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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 50.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Lorenz und Lore.
Von Paul Heyse.


Im Jahre 1854, am 25. Juli, Nachts um elf Uhr – so genau kennen wir den Zeitpunkt, in dem diese eben so wahre als einfache Geschichte begann – hielt die Postkutsche vor dem ansehnlichsten Gasthofe einer kleinen mitteldeutschen Stadt, ohne daß wie sonst der Postillon in’s Horn stieß und Kellner und Hausknecht heraussprangen, die Reisenden in Empfang zu nehmen. Es war nämlich in jenem bösen Cholera-Jahr die Stadt, die bisher immer verschont geblieben, so schwer von der Seuche heimgesucht worden, daß selbst die Handlungsreisenden, die zahlreich in der „Post“ einzukehren pflegten, schon seit Wochen ihre besten Kundschaften versäumten, um nur dem Essig und Chlorgeruch zu entgehen, der Tag und Nacht alle Häuser und Straßen erfüllte. Mehrere Tage schon hatte die Post keinen Passagier mehr gebracht, dagegen täglich in vielen Beiwägen Einwohner der Stadt hinausgeschafft, die in höher gelegenen Oertern des nahen Gebirges Zuflucht suchten, darunter viele schwarzgekleidete Gestalten mit verweinten Augen, bei deren Anblick dem Postillon das Blasen seiner muntern Stückchen verging.

In jener Nacht des 25. Juli führte vollends Einer die Peitsche, der überhaupt sich nicht auf solche Künste verstand, ein junger Mann in schwarzem Rock und grauem Filzhut, der als der einzige Reisende auf der vorletzten Station die Stelle des Schwagers eingenommen hatte, da dieser ebenfalls plötzlich erkrankte, und, bei der großen Scheu, die verpestete Stadt zu betreten, kein andrer Ersatzmann sich finden wollte. Es traf sich, daß der junge Mann als ein Landeskind dem dortigen Posthalter bekannt war, so daß dieser ihm, da er darauf bestand noch heute an Ort und Stelle zu kommen, auf die kurze Strecke unbedenklich den alten Thurn- und Taxis’schen Rumpelkasten anvertraute. Manchen, der ihm auf der dämmerigen Landstraße begegnete, wie er in rascherem Trabe, als üblich war, dahinrollte, mochte ein Schauer überlaufen, wenn er statt des Schwagers in der lustigen Jacke mit den gelben Lederhosen die schwarze Gestalt vom Bock herunter kutschiren sah, als habe nun der Tod leibhaftig das Fuhrwesen übernommen, da die bisherige Beförderung ihm zu langsam gewesen.

Auch der junge Mann konnte sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren, als es immer finsterer und stiller wurde und endlich nichts mehr zu sehen war, als dicht vor ihm die dampfenden Pferderücken und links und rechts die Steine der Chaussee, über die aus den trüben Wagenlaternen ein ungewisser Schimmer glitt. Er war froh, als die Gäule, die blindlings ihres Weges fortgetrabt waren, endlich vor dem Posthause hielten, übergab dem verschlafenen Hausknecht, den er mühsam herausklopfen mußte, den Wagen sammt dem Briefbeutel, sagte, er werde morgen wieder vorsprechen, um dem Postmeister die nöthigen Aufklärungen zu geben, und schlug dann, sein Reisesäckchen in der Hand, eilig den wohlbekannten Weg ein, der zu seiner Eltern Hause führte.

Nun muß man wissen, daß sein Vater ein ehrsamer Glockengießermeister war, schon in den Siebzigen, der sich seit einigen Jahren zur Ruhe gesetzt, die Werkstatt verkauft und ein behagliches Stillleben begonnen hatte, nur unterbrochen durch Besuche seiner beiden Kinder, der älteren Tochter, die eine Tagereise entfernt an einen Pfarrer verheirathet war, und dieses Sohnes, der seit einem halben Jahr eine Lehrerstelle am Gymnasium der Provinzialhauptstadt bekleidete. Die Mutter, eine Lehrerstochter, hatte ihren Kindern eine sorgfältige Erziehung über die Ansprüche des Handwerkerstandes hinaus gegeben und im Laufe der Zeit auch ihrem Manne, in dem von Hause aus eine reiche künstlerische Ader steckte, seine groben Ecken abgeschliffen, so daß nichts anmuthiger war, als das bejahrte Paar zu beobachten, wie es in seiner späten Mußezeit des Miteinanderlebens erst recht froh wurde. Der Alte, der noch rüstig war, noch immer den schönen Kopf mit den grauen Locken aufrecht auf den breiten Schultern trug, hatte den ganzen Tag in seiner hellen geräumigem Wohnstube etwas zu basteln oder zu bosseln, schnitzte oder formte Modelle zu allerlei kunstreichem Hausgeräth und horchte dazwischen auf das, was ihm seine kleine saubere Frau mit ihrer noch immer wohlklingenden Stimme vorlas. Kam dann die Tochter mit ihrem Manne oder auch nur mit den Kindern auf ein paar Tage zum Besuch und der Sohn, der in Würzburg und Erlangen studirt hatte, konnte ebenfalls eine Ferienzeit benutzen, wieder einmal die Füße unter seiner Eltern Tisch zu strecken, so gab es in dem ganzen Städtchen keine glücklichere und stattlichere Familie, und die Schwester, die den Humor des Vaters geerbt hatte, war froh, einmal wieder ihre pastorale Würde ablegen und das übermüthige lachlustige Kind des Hauses sein zu dürfen, das auch den ernsteren Bruder bald wieder in den alten ungebundenen Ton hineinscherzte.

Diese sonnigen Tage waren plötzlich verdunkelt worden, als die schreckliche Krankheit über das Städtchen hereinbrach. Gleich zu Anfang hatte die Pfarrerin ihre Eltern auf’s Dringendste gebeten, sich in ihre höher gelegene Gegend zu flüchten, wo das Gespenst sich noch nicht hatte blicken lassen. Der Alte, der auch sonst schwer zu lenken war, hatte sich fest geweigert, seine Mitbürger [786] und Nachbarn in der allgemeinen Noth zu verlassen, vielmehr, wo er konnte, Hilfe geleistet und sich selbst und seine Frau durch ein mäßiges und vorsichtiges Leben lange Zeit jeder Anfechtung erwehrt. Seit sechs Tagen aber waren die Briefe der Mutter ausgeblieben, und in der Unruhe, was das zu bedeuten habe, hatte der Sohn sich plötzlich entschlossen, selbst hinzureisen und seinen Eltern, wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, nach Kräften beizustehen. Der Hausknecht in der Post, den er sogleich befragte, war erst seit wenigen Tagen in der Stadt und kannte nicht einmal den Namen des alten Meisters; und während der Jüngling durch die finsteren Gassen hinschritt, begegnete ihm keine Menschenseele, die ihm im Vorbeigehn hätte Auskunft geben können, wie es im Hause stehe. Immer hastiger wurde sein Schritt, der Schweiß trat ihm in großen Tropfen vor die Stirn; dann und wann hörte er aus einem offenen Fenster das Stöhnen eines Kranken oder das Weinen eines armen Weibes, das neben ihrem hingerafften Manne oder Kinde die Leichenwache hielt, und in all’ den Jammer sahen die Sterne der Sommernacht so funkelnd herein, daß der Gegensatz himmlischer Ruhe und irdischer Noth dem einsamen Wanderer nur noch schwerer das Herz beklemmte.

