justiz.

Eduard Herbst.

Von nun an nimmt er Theil an der Lösung jener ungeheuern Aufgaben, die den neuen Räthen der Krone in Oesterreich gestellt sind. Es handelt sich in der That um nichts Geringeres, als um einen Neubau des Reichs, aber auf dem unerschütterlichen Grunde staatsbürgerlicher Freiheit. Unzufriedene Parteien wird es in dem Völkermischmasch, das Oesterreich bis jetzt noch darstellt, immer geben, aber wenn Deutsche, Ungarn und Polen befriedigt sind, kann die Opposition der kleinen politisch lebensunfähigen Nationalitäten nur damit enden, daß sie entweder ihre Sonderstellung aufgeben und in die verfassungsmäßige Opposition eintreten, oder es über sich ergehen lassen müssen, grollend, abseits stehend, ignorirt zu werden.[1]

Der Charakter des neuen Ministeriums ist ein deutscher. Im Programm Herbst’s, Berger’s und Giskra’s steht der Punkt oben an, der Oesterreich verpflichtet, für die Erhaltung des Friedens besorgt zu sein, und der Sinn dieses Punktes ist kein anderer, als Deutschland und Italien in ihren Grenzen zur Entwickelung gelangen zu lassen. Mag Italiens langgehegter Wunsch, Rom als Hauptstadt zu sehen, erfüllt werden, mag Nord- und Süddeutschland sich zusammenschließen, Oesterreich wird, so lange das jetzige Ministerium besteht – und hoffentlich ist es kein vorübergehendes – nicht neidisch diese unaufhaltsame Einigung stören wollen. Die Majorität seiner Völker ist befriedigt, warum sollte es nicht die Befriedigung der ihm benachbarten Völker gern sehen? …

Als Vierziger mit braunen Haaren trat Herbst in den österreichischen Reichsrath; der Aufenthalt in demselben hat ihn schon nach wenig Jahren grau gemacht, wie auch unser Bild ihn zeigt. Aber unter diesen frühgefallenen Schneeflocken arbeitet der Kopf rastlos fort in unermüdeter jugendlicher Thätigkeit. Möge der Deutsche in Oesterreich, ob nun die Zeit der Krisen für den hartgeprüften Kaiserstaat noch immer nicht vorüber, oder ob eine bessere Zeit für ihn im Aufgehen begriffen sein sollte, noch recht lange auf diesen Staatsmann von umfassender Sachkunde und erprobtem Charakter zählen können!
Alfred Meißner. 
[62]

Vom Statisten zum Sängerkönig.


Wer das stille und schmucke Dessau jemals an einem schönen Frühlingstage gesehen, wird die heitere Anmuth, den lieblichen Festtagsglanz seiner idyllischen Umgebungen nicht wieder vergessen haben. Trübseliger ist es dort freilich im Spätherbst und ganz besonders trübselig war es in jenem Spätherbst des traurigen Jahres 1849, als von Berlin und Wien aus der eisige Reactionswind bis in die verborgensten Winkel Deutschlands blies und die kaum ersprossene Blüthe eines stolz und frisch aufstrebenden Volkslebens überall wieder geknickt und gewaltsam zu Boden getreten wurde. Auch dem kleinen Dessau konnte dieser schnöde Wechsel der Verhältnisse nicht erspart bleiben und er wirkte hier um so verwirrender, je inniger der überwiegende Theil der Bevölkerung dem kurzen Freiheitstraum sich hingegeben hatte. Dieser Schmerz und grimmige Erbitterung erfüllten viele Gemüther, während die reactionäre Strömung auf der andern Seite allen zeitweilig zurückgedrängten Schmutz, alle Beschränktheit und niedrige Gesinnung des kleinresidenzlichen Lebens von Neuem zu entfesseln und zu widerwärtigster Hetzerei an die Oberfläche zu treiben wußte. Wer derartige Stürme in einem Glase Wasser niemals selber mit durchlebt hat, kann sich keine Vorstellung machen von dem Grade der Unverschämtheit und des höhnenden Uebermuthes, mit welchem unter ermunternden Umständen Wankelmuth und speichelleckerische Kriecherei, Verrath, Angeberei und übelriechende Antriebe der verschiedensten Art sich als eben so viele Tugenden zu brüsten und über Manneswürde und Ueberzeugungstreue zu triumphiren vermögen. Zu einem gewaltsamen Zusammenstoße kam es in Dessau nicht, aber ein tiefer Riß, eine in engen Verhältnissen doppelt empfindliche Zwietracht ging durch das bürgerliche Leben und machte namentlich die Wirthshäuser und Erholungsorte zu Stätten leidenschaftlichen und endlos gährenden Streites.

