Die Gartenlaube (1868)/Heft 49
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No. 49. | 1868. | |
Läßt sich wohl in diesem wechselvollen Leben etwas Glücklicheres finden, als ein junges Paar, im ersten gegenseitigen Besitz, der heitersten Gegenwart voll, mit frohem Vertrauen auf die Zukunft und jenem schönen Glauben an sich selbst und die Menschheit, wie er dem Glück und der Jugend eigen ist?
Otto Schaumberg empfand die ganze Fülle des neuen Daseins, das ihn umfangen hielt. Zum ersten Mal in seinem Leben lernte er den Genuß einer schönen Häuslichkeit kennen, schon darum das edelste aller irdischen Güter, weil es das einzige ist, das ohne Unterbrechung genossen werden kann. Der Reiz des gemeinsamen Lebens mit einer geliebten Gefährtin mußte um so lebhafter auf ihn wirken, als Elisabeth für das häusliche Leben wie geschaffen war. Ihr echt weibliches Bedürfniß, Allen, mit denen sie in Berührung kam, wohl zu thun, kam ihm in hundert unbedeutenden, aber freudig empfundenen Kleinigkeiten zu Gute; sie verstand es, gleichsam mit Feenhänden zu walten, geräuschlos jedem Wunsche zuvorzukommen und neben dem Behagen auch das Schöne zu pflegen. So einfach das materielle Leben des Paares auch eingerichtet war, empfing doch stets ein Eindruck von Festlichkeit und Fülle den jungen Arzt, wenn er von seinen Berufsgängen in seine Wohnung heimkehrte. Alles war dort so zierlich geordnet, immer gab es frische Blumen in den Zimmern, auf dem bescheiden servirten Tische erschien keine Frucht ohne malerische Blätterhülle, – überall ward dem Alltäglichen ein Reiz abgewonnen. Wenn sich die schöne Gestalt seiner jungen Hausfrau um ihn her bewegte, einfach, aber stets geschmackvoll und in helle Farben gekleidet, ward ihm so sonntäglich zu Muth, daß es oft über ihn kam wie ein Schauer von Freude und er sich gestand, bis heute nicht gelebt zu haben!
Gar manches Mal erzählte er dann Elisabeth von seiner freudlosen Kindheit, die ihm keine Erinnerungen an häusliches Glück zurückgelassen. Die blasse, stille Gestalt seiner Mutter schwebte nur noch unbestimmt vor seinem Geiste, nach ihrem frühen Tode hatte seine älteste Schwester die Erbschaft ihres Wirkens und ihrer Sorgen angetreten. Vor Allem ihrer Sorgen! denn dem stärkeren Einfluß der Mutter war es noch zuweilen gelungen, den Vater an das Haus zu fesseln, was die Tochter nicht mehr erreichte. Sein Vater war damals in –berg als Steuer-Rath angestellt, ein von der Stadt besoldetes Amt, dessen bescheidene Einkünfte in keinem Verhältniß zu seiner Neigung standen, das Leben zu genießen; beständig derangirte Geldverhältnisse waren die Folgen steter Ausschreitungen, und das Losungswort des inneren Familienlebens hieß: Entbehrung.
Nach solchen Rückblicken verdoppelte sich die Innigkeit Elisabeth’s. Sie gab sich ihm voll und ganz, alle ihre Gedanken, jede ihrer Beschäftigungen hatten nur Bezug auf ihn; sie schien nie daran zu denken, glücklich sein zu wollen, nur glücklich zu machen, und empfing die lebhaften Aeußerungen seines Dankes, seiner Zärtlichkeit mit einer Demuth, die gleichsam einen Schleier über die sprühende Lebhaftigkeit ihres Naturells warf. Diese Mischung von Feuer und Zurückhaltung, die Otto vom Anfang ihrer Bekanntschaft an aufgefallen war, gab dem Zusammenleben mit ihr, auch nachdem sie die Seine geworden, einen eigenthümlichen, mitunter sogar aufregenden Reiz. Es gab Augenblicke, wo er sich von ihrem plötzlichen Zurückziehen, ihrer schüchternen Unterwürfigkeit nicht angenehm berührt fand; doch waren solche Eindrücke immer nur blitzartig und ließen keine Spuren in seinem Herzen zurück.
Elisabeth hatte keines jener Salontalente geübt, die bei jungen Mädchen so häufig angeregt und so selten ausgebildet werden. Sie sang und spielte nicht, sie machte weder heimlich noch öffentlich Gedichte und verstand nichts zu zeichnen als ihre Stickmuster, – dennoch besaß sie ein Talent, das, selten gepflegt und wenig gekannt, zu denen gehört, die am tiefsten die Seele berühren. Sie las vorzüglich vor. In ihr beim Sprechen schon melodisches Organ kam, sobald sie las, ein eigenthümliches Klingen, das dem Ohr schmeichelte wie Musik und bis in das Herz des Hörers vibrirte.
Diese Gabe war für Otto eine Fundgrube glücklicher Stunden. Wenn er des Abends, körperlich ermüdet, in der Sophaecke lehnte, die alte Freundin seiner Junggesellenzeit, die Cigarre, im Munde, und Elisabeth dann das Buch zur Hand nahm, ward ihm wohl bis in’s Herz hinein. Den Blick unverwandt auf ihr schönes Gesicht geheftet, lauschte er mit Entzücken ihrem seelenvollen Vortrage; wenn dann bei einer Stelle, die sie tiefer berührte, die dunkeln Mandelaugen sich so plötzlich zu ihm erhoben und in raschem feurigem Blick die seinigen trafen, wallte es heiß in ihm auf und oft kostete es ihm Ueberwindung, sie nicht zu unterbrechen, um ihr eines von all’ den Liebesworten zu sagen, die ihm die Seele erfüllten. Doch klangen diese Eindrücke später in den Tönen seines Flügels nach, die in vollen Accorden die Hymne seines Glücks anstimmten.
Es ging in den Herbst hinein. Schon kamen kühle Tage und lange Abende, die Zahl der Curgäste lichtete sich. Dennoch war Schaumberg gerade jetzt besonders in Anspruch genommen; eine epidemische Kinderkrankheit grassirte ziemlich bösartig in der Gegend und hielt ihn in steter Bewegung. Elisabeth war deßhalb überrascht, ihn eines Morgens zu ungewöhnlicher Stunde nach Hause kommen zu sehen; beim ersten Blick bemerkte sie, daß er unwohl oder ernstlich verstimmt sein müsse. Mit einiger Heftigkeit wies er ihre besorgten Fragen zurück, ging in sein Arbeitszimmer und schloß hinter sich ab.
Es war das erste Mal, daß er Elisabeth unfreundlich, ja abstoßend begegnete. Dies erste Mal! – Welch’ ein Sturz aus dem Himmel auf den Steinboden des Lebens ist es für das junge, liebende Weib, wenn das Auge, das bisher stets mit Entzücken auf ihm ruhte, es zum ersten Mal finster anblickt, wenn der Mund, der immer nur Liebesworte sprach, heute nichts findet, als ein rauhes Wort! – Das unschuldigste Herz wird sich dann fragen: bist Du schuld daran? und weder Rast noch Ruhe finden, bis dieser bange Zweifel gelöst ist. Wie aber ist dem Herzen zu Muthe, das sich dem Geliebten gegenüber nicht rein und frei fühlt, das etwas zu verbergen hat und in der Wolke auf seiner Stirn den Blitzstrahl ahnt, der alles Glück und Heil verzehren kann?
Elisabeth hatte etwas zu verbergen! Es gab in ihrer Vergangenheit einen wunden Punkt, den sie um keinen Preis dem Auge des Geliebten offenbart wissen wollte, der ihr die Liebe kosten konnte, die ihr Alles war! – Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, während sie athemlos auf den ruhelosen Schritt horchte, der im Nebenzimmer auf und nieder ging. Leise schlich sie wieder und wieder bis zur Thür, der geliebte Name bebte auf ihren Lippen, und doch wagte sie nicht zu rufen, wagte nicht Einlaß zu erbitten – wozu auch den Augenblick beschleunigen, dem sie mit Herzensangst entgegen sah?
Nach einer bangen halben Stunde kam ein Bote, der Schaumberg zu einem schwer Erkrankten nach Amt Stein rief – nun durfte die junge Frau anpochen, nun mußte er durch ihr Zimmer kommen, und sie konnte vielleicht auf seinen Zügen lesen, ob er wirklich erfahren hatte, was sie fürchtete! Nach einigen Augenblicken erschien Otto; er sah furchtbar verstört aus und durchschritt das Zimmer hastig, ohne nach Elisabeth umzublicken. Als er sich beim Hinausgehen unter der Thür wandte, sah er ihren angstvollen Blick auf sich geheftet und nickte ihr zu. Sie flog zu ihm, faßte seine Hand und fragte in flehendem Ton: „Was ist Dir?“
„Es ist nichts,“ sagte Otto kurz, indem er sich sanft von ihr losmachte – „eine geschäftliche Unannehmlichkeit. Warte nicht mit dem Essen auf mich, ich werde erst gegen Abend zurückkommen.“
Flüchtig strich er mit der Hand über ihr Haar, eine Liebkosung, die ihm eigen war. Elisabeth ergriff seine herabgleitende Hand und küßte sie. Ihr Herz schlug etwas ruhiger, sein Blick war ernst gewesen, aber kein Zürnen lag darin. Wie schwer lasteten dennoch die Stunden dieses Tages auf der Einsamen!
Es war schon tiefe Dämmerung, als Schaumberg nach Hause kam. Elisabeth, die am Fenster nach ihm ausgeschaut, hatte ihn erst nicht erkannt, so schwer und ermüdet war sein sonst so elastischer Gang, so tief gebeugt sein Haupt. Von Neuem zog eine Ahnung von Unglück in ihr Herz. Still ging sie ihm entgegen, nahm den Hut aus seiner Hand und schaute auf in sein blasses Gesicht, seine tief eingesunkenen Augen. Es beruhigte sie, daß er das Wohnzimmer nicht verließ, geräuschlos steckte sie die Lampe an, ließ die Vorhänge nieder und ordnete Alles zu seiner Bequemlichkeit. Er wechselte nur wenige Worte mit ihr, nahm aber seinen gewöhnlichen Platz im Sopha ein. Elisabeth griff zu ihrer Handarbeit; beklommen richtete sie von Zeit zu Zeit eine unbedeutende Frage oder Bemerkung an ihn, die ihn veranlaßte aufzublicken, auch wohl zu antworten, ihn aber seinem stummen Brüten nicht entriß. Endlich sagte er mit einer Geberde, als müßte er etwas von sich abschütteln: „Willst Du nicht lesen, Elisabeth?“
Sie nahm schweigend das Buch zur Hand und begann; zwischen jedem der Sätze hob sich aber ihr Auge angstvoll zu Otto. Er schien sie nicht zu hören und starrte unverwandt vor sich hin. Ihre Stimme wurde immer bebender, immer unsicherer, bis sie endlich die erstickende Beklemmung nicht länger trug, das Buch von sich warf und, neben ihm auf die Kniee niedergleitend, mit Thränen im Auge rief: „Otto, Dir ist Schweres geschehen!“
„Ja,“ sagte er, „mir ist viel geschehen! Sich in einer Menschenseele getäuscht sehen, die man geliebt, ist hart –“
„Höre mich, Otto, ehe Du urtheilst!“ rief die junge Frau leidenschaftlich, „höre erst, was mich zu der That geführt, die ich schon tausendmal bereute!“
„Dich?“ sagte Schaumberg mit namenlosem Erstaunen. „Wer dachte an Dich? Von welcher That sprichst Du, was hast Du zu bereuen? – Ist der Kelch noch nicht gefüllt?“ rief er aufspringend in heftigem Ton, „wartet noch mehr auf mich?“
Elisabeth stand regungslos, ihr Busen wogte. „Ja, Otto,“ sagte sie tonlos, „ich habe etwas zu bereuen! Nichts, was Du mir zum Vorwurf machen könntest, und doch etwas, das mich in Deinen Augen tiefer stellen würde. Verlangst Du’s, so sage ich es Dir jetzt, in diesem Augenblick – hast Du aber Vertrauen genug, Liebe genug, um mich zu schonen, so laß mir mein Geheimniß, bis ich selbst den Muth finde, es Dir zu bekennen!“
Otto sah sie schweigend an. „Ich habe manchmal gefühlt,“ sagte er nach einigen Augenblicken ernst, „daß Du mir etwas verhehlst, ich habe es nur nicht glauben mögen – erst neunzehn Jahre und doch schon eine Vergangenheit! – Aber sei ruhig, ich verlange, ich wünsche kein Vertrauen, das nur ein Zufall Dir abgerungen hätte – schweige, oder sprich, wie es Dir selbst Bedürfniß ist.“
„Ich würde Dir Alles sagen,“ rief sie schmerzlich, „wenn Deine Seele frei und ruhig wäre wie sonst! Heute, wo Dich Anderes, Schweres drückt, kann ich es nicht! Wenn Du mir nicht zürnst, wenn Du mich liebst, so laß mich jetzt an nichts denken als daran, Deine Sorgen zu theilen! Ich bin Deine Elisabeth, ich habe ein Recht darauf, meinen Antheil an Deinem Kummer zu fordern! Die Angst um Dich erstickt mich – Otto, was ist Dir geschehen?“
„Es ist allerdings genug,“ erwiderte er, indem er erschöpft auf seinen Sitz zurücksank, „um vorerst nicht nach Weiterem zu begehren – und ich will es Dir sagen. Was Du zu wissen verlangst, ist ernst – mein guter Name hängt daran, der Name, den Du seit drei Monaten trägst.“
Elisabeth legte ihre beiden gefalteten Hände auf seine Schulter und sah bang in sein blasses Gesicht; es trug einen Ausdruck, der sie zittern machte.
„Ich habe Dir manchmal von meiner Kindheit, von meinem Vater erzählt,“ begann Otto, „ich habe Dir nicht verschwiegen, daß er den Seinen nicht das war, was er sollte, daß ein unseliger Hang zur Genußsucht ihn seiner bescheidenen Häuslichkeit entfremdete. Dennoch habe ich ihn sehr geliebt, und die Erinnerung an seine Schwächen war weniger stark in mir als die an seine Liebenswürdigkeit. Sein Andenken war mir theuer! Damit ist es aus, seit heute – mein Vater – mein Vater war ein Ehrloser!“
Otto schlug beide Hände vor das Gesicht, sein Körper bebte vor Aufregung. Bald aber nahm er sich zusammen und fuhr mit gewaltsamer Ruhe fort: „Ich erhielt diesen Morgen einen Brief des Oberbürgermeisters in –berg. Er schreibt mir, daß sich bei einer Revision der Bücher des dortigen Steueramtes ein Cassendefect herausgestellt und die nähere Untersuchung ergeben hat, daß derselbe sich auf die Zeit zurückführen läßt, wo mein Vater das Cassenamt verwaltete. Schon der Beamte, der nach meines Vaters Tode in dessen Stelle eintrat, hatte die falsche Buchführung entdeckt, sie aber aus Schonung gegen unsere ihm befreundete Familie verschwiegen, da ja der Schuldige bereits durch den Tod jeder Verantwortung entrückt war. Der zweite Nachfolger jedoch, der erst ganz kürzlich das Cassenamt übernahm, hatte keinen Anlaß, gleiche Schonung zu üben; er brachte die Sache zur Anzeige beim Oberbürgermeister und hat nachgewiesen, daß es sich um jahrelange, mit großem Geschick durchgeführte Unterschlagungen handelt, und daß über die Person des Schuldigen kein Zweifel bleiben kann.“
Erschüttert drückte Elisabeth des Gatten Hand an ihr heftig [771] klopfendes Herz. „Mein armer Otto!“ sagte sie kummervoll, „mein armer, geliebter Mann!“
„Nie hätte ich’s für möglich gehalten – verzeih’s ihm Gott, daß er sich, daß er seinen Kindern Das thun konnte – aber fort mit diesem marternden Gedanken, jetzt gilt es vor Allem, die Ehre zu retten, die auf dem Spiele steht!“
„Was denkst Du zu thun?“ rief Elisabeth besorgt.