Nun stand er vor dem alten hochgiebeligen Hause, drin seine Eltern wohnten, und that einen tiefen Athemzug, als er sah, daß alle Fenster geschlossen waren. Licht brannte hinter keinem, also wurde auch keine Krankenwache gehalten. Jetzt fiel ihm erst ein, daß die alten Leute erschrecken würden, wenn er so spät in der Nacht unangemeldet – einen Brief vorauszuschicken war nicht Zeit gewesen – ihnen in’s Haus fiele. Aber wieder fortgehen, in einem Gasthofsbette schlafen und sich bis morgen gedulden, brachte er nicht über’s Herz. Also zog er sacht an der Hausglocke, die unter einem zierlich aus Sandstein gemeißelten Dächlein zugleich als Handwerkszeichen neben der Thür angebracht war. Sie klang ganz so tief und rein, wie in den besten Tagen, aber sie schien die Kraft verloren zu haben, einen gastfreundlichen Wiederhall drinnen im Hause zu erwecken. Auch auf das zweite Läuten blieb Alles still – „todtenstill?“ dachte der späte Gast, und die Hand am Glockenzug bebte ihm. Zum dritten Mal, jetzt mit solcher Gewalt, daß die ganze Straße weithin davon erschallte, ließ er die eherne Zunge die angstvolle Frage thun, ob denn kein Lebendiger mehr hinter diesen dunklen Fenstern athme. Der schrille Klang hatte noch nicht ausgeschwungen, da hörte er oben im zweiten Stock, nicht seines Elternhauses, sondern ihm gerade gegenüber, ein Fenster klappen und eine Stimme rufen: „Wer läutet da noch so spät? Wenn es der Todtengräber ist, da drüben ist Nichts zu holen. Er soll morgen wiederkommen und an dieses Haus klopfen. Habt Ihr wohl verstanden, Meister Schwarz?“

„Bist Du’s, Lorchen?“ rief der junge Mann. „Nun, Gott sei Dank, daß Du noch wach bist und mir sagen kannst –“

„Herrgott!“ unterbrach ihn die Stimme, „Sie sind es, Lorenz? Und was wollen Sie hier? Und warum kommen Sie nun gerade dazu, wenn wir Alle sterben müssen?“

„Komm herunter, Lorchen,“ bat er, „und öffne mir das Haus und sage mir –“

Sie ließ ihn nicht ausreden. „Was denken Sie nur, Lorenz?“ sagte sie. „Was haben Sie in diesem Todtenhaus zu schaffen? Machen Sie, daß Sie aus der Stadt kommen, eh’ es Sie auch befällt. Sterben ist kein Spaß, wenn man noch so jung ist. Die Tante ist gestorben und mein kleiner Christel und zuerst der bucklige Schneider, der parterre wohnte, und nun kommt die Reihe an mich, aber bei mir braucht kein Mensch zuzusehen; denn es sieht sehr garstig aus, und helfen kann einem doch Keiner. Machen Sie also, daß Sie fortkommen, hören Sie wohl, und leben Sie noch recht lange und glücklich, und es freut mich, daß ich Ihnen noch einmal Gute Nacht habe sagen können, lieber Lorenz, und wenn Sie die Sophie sehen –“

„Um des Himmels willen, Lorchen,“ unterbrach sie der junge Mann, „was ist aus meinen Eltern geworden? Warum wird mir hier die Thür nicht aufgemacht? Und wenn es das Aergste wäre, ich muß es wissen, oder die Angst bringt mich auf der Stelle um.“

„Sein Sie nur ruhig!“ erwiderte die Stimme. „Die Eltern sind seit drei Tagen fort, zu der Sophie, der Pfarrerin, die hat nicht nachgelassen mit Bitten, und wie der Vater immer noch nicht wollte, hat die Mutter gethan, als fange es auch bei ihr an, und da ist er endlich dazu gebracht worden. Mich haben sie auch mitnehmen wollen, aber ich konnte die Tante doch nicht verlassen, die ist erst gestern begraben worden. Es geht jetzt in Einem hin. Wissen Sie denn das Alles nicht, und Ihre Mutter hat es Ihnen doch in einem langen Brief geschrieben und Sie gebeten, ganz ruhig zu sein, es gehe ihnen Beiden wohl?“

„Nicht eine Zeile hab’ ich bekommen seit vorigem Samstag. Wer weiß, wo der Brief ein Ende genommen hat, da jetzt Alles drunter und drüber geht. Nun, Gott sei Dank, daß es nichts Schlimmeres ist. Du aber, Lorchen, was ist mit Dir? Also wirklich die Tante und Dein kleiner Bruder –? Was mußt Du ausgestanden haben!“

„Ja wohl,“ antwortete das Mädchen mit einer Gelassenheit, die ihm jetzt erst seltsam auffiel, „es war auch sehr schauderhaft, aber man wird es gewohnt. Daß ich jetzt an die Reihe komme, macht mir gar keinen Schrecken mehr. Ich bin ordentlich froh, bald an einen Ort zu kommen, wo ich schlafen kann und nicht mehr den Essig zu riechen brauche und immer das Weinen und Jammern hören muß. Und da Niemand übrig ist, der sich meinen Tod zu Herzen nehmen könnte, so ist ja auch nichts daran verloren, ob ich schon mit achtzehn Jahren aus der Welt gehe, oder erst mit achtzig. Sie noch einmal wiederzusehen, das hatt’ ich freilich gewünscht. Nun ist es zwar so dunkel, daß ich nur Ihren grauen Hut erkennen kann, aber ich höre doch Ihre Stimme. Wissen Sie noch, wie wir auf dem Polterabend der Sophie das Liedchen zusammen sangen? Das war noch eine gute Zeit. Jetzt singen wir nie wieder. Der liebe Gott wird wohl seine Gründe haben. Leben Sie also recht wohl, lieber Lorenz, und vergessen Sie nicht ganz –“

„Höre einmal auf mit all dem confusen Zeug, Lorchen!“ rief der junge Mann, halb unmuthig, halb mitleidig. „Statt mich hier stehn zu lassen und vom Sterben zu faseln, hättest Du mir längst das Haus aufmachen und mich als einen alten Jugendfreund willkommen heißen sollen. In meine eigene Thür kann ich nicht hinein. In der Post schlafen sie längst, und ich mag mich auch in kein Bette legen, worin vielleicht gestern erst ein Mensch gestorben ist. Wenn ich also nicht im Freien übernachten soll, wozu ich gar keine Lust habe, so mußt Du mir Herberg geben, Lorchen, und auch einen Bissen zu essen; denn die Unruhe und Ungewißheit, wie ich’s hier finden würde, hat mir unterwegs allen Hunger vertrieben. Mach auf, Kind, eh’ wir die Nachbarn aus ihren Betten schwatzen!“

Droben am Fenster schwieg es eine Weile. „Es geht nicht, Lorenz,“ sagte dann wieder die Stimme. „Ich bin ganz allein hier im Haus und da schickt es sich nicht, weißt Du, und auch davon abgesehen: wer weiß, ob ich nicht schon diese Nacht sterbe, und das möcht’ ich gern allein abmachen. Also gehen Sie mit Gott und suchen Sie sich ein anderes Nachtquartier, vielleicht beim Herrn Stadtpfarrer, wo im ganzen Haus noch Niemand gestorben ist.“

„Ich bestehe darauf, daß Du mir aufmachst,“ sagte er jetzt mit leiserer Stimme, aber sehr nachdrücklich. „Es wird hoffentlich mit dem Sterben bei Dir noch gute Wege haben, wenn Du Dich nicht selbst zu Tode ängstigst in der grauligen Einsamkeit. Ob sich’s schickt oder nicht, danach fragt in solcher Zeit der Noth, die viel zu ernsthaft ist für Zimperlichkeiten, kein Mensch, und es braucht auch kein Mensch darum zu wissen. Wenn Du nicht Lust zum Schlafen hast, ich bin gar nicht müde, da können wir bis an den frühen Morgen bei einander sitzen, und Du erzählst mir, was Du erlebt hast, und dann vor Thau und Tage geh’ ich wieder und hole Dich später in einem Wägelchen ab, daß Du nur aus der Moderluft herauskommst, und bringe Dich zu meinen Eltern. Das ist gescheidter und dem lieben Gott sicher weit wohlgefälliger, als wenn ich jetzt irgendwo eine Herberge suche und Dich mit allem Nachtspuk allein lasse.“

„Gut,“ sagte sie darauf. „Sie haben ganz Recht, Lorenz; es ist auch Alles gleichgültig, und man fragt den Menschen nichts nach, wenn man vielleicht morgen schon zu seinem himmlischen Vater kommt. Der alte Schneider sagte immer: Wer begraben ist, den sticht keine Nadel mehr. Warten Sie, ich will Ihnen aufschließen; aber erst muß ich Licht machen.“