Unter diesen Umständen, die sich mit dem allmählichen Erlöschen der freundlichen Jahreszeit immer unheimlicher und beklemmender gestalteten, wurde es natürlich von vielen Bewohnern wie eine wahre Erlösung betrachtet, als endlich die Theatersaison begann und wenigstens nach einer Seite hin eine beliebte und altgewohnte Ablenkung versprach. Dessau hatte damals noch kein stehendes Hoftheater, sondern wurde während des Winterhalbjahrs von der trefflichen Gesellschaft des Directors Martini besucht, der hier für seine Vorstellungen das herzogliche, mit allem Ausstattungsmaterial reichlich versehene Schauspielhaus, ferner eine tüchtige Ergänzung seines Opernpersonals und neben vielen anderen Erleichterungen vor Allem eines der großartigsten Orchester Deutschlands unter der ausgezeichneten Leitung des berühmten Friedrich Schneider fand.

Auch Friedrich Schneider gehörte in jenen Tagen zu den „mißliebig“ gewordenen Persönlichkeiten. Der mit außerordentlicher Hingebung seinem künstlerischen Schaffen und seinen amtlichen Pflichten lebende Componist des „Weltgerichts“ hatte zwar niemals eine irgend prononcirte politische Rolle gespielt. Aber hinter seiner mächtigen Stirn, hinter der wortkargen Originalität und gedrungenen Barschheit seinen Wesens barg sich der helle und aufgeklärte Sinn eines humanen Denkers, besonders aber ein ehrenfester deutscher Charakter, der, trotz seiner abhängigen Stellung als Hofbeamter, niemals in liebedienerischer Schmeichelei sein Haupt gebeugt und auch jetzt dem Siege der rückschrittlichen Gewalten kein Lob- und Jubellied gesungen hatte. Unter keiner servilen Adresse, in keiner Liste eines treubündlerischen Vereins war der Name dieses alten „herzoglichen Dieners“ zu finden. Dies war genug, ihn bei einer gewissen Hof- und Bureaukratenpartei verhaßt zu machen und einen selbstbewußten Wortführer des fanatisirten Lakaienthums zu der Aeußerung zu veranlassen: „Wenn mir der Herzog Vollmacht gäbe, würde ich den alten Kerl von dem Dirigentenpulte weg arretiren und in’s Loch stecken lassen. Er ist, weiß es Gott, der unverbesserlichste Demokrat im ganzen Lande!“ Als dem ehrwürdigen Meister diese Worte von empörten Freunden hinterbracht wurden, schüttelte er mit lächelnder Zustimmung den mehr als ausdrucksvollen, von langen weißen Locken umwallten Charakterkopf und sagte dann mit seiner heisern Stimme:

„Der Mann hat Recht, wer hätte jemals so vielen Scharfblick in ihm vermuthen können, es muß bei ihm zu tief gelegen haben, zu tief! Hat er nicht auch gesagt, daß ich ein schlechter Capellmeister bin?“

„Nein, Herr Capellmeister, das hat er nicht gesagt.“

„Nun, dann hat’s nichts auf sich; um das, was ich sonst sein und denken will, wird weder er noch der Herzog sich zu kümmern haben!“