„Der Oberbürgermeister schreibt mir, daß er mit den beiden Beamten, die allein Mitwisser der unseligen Angelegenheit sind, dahin übereingekommen sei, dieselbe der Oeffentlichkeit zu entziehen, im Falle ich Willens und im Stande wäre, den Defect baldmöglichst zu decken, daß aber im entgegengesetzten Falle seine Pflicht erheische, die Sache zur Anzeige zu bringen und einen Proceß gegen die Erben des Schuldigen anhängig zu machen. Ich habe bereits von Stein aus zwei Briefe in dieser Angelegenheit abgesandt. Natürlich antwortete ich dem Oberbürgermeister, daß ich für die Summe einstehe und ihm dieselbe in kürzester Frist ganz oder in Raten zur Disposition stellen würde. Du wirst begreifen, Elisabeth, daß ich keine ruhige Stunde haben kann, bis der letzte Heller dieser Sündenschuld abgezahlt ist! Allerdings wird es schwer halten, mir das Geld zu verschaffen, es handelt sich um keine Kleinigkeit – die Totalsumme beläuft sich auf fünfzehnhundert Gulden. Nur mit großen Opfern wird sie zu erhalten sein – ich habe keine Garantien zu bieten als meinen künftigen Erwerb, und es fragt sich noch, ob sich ein Darleiher findet, welcher sich mit meinem Ehrenwort und der Chance, daß ich am Leben bleibe, begnügen wird. Im glücklichsten Falle stehen uns Jahre der äußersten Einschränkung bevor.“
„Wenn Du es willst, kannst Du das Geld augenblicklich erhalten,“ sagte Elisabeth schüchtern. „Du weißt, meine Tante würde mir eine Bitte dieser Art nicht abschlagen.“
„Nein, mein Kind!“ erwiderte Schaumberg energisch, „dazu kann ich meine Zustimmung nicht geben. Erinnere Dich, wie empfindlich Deine Tante war, als wir den jährlichen Zuschuß ablehnten, den sie Dir zugedacht hatte, wie unwillig namentlich gegen mich, denn sie weiß wohl, daß Du hierin nur meinem Wunsche nachgegeben hast. Nun, kaum drei Monate nachher, eine so bedeutende Summe zu fordern und den Grund dafür nicht angeben zu können, wäre zu auffallend – Du fühlst, daß das nicht angeht! Laß nur – ich hoffe Rath zu schaffen. Ich habe einen Baireuther Collegen brieflich ersucht, morgen oder übermorgen hierher zu kommen und mich für ein paar Tage zu vertreten; sobald er eingetroffen ist, gehe ich nach Bamberg, um dort die nöthigen Schritte zu thun.“
„Darf ich Dich begleiten?“ fragte Elisabeth flehend.
„Wozu, Kind? Was solltest Du dort, wo ich, durch die unerquicklichsten Geschäftsgänge in Anspruch genommen, Dich doch allein lassen müßte?“
„Das fragst Du?“ rief die junge Frau, „fühlst Du denn nicht, daß mich hier die Angst verzehren würde? Ich will mit Dir gehen, weil ich Dich liebe, weil ich Dich nicht lassen kann, während Du solche Lasten auf der Seele trägst – ich bitte, ich flehe Dich an, nimm mich mit Dir!“
„In Gottes Namen,“ sagte Otto traurig. „Ich will es Dir nicht abschlagen, wenn es Dich beruhigt. Muß ich doch, statt des Glückes, das ich Dir bereiten wollte, so bald schon Kummer und Leid in Dein junges Leben bringen! – Richte Dich ein, vielleicht morgen schon zu gehen, und vor Allem, mein armes Kind, richte Dich auf trübe, freudlose Tage ein, für lange Zeit!“
Elisabeth saß einsam in einem Zimmer des Hotels zum Bamberger Hofe; seit einer Stunde hatte sie den Platz am Fenster nicht mehr verlassen; sie erwartete Otto’s Rückkehr von einem entscheidenden Gange.
Es war Sonntag; auf dem Marktplätze drunten wimmelte ein buntes Leben; vor der Martinskirche, deren letzter Gottesdienst, die sogenannte elegante Messe, eben beendigt war, standen geschmückte Damen jeden Alters in dichten Gruppen, um Neuigkeiten auszutauschen und Pläne zu Nachmittagspartieen zu besprechen. Die Musik der Chevauxlegers marschirte mit klingendem Spiel vorüber, um unter den Bäumen des Paradeplatzes die herkömmlichen sechs Stücke vorzutragen. Das Wetter war schön, die Gesichter, die einander auf den Straßen begegneten trugen meistens einen vergnügten, sonntäglichen Ausdruck, und die halbe Stadt schien unterwegs zu sein.
Elisabeth sah nichts von all’ dem Treiben, das sich vor ihr bewegte, ihr Herz war schwer und traurig. Umsonst hatte Otto gestern wiederholte Versuche gemacht, um die erforderliche Summe aufzunehmen, überall hatte man achselzuckend nach einer Sicherheit gefragt, die er nicht bieten konnte. Eben jetzt that er den letzten Gang in dieser Angelegenheit; Marbach, dem er sich vertraut hatte, ohne ihm jedoch den Anlaß zum Bedürfniß des gesuchten Geldes mitzutheilen, hatte noch eine Quelle ermittelt, die Aussicht gab, die Summe wenigstens theilweise zu erhalten. Mit der Mittagspost wollten dann die Gatten nach Berneck zurückkehren.
Elisabeth seufzte bei dem Gedanken an die Heimkehr in das liebe Haus, wo sie bis vor Kurzem so glückselige Tage verlebt. Wie hatte so plötzlich eine dunkle Wolke alle die sonnigen Freuden überschattet, ach, und wie machtlos fühlte sie sich dem Schlage gegenüber, der ihren geliebten Otto betroffen! – Sie sann über seine Weigerung nach, die reichen Mittel ihrer Verwandten in Anspruch zu nehmen. Mit ihrem einfachen, warmen Herzen, das keinen Werth auf äußere Güter legte, das selbst so gerne gab, hatte sie kein Verständniß dafür, warum er in Sorgen und Ruhelosigkeit dahin leben wollte, statt einen Beistand in Anspruch zu nehmen, der willig, ja mit Freuden gegeben worden wäre. Aber kein Vorwurf mischte sich in ihre Verwunderung darüber. Sie liebte ihn! Er stand für sie hoch über allen andern Menschen; was er beschloß, was er ergriff, mußte das Richtige sein – und war denn der Stolz, der sein Liebstes so allein, ohne Zugabe haben wollte, nicht voll des süßesten Gefühls für sie? und war denn das Zartgefühl, das jede Verletzung fast krankhaft scheute, nicht eine der schönsten Blüthen seines sonst so männlichen Charakters?
Sein reizbares Zartgefühl – bei dem Gedanken daran zuckte wieder ein scharfer Schmerz durch ihre Seele! Die neue Sorge war ja nicht Alles, was sie drückte, war für ihr tiefstes Herz nur ein Schatten der Last, die auf ihm lag – der Last ihres eigenen Geheimnisses!
Wenn nun das häusliche Leben wieder begann, wenn die gegenwärtige Aufregung Otto’s sich gemäßigt haben würde, wenn nicht mehr der eine Gedanke an seine bedrohte Ehre alles Uebrige verschlang – mußte nicht dann jener Augenblick zwischen ihnen zur Sprache kommen, wo sie sich vor ihm einer Schuld angeklagt?
Und was sollte sie dann thun? Sie wußte, daß er von seinem Weibe unbedingte Hingebung erwartete, daß ihr Schweigen ihn tief kränken würde und doch, konnte, sollte sie sprechen? Bei welchem Entschluß hatte sie mehr zu fürchten für ihre Liebe? – Plötzlich zuckte ein Gedanke durch ihre Seele, ihr Auge leuchtete auf. Noch einen Augenblick stand sie sinnend, dann hatten die eben noch so erregten Züge einen festen, ruhigen Ausdruck gewonnen. Sie kleidete sich zum Ausgehen an, schloß das Zimmer ab und verließ das Hotel.
Als sie nach einer Stunde zurückkehrte, fand sie Otto ihrer harrend. „Entschuldige mich,“ sagte sie innig, „ich habe mich in Deiner Abwesenheit doch entschlossen, meine alte Schulfreundin auf einen Augenblick zu besuchen – sie würde mir’s allzu übel genommen haben, wenn sie unsern Namen in der Fremdenliste gelesen hätte. Da wir heute reisen, brauchte ich nicht lange zu bleiben.“
„Ich redete Dir ja schon gestern zu, es zu thun,“ erwiderte Otto zerstreut. Er sah elend und zerfallen aus. Elisabeth legte den Arm um seinen Hals. „Es ist Dir nicht geglückt?“ fragte sie beklommen.
„Nur mit großer Mühe und durch Marbach’s Bürgschaft ist es mir gelungen, fünfhundert Gulden aufzutreiben. Der ersten Nothwendigkeit ist damit allenfalls Genüge geschehen. Wo ich den Rest hernehme, muß die Zeit lehren. Habe Geduld mit mir, Elisabeth, wenn ich Dir jetzt vielleicht nicht sein kann, was ich möchte – zu viel, allzu viel ist in mir erschüttert – zu viel habe ich eingebüßt von meinem Glauben an die Menschheit an die eigene Kraft sogar! Dich faß’ ich, Dich halt’ ich noch, wo mir Alles untergeht,“ rief er mit ausbrechender Leidenschaft, indem er sie an sich zog – „Elisabeth, wirst Du mir bleiben?“
Als Schaumberg am Tage nach seiner Rückkehr in Berneck von seinen Nachmittagsgängen heimkehrte, erwartete ihn der Briefträger. „Schon dreimal bin ich hier gewesen, Herr Doctor,“ sagte der Mann, wichtig thuend, „ich habe einen Werthschein für Sie, er lautet auf tausend Gulden; den mußte ich Ihnen doch zu eigenen Händen übergeben.“ – Schaumberg’s Gesicht färbte sich lebhaft – Marbach hatte also weitere und erfolgreiche Schritte für ihn gethan! – kein Zweifel, denn der Ort der Absendung war Bamberg. Rasch unterschrieb und untersiegelte er den Schein und ging, ohne nur Elisabeth begrüßt zu haben, selbst zur Post, um die werthvolle Sendung abzuholen.
Beim ersten Blick auf die Begleitadresse des Päckchens, das ihm eingehändigt wurde, fuhr er zusammen – sie war nicht von Marbach’s Hand, sondern trug andere, ihm wohlbekannte, obgleich lange nicht erblickte Schriftzüge – die der anonymen Briefe von damals. In lebhafter Aufregung eilte er nach Hause, schloß sich ein und erbrach das Siegel. Er hatte sich nicht getäuscht, es war wirklich dieselbe Hand! Das Blatt enthielt folgende Zeilen: „Ein Zufall hat mich erfahren lassen, welche Sorgen meinen Freund bedrücken. Das Kreuz, welches ihn mir einst zuführen sollte, könnte doch noch zu einer Quelle des Glücks für mich werden, wenn er es verwerthen und sich damit von dem befreien möchte, was ihn bedrängt. Ich habe ihm einst gesagt, daß mein Herz ihm gehört – er wird die Gabe nicht zurückweisen, die ich stolz genug bin, als eine weit geringere zu betrachten.“
Mit bebender Hand öffnete Schaumberg das Paket. Es enthielt ein Etui, dessen Feder dem leisesten Druck nachgab; ein Malteserkreuz von alterthümlicher Filigranarbeit, mit großen, augenscheinlich höchst werthvollen Brillanten besetzt, strahlte ihm daraus entgegen; den Mittelpunkt desselben bildete der Buchstabe E.
Nach dem ersten Moment höchster Betroffenheit wallte es stürmisch in Otto auf – Rührung, Demüthigung, ja heftiger Unmuth gingen nach einander durch seine Seele – der letztere Eindruck jedoch blieb vorherrschend. Marbach war also indiscret gewesen! nur durch ihn hatte Helene seine Bedrängniß erfahren können, und sie, von der er sich mit dem Bewußtsein losgerissen, daß sie jede Stunde, die er ihr einst gewidmet, mit heißen Schmerzen bezahlen würde – sie drängte sich nun zum zweiten Mal in sein Leben. Er konnte, er wollte den Gedanken nicht ertragen, ihr in dieser Weise verpflichtet zu sein, von ihr, der er nichts zu bieten hatte, ewig zu empfangen, erst ihr Herz, dann ihre Schätze! – In höchster Aufregung setzte er sich an seinen Schreibtisch, füllte mit fliegender Feder die vier Seiten eines Briefblattes und legte die erhaltenen anonymen Briefe dazwischen; dann packte und siegelte er die Blätter zugleich mit dem Kreuze ein und schloß das Paket in sein Bureau, da erst morgen die nächste Post nach Bamberg abging.
Es dauerte lange, bis er hinreichende Fassung gewann, um sein Zimmer zu verlassen; sein ganzes Wesen war in stürmischer Wallung. Endlich trat er doch bei Elisabeth ein. Zum ersten Male war ihre Nähe ihm drückend; laut sprach es in ihm, daß er jener Forderung gegenseitigen Vertrauens, die er als eine der höchsten Pflichten der Ehe betrachtete, nun selbst nicht Wort hielt, und doch konnte er sich nicht entschließen, ihr mitzutheilen, was ihm begegnet war.
In eigenthümlich gezwungener Weise schlichen heute die sonst so schönen Abendstunden an Beiden vorüber. Die gewaltsam niedergekämpfte Erregung Otto’s konnte Elisabeth nicht entgehen, dennoch richtete sie keine Frage an ihn, nur ward sie immer blasser und stiller, je mehr der Abend vorrückte.
Am folgenden Morgen ging Schaumberg zur Post, um das inhaltsschwere Päckchen dort aufzugeben. Er war durch eine Berufspflicht aufgehalten worden; bereits stand der Postwagen angespannt auf der Straße. Ein rascher Gedanke durchfuhr ihn.
Nach kurzem Zögern steckte er das Päckchen wieder in die Brusttasche, trat in’s Bureau, löste ein Fahrbillet und riß ein Blatt aus seiner Brieftasche, worauf er mit Bleistift die Mittheilung an seine Frau notirte, daß er erst Abends zurückkehren würde. Er übergab das Blättchen einem vorübergehenden Knaben zur sofortigen Bestellung und nahm dann seinen Platz in der Postkutsche ein. Zwischen ihrer Ankunft in Bamberg und dem Abgang der dortigen Post nach Berneck lagen drei Stunden. Sie genügten für seinen Zweck – er wollte Helene selbst sprechen.
Helene Dalen saß vor ihrem Schreibtisch und betrachtete sinnend einen Brief, dessen Adresse sie eben geschrieben hatte; es war die des Majors von Feldheim, und der Brief enthielt die Zusage ihrer Hand.
Die junge Frau ergriff das Petschaft, um ihren Brief zu siegeln; das Geschäft kam aber nicht zu Stande – sie warf ihn plötzlich von sich, drückte ihre Hand vor die Augen und brach in heiße Thränen aus. Es war ihr, als sei es unmöglich, das zu besiegeln, was sie geschrieben – vor die Gestalt des treuen, bewährten Freundes drängte sich in diesem Augenblick, wie schon so oft, ein anderes, ein unvergeßliches Bild!
Als vor einigen Tagen die warme, liebevolle Werbung Feldheim’s an sie gelangt war, hatte sein Brief auch in ihr Wärme und Liebe hervorgerufen. Sie hatte den Freund, dessen Umgang ihr seit Jahren ein Lebensbedürfniß gewesen, seit der Trennung von ihm täglich, ja stündlich vermißt, sein trefflicher Charakter, seine Anhänglichkeit an sie waren ihr, je länger sie ihn entbehrte, desto mehr zum Bewußtsein gekommen, und sie hatte sich mit dem Gedanken, seine Lebensgefährtin zu werden, völlig vertraut gemacht.
Seit zwei Tagen, waren aber alle Träume von Ruhe und Zufriedenheit wie Staub von ihr zerfallen. Sie hatte Otto Schaumberg während seines Aufenthaltes in Bamberg wiedergesehen, ohne von ihm bemerkt zu werden, und der Aufruhr, in den diese Begegnung ihr ganzes Wesen versetzte, fiel wie ein Blitzstrahl in ihre Seele. Nichts war verschmerzt, nichts vergessen, noch heute flog jede Fiber in ihr dieser einen Gestalt zu!