Das Fenster oben wurde zugeklappt und Lorenz blieb einige Minuten unten auf der Gasse allein in der seltsamsten Stimmung. Das Haus hier kannte er so genau, wie sein eigenes Elternhaus; [787] das Mädchen, das noch allein darin übrig geblieben war, war ihm wie eine zweite Schwester gewesen. Nun hatte der Tod ihm Alles auf Einen Schlag entfremdet; das Haus kam ihm baufälliger und düsterer vor, die Stimme des Mädchens greisenhaft und fast wie die der Tante; es ward ihm fast wieder leid, daß er um Einlaß gebeten hatte. Indem er so stand und sich in seinen Kleidern schüttelte, um das Frösteln loszuwerden, wurde der Hausriegel zurückgeschoben und Lore, die Flamme der kleinen Lampe mit der Hand schützend, trat auf die Schwelle. Sie war in dem Jahr, seitdem er sie nicht gesehen, noch um einen halben Kopf gewachsen, aber auch die Züge des Gesichts hatten sich gestreckt, das Mädchen war schlanker, die Wangen schmächtiger geworden. Die Augen, die sonst so munter hin und her gegangen waren, standen jetzt still und groß unter den tiefschattenden Wimpern, und das blasse Mündchen war so fest geschlossen, als ob es am liebsten nie mehr ein Wort, geschweige ein Lächeln hervorgebracht hätte. Dazu war der Anzug des armen Kindes wunderlich genug, wie wenn sie eben im Dunkeln aus dem Bett gesprungen wäre und das nächste Beste angethan hätte. Ihr langes braunes Haar steckte nachlässig aufgeflochten unter einem Nachthäubchen, dessen Bänder unter dem Kinn nicht zugebunden waren. Sie trug ein rothwollenes Röckchen, das ihr zu kurz, und eine alte braune Jacke, die ihr zu weit war und dem Schnitte nach offenbar aus dem Kleiderschrank der Tante stammte. Die Füße steckten in alten Tanzschuhen, die zu den groben blauwollenen Strümpfen nicht zum Besten passen wollten. Was aber den halb lächerlichen, halb traurigen Eindruck noch phantastischer machte, war ein großer schwarzer Kater, der ihr auf der Schulter saß und seinen Kopf mit einem unsichern Zwinkern der goldgelben Augen dicht an ihren blassen Hals drückte. Sie schien aber selbst gar nicht zu bemerken, welchen Eindruck sie auf den jungen Mann machte, sondern nickte ihm, da sie ihm jetzt über die Schwelle leuchtete, mit einer so gelassenen Geberde zu, als verstände sich Alles von selbst. „Er ist es wirklich!“ sagte sie wie für sich. „Ich glaubte schon, es wäre nur so eine Einbildung gewesen. Guten Abend, Lorenz!“ Dabei gab sie ihm die Hand, die mager und kühl war, und ging, nachdem sie die Thür wieder verschlossen, langsam wie in tiefer Müdigkeit ihm voran die alte hölzerne Treppe hinauf.

Droben auf dem Flur des ersten Stockwerkes stand sie einen Augenblick still und sagte: „Wo wollen Sie nun hin, Lorenz?

In jedem Zimmer ist der Tod schon gewesen, und oben ist meine Sterbekammer, da dürfen Sie nicht hinein. Nun gleichviel, wir wollen in die Wohnstube gehen, da riecht es noch am besten, weil ich Wachholder habe verbrennen müssen; die Tante mochte ihn lieber als den Essig. Sehen Sie“ – und sie öffnete die Thür - „der Alkoven, in dem sie ihren letzten Athemzug gethan, ist schon wieder aufgeräumt. Die Leute sollen nicht sagen, wenn sie mich hinaustragen, daß ich liederlich gehaus’t hätte.“

„Lore,“ sagte er, indem er eintretend ihre Hand ergriff, „ich kann Dir nicht sagen, wie Du mich dauerst. Warum aber nennst Du mich immer Sie? Sind wir nicht von kleinauf gute Cameraden gewesen? Ich wenigstens brächte es nicht über die Lippen, anders als Du zu sagen.“

„Ich hatte mir’s so vorgenommen, seit –“ und sie stockte und eine leise Röthe flog über ihr stilles Gesicht. „Aber wie Du willst, Lorenz. Jetzt ist ja doch Alles einerlei. Setz’ Dich da auf das Sopha und laß mich Deinen Reisesack weglegen. Es ist richtig noch der alte, den die Sophie Dir gestickt hat, als Du nach Erlangen gingst, und diese Rose hier habe ich gestickt und hernach Deine Schwester gebeten, Dir nichts davon zu sagen. Wie so einfältige stumme Sachen auf der Welt bleiben und die Menschen müssen fort!“

„Je nun,“ lachte er, „wir zwei sind doch auch noch da, Lorchen, und ich sehe wahrhaftig nicht ein, warum Du es so eilig hast, dahin zu kommen, wo man Sonne, Mond und Sterne nicht mehr sieht. Fass’ Dir ein Herz, Kind, und führe nicht so verzweifelte Reden. Weißt Du, daß ich glaube, Dir fehlt es außer an frischer Luft vor Allem an Essen und Trinken? Ich kann mir wohl denken, daß Du über dem Jammer, den Du hier mit angesehen, und den Thränen, die Du hast verschlucken müssen, Alles vergessen hast, was zum Leben Noth thut. Nun aber mußt Du mir folgen, hörst Du wohl, und ein Nachtessen herbeischaffen; denn ich denke Dir mit gutem Beispiel voranzugehen und Dich wieder essen und trinken zu lehren.“

„Es ist wahr,“ sagte sie; „ich habe seit zehn Tagen nichts mehr gegessen als Mittags einen Löffel Suppe, den die Zenz mir aufnöthigte, unsere Magd. Die ist aber heute früh aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen; Gott weiß wo sie ein Ende genommen hat, wahrscheinlich im Spital, um mir nicht auch noch unter den Händen wegzusterben. Sie war schon gestern nicht mehr ganz wohl; der Tod der Tante hat sie angegriffen. So hab’ ich eben den ganzen Tag droben gesessen, den Peter auf dein Schooß, um mir den Magen zu wärmen und doch auch etwas Lebendiges bei mir zu haben, und die Stunden sind so hingegangen, und ich habe immer auf den Tod gewartet.“

„Statt dessen ist nun einer gekommen, der Dir all diese Todesgrillen vertreiben will,“ sagte der Jüngling. „Ich hab’ hier im Nachtsack eine Flasche alten Portwein, den wollt’ ich dem Vater zu trinken geben, weil er besser als ein Katzenfell den Magen wärmt und sehr gegen die schwarzen Gedanken hilft, die so oft das Unglück erst herbeiziehen. Bring’ ein paar Gläser, Lore, und was Du etwa zu essen hast. Und dann setz’ Dich zu mir und schütte einmal Dein Herz gründlich aus, wie Du es einem alten Cameraden schuldig bist, mit dem Du doch schon manches Wörtchen gewechselt hast.“

Sie starrte, als dächte sie an ganz andere Dinge, in das Flämmchen der kleinen blechernen Lampe, seufzte einmal zitternd auf und ging dann langsam zur Thür hinaus, den Kater immer noch auf der Schulter.

Nun sah er sich in dem großen niedrigen Zimmer um, in dessen Winkel der Lampenschein nicht mehr hineinleuchtete. Da war noch Altes wie sonst, die Bilder von Lore’s Eltern über dem Sopha, der blasse, magere Apotheker, der so früh gestorben war, und seine schöne blauäugige Frau, der die Tochter wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur daß sie jetzt die melancholische Farbe und den scharfen Zug vom Vater hatte. Und dort der Spiegel zwischen den Fenstern, das Nähtischchen der Tante, auf dem noch ihr Strickkorb stand und ein vertrockneter Basilicumtopf. Wer hatte Zeit und Gedanken gehabt in diesen Angstwochen, Blumen zu begießen? Auch die braune Wanduhr neben dem Alkoven war nicht mehr aufgezogen. Was liegt einem an einem paar Stunden, wenn die Ewigkeit heranzubrechen droht? Aber das alte Clavier war geöffnet und ein Liederheft noch aufgeschlagen, als wäre Jemand mitten im Spielen durch die Knochenhand, die sich auf die beinernen Tasten legte, unterbrochen worden. Es überlief den jungen Mann ein spukhafter Schauer, als er den Vorhang von großgeblümtem Cattun vor dem Alkoven betrachtete und daran dachte, welche Leiden und Schrecknisse er verhüllt haben mochte. Je mehr er diesen Gedanken nachhing, desto entsetzlicher schien es ihm, daß die Bekannten und Nachbarn das junge Kind in diesem öden Trauerhause allem gelassen hatten, wo selbst festere Nerven von den unheimlichen Einbildungen und Erinnerungen erschüttert werden mußten. Er kehrte die Augen gewaltsam gegen die braune Holzdecke, an der der helle Lichtring der Lampe spielte, und hörte den Todtenwurm droben picken und entsann sich lustiger Abende viele Jahre zurück, wo er an demselben Tisch mit der Tante und der kleinen Lore gesessen und ihnen vorgelesen hatte, und wie damals in den Pausen dasselbe Knistern in dem alten Holzgetäfel sich hatte hören lassen, ohne daß ihm oder den Andern der Ton unheimlich gewesen war. Es war ihm damals vorgekommen, als ob der Tod nur in den Büchern stände, die er mit Vorliebe las, Rittergeschichten und Seeabenteuer, und späterhin Trauerspiele und schöne Gedichte. Die Tante war manchmal darüber eingeschlafen, das Lorchen hatte aber immer größere Augen gemacht, je länger er las, und wenn es dann aus war und war recht herzbrechend gewesen, hatten sie doch schon fünf Minuten nachher wieder gelacht, wie die leichtherzigen Kinder, die sie beide noch waren, obwohl er in Secunda saß und sie als eine arme Waise wohl Ursach gehabt hätte, das Leben nicht leicht zu nehmen. Nun schlief die gute Tante den letzten Schlaf, und ihnen Beiden war das Lachen vergangen.