Wußte sich aber auch der wackere und schlichte Mann in dieser Weise mit dem großsinnigen Humor des echten Künstlers über manche unangenehme Folgen seiner nagelneuen Anrüchigkeit hinwegzusetzen, so konnte ihn doch in jener Zeit der mildherzige, persönlicher Verfolgungssucht widerstrebende Sinn seines Fürsten nicht immer gegen manche ungewohnte factische Kränkungen schützen, die ihm das Leben hier und da verbittern mußten. Er war daher gleichfalls froh, als endlich Martini mit seinen Schaaren einrückte und die Wiedereröffnung der Oper eine Fülle von ablenkender Arbeit brachte. Seit Jahren hatten Concert und Oper in Dessau unter Friedrich Schneider's Leitung eine ganze Reihe von unvergeßlichen Glanzperioden durchlebt und noch immer widmete er sich dieser Lebensaufgabe mit ungeschwächtem Jugendfeuer. Ihn dirigiren, und namentlich classische Musik dirigiren zu sehen, war allein schon ein Genuß, so ergreifend prägte sich bei dieser Gelegenheit in seinen maßvollen Bewegungen und in seiner zwar unschönen, aber imponirenden Erscheinung der heilige Ernst und hoheitsvolle Eifer einer von der Weihe der Kunst durchglühten Seele aus. Wie ein Imperator beherrschte er Sänger und Orchester, und wie sehr auch zuweilen hinter dem Weinglase die rauhe Schale seines Wesens zu schmelzen, wie heiter und gemüthlich ihn ein fröhliches Gelage oder ein geselliger Verkehr zu stimmen vermochte, in musikalischen Dingen und besonders in solchen, welche seine Aufführungen betrafen, verstand er keinen Spaß, kannte er keine Schonung, weder für sich noch für Andere. Dieselbe schöne Sängerin, welcher er noch gestern Abend in überfließender Zärtlichkeit die Hand geküßt, derselbe hochbejahrte Kammermusikus, mit dem er vor einer Stunde noch Jugenderinnerungen ausgetauscht, mußten oft in der nächsten Probe die drastische Grobheit seines wuchtigen und schnell auflodernden Zorns empfinden, wenn sie durch irgend einen kleinen Fehler, einen leisen, von Anderen kaum vernommenen Mißton sein bis zur wunderbarsten Feinheit ausgebildetes Gehör beleidigt hatten.

Trotzdem wurde er von seinen Untergebenen nicht blos gefürchtet sie zitterten allerdings vor ihm, aber sie verehrten ihn auch und hingen ihm mit jener stolzen Liebe an, wie der Soldat an seinem strengen, aber großen Feldherrn hängt. Das zeigte sich mit besonderer Wärme nach seinem Tode. Als seine ergrauten Capellisten bei seinem Begräbnisse manche verdiente officielle Ehrenbezeigungen vermißten, nahmen sie selber den Sarg auf ihre Schultern und trugen ihren todten Meister von seinem Landsitze erst durch die Straßen der Stadt und dann unter dem Zudrange der ganzen Bevölkerung zum Friedhofe hinaus. Es war ein denkwürdiges und ergreifendes Schauspiel. Ueberhaupt ist wohl selten ein großer Musiker zugleich eine so volksthümliche Figur gewesen, als es der „alte Schneider“ in Dessau war. Obwohl eine gewinnende Leutseligkeit keineswegs zu seinen Tugenden gehörte, witterte man doch hinter der wenig freundlichen Außenseite den edlen und tiefen Kern eines ganzen Mannes.

In jener traurigen Zeit des Jahres 1849, von der wir sprechen, konnte man Schneider, der sonst gern ein paar Stunden in einem Wirthshause verkehrte, nur noch selten an solchen öffentlichen Orten begegnen. Unangenehme Erfahrungen, die er gemacht, sowie der ewige Parteihader, mochten wohl noch störender als die Mißtöne aus dem Orchester in seine Künstlerseele gegriffen und ihn zu größerer Zurückgezogenheit gezwungen haben. Nur nach den anstrengenden Vormittagsproben erholte er sich hin und wieder bis zur Zeit des Mittagessens im traulichen Parterrezimmer des Gasthofs „Zum goldenen Hirsch“, wo sich dann ein wenig zahlreicher Kreis von Getreuen um ihn versammelte und nur von Kunst- und Theaterinteressen gesprochen wurde. Es war ein sogenanntes „trockenes Plätzchen“, das der Alte in der allgemeinen Sündfluth sich erobert hatte. Hier saß er auch einst, behaglich in die Sophaecke gelehnt, an einem trüben Novembertage und schaute bald in die todte, von Schneegestöber erfüllte Straße hinaus, bald hörte er schweigend einem Gespräche zu, das zwischen dem Baritonisten Nusch, einem der tüchtigsten und beliebtesten Mitglieder der Dessauer Oper, und dem Director Martini geführt wurde (der jetzt längst nicht mehr Theaterdirector, sondern in [63] einen königlichen Souffleurkasten hinabgestiegen und dabei Präsident der allbekannten Stammkneipe „Vater Siechen“ in Berlin ist). Meyerbeer’s „Prophet“ war damals wie ein leuchtendes Meteor von Paris aus am Opernhimmel aufgegangen, alle bedeutenderen Bühnen Deutschlands wetteiferten, die neue Oper mit entsprechendem Glanze in Scene zu setzen, und auch Martini klopfte nun indirect im Interesse seiner Casse deswegen bei Schneider an.