Heute war es ein Jahr, daß er von ihr geschieden, – er hatte sich für immer von ihr getrennt, er war mit einer Andern verbunden, kein Wunsch, keine noch so leise Hoffnung konnte sich mehr an sein Bild knüpfen, und doch stand es, seit sie ihn wiedergesehen, Tag und Nacht vor ihr; die Erinnerung jeder Stunde, die sie mit ihm verlebt, umgab sie wie die Luft, die sie athmete!
Konnte sie, durfte sie mit diesem Bewußtsein dem Freunde ihr Leben zugeloben, dem Manne, den sie hoch hielt, wie keinen Andern, der jede Liebe verdiente? Warum liebte sie nicht ihn? Warum – das fragst Du Dich, arme Helene!
Helenens Thränen flossen nicht lange. Es war nicht die erlösende Fluth, die das Herz befreit, es war ein augenblicklicher Krampf des beinahe physischen Schmerzes gewesen, der sie durchwühlte. Sie schob den Brief zurück, löschte die Kerze, stand auf und öffnete ihren Flügel. Ohne Zusammenhang irrte ihre Hand auf den Tasten, die Geister verklungener Melodien, der Klang einer verhallten Stimme füllten ihr Ohr, ihre Seele. Wieder tauchte die schon tausendmal durchforschte Frage in ihr auf – was sie damals um ihr Glück gebracht? Warum hatte Otto, der ernste, einsiedlerische Mann, sich ihr genähert, wenn ihn nicht Neigung zog? Warum hatte er sie aufgegeben, während doch im Augenblicke des Scheidend vollster Seelenschmerz aus seinem Blicke sprach?
Es war nicht anders möglich, etwas ihr Unbekanntes, etwas, das von außen kam, mußte sich zwischen sie und ihn gedrängt, sie um all’ ihre Lebenshoffnungen betrogen haben! Vielleicht dachte er ihrer eben so lebhaft, wie sie an ihn dachte – vielleicht hatte auch er nur darum eine Andere gewählt, weil jene geheimnißvolle Scheidewand ihn von ihr trennte. – Nur noch einmal ihn wiedersehen! noch einmal vor ihm stehen, in sein Auge blicken, sich gegen ihn aussprechen – nur einen einzigen Herzenston von ihm hören – und dann in Gottes Namen für immer scheiden! rief es laut und lauter in ihrer stürmisch bewegten Seele.
Ein rasches Klopfen an ihrer Thür unterbrach die wogenden Gedanken. Helene fuhr heftig zusammen – der Klang dieses Pochens gehörte in ihre Träume! Ihr Herein klang zitternd und, als erblickte sie einen Geist, so regungslos, so blaß starrte sie dem Eintretenden entgegen.
Otto begrüßte sie ernst, Beide standen sich wortlos gegenüber.
„Sie ahnen wohl, was mich heute zu Ihnen führt, gnädige Frau,“ sagte Schaumberg endlich in gehaltenem Ton. „Ich dachte erst, Ihnen schriftlich zu antworten, doch hielt ich es für meine Pflicht, einen so großen Beweis Ihres Vertrauens persönlich in Ihre Hände zurückzulegen und Ihnen den wärmsten Dank für [773] Ihre Gabe auszusprechen, wenn ich gleich außer Stande bin, sie anzunehmen.“
„Ich verstehe Sie nicht!“ sagte Helene, ihn fassungslos anblickend.
„Doch, gnädige Frau! Lassen Sie uns offen gegen einander sein – wir bedürfen dessen Beide! Nicht jeder Frau gegenüber würde ich eine mündliche Unterredung dem schriftlichen Aussprechen über so zarte Punkte vorgezogen haben, aber von Ihnen weiß ich, daß Sie groß und frei genug denken, um sich zu Dem, was eine große und freie Empfindung Ihnen zu thun gebot, auch zu bekennen. Empfangen Sie mit meinem tiefsten Dank hier das Pfand Ihrer Freundschaft für mich zurück – ich habe es für meine Pflicht gehalten, auch Ihre Briefe beizufügen.“
„Meine Briefe?“ stammelte Helene in größter Aufregung, „das muß – geben Sie!“
Nicht von archäologischen Forschungen, nicht von aufgefundenen Hünengräbern und Thränenurnen, auch nicht von dem sagenumwobenen tausendjährigen Grabe eines Nordlandshelden will ich erzählen. Nein, das Grab im Norden, welches ich meine, steht mit seinen geweihten Aschenresten unserm Herzen näher als alle nordischen Mythen. Es ist die Ruhestätte eines deutschen Sängers, dessen Lippen einst überströmten in blühender Sangesfülle, dessen holde Weisen unsterblich im deutschen Volksmunde fortklingen.
[774] Es war erst kurze Zeit, daß ich mich in Riga befand. „Heute werde ich Ihnen einige Sehenswürdigkeiten dieser baltischen Metropole zeigen,“ sagte zu mir der Musikdirector C. –
Wir wanderten durch den alten Stadttheil zum Ufer der Düna. Die große Anzahl von Seeschiffen, das Stöhnen und Rauschen der Dampfer, das Hinüber- und Herübergleiten unzähliger kleiner Boote – kurz das ganze lebendige Treiben der Seestadt fesselte mich. Aber immer fremdartiger und unheimlicher wurde es mir, je mehr wir uns, das Ufer entlang gehend, der Moskauer Vorstadt näherten. Statt der lustig beflaggten Schiffe mit Masten und Takelwerk erblickte ich schließlich nur noch eine Menge von Strusen, jenen großen häßlichen Fahrzeugen, die, zeltartig mit gelbgrauen Matten überdeckt, schon oft mit riesigen Schildkröten verglichen worden sind. Sie kommen die Düna herunter und bringen der Stadt und den ausländischen Schiffen Produkte und Waaren aus dem Innern. Unangenehm gelbgrau wie die Farbe der Fahrzeuge ist auch die ärmliche Kleidung ihrer Bemannung. Mich überkam bei dem Anblick ein heimwehartiges Frösteln, das von dem fremdartigen Idiom, welches ich da ausschließlich sprechen hörte, gewiß nicht gemildert wurde.
„Lassen Sie uns hinweg von hier,“ sagte ich zu meinem Führer, „dies ist für einen Fremden nicht uninteressant, aber die Umgebung durchschauert mich der Art, daß ich mich fortsehne.“
„Sie werden alsbald einen Anblick haben, der Ihnen mehr als alle Andre die deutsche Heimath herbeizaubern wird,“ erwiderte mein Begleiter.
Wir wendeten uns in das Innere der Moskauer Vorstadt. Die Leute auf der Straße sprachen fast nur russisch. Mein Freund führte mich zu einem Begräbnißplatz. Frauen und Männer wandelten daselbst auf und ab. Statt russisch hörte ich jetzt fast nur polnisch sprechen. Es war der katholische Kirchhof, auf welchem viele Polen begraben liegen.
„Sie wollten mich, um jenen beklemmenden fremdartigen Eindruck zu verwischen, in eine recht heimathlich deutsche Umgebung führen,“ sagte ich zu meinem Führer, als wir durch die Gräberreihen schritten, „ich bemerke davon sehr wenig, jene Trauernden reden eine Sprache, welche mir ebenso unverständlich ist, wie die Inschriften vieler dieser Grabmonumente.“
Plötzlich stand ich wie gebannt. In dieser fremden Umgebung, die mich an alles Andere eher als an Deutschland erinnern konnte, strahlte mir von der schwarzen Fläche eines schlanken Kreuzes in Goldlettern der Name „Conradin Kreutzer“ entgegen.
Conradin Kreutzer, der Schöpfer des „Nachtlagers von Granada“! Erschütterung, Freude und Wehmuth waren die aufeinander folgenden Stadien der Empfindung, welche der Anblick in mir erregte. Wohl hatte ich längst in einer Biographie des Componisten gelesen, daß er in Riga begraben sei, daran gedacht hatte ich, ich gestehe es, seitdem nicht wieder.
Wie ich jetzt das Grab vor mir sah, war es mir die Verkörperung der alten wehmuthvollen Geschichte von dem Erdenwallen deutscher Künstler. Wie viele tausend deutscher Herzen hast Du, Conradin Kreutzer, nicht erquickt und erwärmt durch den gemüthvollen Reiz Deiner Melodieen, und wie viel tausend Herzen feiern Dich nicht fort und fort, indem sie nicht lassen können von Deinen süßen, milden, echt deutschen Weisen! Wenn es eine Statistik über Ständchen gäbe – keines Tonschöpfers Harmonieen haben so häufig die anmuthigen Schlummerstörer gemacht, als die Deinen. Das „süße Grauen und geheime Wehen“ Deines Sanges, hat es nicht hineingeschauert in die beseligenden Träume unzähliger Menschen? Giebt es irgendwo auf dem weiten Erdenrund einen Verein deutscher Sänger, dem nicht gerade Deine Lieder die innigste Freude bereitet haben? – Und was bot man Dir für alle die herrlichen Geschenke, mit denen Du die Deutschen bedacht? Mühe und Leid, ein ruheloses Wandern, ein stilles trübseliges Ende und – ein Grab in der Moskauer Vorstadt von Riga!
Von alledem ist das Letzte vielleicht das Beste. Der Wanderzug, der Dich vom Süden zum Norden getrieben, brachte Dich in den nördlichsten der Bereiche, wo deutsche Sitte, deutsches Wesen sich eine Stätte gegründet haben. Da schlummerst Du nun, und Dein Grab ist uns ein fortwährender ernster Gruß aus dem Mutterlande.
Conradin Kreutzer’s Grab wird nicht durch ein glänzendes Monument geziert. An dem von einer Kette umgebenen Grabhügel steht auf einem unbehauenen Granitsockel ein einfaches schlankes Kreuz, das auf der einen Seite in Goldlettern die Daten der Geburt und des Heimgangs, auf der andern den Namen Conradin Kreutzer erhält. Der bloße Name ist gewiß das schönste Epitaph, welches man wählen konnte, und des ganzen, übrigens wohlgepflegten Grabes Einfachheit, über die man sich verschiedentlich aufgehalten, weil sie in keinem Verhältniß zu der Bedeutung des Verstorbenen stehe, entspricht durchaus der stillen Bescheidenheit, welche Kreutzer im Verkehr mit der Welt zeigte.
So war er im Herbst des Jahres 1848 nach Riga gekommen, ohne daß man im größeren Publicum eine Ahnung von seiner Ankunft gehabt hätte. Diese wurde erst weiter bekannt, als eines Abends im Theater während einer Opernvorstellung eine allgemeine Bewegung unter den Orchestermitgliedern und deren fortwährend auf einen Logenplatz gerichtete Aufmerksamkeit auffiel. Der Gegenstand derselben war Conradin Kreutzer, der sich zum ersten Male im Rigaer Stadttheater befand.
Seiner Bescheidenheit und einem doch wiederum mit derselben verbundenen heimlichen Stolze ist es zuzuschreiben, daß er, wie ja auch an Orten seines früheren Aufenthaltes, hier in ziemlich knappen pecuniären Verhältnissen lebte, ohne daß man hätte Veranlassung nehmen können, ihm seine Existenz zu erleichtern.
Er war nicht, wie irrthümlich berichtet wird, wegen eines Engagements als Capellmeister, sondern nur in Begleitung seiner Tochter hier, die am hiesigen Stadttheater als Sängerin engagirt und noch immer seine Schülerin war. Mit Frau und Tochter lebte er von der Gage der letzteren und von dem geringen Honorar, welches ihm einige Gesangstunden einbrachten. Nur einmal ist er hier öffentlich als Dirigent aufgetreten, und zwar am 16. Februar 1849, als „das Nachtlager von Granada“ zum Benefiz seiner Tochter gegeben wurde. Mit dieser ausnahmsweisen Leitung seiner eigenen Oper zum Besten seiner Tochter schloß Kreutzer’s Dirigenten-Thätigkeit. Das hiesige Publicum nahm die Gelegenheit wahr, dem berühmten Componisten die lebhaftesten Sympathieen zu zeigen. Er wurde mit allen möglichen Beweisen des Beifalles und der Verehrung überschüttet.
Seine Thätigkeit als Componist schloß mit einem coupletartigen Liede: „Mädchen und Blumen“, welches er aus Gefälligkeit für den damals hier engagirten Komiker Hermann Butterweck, den Verfasser des Textes, componirt hatte, der es zu seinem Benefiz als Einlage in dem komischen Volksgemälde: „der Unbedeutende“ sang. Das Lied erschien hier später im Druck. Es trägt den Charakter einer unbedeutenden Gelegenheitsarbeit und zeigt keine Spuren von der einst so blühenden Kreutzer’schen Melodik. Es ist seine letzte Composition, und so viel ich erfahren konnte, hat er hier, auch vorher, nichts Anderes producirt.
Die stille Zurückgezogenheit, in welcher er hier lebte, mag theils mit seiner drückenden pecuniären Lage im Zusammenhang gestanden haben, zum größeren Theil hatte sie aber einen tieferen Grund. Hätte Kreutzer hier noch die Elasticität des Geistes und Gemüthes gehabt, die ihm früher eigen gewesen war, so würde er sicher versucht haben, in das hiesige Musikleben auf die eine oder andere Weise, direct oder indirect, fördernd und belebend einzugreifen, und es würde dann auch wohl von selbst gekommen sein, daß man, auf den Werth einer solchen Impuls gebenden Persönlichkeit mehr aufmerksam gemacht, ihn in einer auch seiner pecuniären Lage zu Gute kommenden Weise zu entsprechender Thätigkeit herangezogen hätte. Dieses unterblieb, weil der große Tonkünstler sich leider in einer Passivität verhielt, die von aufmerksamen Beobachtern ebensosehr einem durch Mißerfolge der letzten Jahre seiner künstlerischen Thätigkeit bestimmten Gemüthszustande als dem herannahenden Alter zugeschrieben wurde. Es hatte sich seiner eine Apathie bemächtigt, die ihn von seiner früheren Art, sich künstlerisch und gesellschaftlich zu geben, wesentlich unterschied, und aus der er nur hier und da momentan auflebte.
Obwohl er nur von mittlerer Mannesgröße war, so hatte seine Persönlichkeit noch wenige Jahre vorher stets etwas Imponirendes gehabt. Seine Haltung war stattlich-aufrecht, sein Gesichtsausdruck, bei aller Weichheit, klar, bestimmt und ingeniös gewesen. Das Alles hatte sich, als er hier war, geändert. Seine körperliche Vollkraft war fast zur Corpulenz geworden, in der unzweifelhaft schon der Keim seines Todes, die Ursache zu dem Schlagflusse lag, der ihn im folgenden Jahre hinwegraffte. Sein Wesen [775] hatte etwas Stilles, Gedrücktes angenommen, was ihn nur selten verließ. Durch gute Musik oder lebhafte Unterhaltung über dieselbe angeregt, loderte zuweilen wie aus verglimmenden Kohlen die alte Flamme seiner Kunstbegeisterung auf. Es war dieses meist der Fall an den Musikabenden, die bei kunstsinnigen Privatleuten, z. B. im Hause des hiesigen Brauereibesitzers Zigra, veranstaltet wurden, wo man in kleinem Künstlerkreise Kammermusik trieb. Da trug Kreutzer mit freundlichster Bereitwilligkeit Clavier-Piecen vor, und wenn er phantasirte, soll noch manchmal aus den Tasten in anziehender liebenswürdiger Weise sein alter Genius hervorgeschwebt sein, zuweilen allerdings ganz, als wolle er wehmüthig Abschied von dem Meister nehmen, denn dieser war nur zu oft gleich nach dem Vortrage wieder still und in sich gekehrt.
Am 14. December 1849, nachdem der Componist wenige Wochen vorher seinen siebenundsechszigsten Geburtstag gefeiert hatte, befreite ihn, wie bereits erwähnt, ein Schlagfluß von einem Leben, an welchem er, wie der ganze Eindruck seiner Persönlichkeit während seines Hierseins bewiesen, wenig Freude mehr empfunden hatte. Da inzwischen der Contract der Tochter mit dem hiesigen Theater abgelaufen und nicht erneuert worden war, so befand sich diese mit ihrer Mutter in der bedrängtesten Lage. Ein zum Besten derselben veranstaltetes Concert lieferte ein Ergebniß, welches wenigstens vor der Hand der äußersten Noth steuerte. Die Tochter soll bald darauf die Gattin eines auswärtigen Kaufmannes geworden sein.
Die „Rigaer Liedertafel“, damals der einzige hiesige Männergesangverein, sorgte für eine würdige feierliche Bestattung des Verstorbenen und ist noch fortwährend die Hüterin seines Grabes.