Er war froh, als er das Mädchen wieder eintreten ah. „Es ist nichts im Haus,“ sagte sie, „als ein paar Eier und trocknes Brod und sonst Vorräthe zum Kochen. Ich könnte Dir einen Pfannkuchen backen, aber ich getraue mich nicht in die Küche; da hat es die Tante angefallen, als sie eben dem Christel einen warmen Umschlag machen wollte, und die Zenz hat gesagt, hinter dem Heerd hätte sie das Choleramännlein sitzen sehn, mit [788] einem grauen Bart und einer Warze auf der Stirn. Es ist dummes Zeug, ich weiß es wohl, aber ich bin so schwach, Lorenz, vor meinen Augen tanzen gleich die schauerlichsten Fratzen, wenn ich in die Küche trete. Wart einmal, da im Schrank sind noch Zwieback, die kannst Du in den Wein tunken, die schaden Dir gewiß nicht.“

Sie öffnete einen, altertümlichen geschnitzten Schrank mit Messinggriffen, aus dem die Tante so manchen Pfefferkuchen oder Apfel hervorgeholt hatte, ihren jungen Vorleser zu belohnen. Einen Teller mit hartem Backwerk nahm sie heraus, dazu ein altes mit eingeschossenen Figuren verziertes Krystallglas, und stellte beides vor Lorenz auf den Tisch. „Komm, Lore,“ sagte er, indem er das Glas vollschenkte, „Du sollst es mir credenzen. Wir wollen auf einen frischen Lebensmuth mit einander trinken.“

„Trinke nur Du,“ sagte sie. „Ich brauche es nicht mehr. Im Gegentheil, was sollte ich damit anfangen? Es würde mir das Sterben nur schwerer machen, wenn ich das Leben kurz vorher noch einmal liebgewänne.“

„Du wirst trinken, Lore,“ sagte er ernst und hielt ihr das Glas an die Lippen, daß sie wollend oder nicht ein paar Tropfen kosten mußte. „Ich habe Dir schon erklärt, daß ich diese Reden nicht mehr hören will, daß ich es gottlos finde, sich muthwillig selbst den Tod heranzuängstigen, zu fasten und zu wachen, bis man sich endlich richtig selbst umgebracht hat. Du siehst freilich nicht so rosig aus, wie ich Dich zuletzt gesehn, aber ich denke, ein paar Wochen auf dem Lande in guter Luft werden wieder die alte Lore aus Dir machen, wenn auch nicht wieder die wilde, mit der ich Räuber und Wandersmann gespielt habe im Garten hinter unserer Gießerei.“

Sie war auf einen Stuhl geglitten, der neben dem Schränkchen halb im Schatten stand, und hielt die Katze wie einen Muff vor sich auf dein Schooß. Ein paar Augenblicke saß sie da, mit geschlossenen Wimpern, als hätten die wenigen Tropfen des starken Weins sie plötzlich eingeschläfert. Und erst während des Sprechens schlug sie mühsam die Augen wieder auf.

„So magst Du wohl reden, Lorenz,“ sagte sie, „weil Du nicht weißt, wie das Alles gekommen ist. Mit dem Schneider unten fing es an, den pflegte die Tante mit unserer Magd, und wollte nicht, daß ich helfen sollte, weil es mich zu sehr angreifen würde. Ich hatte noch nie einen Sterbenden gesehn, nicht einmal einen Todten. Denn wie damals die Nachricht kam, daß meine arme Mutter todtkrank sei, war ich noch zu jung, um gleich allein hinzureisen, und als die Tante sich endlich auf den Weg machte, die Alles so umständlich anfing, und wir hinkamen, um sie zu pflegen, da war sie schon begraben. Die gute Tante hatte gedacht, ihrer Schwester eine Last abzunehmen, indem sie mich zu sich nahm und der Mutter nur den Christel ließ. Nun hatte sie ihr auch den letzten Trost genommen, ihre beiden Kinder noch vor ihrem Ende segnen zu können. Aber so kam es, daß ich ein großes Mädchen geworden bin und nie eine Leiche gesehn habe, da mein Vater, wie Du weißt, auf einer Bergwanderung verunglückte und ich nicht einmal zu seinem Grabe durfte. Und überhaupt hatte ich ein Grauen vor dem Tode, und wenn ich von einem Trauerfall sprechen hörte, träumte ich die ganze Nacht, ich läge im Sarge und meine Freundinnen streuten Blumen auf mich, immer mehr und mehr, bis ich die Last wie einen Mühlstein auf der Brust fühlte und mit einem Schrei erwachte. Aber den Schneider wollte ich dennoch im Sarge sehen, ich schämte mich, daß ich ihm in der Krankheit gar nichts Gutes gethan hatte aus erbärmlicher Feigheit; das wollte ich seiner Leiche abbitten. Auch wurde es mir nicht schwer, ihn anzusehen. Er war nicht verändert, hatte so die bekümmerte verlegene Miene, wie schon bei Lebzeiten, daß er immer so aussah, als rechne er es sich zur Sünde an, nicht gerade gewachsen zu sein und wolle Jedermann deshalb um Verzeihung bitten. Wenn es mit dem Todtsein weiter nichts auf sich hat, dachte ich, warum fürchtet man sich so davor? Ach Gott, damals sprang mein kleiner Christel noch mit der Schulmappe pfeifend die Treppe hinunter und kam denselben Mittag nach Hause, es sei Vacanz, man wisse noch nicht wie lange, und war so vergnügt, daß ich ihn noch schalt, wie er lustig sein könne, wenn der gute Meister, der ihm seine hübschen Kleider gemacht, eben gestorben sei.

Es dauerte auch nicht lange, so war’s mit der Ferienherrlichkeit vorbei, er klagte über heftige Schmerzen, mußte sich legen, und nun begann der Jammer. Ich will nicht wieder daran denken, Lorenz, es macht mich sonst wahnsinnig. Du hast ihn nicht gekannt, weil er bis in sein zehntes Jahr bei einem Halbbruder meiner Mutter war, auf dem Lande. Aber die Tante bestand darauf, daß sie ihn auch übernehmen wollte, er sollte in eine bessere Schule gehen, und so kamen wir Geschwister wieder zusammen, es ist noch kein halbes Jahr. Er war ein so guter Junge, viel besser und sanfter als ich, und ich hatte ihn so lieb, als müßt’ ich Alles nachholen, was ich sieben Jahre lang an ihm versäumt hatte. Wie er nun in seinen Schmerzen lag und immer stöhnte und ich Tag und Nacht nicht von seinem Bette wich, faßte er mir einmal beide Hände so recht fest, hob den Kopf vom Kissen auf und sagte: ‚Nicht wahr, Lorchen, Du läßt mich nicht allein sterben? Es ist so dunkel vor meinen Augen, Du mußt mich an der Hand halten, sonst finde ich den Weg nicht in den Himmel!’ ,Sei nur ruhig, Christelchen,’ sagt’ ich, ,es wird Alles geschehn, wie Gott will? ‚Nein, sagte er, ,Du mußt Gott darum bitten und mußt ihm sagen, daß Du mich nicht verlassen willst. Versprich mir das, Lorchen, sonst kann ich nicht ruhig sterben?‘ ,Ich verspreche es Dir, Christelchen, sagt’ ich, und darauf wurde er ruhiger, aber wie sein Letztes kam, hielt er mir immer die Hände und rief mit schon ganz erloschener Stimme: ‚Komm mit, Lorchen, komm mit! Du hast mir’s versprochen und läßt mich nun doch allein!’ Und das waren ‚seine letzten Worte.“

(Fortsetzung folgt.)