„Wollen sehen,“ brummte dieser endlich in seiner gewohnten Weise. „Will’s dem Herzoge vorschlagen. Habe die Partitur durchgesehen, ist ganz hübsche Musik d’rin, namentlich hat mich Meyerbeer durch das Trio im Krönungsmarsch zu ganz besonderem Danke verpflichtet.“

„Sie, Herr Capellmeister? wie so?“ frugen Alle.

„Weil er es aus meinem Oratorium ,Absalon“ so vortrefflich abgeschrieben,“ antwortete der“ alte Schneider seinen erstaunten Freunden, indem sich ein Schimmer ungeheuchelter Freude in seinem rothen Gesichte zeigte.

„Und Sie sind darüber nicht böse?“ frug man wieder.

„Wie sollte ich das?“ versetzte der Capellmeister ruhig. „Mit meinem vor Jahrzehnten einmal aufgeführten Absalon wäre das dankbare Motiv nun bald den Würmern und der Vergessenheit überliefert, während es in Meyerbeer’s Oper die Mit- und Nachwelt noch lange erfreuen wird; für diese Rettung bin ich ihm entschieden Dank schuldig.“

Bei diesen Worten ging die Thür auf und herein trat, das unvermeidliche Käpfelchen ein wenig lüftend, der greise Wirth des Hauses. Vorsichtig, als ob er das Gespräch zu stören fürchte, trat er an Martini heran und flüsterte ihm etwas in’s Ohr. Dieser antwortete verdrießlich: „Ich habe es ihm ja heute Morgen schon gesagt, ich kann seinen Jungen jetzt nicht gebrauchen. Wiederholen Sie ihm das noch einmal,“ rief er dem schnell sich entfernenden Wirthe nach und fuhr dann, wieder zur Gesellschaft gewendet, fort: „Was heutzutage alles zur Bühne gehen will! Bringt mir da bei dem Wetter ein alter Bauer oder Gastwirih aus Erxleben bei Magdeburg seinen achtzehnjährigen Sohn her, klagt mir die Ohren voll, daß der Junge durchaus bei der Maschinenschlosserei in Magdeburg nicht mehr bleiben wolle, und bittet mich, da er von der Liebe zum Theater nicht abzubringen sei, ihn als Choristen und für kleine Rollen im Schauspiel zu engagiren. Was soll ich aber mit der ungeschlachten Gestalt anfangen? Brauchten wir gerade einen Coulissenschieber – dazu wäre der Junge allenfalls zu verwenden – aber zum Schauspieler – – –“

Hier schwieg er, denn die Thür war wieder aufgegangen und des Hauses redlicher Hüter, bei Alt und Jung in Dessau als „der alte Herre“ bekannt, erschien zum zweiten Male in derselben Angelegenheit. „Herr Director,“ sprach er, „der alte Niemann läßt sich durchaus nicht abweisen, und der junge ist erst ganz und gar des Teufels! Er will nicht wieder mit nach Erxleben, und da der alte Mann keinen andern Rath weiß, so hat er sich entschlossen, lieber Lehrgeld zu zahlen, als seinen Albert wieder mitzunehmen.“

Die Gesellschaft brach in ein herzliches Lachen aus, auch des Directors martialische Züge erheiterten sich bei diesem „Worte von gutem Klang“, und der alte Schneider rief: „Nun, Martini, wenn er partout nicht anders will, so können Sie ja den Versuch machen und ihn zunächst noch mit ,statiren’ lassen. Man weiß ja nicht, was aus dem Menschen werden kann.“

Der Director nickte beifällig und folgte dem alten Wirthe, der ihn am Arme fast hinwegschleppte, zum Zimmer hinaus, um draußen unter dem Heulen des Novembersturms den verhängnißvollen Seelenkauf persönlich abzuschließen.