Auch der Hinterwald hat seine Romantik, und nur, was bei uns in der alten Welt ein Hauptzug der Romantik ist, Spuk- und Gespenstergeschichten fehlen ihm gänzlich. Sonst giebt’s Ueberfluß an blutigen Stellen, an wilden Lebensläufen, an abenteuerlichen Fahrten. Erinnerungen an finstere Helden der Grenzkriege, an Indianerjäger, wie die schrecklichen Brüder Wetzel, an Renegaten, wie Simon Girty, an Strompiraten, wie Mike Fink, schweben um diesen und jenen Ort. Endlich mangelt es auch nicht an Sonderlingen der verschiedensten Art, namentlich nicht an wunderlichen Heiligen, und von zwei Exemplaren der letzteren Art soll im Folgenden berichtet werden. Beide sind Pennsylvanier, der eine ein Angloamerikaner, der andere ein Deutscher.
Von dem ersten erzählte man mir in dem Buckey-Städtchen Findlay am Rande des Schwarzen Sumpfes in Nord-Ohio, wo man ihn zuletzt gesehen, als die Shawanoes noch in dieser Gegend haus’ten. Sein Name war Jonathan Chapman, gekannter aber war er unter dem Spitznamen Johnny Appleseed, d. h. Hänschen Apfelkern. Er war ein Sonderling von der liebenswürdigen Sorte. Unter dem rauhen gewaltthätigen Volk, das damals hier, an der Grenze der Civilisation, den Wald rodete und den rothen Mann wie den Hirsch jagte, folgte er dem milden Beruf eines Gärtners in der Wüste, indem er ohne Anspruch auf Dank und Lohn die unwirthbare Waldregion durchwanderte, um aus ihr einen Obstgarten zu machen. Von Pennsylvanien mit der weiterrückenden Cultur nach Ohio gekommen, hielt er sich stets auf der Linie zwischen den äußersten Vorposten der Weißen und den letzten Nachzüglern der abziehenden Indianerstämme auf. Hier klärte er auf dem fetten Lehmboden der Flußränder das Unterholz hinweg und pflanzte dann seine Apfelkerne, worauf er den Ort verließ, um wiederzukehren, wenn die Keime zu Bäumchen geworden waren. Kamen dann Ansiedler in die Gegend, so war Johnny mit seinen Schößlingen für sie bereit, die er in der Regel verschenkte oder gegen ein Mittagsessen oder ein altes Kleidungsstück vertauschte. In dieser segensvollen Wirksamkeit fuhr er lange Jahre fort, bis das Land voll von den Früchten seiner Arbeit war und er, gleich jenen grimmen Neuntödterseelen, die den Indianer vertilgten, und gleich jenen rüstigen Rodewalden, die mit Beil und Brand den Urforst niederwarfen, neuen Spielraum für seinen Trieb im fernen Westen suchen mußte, wo er dann verschollen ist.
Johnny war ein kleiner verwachsener Mann mit langem dunklem Bart und schwarzen blitzenden Augen, hastig und ruhelos in Rede und Geberde. Seine Kleidung war meist abgerissen und schmutzig. Zu einer Zeit ging er sogar in einem Kaffeesack von braunem Bast einher, in dessen Boden er Löcher geschnitten, um Kopf und Arme hindurchstecken zu können. In der Regel erschien er barfuß. Seine Kopfbedeckung war ein Blechnapf, der ihm zugleich als Kochgeschirr und Schüssel diente. Als Waffe und Werkzeug führte das originelle Männlein, das in seiner Erscheinung viel Ähnlichkeit mit den Waldzwergen unserer Märchen gehabt haben muß, eine Sichel bei sich. In Sachen des Glaubens war er ein Anhänger Swedenborg’s, dessen Schriften er zugleich mit seinen Apfelbäumen verbreitete, wobei es zuweilen geschah, daß er ein Buch, von dem er nicht genug Vorrath hatte, in zwei Theile zerriß und die beiden Hälften an verschiedene Personen vertheilte.
Durch Strapazen und Entbehrungen aller Art abgehärtet, schlief Hänschen Apfelkern oft während der rauhesten Jahreszeit unter freiem Himmel, und nicht selten soll’s gewesen sein, daß er meilenweit mit bloßen Füßen durch beschneite Gegenden wanderte.
Hieran knüpft sich eine Anekdote von ihm, die recht bezeichnend für sein naives Wesen ist. Einst hielt ein methodistischer Reiseprediger auf dem Markte eines Städtchens am Maumee – wenn ich mich recht erinnere, war’s in Defiance – eine Ansprache an das Volk, in deren Verlauf er ausrief: „Wo ist der in Demuth barfuß einherwandelnde Christ, der auf der Fahrt zum Himmelreich begriffen ist?“ Da sah man plötzlich unseren Johnny, der dem Sermon, auf einen Holzhaufen gelagert, aufmerksam zugehört hatte und die Frage wörtlich nahm, seine nackten Füße emporstrecken, und mit lauter Stimme schrie er: „Hier, mein guter Mann, hier ist er.“
Während manche der damaligen Hinterwäldler, wenn sie einen Indianer niederschossen, nicht mehr Blutscheu anwandelte, als wenn sie eine Fliege todtschlugen, hielt Johnny es sogar für schwere Sünde, ein Thier des Lebens zu berauben, und mehrmals gab er Proben dieser Gesinnung. Einmal begab sich’s, daß er auf dem Gange über eine Prairie von einer Klapperschlange gebissen wurde. Einige Zeit nachher fragte ihn ein Bekannter nach dem Vorfall. Johnny that einen tiefen Seufzer und erwiderte, indem seine Augen sich mit Thränen füllten: „Das arme Ding! Kaum hatte es mich angerührt, als ich, übermannt von gottloser Unduldsamkeit, ihm mit meiner Sichel den Kopf abschlug. Das arme, schuldlose Thierchen!“ Ein ander Mal hatte er sich draußen im Walde ein Feuer angemacht, um sich gegen die Kälte der Herbstnacht zu schützen, die er dort zuzubringen gedachte. Da bemerkte er, daß die Muskitos in die Flammen flogen und verbrannten. Sogleich erhob er sich, füllte jenes Blechgeschirr, welches er als Mütze und Kochtopf zu benutzen pflegte, mit Wasser aus dem benachbarten Flusse und goß das Lagerfeuer aus, indem er sagte: „Verhüte Gott, daß ich rein um meiner Bequemlichkeit willen Ursache werden sollte zum Tode eines meiner Mitgeschöpfe!“
Unser zweiter wunderlicher Heiliger, der eine Anzahl anderer wunderlicher Heiliger um sich versammelte, gehörte anfangs in den Kreis, den der Aufsatz über die Tunker (vergl. Nr. 43, S. 679) geschildert hat. In der Gemeinde dieser Wiedertäufer, die sich am Mühlbach in der pennsylvanischen Grafschaft Lancaster gebildet hatte, befand sich ein gewisser Conrad Beißel, ein Deutscher, welcher nach eifrigem Forschen im Wort Gottes gefunden hatte, daß die Tunker sich einem Irrthum hingaben, indem sie den ersten Tag der Woche feierten, während doch der große Jehova den siebenten heilig zu halten geboten und dieses Gebot niemals aufgehoben hatte. Er veröffentlichte um das Jahr 1725 eine Abhandlung, in welcher er diesen Punkt behandelte. Derselbe rief in der Tunkergemeinde am Mühlbach Aufregung und Streit hervor, und diese Wirren veranlaßten Beißel, sich in
[776] der Wildniß am Flusse Cocalico in einer Zelle niederzulassen, die früher einem Einsiedler, Namens Elimelech, zur Wohnung gedient hatte. Lange Zeit blieb sein Zufluchtsort denen, die er verlassen hatte, verborgen. Als derselbe endlich entdeckt worden, sammelten sich um ihn alle die, welche sich am Mühlbach inzwischen von der Wahrheit überzeugt hatten, daß Gott nur mit dem Feiern des Sonnabends gedient sei, und bauten sich Hütten um seine Zelle. So entstand die Eremitengemeinde der Siebenttäger, die 1732 das Einsiedlerleben mit dem klösterlichen vertauschte. Es entstand eine förmliche Bruderschaft, die in einem geschlossenen Dorfe mit einem Hauptgebäude beisammen lebte, welchem die Gesellschaft den Namen Ephrata beilegte. Die Brüder, denen sich auch Schwestern beigesellten, nahmen das Ordenskleid der Capuziner an und Alle, die in das Kloster eintraten, vertauschten ihre weltlichen Namen mit geistlichen. Onesimus, der in der Welt Israel Eckerlin geheißen, wurde zum Prior erwählt. Später hatte Iaebez, früher Peter Müller genannt, diese Würde inne. Beißel, der den Klosternamen Friedsam Gottrecht führte, begnügte sich mit dem Titel „Geistlicher Vater“.
Im Jahre 1740 zählte das Kloster sechsunddreißig unverheirathete Brüder und fünfunddreißig Schwestern, und später hielten sich zu demselben fast dreihundert Personen, von denen indeß die Mehrzahl außer der Clausur lebte. Diese Gemeinschaft war eine Republik, in der alle Mitglieder gleich waren und nur nach ihrem freien Willen im Verbande blieben. Klösterliche Gelübde fanden nicht statt. Eine Regel oder ein Gesetzbuch hatte man ebensowenig. Das Neue Testament war ihr Glaubensbekenntniß, ihre Rechtsquelle, ihr Disciplinarcodex. Das Eigenthum, welches die Gemeinde durch Schenkungen und durch die Arbeit der einzelnen Brüder und Schwestern erwarb, gehörte der Gesammtheit; Niemand aber war gezwungen, sein Geld in den gemeinsamen Seckel zu werfen oder seinen Grundbesitz aufzugeben. Die Bedürfnisse der Gesellschaft wurden durch die mit dem Kloster verbundene Farm, durch eine Graupen-, eine Loh-, eine Oel- und eine Papiermühle beschafft, sowie durch Tischler- und Drechsler-, Weber- und Tuchmacherarbeit der Insassen.
In Betreff ihres Glaubens und ihrer religiösen Bräuche unterschieden sich die Leute von Ephrata nur durch die Sabbathfeier von den Tunkern. Sie richteten sich in allen Stücken nach dem Wortlaut der Bibel und nahmen diese buchstäblich wie die Tunker. Sie hielten es mit der Taufe wie diese, waren also Wiedertäufer. Sie feierten das Abendmahl bei Nacht und in der Weise eines gewöhnlichen Essens. Sie ließen ihm die Fußwaschung und die Communion folgen. Sie hatten die Ceremonie des heiligen Kusses und die der letzten Oelung. Die Ehe war ihnen nicht versagt, im Gegentheil, wenn ein Paar zu arm war, um sich zu heirathen, so half die Gemeinde mit ihren Mitteln aus. Aber allerdings galt Ehelosigkeit unter ihnen für einen höheren Zustand, da Paulus geschrieben: „die, so nach dem Fleische sind, sorgen für die Dinge des Fleisches, aber die, so nach dein Geiste sind, für die Dinge des Geistes.“ Wer ehelos blieb, hatte wenigstens auf einen bessern Platz in der Glorie des Himmelreichs zu hoffen.
Ehelosigkeit war infolge dessen ein Lieblingsthema für die Prediger der Siebenttäger, die sie unaufhörlich als eine erhabene Tugend mit den glänzendsten Farben darstellten, und ein häufig in ihren Hymnen gepriesener Gegenstand.
Die Sabbathfeier der Siebenttäger begann des Abends und wurde am Morgen fortgesetzt. Sie fing mit einem Liede an. Dann wurde knieend gebetet, und nach einem zweiten Liede forderte der Vorsteher irgend einen von den Brüdern auf, ein Capitel aus der Bibel vorzulesen, welches er sich nach Belieben auswählen konnte und dann auszulegen hatte.
Hierauf schärfte der „Ermahner“ der Versammlung die Pflichten ein, welche der Abschnitt dem Christen auferlegt, und hatte dann irgend ein Anwesender dieser Ansprache noch etwas hinzuzufügen, Auskunft zu wünschen oder die Sache weiter zu entwickeln, so besaß er nach der Sitte der Gemeinschaft volle Freiheit dazu. Gebet und Gesang, zuletzt die Vorlesung eines Psalms statt des Segens beschloß diesen einfachen Gottesdienst.
Es ist in Amerika Mancherlei über die wunderlichen Heiligen von Ephrata geschrieben worden, aber Vieles davon ist Unwahrheit, Anderes Verdrehung oder Uebertreibung. Man hat ihnen nachgesagt, sie lebten nur von vegetabilischer Nahrung, weil die Regel der Gesellschaft Fleischspeisen als zu bösen Gelüsten reizend verbiete. Man hat ferner behauptet, sie schliefen auf hölzernen Bänken ohne Betten und bedienten sich eines Klotzes als Kopfkissens blos um sich zu kasteien. Beide Thatsachen sind richtig, nicht so aber die Beweggründe. Wenn sie mehr Gemüse als Fleisch und oft lange Zeit gar kein Fleisch aßen, wenn sie auf groben Pritschen schliefen, so geschah es, weil die Noth sie dazu zwang. Sie waren ursprünglich sehr arm, und die Wildniß, in der sie sich ihr Kloster mit eigener Hand bauten wie die Mönche, die das heidnische Deutschland civilisirten, bot weder Braten noch Betten. Die äußerste Sparsamkeit war geboten. Wie Robinson mußte man sich mit Dem behelfen, was zur Hand war.
Es gab anfangs kaum ein Stück Eisen oder anderes Metall, einige Werkzeuge ausgenommen, in Ephrata, geschweige denn Glas oder Thongeschirr. Beim Abendmahl sogar bediente man sich hölzerner Flaschen und Kelche für den Wein und aus Holz gedrechselter Patenen für das Brod, und wenn diese Gefäße bei den Resten der Siebenttäger noch heute im Gebrauch sind, obwohl sie mit gläsernen beschenkt worden sind, so ist das pietätvolle Erinnerung an die ersten bescheidenen Anfänge ihrer Gesellschaft. Selbst die Gabeln, mit denen sie aßen, und ihre Leuchter waren von Holz gemacht, und ihre Teller bestanden aus achteckigen dünnen Bretchen von Pappelholz.
Mit der Zeit wurden sie als fleißige und sparsame Leute wohlhabend, und jetzt verschmähten sie ein gutes Bett nicht mehr und ebensowenig den Genuß anderer Freuden, obwohl Mäßigkeit im Essen und Trinken stets beobachtet wurde.
Diese wunderlichen Heiligen hatten neben ihren komischen und naturwidrigen Lehren und Bräuchen etliche sehr ehrenwerthe Eigenschaften. Sie nahmen in der Revolution entschieden Partei für die Whigs, d. h. sie waren entschiedene Gegner der englischen Unterdrückung und eifrige Freunde der Freiheit, nur durften sie nicht für sie kämpfen, da sie wie die Tunker und die Mennoniten das Waffentragen für unchristlich hielten. Sie duldeten ferner lange Zeit mit ausdauernder Sanftmuth die Mißhandlung, Verspottung und Plünderung, die ihnen übelwollende Nachbarn zufügten, und vergalten deren Unfreundlichkeit im Kriege von 1756 damit, daß sie ihnen, die damals vor dem Tomahawk der mit Frankreich verbündeten Indianer flüchteten, in ihren festen Wohnungen eine Zuflucht boten, ja ihnen und ihren Familien zu diesem Zweck sogar ihre Kirche einräumten. Die Regierung wollte sie dafür belohnen, sie nahmen aber nur ein Paar gläserne Abendmahlskelche an. Schon früher hatte der Sohn Penn’s, damals Gouverneur von Pennsylvanien, ihnen als Zeichen seiner Achtung eine Landschenkung von fünftausend Ackern zugedacht, aber sie hatten dieselbe als friedsame und bescheidene Leute abgelehnt, da sie Neid und Streit davon fürchteten. Nach der Schlacht bei Brandywine verwandelte sich die ganze Niederlassung freiwillig in ein großes Lazareth für die verwundeten Amerikaner, von denen anderthalbhundert hier starben und auf dem benachbarten Berg Zion ihre Grabstätte fanden. Auch sonst war Ephrata eine Stätte der Barmherzigkeit und der Gastfreundschaft in der Wildniß, weit und breit bekannt dafür wie die Hospize unserer Alpen.