Erlebnisse und Ergebnisse der ersten deutschen Nordpolexpedition.

Von Otto Ule.

Aus jenen furchtbaren Regionen der Nordpolarwelt, wo auf unabsehbare Fernen der Blick des Seefahrers nur auf Eis und Schnee fällt, wo nur Eisfelder und Eisschollen von wilden Stürmen bewegt ihr grausiges Spiel treiben oder riesige Eisberge, gleichsam aus schimmernden Sapphir- und Lasurblöcken zu den abenteuerlichsten Formen zusammengesetzt, das Auge mit Entzücken, die Seele mit Angst und Entsetzen erfüllen, wo Monate lang die Sonne nicht auf- und Monate lang nicht untergeht, aus jenen Regionen ist am 10. October ein deutsches Schiff in einen deutschen Hafen zurückgekehrt. Da wird die Neugier verlangen von den arktischen Wundern zu hören, welche die kühnen Helden dieses Schiffes erschaut, von den Abenteuern, die sie im Kampf mit all den Schrecken der nordischen Natur erlebt haben. Aber der Leser der „Gartenlaube“ weiß, daß diese Männer nicht ausgezogen sind, um erzählen zu können, sondern daß sie eine ernste Aufgabe zu erfüllen hatten, die ihnen von der deutschen Wissenschaft und der deutschen Nation gestellt war. Das rückgekehrte deutsche Schiff trug die erste deutsche Nordpolexpedition, die von einem deutschen Forscher angeregt, mit den Mitteln des deutschen Volkes ausgerüstet und bestimmt war, an der Lösung jenes großen Problems mitzuarbeiten, das bereits seit Jahrhunderten die größten seefahrenden Nationen der Erde beschäftigt hatte, der Durchforschung des geheimnißvollen Gebiets, welches den Pol unserer Erde umgiebt. Nicht Fragen der Neugier, aber des wissenschaftlichen und nationalen Interesses wird der Leser auf dem Herzen haben. Ist denn nun wirklich dieses Räthsel gelöst, oder hat unsere Expedition wenigstens diese Lösung gefördert? Hat der deutsche Seemann gezeigt, daß er es an Muth, an Ausdauer, an Geschicklichkeit und Tüchtigkeit den Seeleuten anderer Nationen gleichthun kann, daß er hoffen darf, sich einst neben die Hudson und Cook, Franklin und Parry stellen zu können? Hat das deutsche Schiff die Ehre der deutschen Nation gerettet, die sich so lange von allen solchen Entdeckungsunternehmungen ferngehalten hat, weil sie kleinmüthig und verzagt nicht mehr an ihren Beruf zur See, den sie doch einst so glänzend

[789] bewährt, glaubte? So wird der Leser fragen, und er wird ein Recht auf eine Antwort haben.

Vergegenwärtigen wir uns zunächst noch einmal die Aufgabe, welche der ersten deutschen Nordpolexpedition gestellt war. Mit den beschränkten Mitteln, welche Petermann, dessen kühnem Vorgehen wir ja diese Expedition allein zu danken haben, zu Gebote standen, konnte nur ein kleines Segelschiff von etwa achtzig Tonnen ausgerüstet werden. Allerdings ersetzten die ausgezeichneten Eigenschaften der Führer, des Capitains Koldewey, des Obersteuermanns Hildebrandt und des freiwillig beigetretenen Untersteuermanns Sengstacke aus Holstein, wie die Tüchtigkeit der Mannschaft Vieles, was dem Schiffe an Größe, an Gewandtheit und Festigkeit abging. Immerhin aber durfte man ein so schwaches Fahrzeug nicht in die sturmbewegten Wogen des hohen Meeres hinaussenden. Man mußte ihm sicherere Fahrstraßen im Schutze der Küsten, zwischen dem gefürchteten Treibeisgürtel und dem festen Landeise anweisen, und man hoffte, daß es diese an der Ostküste Grönlands finden werde. Längs dieser grönländischen Küste also sollte der Versuch gemacht werden, so weit als möglich gegen den Pol vorzudringen.

Gründer und Führer der ersten deutschen Nordpolexpedition.
     Capitain Carl Koldewey.  A. Petermann.      Obersteuermann Richard Hildebrandt.

Um aber dahin zu gelangen, mußte freilich erst jener breite Treibeisgürtel durchbrochen werden. War dies nicht möglich, dann sollte die Expedition sich nach Spitzbergen hinüberwenden und dort das im Osten dieser Inselwelt gelegene, noch fast gänzlich unbekannte Gillisland zu erreichen suchen. Keine dieser Aufgaben ist nun in Wirklichkeit von der Expedition erfüllt worden. Weder ist es ihr gelungen die grönländische Ostküste zu erreichen, noch den Treibeisgürtel zu durchbrechen, noch endlich zum Gillisland vorzudringen. Daß die Expedition gleichwohl nicht als eine mißlungene betrachtet werden kann, das beweist der glänzende Empfang, der den Rückkehrenden von den Seestädten an der Wesermündung bereitet wurde, wie der begeisterte Eifer, mit dem man bereits die Ausrüstung einer neuen großartigeren Expedition für das kommende Jahr betreibt.

Um die Erfolge der Expedition richtig beurtheilen zu können, wollen wir sie auf ihrer müh- und gefahrvollen Fahrt begleiten.

Es war am Nachmittag des 24. Mai, als die „Germania“ den Hafen von Bergen verließ. Bis in die Nähe der Insel Jan Mayen war die Fahrt rasch und gut. Hier aber brach am 30. Mai ein heftiger Sturm von Osten her los; die See ging hoch, und die Luft war so dick vom Regen, daß man kaum eine Seemeile weit sehen konnte. Die Temperatur fiel allmählich unter den Gefrierpunkt und der Regen wurde zu spitzigen Eisnadeln, während das Segelwerk sich mit einer Eiskruste überzog. Aber das Schiff hielt sich wacker und trieb unter dichtgerefften Segeln in voller Sicherheit durch den Sturm. Man hatte eine nordwestliche Richtung auf Grönland zu eingeschlagen, und bald zeigten sich die ersten Anzeichen des nahen Eises, dichte Nebel, durch welche man zwei Tage lang, eine Strecke von zweihundert Seemeilen, sich durcharbeiten mußte. Am 5. Juni drang man unter 74° 50' nördlicher Breite und 10° 38' westlicher Länge von Greenwich zuerst in das Eis ein. Nach dreitägiger angestrengter Arbeit [790] gelang es, zwischen den dichtgedrängten Schollen bis 75° 19´ nördlicher Breite vorzudringen. Da aber brach abermals ein Sturm von Osten aus, der die „Germania“ zwang sich im dichten Eise festzulegen und vorläufig mit demselben südwärts zu treiben. Am 16. Juni klärte sich zwar das Wetter wieder und man erblickte nun deutlich die nahe Küste Grönlands bis zur Sabine-Insel vor sich. Aber alle Anstrengungen, sich aus dem Eisgefängniß zu befreien, waren vergeblich. Erst am 22. Juni, nachdem man willenlos bereits bis 73° 3´ nördlicher Breite und 16° 9´ westlicher Länge zurückgetrieben war, lockerte sich das Eis und nach schwerer Arbeit gelang es nun endlich wieder das offene Wasser zu erreichen. Das Schiff hatte seine erste Probe bestanden, der erste Kampf mit dem furchtbaren Polareise war durchgekämpft.