Schmunzelnd und eine gefüllte Brieftasche vorsichtig versenkend, trat er nach einer kurzen Weile wieder ein und sprach, nachdem er sich gesetzt und einen tüchtigen Zug aus seinem noch gefüllten Glase gethan hatte: „Das Geschäft war gemacht! Dreihundert Thaler Lehrgeld und drei Jahre unentgeltlich als Chorist und in kleinen Rollen spielen –“

„Das ist kaum zu glauben und in meiner Praxis bis jetzt nicht vorgekommen!“ lachte der alte Capellmeister. „Sie müssen aber nun auch redlich Ihre Pflichten gegen den jungen Menschen erfüllen!“ Dann erhob er sein Glas – er trank seit Jahren nur äußerst mäßig – stieß mit den Freunden in der Runde an und verließ unter dem Ausrufe: „Auf daß uns mehr Solche geboren werden!“ mit heiterem Schmunzeln das Zimmer.

Zwei Jahre waren seit dieser Scene verstrichen und zwei Mal war Martini mit seiner Gesellschaft nach Halberstadt übergesiedelt und wieder nach Dessau zurückgekehrt. Hier trank der alte Schneider noch immer nach den Vormittagsproben den Wein des Hirschwirthes; aber von Niemann war in seiner Nähe nur selten wieder die Rede gewesen. Zuweilen sah er freilich die hohe, aber etwas ungeschickte Gestalt des jungen Mannes im Chore stehen und mit großem Eifer singen, oder bemerkte ihn wohl auch, wenn er bei Verwandlungen mit großer Kraft, aber auffallendem Mangel an theatralischem Anstand, Tische und Stühle ab- und zutrug. Blickte er dann, wenn er anderen Tages im Kreise der Freunde saß, auf den zufällig vor ihm liegenden Theaterzettel und fand auf demselben: ein Ritter – Herr Niemann, oder: ein Mönch – Herr Niemann, ein Diener – Herr Niemann, so fragte er wohl: „Nun, Martini, wie steht’s mit Ihrem Zögling für dreihundert Thaler?“ Worauf dieser antwortete: „Aus dem wird sein Leben nichts, er bleibt steif wie ein Bock und der Hansnarr des Publicums.“

In der That war dem so, aber die Schuld lag nicht allein auf Niemann’s Seite. Kleinere Städte ohne reges öffentliches Leben entwickeln oft aus ihrer socialen Atmosphäre eine ganz besondere Sorte von boshaften Harmlosigkeiten; sie bedürfen zu ihrer Unterhaltung einer Persönlichkeit, an der sie sich reiben, an der die Humoristen des Ortes ihren wohlfeilen Witz üben und die klugen Köpfe mühelos ihre Ueberlegenheit bewähren können. Ein solches Stichblatt und Opferthier war damals Niemann für manche Kreise des Dessauischen Publicums geworden. Der blonde und hochgewachsene junge Mann, der Schulen besucht und seine Jugend in Magdeburg verlebt hatte, war im persönlichen Verkehr keineswegs, was man einen ungewandten Burschen nennt. Aber gerade der Widerspruch seiner mehr als untergeordneten und höchst unbeholfenen theatralischen Leistungen mit seiner außerhalb der Bühne zwar treuherzig offenen, aber etwas kecken, streitlustigen und immer kampfbereiten Manier hatte ihn in eine schiefe Stellung gebracht. Kaum war er einige Wochen in Dessau, so hatte sich zwischen ihm und vielen einflußreichen Gästen der Bierhäuser ein Kriegszustand entwickelt, der ihn von hier aus bis auf die Bühne verfolgte, wo er natürlich die vom Parterre beharrlich ihm gespielten Neckereien und losen Streiche nicht mit seinem lebhaften und furchtlosen Mutterwitze zu pariren vermochte. Kurz, „der ehemalige Maschinenbauer, der sich in den Kopf gesetzt hatte, ein Schauspieler zu werden,“ stand ein paar Jahre hindurch auf dem Belustigungsprogramm gelangweilter Residenzbewohner, die unermüdlich waren, ihn zum Kampf zu reizen und mit ihm Scenen herbeizuführen, an denen die Schadenfreude professionirter Schabernacksspieler noch lange gezehrt hat. Daß er von dieser Seite her mit stürmischem Beifallsklatschen und johlendem Bravorufen belohnt wurde, wenn er ungeschickt aus der Coulisse trat und klanglos ein paar sorgfältig einstudirte Worte sprach, war etwas ganz Gewöhnliches und sicher schallte ihm jedes Mal Gelächter nach, wenn er nach Ausrichtung einer ernsten Botschaft die Bühne in feierlicher und meistens allerdings komisch sich ausnehmender Haltung verließ. Man sieht, der Weg dieses jugendlichen Kunstbeflissenen war reichlich mit Dornen besäet und es gehörte für ihn kein geringes Selbstgefühl dazu, sich schutzlos, wie er war, durch all’ diesen Hohn, diese vielseitigen Einschüchterungen und Entmuthigungen hindurchzuringen und dem einmal gefaßten Entschlusse treu zu bleiben. So war denn beinahe auch das dritte Lehrjahr verstrichen und die Zeit seiner Entlassung rückte immer näher heran, ohne daß er es auf dein Wege zum tragischen Helden und Liebhaber, diesem Ziele seines Ehrgeizes, weiter gebracht, als bis zum Statisten und Choristen. Da spielte ganz plötzlich eines Abends der Zufall einen seiner launischen Streiche. Meyerbeer’s Hugenotten wurden gegeben und der aller Welt bekannte Nachtwächter von Paris hatte sich auf seiner nächtlichen Fahrt in der Bartholomäusnacht erkältet und konnte die Rolle nicht ausführen, um die ihn sein College Niemann schon längst beneidet hatte. Dieser faßte sich ein Herz und meldete sich als Lückenbüßer. Der kleine Director maß den großen Nachtwächter vom Kopf bis zum Fuß, dann sprach er ironisch: „Fast zu viel für die kleine Lücke; indeß, meinetwegen, es giebt ja in der Welt auch große Nachtwächter.“