Endlich aber genoß das Kloster der deutschen Wiedertäufer am Calico mehrere Jahrzehnte hindurch den Ruf einer guten Erziehungsanstalt; denn mehrere seiner Mönche waren Männer von Bildung, und es geschah, daß verschiedene vornehme Familien ihre Söhne hier unterrichten ließen. Die neben dieser Bildungsanstalt bestehende Sabbathschule freilich artete rasch aus. Die jungen Leute gaben sich religiösen Grübeleien hin, entzündeten ihre Phantasie mit mystischen und pietistischen Träumen und wurden schließlich so heiß und verwirrt davon, daß unter ihnen jene mit allerlei Krämpfen, Verzückungen, Aufschreien und tanzartigen Bewegungen verbundene religiöse Drehkrankheit ausbrach, die man im Jargon der amerikanischen Secten mit dein Namen Revival (Erweckung) bezeichnet, die aber mehr eine Art andächtiger Veitstanz ist, bei dem die bald himmelwärts aufjauchzende, bald über die schnöde Welt zum Tode betrübte, bald den gräulichen Höllenrachen vor sich gähnen sehende Seele vor Wonne und Angst zugleich an der Wand in die Höhe laufen und aus der Haut springen zu wollen scheint. Nachdem die armen Jungen es eine Weile recht schlimm getrieben mit diesem gottesfürchtigen Unfug, machte Beißel der Sache ein Ende. Er war, wie bemerkt, ein sehr wunderlicher Heiliger, aber kein Liebhaber von derartiger Ueberschwänglichkeit.
[777] So blühte die „Blume der Wildniß“ fort in’ der Stille, nicht ohne Auswüchse, aber im Ganzen eine erfreuliche Erscheinung. Ueber fünfzig Jahre wuchs Ephrata, dann – bald nach dem Ableben Beißel’s, der 1768 starb – begann es allmählich zurückzugehen.
Es kamen andere Zeiten und andere Menschen. Die Ideen der letzten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts verdrängten das, was das siebzehnte bewegt hatte. Die Politik trat an die Stelle der Religion. In der Revolution gegen den englischen Druck erzeugte sich rings um Ephrata ein neues Geschlecht. Die Wildniß ferner wurde mehr gelichtet. Auf allen Seiten klärte es sich auf, begann Weltluft zu wehen,, und jetzt waren die Tage der stillen Gemeinde gezählt, zumal der Krieg die Gegend wiederholt heimsuchte und die Verfolgung sich von Neuem regte.
Noch giebt es eine kleine Schaar, welche die Grundsätze der alten Siebenttäger festhält und sich regelmäßig am Sonnabend zum Gottesdienste versammelt. Aber sie haben, wie mir ein würdiger alter Herr von der Gemeinde schrieb, nur noch die Formen, nicht den Geist und den Eifer ihrer Vorgänger, und es gilt in keiner Weise mehr von ihnen, was der berühmte Morgan Edwards einst von den Leuten in Ephrata sagte: „Gott wird immer ein sichtbares Volk auf Erden haben, und diese Deutschen am Cocalico sind gegenwärtig sein Volk vor allen andern auf Erden.“ „Ephrata“ – so klagte jener alte Herr mit Pathos – „ist gefallen, von der Gluth der Liebe verlassen, über alle Begriffe entartet. Ichabod ist geschrieben auf die Mauern von Zion.“
Dagegen sind andere Siebenttägergemeinden etwas besser gediehen, und zwar giebt es deren jetzt noch drei. Die eine wurde 1758 am Bermudian Creek in York County, etwa fünfzehn englische Meilen von der Stadt York in Pennsylvanien, gegründet. Ich fand hier noch etwa dreißig Mitglieder, die aber seit vielen Jahren keinen Prediger hatten. Eine zweite, die 1763 in Bedford County entstand, war günstiger gestellt und zählte ungefähr hundert Köpfe, die sich einen reisenden Geistlichen hielten, da sie sehr zerstreut wohnten. Die wichtigste Zweiggemeinde der Beißelianer endlich befand sich im Jahre 1856 zu Snowhill in Franklin County, wo sie von zwei Aeltesten, Peter Lehmann und Andreas Snowberger, geleitet wurde und in Andreas Fahnestock einen Prediger hatte. Die Einrichtung war hier ähnlich wie in Ephrata. Man feierte wie dort den Sabbath. Die Taufe wurde nur an Erwachsenen vollzogen, und zwar in einem Bache durch dreimaliges Untertauchen des Täuflings, der dabei im Wasser kniete, nach vorn. Die Kinder wurden durch Handauflegung unter Segenssprüchen in die Gemeinde aufgenommen. Jedermann hatte Zutritt zu ihrer Abendmahlsfeier und durfte an der Communion theilnehmen, gleichviel ob er zu der Gesellschaft der Siebenttäger gehörte oder nicht. Die Beichte war bei ihnen unbekannt. Ihr Geistlicher erhielt keinen festen Gehalt, denn Paulus hatte das Evangelium umsonst gepredigt. Indeß war dadurch nicht ausgeschlossen, daß einzelne Mitglieder demselben Geschenke an Lebensmitteln, Waaren und selbst Geld machten, und bei Amtsreisen ersetzte ihm die Gemeinde aus öffentlichen Mitteln seine Auslagen.
Im Ganzen machten auch die Zweige der Stammkirche von Ephrata den Eindruck des Absterbens. Es ist eben auch für sie die Zeit nicht mehr günstig. Es gehört Urwaldsboden dazu, wenn religiöse Gemeinschaften gleich ihnen gedeihen sollen, und Pennsylvanien hat von solchem Boden nicht viel mehr auszuweisen. Auch ähnliche Seelen fristen diesseit des Mississippi nur noch kümmerlich ihre Existenz als solche. Nur unvollkommen erwehrt man sich der Aufklärung, die durch alle Ritzen dringt. Viele thun nur der Form nach noch mit. Viele sind reich geworden, und es ist schwer für die Reichen, in das Himmelreich zu gehen - wenigstens auf dem Wege, der über Stationen wie das Wiedertäuferkloster am Cocalico führt.
Rückblicke auf meine theatralische Laufbahn.
Wenn man die Bühnenzustände früherer Zeiten mit den jetzigen vergleicht, so erscheint heut zu Tage das deutsche Theaterreich für seine Unterthanen ein wahres Utopien. Wie leicht kommt der nur halbwegs begabte Anfänger seit dem Bestehen der Eisenbahnen vorwärts, wie rasch erreicht er eine verhältnißmäßig enorme Bezahlung für seine meist sehr bescheidenen Leistungen! Beginne er seine Laufbahn im kleinsten, im bescheidensten Winkel der Bretterwelt, sobald er sich nur fingerhoch über die mittelmäßigste Mittelmäßigkeit erhebt, fliegt sein Ruf mit Dampfeseile in alle Theaterbureaux, und zehn Agenten fahnden nach dem neu aufgehenden Stern. Freilich hat dieses stürmische Carrièremachen unseren Nachwuchs todtgeschlagen, es giebt eben keine Anfänger mehr, man beginnt das Haus beim Dachstuhl zu bauen, und die fertigen Schauspieler, die wahren Künstler sterben aus, ohne daß wir Hoffnung haben, ihren Platz durch ebenbürtige Nachfolger ersetzt zu sehen. Oder sind vielleicht Anschütz, Costenoble, Wilhelmi, Devrient (Ludwig und Emil), Seydelmann u. s. w. ersetzt? Hat für einen von all’ den Heimgegangenen, wirklich großen Künstlern ein würdiger Nachfolger die reiche Erbschaft angetreten? Nein, und tausendmal Nein! Wie viele deutsche Theater erfreuen sich noch eines wahrhaft vollendeten Zusammenspiels? Auf den Nagel meines Daumens will ich sie verzeichnen.
Wie mühselig war dagegen früher der Weg des Anfängers! Wie mußte ich z. B. antichambriren bei dem damals allmächtigen Theaterkönig Bäuerle in dessen Bureau und in seinem prachtvollen Wohnhause mit dem großen schattigen Park neben der Carlskirche auf der Wieden, um ein paar empfehlende Zeilen an den Theateragent Wollanek zu erhalten! Damals theilten sich drei Vermittler in Wien in die Geschäfte. Adalbert Prix war der Bevollmächtigte der Mittel- und größeren Bühnen, ein jetzt auf seinen Lorbeeren ruhender, auf sein Landhaus zurückgezogener concessionirter Agent besorgte den Manuscriptenverkauf, und Wollanek lieferte den kleinen Winkelbühnen ihre Opfer. – Letztere waren damals auch das bescheidene Ziel meines Strebens, und so erschien ich denn mit meinem allmächtigen Bäuerle’schen Empfehlungsbrief bei Herrn Wollanek. Er war nicht leicht aufzufinden gewesen: der Herr meines künftigen Geschickes wohnte auf der Leimgrube, in dem, ominös genug, zur Bettlerstiege genannten Hause, und hatte über einer der zahllosen Hintertreppen im dunkelsten Winkel eines langen Flügels seinen Wohnsitz aufgeschlagen. Ich hatte mir einen Mann, mit dieser Würde bekleidet, ich hatte mir die Räume, in denen er thronte, ganz anders gedacht. In einer finsteren Kammer saß ein Mann und ein Weib, beide in einem mehr als bescheidenen Costüme, beide mit riesigen Rohrfedern Noten copirend. Auf meine Frage nach Herrn von Wollanek erhoben sich der Mann und die Frau gleichzeitig und frugen um mein Begehr. Als ich dieses schüchtern hervor gestammelt, öffnete Herr Wollanek, dies war er selbst, eine Seitenthür und hieß mich eintreten. Als Hauptzierde dieses Geschäftssalons prunkte ein Sopha, das nach Verjagung von zwei Katzen einige sehr bedenkliche Löcher zeigte. Mich auf Einladung meines neuen Gönners vorsichtig niederlassend, betrachtete ich mir diesen genauer und bemerkte mit Entsetzen, daß ihm die Nase fehlte. Mit einem demüthigen Hinweis auf den Brief von Bäuerle erklärte er mir, daß es mir bei solchen Empfehlungen nicht fehlen könne, ich müsse meinen Weg beim Theater machen, wenn ich einen Protector habe, wie Herrn von Bäuerle; er wollte daher sein Bestes für mich thun. Dieses Beste war allerdings schlecht genug, es bestand in einer Engagementsofferte nach Krems, wo der Senf von jeher besser war, als die Schauspieler.
[778] Wollanek rieth mir, einen Vorschuß von zehn Gulden von der Direction zu verlangen. Auf meine Entgegnung, daß ich selben nicht brauche, meinte, er, daß er ihn nöthig habe, denn besagte zehn Gulden seien das Honorar, welches ich ihm für die Engagements-Vermittelung zu zahlen hätte. Als ich hierauf meine Brieftasche öffnete und die verlangten zehn Gulden bescheiden auf den Tisch placirte, steigerte sich seine Achtung gegen mich sichtlich zur Riesengröße. Jetzt wurde mir auch der Grund klar, warum er die Unterhaltung mit mir der Hörweite seiner Frau Gemahlin entzogen, sie brauchte von dem kleinen Extraeinkommen des Gatten nichts zu wissen. Ich aber fuhr als wohlbestalltes Mitglied des Stadttheaters in Krems stolz nach meinem neuen Bestimmungsort hin.
Der Director Bieber war früher Harfenist, vulgo Bänkelsänger in Wien gewesen und nichts weniger, als unbeanstandet; seine Gattin, eine hübsche junge Frau mit dem unverfälschtesten Lerchenfelderdialect sollte als „Localsängerin“ figuriren; der Komiker des Josephstädter Bierhauses, Herr Seitz, sollte in gleicher Eigenschaft das Publicum von Krems entzücken, kann aber gar nicht zum Auftreten, da „dem Herrn Collegen“ vor der ersten Vorstellung von den Behörden „ein Spiegel ohne Rahmen und Glas“, prosaisch „Steckbrief“ genannt, nachgesandt wurde, in Folge dessen der Freund des Directors schleunigst vom Schauplatze verschwand. Ich. verlor deshalb meine projectirte Stellung als erster Liebhaber und wurde laut Machtvollkommenheit des Directors zum Komiker ernannt. Auch der Ehrenposten eines Regisseurs sollte mir anvertraut werden, obgleich ich noch nie vor einem zahlenden Publicum mein bischen Talent erprobt hatte. Die übrigen Mitglieder bestanden aus einem stabilen Einwohner von Krems, der als französischer Sprachlehrer sich kümmerlich nährte, auf den seltenen Namen „Schulz“ hörte und bei Anwesenheit einer Theatergesellschaft sein schmales Einkommen mit Komödienspielen und der ihm dafür versprochenen Gage wesentlich vermehrte. Es war dies, wie er mir selbst anvertraute, die Zeit, wo er „zu Nacht essen konnte“. Ein ehemaliger Chorist vom Carltheater, Haas geheißen, und eine tüchtige, aber leider nur viel zu lange routinirte Schauspielerin, Namens Nilius, die sich beim Theater einen Sohn erspart hatte, der kleine Rollen spielte, waren die Truppen, die ins Gefecht geführt werden sollten.
Ehe ich zu unserem Repertoire komme, muß ich zuvor bemerken, daß es damals keinem Theaterdirector in der Provinz einfiel, für ein Manuscript dem Dichter Honorar zu zahlen. Dasselbe wurde von dem Souffleur der großen Residenztheater „copirt“, dem oben erwähnten Manuscriptenverkäufer überlassen, der es wieder an die Bühnenleiter, je nach dem Erfolg für fünf oder zehn Gulden, verkaufte. „Verrückt“ hätte man den Verfasser geheißen, der seinen bescheidenen Antheil von dem Ertrag seiner Arbeit gefordert hätte, als „wahnsinnig“ würden die Gerichte damals eine Klage wegen Diebstahls „geistigen“ Eigenthums zurückgewiesen haben. Wie konnte das gestohlen sein, was man sich für sein Geld abschreiben ließ, was man baar bezahlt hatte? Diese Ansicht wurde noch vor gar wenig Jahren selbst von den Behörden Berlins getheilt, wie ich zu meinem schweren Nachtheil erfahren mußte, als mir ein Stück, dessen alleiniges Aufführungsrecht ich für Berlin erworben hatte, von einem anderen Theater als gute Beute annectirt wurde. Ich sollte beweisen, daß mein Manuscript, d. h. das Buch, im Werthe von einem Thaler, aus meinem Schrank gestohlen worden sei. Für den geistigen Werth hatte das Gericht keine Schätzung. Ja noch in den letzten Tagen giebt ein Concurrenztheater Berlins ganz flott die Operette „Das Pensionat“, für welche ich das alleinige Aufführungsrecht für Berlin und zwei Meilen im Umkreis der Residenz contractlich erworben habe. Klage Einer! Wen verklagen? Den Director? Der hat es von einem diebischen Agenten gekauft. Den letzteren? Nach tausend Winkelzügen besitzt der, außer Schulden, nichts von Werth, die Proceßkosten bleiben dem Kläger auf dem Halse. Probatum est!
Nun in aller Eile zu unserer Kremser Bühnenherrlichkeit zurück, Die ganze Bibliothek unseres Directors bestand aus dem einactigen Gelegenheitsstück „Liebe um Liebe“, womit die Saison beginnen sollte. Mit der größten Mühe konnte ich es dahin bringen, daß unser Chef, der nicht zwei Zeilen orthographisch schreiben konnte, und der trotzdem, wenn nicht deshalb, die Concession erhalten hatte, von der unpassenden Wahl Abstand nahm, und wir mit Körner’s „Banditenbraut“ und Kotzebue’s „Herr von Werst, der Gefangene“ uns dem „kunstsinnigen Publicum“ vorführten. Gott allein mag wissen, was wir zusammen gespielt. Die einzige Nilius, wenn gleich viel zu alt für die Rolle, spielte die Titelrolle wenigstens erträglich, ebenso der alte Schulz den Grafen. Das Uebrige, ich nicht besser als die Uebrigen, mag schauerlich genug gewesen sein. Ich hatte als Rudolph – alle Rollen mußten von den Mitgliedern selbst heraus geschrieben werden – um den Jäger zu repräsentiren, zu meinen Straßenstiefeln weiße Tricots angezogen und Kragen und Aufschläge meines schwarzen Frackes mit grünem Papier beklebt.