Wenige werden im Stande sein, sich eine richtige Vorstellung von den Schrecken dieses Kampfes und von den Anforderungen zu machen, die er an den Muth und die Geistesgegenwart des Seemanns stellt. Der berühmte Nordpolfahrer Hayes entwirft ein ergreifendes Bild von einem ähnlichen Kampfe, den er am Eingänge in den Sinithsund zu bestehen hatte, und ich kann mich nicht enthalten, diese Schilderung hier einzuflechten, da sie dem Leser das beste Verständniß der Schwierigkeiten giebt, an welchen ein Theil der Erfolge unserer Nordpolexpedition scheiterte. Hayes hatte es während eines heftigen Sturmes versucht, durch enge Canäle im Eise sich in das jenseits lockende offene Wasser durchzuarbeiten. Aber die Eisflarden halten sich zusammengedrängt, die Canäle verschlossen und selbst den Rückgang versperrt. „Die Scene um uns,“ schreibt er, „war ebenso imposant als beunruhigend. Außer Erdbeben und Vulcanen giebt es in der Natur kein Schauspiel, dessen Gewalt sich mit den arktischen Eisfeldern vergleichen läßt. Wo die Flarden zusammentrafen, wurden große Bergrücken aufgeworfen, um wieder unterzutauchen, wenn der Druck in einer andern Gegend ausgeübt wurde, und diese pulsirenden Erhebungslinien, die in manchen Fällen eine Höhe von nicht weniger als sechszig Fuß – höher als unser Masttop – erreichten, sprachen über das um uns liegende Meer hin von der Stärke und Macht des Feindes, der uns bedrohte. Wir hatten uns in einen dreieckigen Raum hineingearbeitet, den drei sich berührende Eisfelder bildeten. Anfangs gab es reichlichen Platz uns herumzudrehen, wenn auch keine Aussicht zum Entkommen war. Aber die Ecken der schützenden Flarden wurden langsam abgedrückt und der Raum verengte sich mehr und mehr. Wir lauschten auf das Knackern und Knirschen des Eises und beobachteten mit Bestürzung das Vorrücken desselben. Endlich berührte das Eis den Schooner und es schien, als ob sein Schicksal besiegelt wäre. Er stöhnte wie ein selbstbewußtes Wesen bei Schmerz, krümmte und drehte sich, als wollte er sich seinem Gegner entwinden, und zitterte an allem Holzwerk von der Klote bis zum Kielschwein. Seine Seiten schienen nachzugeben, sein Deckgebälk bog sich in die Höhe und die Nähte der Deckplanken öffneten sich. Das Eis auf der Backbordseite arbeitete sich allmählich unter den Bauch des Schiffes und hob es endlich mit einem Ruck, der uns Alle taumeln machte, aus dem Wasser. Da die Eisflarden noch immer vorwärts drückten und, indem sie sich an einander drängten, zerbrachen, so stapelte sich unter und rings um uns ein großer Bergrücken auf und wir sahen uns langsam in die Luft steigen, als würden wir durch die hebende Kraft von tausend Schrauben emporgetrieben. In dieser Stellung lagen wir acht angstvolle Stunden. Endlich hörte das Krachen auf; der Wind hatte sich gewendet und die ungeheuren Eisflarden, die sich den Sund hinabdrängten, richteten ihren Lauf mehr nach Westen. Hier und da zeigten sich in dem bisher dicht zusammengepackten Eise kleine Fleckchen offenen Wassers. Die Veränderung der Scene war, obgleich weniger furchtbar, doch nicht weniger zauberhaft als zuvor. Bald dehnte sich die Bewegung auf die Eisflarden aus, die uns so unbehaglich fesselten, und sowie der Druck aufhörte, wichen die Eisblöcke, welche den vorderen Theil des Schooners trugen, und ließen, während die Buge ihnen folgten, das Hintertheil hoch in der Luft. So lagen wir einige Augenblicke ruhig, dann begann die alte Scene von Neuem. Die äußere Flarde, die uns hielt, wurde von einem anderen sich bewegenden Felde von größerem Umfange erfaßt und wieder ging das Einzwängen los, wieder schienen wir in so großer Gefahr wie vorher zu sein. Aber der Angriff war von kurzer Dauer. Die Flarde wälzte sich um und wir fielen, da der Druck fast augenblicklich beseitigt war, in’s Wasser und taumelten, während das Eis, sein Gleichgewicht suchend, sich kopfüber und in wilder Verwirrung von seiner erzwungenen Erhebung unter uns senkte, vorwärts und rückwärts und von einer Seite zur andern.“

Das ist nur eine der wilden und gefahrvollen Scenen, wie sie sich zu Tausenden in dem Kampfe mit dem Treibeis des Polarmeeres ereignen. Solch ein ernster Kampf war es auch, den unsre kleine „Germania“ bei ihrem ersten Versuch, die grönländische Küste zu erreichen, zu bestehen hatte. Aber sie hielt sich wacker und entging siegreich dem drohenden Untergänge, wenn auch erst nach vierzehntägiger angstvoller Haft, und wenn sie auch manche Wunde davon getragen, manche Eisenplatte verloren hatte. Ungebeugt durch die eben bestandene Gefahr, versuchte es der kühne Führer sogar noch einmal, längs der Eiskante hinfahrend einen Durchgang nach Norden zu finden. Aber Nebel und östliche Winde erschwerten die Fahrt, und das Eis zeigte sich überall so dicht, daß an ein Eindringen nicht zu denken war, selbst wenn man wahnwitzig genug hätte sein wollen, es bei diesem heftig wehenden Ostwinde zu versuchen. Einmal, als man in eine Bucht der Eiskante eingefahren war, gerieth man bei dichtem Nebel in ein zerbröckeltes Eisfeld, aus dem man nur mit großer Mühe wieder herauskam. Die Aussichten waren trostlos. Auch die Aussagen der Walfischfänger, denen man an der Eiskante begegnete, lauteten wenigversprechend. Noch in keinem Jahre hatten sie das Eis hier so dicht gefunden; nirgends hatten sich Buchten oder Gassen im Eise gezeigt, in die man einfahren und in denen man seinen Fischfang hätte betreiben können.

Da entschloß sich Koldewey am 30. Juni seine nutzlosen Versuche aufzugeben und sich, wie es ihm seine Instructionen für diesen Fall vorschrieben, nach Spitzbergen hinüberzuwenden, um dort sein Glück zu versuchen. Schon am Morgen des 3. Juli erblickte man die Südwestküste von Spitzbergen und umsegelte in dichtem Nebel das Südcap. Da das Eis im Osten sich ziemlich lose zeigte, so steuerte man in dasselbe hinein. Das Schiff hatte zwar wieder harte Stöße zu erleiden; aber man achtete ihrer nicht mehr, nachdem man die Stärke des Schiffes kennen gelernt hatte. Zwei Tage lang war man so in nordöstlicher Richtung vorgedrungen; aber der Erfolg war ein geringer, da eine unerwartet starke Südwestströmung entgegenwirkte. Inzwischen hatte sich das Eis im Norden und Osten immer dichter zusammengepackt, so daß jede Hoffnung schwand, in dieser Richtung noch weiter vorzudringen. Ein heftiger Nordsturm, der in der Nacht zum 6. Juli ausbrach, zwang endlich zu dem Entschlusse, wieder aus dem Eise herauszusteuern. Nach langen und schweren Kämpfen gelang es; aber jeder Versuch, abermals nach Osten vorzudringen und etwa um die „Tausend Inseln“ im Süden von Stans-Vorland herum zum Gillislande zu gelangen, blieb vergeblich. So entschloß man sich denn, wieder nordwärts zu steuern und sich zunächst der Westküste Spitzbergens zuzuwenden, um dort im Bellsund Wasser und Ballast einzunehmen. Es blieb ja noch die Möglichkeit im Norden Spitzbergens das durchzusetzen, was im Süden so vergeblich versucht war. Vom Bellsund richtete daher die Germania ihren Lauf gerade nach Norden der nördlichen Eisbarrière entgegen. Am 19. Juli befand sie sich unter 80° 13` nördlicher Breite und 6° 35´ östlicher Länge von Greenwich, aber auch hier fand sie nirgends einen Durchgang, starrte ihr überall eine unüberwindliche Eisschranke entgegen, die sich unabsehbar von Westen nach Osten hinzog.