Wie ein Wetter hatte Niemann den Mantel um, die Pudelmütze auf dem Kopfe, Stab und Laterne in der Hand und ließ sein „Verwahrt das Feuer und das Licht“ so leidenschaftlich bewegt in die Welt hinausschallen, daß ihn das ganze Publicum wieder ein [64] Mal derb auslachte. Nur ein Einziger lachte nicht mit, der lauschte erfreut der gewaltigen, klangvollen, aber noch mehr als rohen Stimme. Das war der alte Schneider an seinem Pulte. Sofort nach der Vorstellung begab er sich zum Director und frug: „Wer war denn der Nachtwächter heute?“

„Das war ja Niemann!“ antwortete dieser lächelnd.

„Das war Niemann?“ brummte der Capellmeister wieder. „Das ist ein Teufelskerl – – soll morgen früh vor der Probe in den Probirsaal kommen – will seine Stimme näher untersuchen.“

Am andern Morgen stand Niemann zitternd und mit bleichen Mienen vor dem gefürchteten Capellmeister am Clavier, der ihn mit den Worten: „Tonleiter singen!“ anherrschte und dabei auf dem Flügel Ton für Ton ganz so langsam anschlug, wie Niemann die Scala singen mußte. Und wie nun einer dieser Töne immer kräftiger und reiner als der andere mit einer Macht aus der Brust hervorquoll, wie es selbst der alte Capellmeister noch nie gehört, und selbst das hohe f und dann das g und zuletzt gar das hohe a, ohne zu fistuliren, voll und klar mit der Bruststimme gegeben wurde, da erheiterten sich selbst des alten Schneider’s Züge, als ob ihm der lieblichste Ton aus seinem „Weltgericht“ erklungen wäre, und er trat an den jungen Sänger heran und brummte: „Sie müssen singen lernen, auf der Stelle singen lernen. Nusch soll Ihnen unter meiner speciellen Aufsicht und Leitung Unterricht geben.“ Mit diesen Worten öffnete er die Thür, rief seinen Lieblingsbaritonisten, den bewährten Gesangslehrer Nusch, herein und übergab ihm den neuen Schüler. „Kann noch was d’raus werden,“ meinte Schneider, „aber Fleiß verlang', ich – viel Fleiß !“