Nun folgte eine lange, lange Reihe unsäglicher Demüthigungen, die ich, der den geordneten Verhältnissen des Elternhauses noch nicht entwöhnt war, doppelt schmerzlich zu empfinden hatte. Es ist unglaublich, welcher Entschluß dazu gehörte, welche feste Willenskraft, um unter einer solchen „Bande“ auszuharren. Das Wort Bande war damals, und zwar in der übelsten Bedeutung desselben, nicht nur auf die Schauspieler, sondern auch auf das verehrte Publicum der Stadt Krems anzuwenden. Roh, klatschsüchtig und kleinstädtisch, ohne alles Verständniß, behandelte man die Schauspieler damals geradezu als Parias der Gesellschaft. An allen öffentlichen Orten über die Achsel angesehen und nur durch das Gesetz vor dem Hinauswerfen geschützt, vegetirte die allerdings verschwindend kleine Minderzahl der Gebildeten unter ihnen in wahrhaft qualvoller Weise. Dazu kam für diese mit feineren Fühlfäden begabten Naturen noch das Bewußtsein, die Mißachtung innerhalb ihres Berufskreises zu verdienen; kurz, die Seelenmarter dieser Zeit überwog, bei mir wenigstens, weitaus die leiblichen Entbehrungen. Die Muttergroschen waren zugesetzt, und die versprochene Gage war längst zur Illusion geworden. Zu stolz, um meine Lage zu schildern und von Hause um Zuschuß zu bitten, duldete ich in der selbstgewählten Stellung Hunger und jegliches Elend, welches den verschämten Armen ereilen kann. Und die Cameradschaft! Ich erinnere mich an die seltnen Fälle, wo eine etwas bessere Sonntagseinnahme ein paar Gulden in unsere Hände lieferte, von denen mir vielleicht zehn bis fünfzehn Kreuzer übrig blieben, die ich zu dem sporadisch auftretenden Luxus eines warmen Abendessens verwenden wollte; wie ich der erste in die Garderobe kam, um meinen Miniaturreichthum in eine Spalte des Fußbodens zu verstecken, weil er in meiner Lasche so unsicher verborgen gewesen wäre, wie auf offener Landstraße. Es versteht sich von selbst, daß meine guten Anzüge so permanent auf den respectiven Körpern meiner Collegen herum wanderten und mit diesen Komödie spielten, daß ich einst im Gasthause gefragt wurde, wem eigentlich der gelbliche-Oberrock gehöre, den ich anhabe, ob einem Schauspieler oder der Theatergarderobe?
Einst trug ich einen der Schmerzensschreie, die ich in Briefform zur Erreichung eines anständigen Engagements in alle Welt flattern ließ, selbst zur Post. Während ich an dem einen Schalter meine schwer ersparten Groschen zur Bezahlung des Porto opfermuthig hinlegte, hörte ich ein Gesprächfragment des Herrn Postmeisters mit einem der Honoratioren der Stadt mit nicht großer Befriedigung an, obwohl der Eingang recht ermuthigend lautete. Der Herr Postmeister meinte, die diesjährige Theatergesellschaft bestände aus einer wahren Heerde Ochsen. „Der einzige Wallner ist noch erträglich.“ Hier wuchs mein Selbstgefühl in merkwürdiger Weise, klappte aber bei dem Nachsatz wieder schmerzlich zusammen, als sich der andere Herr vernehmen ließ: „Ach was, der Wallner ist auch ein Esel!“
Während dieser animalischen Zusammenstellung schlich ich, ohne mein Incognito zu enthüllen, leise aus den Räumen des Amtsgebäudes. Jetzt, wo ich die Sache äußerst komisch finde, kommt es mir sonderbar vor, wie das schroffe Urtheil meines unbekannten Gönners mir damals die Brust mit dem bittersten Weh füllen, nur viele Tage auf’s Schmerzlichste verbittern konnte. Also „darum Räuber und Mörder,“ rief es in mir mit Carl Moor, „also darum hast Du dem häuslich behaglichen Heerd, dem elterlichen Hause den Rücken gekehrt, das ist die Achtung, die Du als Künstler errungen hast?“
Dabei hatte ich aber doch Ehrgefühl genug, um keine Mühe, keine Last zu scheuen, die morsche Bauhütte unseres Thespistempels vor dem Zusammenstürzen zu bewahren. Mein damals riesiges Gedächtniß kam mir zu Hülfe, nicht nur um täglich eine neue Rolle spielend zu erlernen, sondern um Nachts in ungeheizter [779] Kammer neue Stücke aus der Erinnerung niederzuschreiben, die wir uns auf keine andere Weise zu schaffen wußten. Ich hatte keine Ahnung, daß ich damit einen literarischen Diebstahl begehe. Keiner von den Directoren der umherliegenden größeren Theater konnte begreifen, auf welche Weise die miserable Kremser Truppe in den Besitz der Stücke: Alpenkönig und Menschenfeind, der Bauer als Millionär etc. gekommen war, da Niemand auf die Idee kommen konnte, daß ein Mensch derlei aus dem Kopfe niederzuschreiben im Stande sei, und doch war es so, und noch jetzt bin ich überzeugt, daß mein Manuskript von dem Original nicht viel abgewichen sein wird. Meine nähern Freunde wissen, in welcher Weise mir selbst jetzt, in sehr vorgerücktem Alter, mein Gedächtniß treu bleibt.
Die Ausstattung dieser Zauberstücke war ebenfalls ein Unicum in der Theaterwelt. Wir hatten eben nichts, gar nichts dazu denn da die Direction „außer Schulden“ nichts von Werth besaß, so konnte nicht einmal das dringend Nöthige beschafft werden, und unsere Ausführungen hatten viel Aehnlichkeit mit jenen aus den Uranfängen der Schauspielkunst, wo eine Tafel den Schauplatz ankündigte, auf welcher es hieß: „Dies ist ein Zimmer“, später: „Dies Zimmer ist jetzt ein Wald.“ So erinnere ich mich, daß mir die Aufgabe geworden, den Rappelkopf, welcher vor den andringenden Fluthen sich auf einen Baum retten soll, ohne Baum und ohne Fluthen zu spielen, was sich allerdings bei den Worten: „Das Wasser steigt mir bis an den Hals“ komisch genug gemacht haben mag. Auch der Luxus des mit Gemsen bespannten Wagens, auf welchem der Alpenkönig den Menschenfeind „auf sein krystallnes Schloß durch die Lüfte führt“, verschmähten wir, der Fürst der Lüfte führte mich in sein glänzendes Reich bescheiden zu Fuß ein, der fallende Vorhang gab der Phantasie der Zuschauer hinlänglich Zeit, sich dieses Schloß „auf des Gletschers kühnstem Eis, das der Sterne Antlitz schaut“, so brillant als möglich – zu denken.
Wie Alles in der Welt ein Ende nimmt, so für mich auch diese opfervollste, schlimmste, hungrigste Zeit meines Lebens. Ich hielt treu aus, als schon die Direction und der letzte meiner Collegen durchgegangen waren, am Abend nach der Abschiedsvorstellung, welche weder uns, noch dem Publicum das Scheiden schwer machte. Große Ovationen hatten wir nicht zu erwarten, und so zogen es denn die meisten Kunstjünger vor, sich, ihren Hauswirthen und anderen gläubigen Seelen gegenüber, den Schmerz der Trennung zu ersparen und über etwaige Rechnungsdifferenzen nicht mündlich zu verhandeln. Wie ist es möglich machte, meinem bis zur Stunde durchgeführten Grundsatz, keine Schulden zu machen, treu zu bleiben, weiß ich nicht mehr; genug, es geschah, und daß es geschah, lieferte nur ein glänzendes Zeugniß für die Dauerhaftigkeit meiner Magenwände, die zwar stets knurrten, aber nie einstürzten.
Ischl war der zweite Ort, an dem ich eine Anstellung fand. Der Director selbst, ein gewisser Bartsch, spielte mit vieler Routine erste komische Rollen und malte nebenbei recht hübsche Decorationen. Seine Leistungen als Schauspieler entbehrten zwar selbstverständlich aller Genialität, waren aber gute bürgerliche Hausmannskost für das zerstreuungslustige Badepublicum des eben emporkommenden Ortes, und für mich Vorbild genug, um mir etwas mehr Ruhe anzueignen. Die kleinen Gagen wurden pünktlich bezahlt, das Verhältniß, so winzig es sich gestaltete, war doch wohl organisirt und nach der durchgemachten Zigeuner-Wirthschaft für mich eine wahre geistige und leibliche Erholungsstation.
Inmitten dieses Stilllebens überraschte mich ein Schreiben des Theateragenten Adalbert Prix von Wien mit einer Engagementsofferte nach Wiener-Neustadt. Die Direction dort hatte der Schauspieler Eichwald übernommen. Derselbe war der Sohn des Wiener Kaffeehausbesitzers Neuner, dessen Etablissement eine Art von Merkwürdigkeit der Residenz bildete. Nicht nur die Tabletten, auf welchen die Getränke verabreicht wurden, sondern auch Tassen und Kannen, ja sogar die Thürdrücker und Halter waren dort von Silber. Hier versammelte sich die Elite des Wiener Künstlerthums, um ihre „Schale Schwarzen“ zu trinken und eine Partie Billard zu spielen. Grillparzer, der große, leider noch immer viel zu wenig gewürdigte deutsche Dichter von Gottes Gnaden, der witzige, stets heitere Bauernfeld, an dem die Jahre spurlos vorüber gegangen zu sein scheinen, der ernste hypochondrische Komiker Ferdinand Raimund, der einzige Mensch, der mit seinen Leistungen unzufrieden war, der heißblütige Ludwig Löwe, ein warmen Verehrer Raimund’s, schon damals der geniale Künstler und Liebling der Wiener, Castelli, der urkomische naturwüchsige Kanz, sie alle waren des Nachmittags hier zu treffen, Grund genug, das „silberne Kaffeehaus“ zu einem Sammelplatz des besten Publicums zu machen.
Der alte Neuner war gestorben, und sein Sohn, der sich gegen den Willen der Eltern unter dem Namen Eichwald dem Theater gewidmet hatte und an kleinen Bühnen vegetirte, wußte nichts Eiligeres zu thun, um die ererbten Tausende schleunigst an den Mann zu bringen, als in Wiener-Neustadt eine Theaterdirection „in großem Stil“ zu entriren. Sein Vorhaben gelang auch so vollständig, daß bald von dem ganzen großen Erbtheil nichts als eine verhältnißmäßige Schuldenmenge übrig geblieben war. Der Director war ein schöner und stattlicher Mann, mit kräftigem Organ, der die Leidenschaft des Komödiespielens bis zum Exceß cultivirte. Da ihn seine mäßige Begabung auf das Fach der brüllenden Helden vorzüglich hinwies, so bildeten diese fast allein unser stehendes Repertoire. Kaspar der Thoringer löste Götz von Berlichingen ab, Wendelin von Höllenstein wechselte mit Carl Moor. Am wohlsten war meinem guten Eichwald, wenn er in prachtvoller Rüstung, ein mächtiges Schwert an seiner Seite, auf der Bühne herumrasseln und das Gewieher des Galleriepublicums hervorrufen konnte. Da war er in seinem Element, das durfte Tausende kosten! Die Mitglieder behaupteten, ihr Director habe sich eine „Nachtrüstung“ machen lassen, in welcher er zu Bette ginge. Von einer Wirthschaft konnte bei der Wirthschaft nicht die Rede sein. Offene Tafel, Spazierfahrten, Ausflüge nach Wien und Oedenburg per Extrapost füllten die freie Zeit aus. Zum Ueberfluß hatte sich Eichwald einen Jugendfreund, einen banquerotten Kaufmann, als Cassirer mitgebracht, welchem er unbedingtes Vertrauen schenkte und der die gutmüthige Blindheit Eichwald’s zu den gröbsten Betrügereien mißbrauchte.
Wir Mitglieder wußten längst, wie viel die Glocke geschlagen, denn bei Benefizen, wo nach damaligem Gebrauch der Benefiziant oder eine Vertrauensperson desselben mit an der Casse saß, wiesen die Rapporte in der Regel die doppelte Summe der Einnahme aus, die an anderen Tagen bei gleich starkem Besuch angeblich erzielt worden war. Der seelensgute Eichwald lehnte jede Andeutung auf die Zustände um ihn her mit Entschiedenheit ab und so mußte man dem Verderben seinen Lauf lasten. Ich zog mich so viel als möglich zurück, spielte ohne Widerrede jede mir zugetheilte Rolle mit Fleiß und Eifer, und wurde dem Unternehmen zwar keine feste Stütze, aber eine verläßliche, beachtenswerthe Kraft. An Gehalt bezog ich die für die damaligen Verhältnisse sehr bedeutende Monatsgage von vierzig Gulden, während mir Director Carl einige Jahre später im Theater an der Wien zu der Zeit, als ich, freilich aushülfsweise, schon erste Rollen, z. B. „Rappelkopf“ in Raimund’s Alpenkönig und Menschenfeind, „Zwirn“ im Lampaci-Vagabundus u. s. w., zur Zufriedenheit des Publicums durchzuführen im Stande war, ein monatliches Einkommen von fünfundzwanzig Gulden – Alles in Allem – gewährte. Klingt das, den heutigen Forderungen der Schauspieler gegenüber, nicht komisch oder vielmehr unglaublich? –
Eichwald hatte nach Beendigung der Wintersaison in den Localitäten eines Gasthausgartens vor dem Thore der Stadt auf seine Kosten und mit dem Rest seines Vermögens eine Arena bauen lassen, wo er, vor meist leeren Bänken, unter Gottes freiem Himmel seine Leibrollen herunter polterte, bis er uns eines schönen Tages erklärte, daß er sein Vermögen eingebüßt habe und außer Stand sei, seinen Verpflichtungen ferner nachzukommen. Wenn wir uns entschließen wollten, den Rest des Sommers auf Theilung zu spielen, so wolle der Schauspieler Klein, der inzwischen ein kleines Vermögen geerbt hatte, die Contracte für die Wintersaison übernehmen und das Geschäft weiter führen. Die Behörden seien bereits von diesem Arrangement unterrichtet und mit selbem einverstanden. Was war zu thun? Uns alle dauerte der grundehrliche, aber leichtsinnig-blinde Eichwald, und wir willigten in Alles. Vielleicht zum Glück für uns Alle ging das ganze Theaterchen mit Garderobe und mühsam zusammengemalten Decorationen noch vor der ersten Klein’schen Aufführung in Flammen auf. Kurze Zeit vor dieser feurigen Lösung unserer Contracte mit Klein hatte Nestroy sechs Gastrollen in Wiener-Neustadt gegeben, und seine Anwesenheit hatte in unserm geselligen
[780]Kreise einen Augenblick herbeigeführt, der mir ewig unvergeßlich bleibt, und zwar gerade an seinem Abschiedsabend. Einige Kunstfreunde gaben dem scheidenden Komiker ein solennes Souper, wozu einige der ersten Mitglieder des Theaters eingeladen waren. Nach Tisch schlug Nestroy ein kleines Spiel vor. Unter „kleinem Spiel“ verstand er Pharao oder Halbzwölf. Er erbot sich, ein „kleines Bänkchen“ zu legen, und hatte rasch und leidenschaftlich schnell alle Vorkehrungen dazu getroffen. Mich, der noch im Leben keine Karte in der Hand gehabt, packte der Dämon des Spiels beim Schopf und nur zu schnell hatte ich den einfachen Gang desselben begriffen. Meine finanziellen Verhältnisse waren durch ein glänzendes Benefiz, welches vor wenig Tagen zu meinem Vortheil gegeben wurde, im
[781]geregeltsten Zustande. Der kleine Betrag, den ich bei mir hatte, wurde in wenigen Minuten von dem Rachen der Bank verschlungen, eben so das, was ich mit raschen Schritten aus meiner nahe liegenden Wohnung holte, so lange – ich noch etwas zu holen hatte. In einer halben Stunde war ich rattenkahl ausgebeutelt; allein nicht nur ich, sondern auch die übrigen Anwesenden; Alles, was wir disponibel bei uns trugen, war zu Nestroy hinüber gewandert, vor dem sich ein ganz ansehnliches Häufchen Banknoten und Silber aufgethürmt hatte. Mitternacht war vorüber, Alles sah sich abgespannt und gähnend in die langen Gesichter, der Bankhalter hatte die letzte Tour angekündigt, als sich die Thür öffnet und ein sichtlich sehr schwer „angerissener“ Officier [782] eintritt. Grüßend sieht er sich im Kreise um, in dem er viele Bekannte bemerkt. „Ah, mein Lieblingsspiel, Halbzwölf; ist es erlaubt, mitzusetzen?“ Nachdem Nestroy dies mit einer artigen Verbeugung zugestanden, stochert der Betrunkene mit dem Finger den Geldhügel auseinander und ruft: „Va banque!“ Wir Alle standen starr vor Erstaunen. Sechs- bis achthundert Gulden lagen auf dem Tische. Auf das Zaudern Nestroy’s meint der Gegner, „das sei dem Herrn Banquier wohl zu viel?“ „Nicht im Geringsten,“ antwortet dieser, „allein die Summe ist groß, und ich habe nicht die Ehre, Sie näher zu kennen, wenn Sie aber den Einsatz deponiren wollen –“
„Herr Wedel,“ ruft dieser dem Eigenthümer des Hotels zu, der auch „mitgethan“ hatte, „garantiren Sie für mich?“
„Mit meinem ganzen Vermögen, Herr Hauptmann,“ versicherte dieser, halb gegen Nestroy gewendet.