Noch einmal wandte sich Koldewey darum nach Westen, der grönländischen Ostküste zu; aber seine Hoffnung, jetzt günstigere Verhältnisse dort zu finden, als vier Wochen vorher, ward getäuscht. Bis zur Mitte August wurde Alles aufgeboten, die Küste zu erreichen. „Wir haben unser kleines Fahrzeug,“ schrieb Hildebrandt am 27. August, „gegen die Eisschollen anrennen lassen, wir haben uns hineingebohrt, um nur zollweise unsre Westlänge zu erreichen. Was half’s? Nachdem unser Schiff stark gelitten, waren wir endlich auf 73° 30´ nördlicher Breite und 18° westlicher Länge. Wir sahen die Küste so klar und deutlich vor uns, daß es uns schien, als müßte es nun bald gelingen, hinüberzukommen. Unsre Freude wurde erst recht groß, als wir in freies Wasser kamen. Aber dahinter erstreckte sich ein unabsehbares Eisfeld, welches fest auf dem Lande lag. Alle Versuche, die Küste zu erreichen, erwiesen sich als fruchtlos. Die ganze Küste von der [791] Sabine-Insel bis Hudsons ,Hold with Hope’ vor uns und jedes einzelne Schneefeld zu erkennen, und doch nicht hingelangen zu können – das war hart! Schon machte es sich fühlbar, daß die Tage kürzer wurden, es fing bereits an während einer Nacht zölliges Eis zu frieren, und noch auf einen Durchbruch des Eises hoffen? – das schien Wahnwitz. Wir hatten uns tief in das Eis hineingearbeitet und mußten uns eben so schwer wieder herausarbeiten. Einmal waren wir wieder so vom Eise besetzt, daß uns unsre Lage bedenklich erschien. Aber ein frischer Nordostwind, der nachher auf offner See zum Sturme anwuchs, befreite uns bald aus unsrer Gefangenschaft.“

Trotz alles Ungemachs war die heldenkühne Schaar noch keineswegs entmuthigt. Die Erreichung des Hauptzieles, der Expedition an der grönländischen Küste hatte zwar aufgegeben werden müssen; aber wenigstens sollte nun noch der Versuch gemacht werden, bei Spitzbergen Erfolge zu ertrotzen. Vor der Henlopenstraße, welche die Hauptinsel Spitzbergens von dem östlich gelegenen „Nordostlande“ trennt, fand man das Eis durch einen Sturm aufgebrochen und wagte es daher, in diese Straße einzulaufen. Bisher hatte noch kein Schiff diese Straße in ihrer ganzen Länge durchfahren. Immer noch hatte man sich, mochte man von Norden oder von Süden her eingelaufen sein, vor ihrem Ausgange durch undurchdringliche Eismassen Halt geboten gesehen. Der „Germania“ gelang es zum ersten Male, die ganze Straße bis über Cap Torrell hinaus zu passiren. Hier freilich versperrte wieder eine Eisschranke den Weg. Gillisland auf diesem Wege zu erreichen, war so wenig gestattet, als auf dem zwei Monate früher von Süden her eingeschlagenen. Man mußte sich wieder nordwärts wenden und erreichte am 14. September sogar die Breite von 81 Grad 5 Min., die höchste, die je zuverlässig von einem Schiffe erreicht wurde. Aber auch hier zeigte sich das Eis undurchdringlich, und man mußte sich nun endlich, in Anbetracht der vorgerückten Jahreszeit, zur Rückkehr entschließen. Am 30. September lief die „Germania“ wieder in den Hafen von Bergen ein.

Ueber den glänzenden Empfang, welcher der rückkehrenden Expedition in der Wesermündung am 10. October bereitet wurde, haben die Zeitungen berichtet. Ueberschauen wir die Thaten unserer ersten Nordpolexpedition, so haben wir keinen Grund zu klagen oder kleinmüthig zu sein. Die ganze viermonatliche Fahrt war ein unausgesetzter, mit seltener Ausdauer und nicht zu beugendem Muthe durchgeführter Kampf gegen einen übermächtigen Feind. Jeder Fuß breit Terrain mußte den wilden Elementen abgetrotzt werden. Daß nicht mehr erlangt wurde, daß namentlich die großen Ziele unerreicht blieben, ist nicht die Schuld der vortrefflichen Seeleute, denen diese Expedition anvertraut war, sondern einerseits der Kleinheit des Schiffes, das man in diesen schweren Kampf geschickt hatte, andrerseits der unerwartet ungünstigen Eisverhältnisse des Polarmeeres. Der ungewöhnliche Sommer dieses Jahres hatte auch ungewöhnliche Erscheinungen im hohen Norden hervorgerufen. Noch niemals, darüber sind alle Walfischfänger einig, welche in diesem Jahre die nordischen Meere besuchten, sind so ungeheure Eismassen vom Norden herabgekommen. „Es ist dieses Jahr ein Eisjahr gewesen,“ lautet der Bericht der schwedischen Nordpolexpedition, welche mit Hülfe eines der besten Dampfschiffe dieselben Aufgaben zu lösen versuchte, welche der deutschen Expedition gestellt waren, – „so daß z. B. das Meer zwischen den ,Sieben Inseln’ und dem ,Nordostlande’, welches 1861 schon in der Mitte des August eisfrei war, jetzt noch, in der ersten Hälfte des September, großentheils mit festem Eise bedeckt war.“ Auch diese schwedische Expedition hat trotz ihrer glänzenden Ausrüstung keine besseren Erfolge zu erzielen, selbst keine höhere Breite zu erreichen vermocht, als die kleine deutsche. Die grönländische Ostküste namentlich ist noch in keinem Jahre so unnahbar gewesen als in diesem. Mit seltener Hartnäckigkeit anhaltende Ost- und Nordostwinde hatten ungewöhnliche Eismassen gegen Grönland herangeführt und dort zusammengedrängt. Nichts destoweniger war es dem kleinen deutschen Schiffe, wie wir gesehen haben, sogar gelungen, diese Eismassen zu durchbrechen; aber das zusammengedrängte Eis hatte sich am Lande festgelegt und verhinderte sowohl die Annäherung an die Küste, als es den sonst mit Sicherheit zu erwartenden Canal freien Wassers längs der Eiskante versperrte.

Nur mit bewunderndem Stolze können wir auf die Seeleute blicken, welche unter so unerhört schwierigen Verhältnissen noch solche Erfolge ertrotzten, welche mit ihrem kleinen Fahrzeuge das grönländische Packeis durchbrachen, welche im Osten der Bäreninsel weiter als irgend ein Schiff jemals vor ihnen vordrangen, welche die Henlopenstraße bis über das Cap Torrell hinaus durchsegelten, welche endlich auch gegen den Pol hin die ungewöhnliche Höhe von 81 Grad 5 Min. erreichten.

Die erste deutsche Nordpolexpedition hat bestätigt, was ein bekannter preußischer Corvetten-Capitän schon am 2. December 1865 in der Sitzung der geographischen Gesellschaft in Berlin über die deutschen Seeleute öffentlich aussprach. Er habe selbst, sagte er damals, Tausende von deutschen Seeleuten unter Händen gehabt und die gefährlichsten Momente mit ihnen durchlebt, aber er glaube nie bessere Seeleute befehligen zu können. Auch seien ihm soviel Anträge zur Theilnahme an einer künftigen Expedition von der Elite unserer Seemannschaft zugegangen, daß er seine ganze Mannschaft aus Männern wählen könne, deren jeder seine Steuermannsprüfung bestanden habe und mithin mit jedem nautischen und bei der Expedition in Frage kommenden wissenschaftlichen Instrumente umzugehen wisse. Solche geistige Verhältnisse seien weder je bei anderen Expeditionen vorhanden gewesen, noch würden sie bei anderen Nationen vorkommen, und deshalb müsse eine deutsche Nordpolfahrt in wissenschaftlicher Beziehung viel mehr leisten, als dies irgend ein anderes Volk vermöge. In der That hat kaum jemals eine Polarexpedition in so kurzer Zeit und unter so unablässigen und schweren Kämpfen durch Beobachtungen, Messungen und Sammlungen eine reichere wissenschaftliche Ausbeute geliefert, als diese kleine Expedition trotz der geringen Zahl ihrer Mannschaft, trotzdem sie von keinem wissenschaftlichen Forscher begleitet war. Das größere Publicum wird diese wissenschaftliche Bedeutung der Expedition erst ganz zu ermessen vermögen, wenn der ausführliche Reisebericht, mit welchem Koldewey gegenwärtig noch beschäftigt ist, und das Ergebniß der Untersuchung, welcher die Sammlungen der Expedition von Seiten der bedeutendsten Gelehrten Deutschlands unterliegen, zur Veröffentlichung gelangt sein werden.