Und an Fleiß ließ es Niemann nicht fehlen. Seine musikalischen Studien beschäftigten ihn Tag und Nacht. Dem Hugenottennachtwächter folgte der Propheten-Bote als nächste Sprosse auf der Himmelsleiter, die ihn endlich, aber erst nach einer Reihe von Jahren und nach vielen Prüfungen, aus der armseligen Obscurität der kleinsten Bühnen, erst von Halle nach Berlin und zuletzt nach Hannover führte, zu den höchsten Ehren, die jemals ein deutscher Tenorist im Inlands wie im Auslande geerntet hat. Schon im Jahre 1859 warb er mit seiner Gattin (die vormalige Marie Seebach) um die höchsten Kränze des Ruhmes. Glänzende Gastspiele machten bald seinen Ruf bekannt, aber immer noch strebte er unermüdlich. Freilich war an die Stelle des verewigten Friedrich Schneider später ein anderer Mentor in der Person des berühmten Gesanglehrers Duprez in Paris getreten. Doch ehe noch zehn Jahre seit jenem grauen Novembertage zu Dessau verstrichen – was war da aus Niemann geworden und was ist er jetzt?! –

Treten wir in eine Loge des Berliner Opernhauses. Es ist besetzt bis zum letzten Platze, und mancher davon ist wohl drei- und vierfach bezahlt, denn Niemann singt heute den „Tannhäuser“. Wuchtige Tonwellen voll verborgener Zauberkraft, groß, wild leidenschaftlich wie das Weltmeer in seiner Erhabenheit, rauschen uns entgegen; die ganze Macht der Musik reißt wie ein brausender Strom uns in ihre unendlichen Strudel; das Feenreich in der von Perlen und Korallen und magisch glitzerndem Gestein schimmernden Grotte durchtobt ein schwüler, chaotischer Kampf sinnverwirrend, herzumstrickend, wie die schweren, wuchtigen Dissonanzen mit unendlicher Gewalt nach harmonischer Auflösung ringend, – und mitten durch dieses Toben, durch der Tonfluth chaotische Wildniß tönt eine Stimme, eine Stimme, sage ich? Nein, es ist mehr als Stimme, es ist eine Tongewalt, die keinen Widerstand und keine Grenzen kennt und sich Luft macht in den Worten: „Mein Heil ruht in Maria!“ – Da steht er, der Sänger, dem diese Töne mit bezwingender Macht von den Lippen flossen, – da steht er, den mächtigen männlich schönen Körper hoch emporgerichtet, Blicke und Hände voll Begeisterung gen Himmel erhoben; – da steht er, aus dessen wogender Brust, noch von den Lüsten der Leidenschaften geschwellt, der Hülfeschrei sich losrang, vor dem das Reich der Sinnlichkeit prasselnd zusammensank: es ist Niemann, der größte Tenorist unserer Tage, dem das entzückte Publicum begeistert zujauchzt; dessen Kommen und Gehen an jeder deutschen Bühne einem Triumphzuge gleicht und dem schon unzählige Male für seinen Tannhäuser, Lohengrin, Rienzi, Cortez, Masaniello der Lorbeer auf das Haupt gedrückt worden ist – auch in Dessau, wo er nach bereits erlangtem Ruhme drei Mal in einer Woche den „Tannhäuser“ unter dem begeisterungsvollsten Jubel auch seiner einstmaligen „Freunde“ gesungen hat. Gewiß, eine herrliche Genugthuung, der aber zu voller Beglückung des Künstlers nur etwas fehlte: der seelenvolle Zauberblick Friedrich Schneider’s, wenn er zufrieden und beseligt war. Der alte Meister war schon heimgegangen und hatte den Ruhm seines einstmaligen Schülers nicht erlebt.




Blätter und Blüthen

Ein zweites Lugau! – Eben bei der Schließung dieser – im Druck außerdem noch verspäteten – Nummer geht uns die erschütternde Kunde von dem gräßlichen Unglück auf der Kohlenzeche Neu-Iserlohn im Münsterlande zu. Nach den ersten Nachrichten ist der Jammer von Lugau hier nahe erreicht, da aller Wahrscheinlichkeit nach die Zahl der Todten die Achtzig weit überschreiten wird. Wir haben deshalb, um eine mögliche Hülfe rasch zu bieten, einen ursprünglich noch für die Luganer bestimmten Gabenrest sofort für die Unglücklichen von Neu-Iserlohn an Herrn Crüvell in Dortmund geschickt, überzeugt, daß die Geber selbst dieser Verwendung ihrer Liebesopfer um so mehr beistimmen, als für die Wittwen und Waisen in Lugau bei einer Einnahme von circa hundertundzwanzigtausend Thaler nunmehr gewiß ausgiebig gesorgt ist.


Kleiner Briefkasten.