„Nun, also: Va banque!“
Aufgeregt, unter athemlosem[WS 1] Schweigen der Anwesenden gab Nestroy Karten, mit strahlendem Gesicht legte er die seinen vor: „Elf!“
„Halbzwölf,“ antwortete gleichmüthig der Hauptmann, leerte die Banknoten und das Silber in seinen Tschako, stülpt den Kopf in denselben hinein und wankt mit einem gemüthlichen „gute Nacht“ zur Thür hinaus. Schneller, als ich es hier erzähle, hatte der uns allen fremde Mann die sämmtliche Baarschaft der Anwesenden aus unserer kleinen Spielhölle hinaus geschleppt. Die Situation war überwältigend! – Unter allen verblüfften Gesichtern war das Nestroy’s das allerverblüffteste; keiner von uns fand ein Wort über das so unerwartet eingebrochene Fatum, bis Nestroy mit süßsaurer Miene sprach: „Gute Nacht, meine Herren, das macht einen kleinen ‚Bremsler‘ (Preller, eine Erschütterung); morgen früh ist es vorbei.“
Für mich war es den Abend schon vorbei, die Ersparnisse der ganzen Saison trug ein mir unbekannter Officier in seinem Tschako fort. Wer mir dies am Morgen prophezeit hätte! – Ich habe später oft ähnlichen Spielscenen beigewohnt, allein keiner von so drastischem Erfolge wie dieser.
Wie oft und vielfach ist der deutsche Gebirgsbewohner schon Gegenstand poetischer und novellistischer Schilderung gewesen, und wie selten ist er richtig geschildert worden! Wer in öfterem und längerem Verkehre mit ihm zu leben die Gelegenheit hat, der kann sich genugsam hiervon, wie von der Nichtigkeit des Bucle’schen Satzes überzeugen, daß Klima und Boden nicht nur die materielle Existenz des Menschen beherrschen, sondern auch bestimmend für seine geistige Richtung sind. Man gehe nach Tirol und sehe, wie mühsam der Mensch dort sein Dasein erringen, wie er oft sein Leben wagen muß, um nur ein Bündel Heu für das tägliche Bedürfniß seines bescheidenen Viehstandes vom Gebirge herunter zu bringen; man vertiefe sich in die steilen Thäler des Schwarzwaldes, um zu sehen, auf wie gefahrvolle Weise der Waldbewohner sein Feld bestellen, wie er das einzige Product seiner Berge, das Holz, herunterbringen muß, um es verwerthen zu können – und man wird zu der Ueberzeugung gelangen, daß solche Menschen, deren Leben fast täglicher Gefahr ausgesetzt ist, bei dem Mangel des Gegengewichtes der Bildung unmöglich gemüthliche und beschauliche Bäuerchen sein können, wie sie in so manchen Dorfgeschichten zu finden sind, sondern nothwendig die Richtung zum Abenteuerlichen und Phantastischen nehmen müssen, und dies um so mehr, je eifriger der religiöse Fanatismus bei ihnen gepflegt und dagegen der Zugang des Fortschritts im Wissen und Bestreben der Außenwelt erschwert wird.
Um zu sehen, in welchem Schweiße seines Angesichts dort der Mensch im Gebirge oft sein Brod essen muß, machen wir einen Gang in die rauhen Thäler des Schwarzwaldes, da, wo ihn die Kinzig durchströmt, ehe sie noch das Dampfroß zu sehen bekommt, das sich übrigens schon gewaltig weit in jene Schluchten vor und empor gewagt hat.
Dichte schwarze Fichtenwaldungen bedecken die mächtigen Kuppen der drei- bis viertausend Fuß hohen Berge bis weit nach unten, wo sie stellenweise einem einsamen Gehöfte, oft einem stattlichen Hofgute Platz machen, das zwischen Fels und Wiesen liegt, welch’ letztere stets die untere Grenze bilden, während der zum Gute gehörende Wald oben an den Staats- oder Gemeindewald stößt. In dem Hause, dessen geräumiger strohgedeckter Dachstuhl alle Vorräthe birgt, wohnen in sich gekehrte wortkarge Menschen, nicht ohne Gastfreundschaft und uneigennütziges Entgegenkommen, aber strenge sich unterwerfend der starren Form, die das sociale Leben des Bauern regelt und bindet. Ihren stärksten Ausdruck findet dieselbe in der rücksichtslosen Art, wie das Minorat dort gehandhabt wird, das seit undenklichen Zeiten bei den Hofgütern des Schwarzwaldes in Uebung ist und das wegen der Halsstarrigkeit, mit welcher der Bauer daran festhält, wie um der wirtschaftlichen Schwierigkeit seiner Abschaffung willen, von der badischen Regierung geduldet wird. Nach dortiger Uebung erhält der jüngste Sohn Haus und Hof nebst allem Zubehör mit der Verpflichtung, dann seine Eltern auf das sogenannte Leibgeding zu setzen, d. h. ihnen ein meistens neben dem großen stehendes kleines Haus einzuräumen und für alle ihre Bedürfnisse zu sorgen, die Brüder aber als Knechte zeitlebens bei sich zu behalten und mit den Schwestern einen Vertrag einzugehen, der ihnen unter gewissen Gegenleistungen das Verbleiben im Hause ermöglicht. Verheirathen aber darf sich nur der Minoratserbe.
„Das ist aber doch grausam!“ sagte Schreiber dieses einem alten Bauern, der ihm obige Erklärung gegeben hatte. Der Bauer aber zeigte auf die jenseitige Bergwand hinüber, auf der einsam von Wald umschlossen ein solches Hofgut lag, und setzte hinzu: „Sehen Sie, da drüben das Haus kann nur eine kleine Anzahl Leute beherbergen, wenn sie alle von dem leben wollen, was da herum wächst. Von außen her können sie nichts beziehen, und mehr dort zu bauen ist nicht möglich. Sehen Sie, so ein Hof im Wald ist gerade wie ein Schiff auf dem Meere, das nur so viel Menschen und keinen einzigen mehr mitnehmen kann, als es unterzubringen und zu beköstigen vermag. Nun denken Sie sich einmal, daß das Hofgut da drüben nach dem Landrecht in sechs Theile getheilt würde, denn so viel Kinder sind da, da hätte keines genug, um davon leben zu können, so reicht es aber für alle die Sechse aus, die sonst verhungern müßten.“
Von den Gütern bedürfen die Wiesen die wenigste Sorgfalt, wenn einmal ihre Bewässerung gut eingeleitet ist; der Wald und das Feld aber bedingen eine um so schwerere Arbeit. Wenn man so durch die einsamen Thäler dahinschreitet, wird man in gewissen Jahreszeiten plötzlich hoch oben große weiße Rauchsäulen gewahr, die, sich den Berg hinunterwälzend, mit hoch aufsteigenden Flammen untermischt, ein imposantes Schauspiel gewähren und das Zeichen sind, daß dort oben ein Stück Boden urbar gemacht – gebrandet – wird.
Der Bauer läßt, wenn der Wald ausgerottet oder der karge felsige Boden erschöpft ist, ihn einige Jahre ruhen, während deren dichtes Gestrüpp von Ginster darauf wuchert. Im ersten Frühlinge wird dann Alles gefällt und, mit dürren Reisern vermengt, der ganze Boden damit bedeckt, sodann aber ein Stück davon angezündet, gerade so breit, als es die vorhandenen Arbeiter zu bewältigen vermögen. Das flackert alsbald hoch auf und in wilder Arbeit von fast infernalischem Aussehen zerren die bald vom Rauche geschwärzten Leute mit langen Haken den Brand nach unten, ihm in großen Sätzen voraneilend. Je länger die Brandfläche gezogen, je weiter der Flammenstrom ausgedehnt wird, desto lebhafter dringt die Windströmung herbei und erschwert die harte Arbeit, weil sie die fliegenden Funken und die Rauchwolken oft auch nach der Seite der rastlos zerrenden und reißenden Hakenleute hintreibt. Mit wachsender Schnelligkeit muß der Flamme ihr Weg gebahnt werden, und doch darf sie nicht zu den Seiten hin ausschweifen, um dem wilden Element, das hier dem Nutzen dienstbar ist, nicht die Gelegenheit zu unberechenbarer Verheerung frei zu lassen. Es gehört Muth und Kraft zugleich zu dem
[783] Werk, und wenn wir sogar Mädchen in den Reihen der jungen Bursche und Männer fest den Haken führen sehen, so ist das ein Zeichen, daß sie dort dem starken Geschlecht näher stehen, als sonst wo. Ist der Brand vollbracht, so bildet die zurückbleibende Asche dann den Dünger für den Boden, auf dem es nun während der nächsten drei Jahre wieder möglich ist, Korn oder Hafer zu bauen, um nach deren Verfluß dieselbe wilde Arbeit mit der Flamme von Neuem vorzunehmen.
Will der Mann aber sein Holz verwerthen, so steht ihm meistens kein anderes Transportmittel zu Gebot, als der Bach, der jedoch fast nirgends Wasser genug hat, um darauf flößen zu können. Deshalb sind überall sog. Schwellwasser angelegt – teichartige Wasseransammlungen, die mit Schleußen versehen sind – aus denen dann der Bach gespeist wird.
Wer an einem Sommernachmittage eine jener einsamen Schluchten im oberen Kinzigthale hinaufschreitet, von denen die wilde Schappach eine der romantischsten ist, der findet oft plötzlich weit oben in dem fast wasserlosen felsigen Bachbette ein gegen tausend Fuß langes Floß liegen, vorne nur sechs Balken breit, mit einem breiten nach oben gerichteten Kiele an der Spitze versehen, um über etwaige Hindernisse wegzugleiten. Das erste Glied wird mittels eines daran befestigten Balkens vom zweiten aus gelenkt, die folgenden Glieder werden dann breiter und länger, und gegen das Ende zu finden sich oft die längsten und schwersten Stämme. Erstaunt sehen wir das Ding an und wundern uns, wie es vom Platze kommen soll. Da nahen sich uns ein halbes Dutzend Männer mit langstieligen Beilen, die wir schon vorher, langsamer als wir schreitend, das Thal herauf kommen sahen. Ernst und ohne Gruß gehen sie vorbei, längs des Flosses hinauf und verschwinden im Wald. Bald darauf kommt auf einem leichten, von zwei Pferden gezogenen Wagen ein Mann in schlichter Arbeitertracht, aber ein intelligenteres Gesicht und feineres Wesen zeichnen ihn aus vor den Gesellen, denen wir vorher begegneten – es ist der Steuermann, der Mann, in dessen Hände das Schicksal des werthvollen Flosses und das Leben seiner Gefährten während der nächsten gefahrvollen Stunde gelegt ist, denn er ist der Lenker des ersten Gliedes, das, nur wenige Zoll zu weit rechts oder links, eine Secunde zu früh oder zu spät gewendet, Mann und Floß in’s Verderben stürzen kann. Wohl sind durch eine besondere Casse die Krüppel, Wittwen und Waisen einigermaßen gedeckt, aber die Aussicht, möglicherweise in der nächsten Viertelstunde durch die sich mit Blitzesschnelle kreuz und quer sperrenden, sich hoch aufbäumenden und splitternden Balken an einen Stamm oder Fels geschleudert zu werden, bleibt darum nicht minder schreckhaft. Das spiegelt sich denn auch auf den Gesichtern der Betheiligten, namentlich dem des Steuermanns ab, denn er ist ernst und bleich. Aber leicht und gewandt springt er vom Wagen, dem Matador gleich, der die Arena betritt, er grüßt mit feiner fast weltmännischer Miene und läd’t uns ein, dem Abgange des Flosses, der alsbald erfolgen werde, beizuwohnen. Dann steigt er hinab, untersucht mit prüfendem Blick, ob Alles in Ordnung sei, und bleibt unbeweglich auf einem Felsen neben der Floßspitze stehen.
Mittlerweile hat es unter den Balken angefangen zu rauschen und ein Wasserstrahl schießt darunter hervor, der sich bald vergrößert und reißend zunimmt. Wie mit einem Zauberschlage ist das stille friedliche Thal von dem wilden Gebrause der tosenden Fluth erfüllt, die sich in weißem Schaum immer toller daherwälzt. Jetzt kommen auch die Männer mit ihren Beilen, welche die Schleußen der Schwellwasser geöffnet hatten, in wilder Hast durch den Wald herunter, stellen sich an die Stämme, an denen das Floß mittels starker sogenannter Wieden festgelegt ist, und stehen schlagbereit mit erhobenem Beile, auf das Zeichen des immer noch unbeweglich nach oben blickenden Steuermanns harrend. Jetzt hebt sich das Floß, seine Balken ächzen und es beginnt in der rasenden Fluth sich zu wiegen – ein Wink – und mit zwei Hieben sind die Wieden durchhauen, mit einem gewaltigen Sprunge steht jeder auf seinem Platz in dem unheimlichen Fahrzeug und haut das Beil vor sich ein, um sich daran zu halten. Mit raschem Sprunge war auch der Steuermann auf dem zweiten Gliede, mit beiden Händen den starken Lenkbalken erfassend, und fort geht’s der Windsbraut gleich, daß den Männern Bart und Haare zurückgeweht werden, unter einem wahrhaft höllischen Lärmen von Wassergebrause, Balkenächzen und dumpfem Poltern über die Felsblöcke.
Athemlos blicken wir nach, bis in wenigen Minuten Alles hinter der finstern nächsten Waldecke in die Schlucht hinab verschwunden ist. Wenige Minuten später, und die Wassermenge läßt eben so rasch nach, wie sie gekommen war, fast betäubt von dem Lärme erwachen wir wie aus einem Traume, erstaunt sehen wir zu unseren Füßen das spärliche Wasser dahin rieseln, das wir angetroffen hatten, und wir hören das Rauschen der Zweige und den Gesang der Vögel wieder, als ob nichts vorgefallen wäre.
Die Männer aber sind hinabgefahren gen Wolfach. Ihr Floß hat glücklich die letzte gefahrvolle Wendung, an welche das Schild des Wirthshauses „zum letzten Gestöhr“ (Floßglied) mahnt, hinter sich und in weniger als einem Viertel der Zeit, welche der Fußgänger braucht, legen sie den Weg zur großen Kinzig zurück. Dort werden die Balken wieder in anderer Weise zusammengestellt, um zum Rheine gebracht zu werden, auf dem sie die stattlichen Flöße bilden, welche nach Holland gehen und dort meistens zum Schiffsbau verwendet werden.
Mühsam, hart und gefahrvoll, wie die Benützung von Feuer und Wasser, sind alle Arbeiten dieser Gebirgsbewohner, und man darf sich nicht wundern, wenn sie, so mancher gegentheiligen poetischen Auffassung zum Trotz, ihre Heimath gern verlassen und ein geträumtes angenehmeres Loos jenseits des Oceans suchen.
Indessen stellt sich die Liebe zur Heimath oft wieder im Alter nach erlangtem Besitz ein, wo dann plötzlich ein ergrauter Mann im Thale erscheint, den Niemand mehr kennt. Er frägt nach Diesem und Jenem; „todt!“ ist die lakonische Antwort, die er erhält. Aber der alte Schmiedjörgli ist ihm beobachtend nachgegangen – jetzt hat er’s heraus, es ist des Nachbars Toni, der vor vierzig Jahren mit seinen Eltern nach Amerika ausgewandert war und den er jetzt, trotz dessen eleganterem Rock, mit seinem Spitznamen von ehedem anredet. Der Toni, der sich im Thal ankaufen will, um sein Leben in seiner Heimath zu beschließen, nimmt ihn mit in’s Wirthshaus, wo das Wiedersehen der beiden alten Männer mit einer Flasche guten Markgräflers gefeiert wird. Dort erzählt er ihm dann, wie bei dem Schiffbruche, den sie auf der Ueberfahrt hatten, die Eltern ertranken und er mit wenigen Uebrigbleibenden sich auf einem losgerissenen Maste nach der nahen Küste rettete; wie es ihm dann gar kümmerlich erging, bis es ihm endlich durch unermüdete Thätigkeit gelang, sich ein Vermögen zu erwerben, das er, familienlos, seiner Heimathgemeinde vermachen wolle. Und war es denn nicht möglich, daß der rettende Balken, dem er sein Leben verdankte, die gleiche Heimath hatte wie er? Wer weiß, ob es nicht die große Fichte nahe bei seines Vaters Hof war, die er als Knabe schon bestiegen, um Vogelnester auszuheben, in deren Schatten er oft geschlafen, die er fällen und fortführen sah und die ihn dann unerkannt als Mast eines geborstenen Auswandererschiffes aus den drohenden Fluthen nach dem sichern Ufer trug.
„Holz – für die Armen!“ waren die letzten Worte, die Dr. Andreas Zelinka, Bürgermeister der Residenzstadt Wien, im Todeskampfe stammelte.
Es sind nur ein paar Worte, aber vor Gott gelten sie als Gebet, und
wer es auf dem Sterbebette spricht, wird auch ohne den Segen eines Erzbischofs
in geweihter Erde schlafen.[1]
Er war ja ein Vater der Armen und hatte gar viele Kinder, die mit den wärmsten Thränen der Dankbarkeit die Erde weihen, die ihn deckt. Er war ein Mann des Volkes in der schönsten Bedeutung des Wortes, und zwar nicht blos in Wien, sondern in ganz Oesterreich, soweit es an dem Kampf und Drang nach Freiheit und Fortschritt Theil nahm; ja, er war der treue Mann seines Volkes, für das er gelebt und gewirkt, – der allezeit ohne Scheu vor seinem Kaiser mit schlichtem deutschem Wort für das Recht und die Wohlfahrt seiner Bürger eintrat und unter den Opferwilligsten stets der Opferwilligste, von welcher Seite immer der Nothruf erklang.
Man kennt unzählige Züge von Herzensgüte des dahingeschiedenen Menschenfreundes; wir erinnern uns vorzugsweise an einen, der bis jetzt noch nicht den Weg in die Oeffentlichkeit gefunden.
Der Mantelritter-Minister Dr. Bach hatte mit seiner Politik das [784] Vertrauen auf den Advocatenstand erschüttert, – die wahlfähigen Bürger wollten Einen ihrer Mitglieder und keinen Rechtsgelehrten mehr mit der höchsten Würde der Commune bekleidet sehn. Dennoch wurde Dr. Zelinka zum Bürgermeister erwählt und wußte schon in den ersten beiden Jahren seiner Amtsführung das gegen ihn herrschende Vorurtheil auf das Rühmlichste zu bekämpfen und durch seine schlichte Biederkeit und Herzensgüte alle Sympathieen der Bürgerschaft für sich zu gewinnen. Nur Einer seiner erbittertsten, aber ohnmächtigen Gegner, den wir Arnold nennen wollen, ließ nach wie vor seine Zunge gegen ihn spielen, bis das Landesgericht diesem falschen Spiel ein Ende machte. Der Bürger Arnold hatte sich eines gemeinen Verbrechens schuldig gemacht und wurde zu zweijähriger Kerkerstrafe verurtheilt.
Ein Jahr nach diesem Proceß schritt Dr. Zelinka, in Gedanken versunken, durch eine entlegene Seitengasse der Stadt, da sprang ein junges Mädchen aus einer ebenerdigen Wohnung und rannte so unglücklich gegen ihn an, daß der alte kränkliche Mann in die Kniee sank und sich, wenn auch unbedeutend, doch ziemlich empfindlich die Kniescheibe verletzte.
„Ach, mein Gott, ich bitte tausendmal um Verzeihung!“ bat erschrocken das Mädchen, indem es seinen Korb fallen ließ und dem alten Herrn zu Hülfe sprang. „Haben Sie sich weh gethan?“
Der Bürgermeister erhob sich, rieb sein Knie und brummte: „Nix – nix – schad’t nix![2] Warum schau’ ich nicht besser auf, denn es giebt hier Leut’, die mehr Eil’ haben, als ich.“
„Allerdings habe ich Eile, denn die Mutter und die Kinder frieren,“ seufzte das Mädchen.
„A – die Kinder frieren?“
„Und haben nebenbei einen gesunden Appetit.“
„Schad’t nix! Schad’t nix!“
„Es schadet freilich nichts, wenn Holz im Keller und Brod im Schranke ist.“
„Aha – so steht’s!“ murmelte Zelinka, indem er sich die Kleine näher ansah, die, selbst noch ein Kind, kaum vierzehn Jahre zählte. „A Sapperment – hübsche kornblaue Augen, aber die rothe Garnitur gefällt mir nicht. Mir scheint, Sie haben geweint?“
„Mir scheint’s auch so.“
„Wo spazieren wir denn jetzt hin mit einander? Wahrscheinlich Holz und Brod einkaufen? He?“
„Vielleicht – wenn Gott und der Schätzmeister im Versetzamt wollen.“
Der Bürgermeister warf einen Blick auf den Korb der Kleinen, aus welchem der Aermel eines Kinderhemdes neugierig in die Welt hinaus guckte. Er blieb stehen, streichelte die Wangen des Mädchens und fragte freundlich: „Wie heißen Sie, liebes Kind?“
„Pauline Arnold.“
„Arnold? Arnold? Vielleicht eine Tochter des Geschäfts-Agenten – Ferdinand Arnold?“
„Kennen Sie meinen unglücklichen Vater?“ flüsterte die arme Kleine, indem sich abermals ihre blauen Augen mit Thränen füllten.
„Ja, ja, ich kenne ihn, weiß auch, daß er – auf der Reise ist und sobald noch nicht zurückkehren kann. Aber das hab’ ich nicht gewußt, daß er Frau und Kinder in der Noth zurückgelassen hat.“
„In Noth und Elend!“ schluchzte das Mädchen.
„Warum haben Sie sich denn nicht an den Bürgermeister gewandt?“
„Ach – der Bürgermeister ist unser Feind.“
„Der Unglückliche hat keine Feinde und der Bürgermeister ist berufen, Freund und Vater aller Armen und Unglücklichen zu sein. Ich hab’ nicht viel Geld bei mir, aber für die nächsten Tage deckt es Ihre Bedürfnisse. Nehmen Sie und hoffen Sie auf Gott. Er wird auch ohne Schätzmeister helfen, Sie armes Hascherl.“
„Ach, mein Gott –“ rief das Mädchen unter Thränen lachend, „was soll ich der Mutter sagen –“
„Daß auch ein Advocat ein Herz in der Brust hat. Jetzt laufens und sorgens dafür, daß Ihre kleinen Brüder und Schwestern nicht länger hungern und frieren.“
Die Kleine küßte die Hand des Freundes in der Noth, den ihr Gott gesandt, und eilte in den Laden des nächsten Greißlers.
Zelinka rieb sein Knie und sprach lächelnd vor sich hin, indem er forthinkte: „Schad’t nix, wenn auch der Bürgermeister zuweilen, wie der Kalif Harun al Raschid incognito seine Straßenpromenade macht.“
Er sorgte fernerhin für die Familie seines Feindes und hat wohl auch an sie gedacht, als er seine letzten Worte „Holz – für die Armen!“ auf seinem Sterbebette flüsterte.
Die Jesuiten in Japan. „Als ich vor sieben Jahren hierher kam“ – so schreibt uns direct ein Leser der Gartenlaube, Herr F. K. in Nagasaki auf der japanesischen Insel Kiusiu, in einem über Hongkong und Triest gelaufenen Briefe – „habe ich nie, wenn ich die Stadt und Umgegend durchschweifte, von Japanesen Etwas gehört oder gesehen, was ihre Hinneigung zum Katholicismus angedeutet hätte. Kaum aber begann, in Folge der Verträge mit den großen europäischen und amerikanischen Seemächten für Handel und Verkehr ein neues Leben, so fanden sich auch die unvermeidlichen Jesuiten hier ein, erst einzeln, nach ihrer beliebten Weise, dann, ebenfalls in ihrer beliebten Weise, in Schaaren, nachdem sie den Boden im japanesischen Volk günstig für ihre Pläne erfunden haben mochten. Da die wenigen hier lebenden europäischen Katholiken noch einer Kirche entbehrten, so hielten die Jesuiten ihre Messen oder Betstunden in einem holländischen Hause in der Nähe von Nagasaki.
Es dauerte eben nicht lange Zeit, so hatten die Jesuiten die rechten Leute herausgefunden, die mit den Zwecken ‚der Kirche‘ den eigenen Vortheil zu verknüpfen wußten. Dazu gehörte namentlich ein Rheinländer. dessen wohlberechnete Opferfreudigkeit wesentlich beitrug, daß die Jesuiten in der europäischen Niederlassung in Ora, einem Theil von Nagasaki eine hübsche Kirche bauen konnten. Die Glocke derselben soll ein Geschenk der Kaiserin Eugenie sein; wie die Inschrift über dem Portal in großen goldenen Lettern darthut, gehören diese Jesuiten zu der ‚Gesellschaft der Nachfolge Christi‘. Beim Ausgang aus diesem Portal hat der Besucher der Kirche in geringer Entfernung den Platz vor sich, auf welchem vor einigen Jahrhunderten portugiesische und japanesische Christen den Märtyrertod erlitten hatten.
Für die Proselytenmacherei, den offenbar nächsten Zweck der Jesuiten, war der Bauplatz mit dieser Aussicht vom Kirchenportale aus ebenso kühn als klug gewählt: von Kanzel und Altar aus konnte der Priester hinweisen auf eine ‚heilige Stätte des Glaubens‘, aus welcher der höchste Ruhm des Gläubigen und die sicherste Anwartschaft auf die ewige Himmelsherrlichkeit errungen worden. Und der Plan gelang mit überraschendem Erfolge, wenn auch nicht blos mit Hülfe des Frömmigkeitsfanatismus, sondern mit Nachhülfe von Geschenken und der Schmeichelei mit nationalen Liebhabereien. Ein Hauptsitz der Jesuiten wurde das Dorf Urakami, dicht bei Nagasaki. Dort richteten sie ein Bethaus ein und statteten es aus mit allem Pomp, welchen der katholische Cultus zuläßt oder erfordert; am prächtigsten strahlten aber die Statuen von Jesus und Maria, die sich dem Volke beide in japanesischem Costume und Haarputz vorstellten. Da nun die Jesuiten ihr Netz vor Allem über die untersten Volksclassen auswarfen, so wirkten solche Mittel ganz außerordentlich. Bald breitete ihre Anhängerschaft sich über mehrere Provinzen der Insel aus und zählte über viertausend Mitglieder.
Die japanesische Regierung erlaubt ihren treuen Unterthanen manche kleine Freiheit, nur in Religionsangelegenheiten ist sie äußerst empfindlich, und namentlich scheint sie von christlicher Seite manche unangenehme Erfahrung gemacht zu haben. Daß sie aber gegen die japanesischen Theilnehmer an diesen jüngsten Jesuitenumtrieben vorzugehen sich genöthigt sah, dazu trug hauptsächlich die Widersetzlichkeit derselben gegen bestimmte Steuerverpflichtungen bei. Von den Priestern fanatisirt wurden diese sonst so friedlichen Menschen zur widerwärtigsten Nachbarschaft. Da schritt endlich die Regierung ein: sie brachte einen großen Theil der unruhigen Gesellschaft in strenges Gewahrsam und gab ihnen einige Monate Gelegenheit, sich mit ihrem alten Glauben nach Möglichkeit wieder zu versöhnen. Das geschah im vorigen Jahre. Es schien, als habe das Regierungsmittel angeschlagen, es fand wenigstens keine öffentliche Störung der japanischen Ordnung statt. Um so überraschender kam im Juni dieses Jahres der plötzliche Ausbruch von neuen Beunruhigungen, der von neuangeworbenen Jesuitenanhängern ausging und offenbar lange vorbereitet war. Der eigentliche Zweck dieser absichtlich hervorgerufenen Proselytenhetze kam durch die Presse erst später an’s Licht. Die Regierung schritt nämlich diesmal energischer als das vorige Mal ein, um dem störenden Treiben nun mit einem Schlage ein Ende zu machen. Sie ließ die große Mehrzahl der japanischen Jesuitenanhänger auf Dampfschiffe abführen und in entfernte Provinzen des Reichs verbannen, wo sie ihren Unterhalt durch Arbeiten in den Minen, Bergwerken und anderen Staatsanlagen finden sollen.
Kaum war dieser energische Act der Regierung vollbracht, als die Jesuiten die Presse Europas und Amerika’s zu den grauenerregendsten Schilderungen der dabei verübten Gräuel der regierenden Gewalt benutzten, offenbar um Schritte der Großmächte zu Gunsten der in Japan bedrängten und gemarterten ‚Christen‘ zu veranlassen und dadurch ihrer eigenen Fährte größere Sicherheit zu verschaffen. Geknebelt sollten die Unglücklichen an Bord geschleppt, ja viele mitten in der See über Bord geworfen worden sein, – die neuigkeitsgierigen Journale nahmen diese Jesuitenberichte auf, – wer brauchte daran zu zweifeln, daß im fernen Japan so Etwas gar wohl möglich sei? Und doch haben alle diese Schaudergerüchte sich später als Lügen herausgestellt.
Während nun alle Deutschen hier, welchen die Ehre des deutschen Namens am Herzen liegt, mit Widerwillen auf das ganze Jesuitentreiben blicken, müssen wir es erleben, daß gerade der Consul eines deutschen Staates dieser Gesellschaft jeden möglichen Vorschub leistet. Nicht weniger dürfen wir es wohl beklagen, daß wir die norddeutsche Flagge hier (bis heute, den 17. September) noch nicht zu sehen bekommen haben. Ich schreibe Ihnen dies, weil der Mangel einer der Wichtigkeit unseres Imports hier entsprechenden Vertretung ein großer Uebelstand für uns ist: wir Deutschen sind hier die größten Importeure, und trotzalledem können wir die öffentliche Stellung nicht behaupten, die wir einnehmen. müßten. Einstweilen mögen Ihnen diese Andeutungen genügen; ich werde jedenfalls auf diesen wichtigen Gegenstand noch einmal und dann eingehender zurückkommen.
Soweit unser Landsmann, dem wir hiermit für seine Mittheilungen unsern Dank ausdrücken. Was er uns über das Jesuitentreiben sagt, giebt über die ungeheure Ausbreitung und Rührigkeit des Ordens auch uns in Deutschland zu denken. Dagegen haben wir das Ausführlichere und rein Persönliche, was er uns über jenen deutschen Consul und dessen jedenfalls den Intentionen seiner Regierung stracks entgegenlaufende Hinneigung zu den jesuitischen Umtrieben in Japan anvertraut, vor der Hand verschwiegen, theils um weitere Angaben abzuwarten, theils im der Hoffnung, daß die Bemerkung über die ungenügende Vertretung der deutschen Interessen in Japan vielleicht im Norddeutschen Reichstage Erörterungen veranlaßt, welche auch ohne weitere Pressebemühung dort zur Abhülfe des Uebelstandes führen.
Inhalt: Das Erkennungszeichen. Von A. Godin. (Fortsetzung.) – Ein einsames Grab im Norden. Von Fr. Pilzer. Mit Abbildung. – Wunderliche Heilige. 2. Hänschen Apfelkern und das Siebenttägerkloster in der Wildniß am Cocalico. – Rückblicke auf meine theatralische Laufbahn. Von Franz Wallner. 2. Frühere Verhältnisse. – Das harte Brod der Berge. Von Carl Roux. Mit Abbildungen. – Blätter und Blüthen: Holz – für die Armen! – Die Jesuiten in Japan.
Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: athemlosen