Herrn S. in Ch. Auf seine Anfrage betreffs des Aufsatzes über Europas natürliche Heizung (Nr. 46, 1867). Wenn die Erde gänzlich von Wasser bedeckt wäre, so würde fortwährend um dieselbe ein Strom von Ost nach West fließen, hauptsächlich um den Aequator. Der Grund ist ein vierfacher: 1. Der rasche Umschwung der Erde von Ost nach West (am Aequator 225 Meilen in der Stunde betragend) kann von den flüssigen Theilen nicht so schnell mitgemacht werden: nach dem Gesetz der Trägheit und vermöge der Verschiebbarkeit ihrer feinsten Tropfen stemmen sie sich dem Umschwung der festen Theile entgegen, so daß sie sich scheinbar von Ost nach West bewegen. (Wie der Passatwind.) – 2. In noch höherem Maße gilt dies von den aus den Polargegenden zuströmenden kalten Meeresströmungen, welche fortwährend die am Aequator reichlich verdunstenden Wassermassen ersetzen. (Auch dies entspricht ganz der Entstehung des Ostpassats.) – 3. Die in der Aequatorgegend vorherrschenden ostwestlichen Winde (Passate) treiben einen Theil der Fluthen (der oberflächlichen) gleichfalls nach Westen hin. – 4. Dasselbe thut die Anziehungskraft des Mondes und der Sonne, welche alltäglich eine große Doppelwelle (die sogenannte Fluth) um die ganze Erde herumtreibt und dadurch auch eine große Wassermasse in der Richtung von Ost nach West fortbewegt. – Drei große Barren stemmen sich dieser ostwestlich fließenden Wassermasse des Oceans entgegen: dies sind die drei Festländer von Amerika, Asien und Afrika. Daraus erklären sich die Hauptthatsachen der Meeresstürme.
Prof. Dr. H. E. Richter.

K. L. in W. Geduld – Geduld, wir können die versprochenen Beiträge immer nur nach und nach veröffentlichen. Die nächsten Nummern bringen also: Aus meinem Leben, von Karl von Holtei.– Aus dem Schwarzwald, von Ludwig Steub. – Im Hause Robert Stephenson’s, von M. M. von Weber. – Eine Audienz beim König von Italien. – Meine Flucht von Caprera, geschildert von Garibaldi selbst. – Der Dichter und der Maler des deutschen Philisters. – Heinrich der Fünfte und sein Hof etc. etc.


Opferstock für Ostpreußen.

Unaufgefordert und noch ehe wir den Aufruf der heutigen Nummer veröffentlichen konnten, gingen uns zu: E Freund in Buchholz 5 Thlr.; Prof. C. Bock 10 Thlr.; aus Buchholz 1 Thlr.; Cramer in Jeßnitz 1 Thlr.; W. G. in St. Petersburg 25 Thlr.; Gesangverein Typographia in Leipzig durch Herrn Factor Schuwardt 6 Thlr.; von einigen Gymnasiasten in Worms 6 Thlr. 25 1/2 Sgr.; Eduard L-r in Prag 14 Thlr.; Kegelei der Zippelmützenritter in Leipzig 5 Thlr.; ein Ungenannter aus Bamberg mit den Worten: „Gedenket des Hungers und der Kälte in Ostpreußen, gedenket der Noth und des Mangels im fleißigen Erzgebirge, gedenket, wenn Ihr Euch zum erwärmenden Mittagsmahle niedersetzet, Eurer hungernden Brüder und ihres Elendes, und helfet ihnen mit so viel oder so wenig als Ihr könnt,“ 100 Gulden, wovon die Hälfte dem Erzgebirge (für Johann-Georgenstadt) zukömmt; Carl Wuttky in Jeßnitz 1 Thlr.; Redaction der Gartenlaube 100 Thlr.

Redaction der Gartenlaube.


  1. Wie hart der deutschfeindlichsten dieser kleine Nationalitäten, der czechischen, diese Unterordnung ankommen wird, davon zeugt der jüngste Scandal an der Prager Universität, wo, am elften Januar, czechische Studenten und andere mit ihnen verbundene Personen durch Schreien und Toben eine Berathung deutscher Studenten unmöglich machten, weil dieselbe ein Ehrenfest für Herbst, als deren ehemaligen Rechtslehrer, betreffen sollte.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Fehlstelle, s e ergänzt