Als einen der besten und erfreulichsten Erfolge unserer ersten Expedition müssen wir endlich die rasche Entschlossenheit bezeichnen, mit welcher bereits eine zweite glänzendere deutsche Nordpolexpedition für das kommende Jahr vorbereitet wird. Eine sichere Bürgschaft ihres Zustandekommens ist die begeisterte Theilnahme der deutschen Seehandelsplätze an der Weser, die nicht nur einen merkwürdigen Contrast zu der kühlen Gleichgültigkeit bildet, mit welcher das deutsche Volk vor drei Jahren Petermann’s erste Anregung zu einem solchen Unternehmen aufnahm, sondern auch den Beweis liefert, daß man wenigstens an den deutschen Nordküsten die Wichtigkeit des Unternehmens, den Einfluß, welchen es auf die Interessen der Marine, auf den Sinn für Seefahrt, auf den nautischen Geist des Volkes haben muß, vollauf zu würdigen versteht. Der Plan der neuen Nordpolfahrt ist in seinen Grundzügen bereits entworfen und sieht seiner Veröffentlichung in Kürze entgegen. Ohne vorgreifen zu wollen, kann bereits so viel gesagt werden, daß nicht wieder einem zwerghaften Segelschiffe die große Aufgabe anvertraut werden soll, daß ein, womöglich zwei kräftige, in jeder Beziehung dem ernsten Kampfe mit den Elementen der Polarwelt gewachsene Dampfschiffe eine auserwählte, von bewährten wissenschaftlichen Forschern begleitete Mannschaft tragen werden, daß ein weiterer Schauplatz als zuvor ihrer Thätigkeit offen stehen wird, nicht blos die Ostküste Grönlands, nicht blos das spitzbergische Meer und das unbekannte Gillisland, sondern das weite, eisgepanzerte Meeresbecken von Grönland bis Nowaja-Semlja, und daß endlich auch eine Ueberwinterung auf Grönland zum Behuf ausgedehnter wissenschaftlicher Forschungen in Aussicht genommen wird. Nicht der Pol im eigentlichen Sinne, sondern die Erschließung und wissenschaftliche Erforschung des arktischen Polarbeckens wird das Ziel dieses Unternehmens sein, dessen Ausführung uns der im deutschen Volke so kräftig erwachte Sinn für die Ehre des Vaterlandes, dessen Erfolge uns der bewährte Seemannsruhm unserer Koldewey, Hildebrandt und Sengstacke verbürgt. Der Ausgang steht nicht in des Menschen Hand; was aber Menschen zu dem Erfolge beitragen können, das darf Deutschland getrost von seinen Seeleuten erwarten.



[792]
Unser Präsident.“

Mit dem leichten Ränzel auf dem Rücken, in der Hand den Ziegenhainer, mit dem schwarzrothgoldenen Band um die Brust wanderte ein junger Burschenschafter im Jahre 1817 von der Universitätsstadt Heidelberg in Gesellschaft gleichgesinnter Freunde durch das schöne Thüringen hinauf zu der romantischen Wartburg, wo die begeisterte Jugend das Fest der doppelten Befreiung von dem Joche Roms und dem fränkischen Uebermuth mit Worten, Liedern und weithin leuchtendem Freudenfeuer feierte. Mit seinen hier versammelten Brüdern gelobte er, für die Freiheit, Einheit und Größe des Vaterlandes zu kämpfen, für das Wohl und Gedeihen des heißgeliebten deutschen Volkes zu wirken, das Gute zu fördern, das Schlechte zu hassen, für seine Ueberzeugung männlich einzustehen und trotz Verfolgung, Noth und Drangsal seinem Vorsatz treu zu bleiben.

Nie ist ein Schwur besser gehalten worden, nie hat der Mann und der Greis in allen Lagen des Lebens schöner sein gegebenes Wort gelöst. Während viele von diesen Jünglingen, welche dies Gelübde mit ihm zugleich gethan, der Versuchung erlegen sind, Mancher über die eigene Begeisterung gespottet, Mancher seine heiligste Ueberzeugung entweder aus Menschenfurcht oder des irdischen Vortheils wegen aufgegeben, seinen Glauben verleugnet hat, ist er vor Allen sich selbst und seinem Schwure treu geblieben.

Dieser Jüngling heißt Wilhelm Adolf Lette und ist der Sohn eines freisinnigen Beamten und Domainenpächters in der Neumark, der im Jahre 1813 ein Landwehrbataillon ausrüstete, in das der damals kaum fünfzehnjährige Knabe als Freiwilliger eintreten wollte, aber wegen seiner Jugend und Körperschwäche zurückgewiesen wurde. Nach dem Frieden nahm er seine durch die Kriegsunruhen unterbrochenen Studien wieder auf, indem er zu diesem Zwecke das Gymnasium zum grauen Kloster in Berlin besuchte, wo er sich als tüchtiger Turner auszeichnete und in seinen Mußestunden „Freiheitslieder“ dichtete, die leider verloren gegangen sind.

Im Jahre 1816 zog er auf die Universität nach dem schönen Heidelberg, wurde daselbst Mitglied und später Vorstand der Burschenschaft; begeistert für die Freiheit und Einheit des Vaterlandes wohnte er dem Feste auf der Wartburg bei[1], wie er sich auch an den Berathungen auf dem alten Schlosse Heppenheim an der Bergstraße betheiligte. Dabei vernachlässigte er keineswegs seine Studien, fleißig besuchte er die Collegien und hörte deutsche Reichsgeschichte und Rechtswissenschaft bei Welcker und Thibaut, Geschichte bei dem freisinnigen Schlosser und vor Allen Philosophie bei Hegel. Trotzdem wurde er kein Stubenhocker, sondern er genoß das Leben als ein frischer Bursche, der eben so gut mit dem Glase in froher Gesellschaft, wie mit dem Schläger auf dem Fechtboden Bescheid wußte.

Auch als er von Heidelberg nach Berlin ging, nahm er hier an der Gründung der deutschen Burschenschaften den lebhaftesten Antheil; er gehörte wieder zum Vorstand, während der jetzt verstorbene Prediger Jonas den Vorsitz führte. In dieser Zeit besuchte ihn der unglückliche Sand, den er in Jena kennen gelernt hatte. Derselbe zeigte Lette und einem Freunde des letzteren, einem Schweizer, Namens Christ, mit dem er damals zusammenwohnte, das bekannte Gedicht von Carl Feller „30 oder 33 gleichviel“, welches Sand zu vertreiben suchte.

Dieser verhängnißvolle Besuch gab zunächst die Veranlassung, daß Lette in Göttingen, wohin er sich zur Beendigung seiner juristischen Studien gewendet hatte, in Untersuchung gerieth, mit vierwöchentlichem Carcer bestraft wurde und das consilium abeundi erhielt. Nichts desto weniger machte er sein erstes Examen bei dem Kammergericht zu Berlin, worauf er einige Zeit auf dem Gute seines Vaters verweilte. Hier traf ihn die unerwartete Nachricht, daß eine neue Untersuchung wegen Verbreitung jenes aufrührerischen Liedes eröffnet sei; zugleich wurde ihm mitgetheilt, daß er keine Aussicht auf eine Anstellung im preußischen Staatsdienste habe.

Wenn auch der harte Schlag ihn besonders wegen seines Vaters schmerzte, so vermochte er ihn doch nicht niederzubeugen. Er ließ den Muth nicht sinken und arbeitete unverdrossen an seiner juristischen Ausbildung unter der Anleitung eines tüchtigen Stadtrichters in der Nähe weiter. Vorzugsweise beschäftigte er sich mit der ländlichen Gesetzgebung, wozu ihm der Aufenthalt auf dem väterlichen Gute hinlängliche Gelegenheit und Anregung bot. Seine Erfahrungen besonders über die Ablösungsverhältnisse und Abtretung der Patrimonialgerichtsbarkeit an den Staat, die damals im Werke war, legte er in einer Denkschrift nieder, welche die Aufmerksamkeit des damaligen Vice-Präsidenten am Oberlandes-Gericht, von Diederichs, erregte und Lette’s Wiederzulassung zum Staatsdienste bewirkte, hauptsächlich durch die Befürwortung dieses ausgezeichneten Juristen.

Während er in Frankfurt an der Oder bei dem dortigen Gericht eine Anstellung erhielt, wurde er in Folge des gegen ihn eingeleiteten Verfahrens wegen seiner Betheiligung an der Burschenschaft, hauptsächlich wegen der Kenntnißnahme jenes Gedichtes von Feller, das jetzt theilweise zur Wahrheit geworden ist, zu sechsmonatlichem Kerker verurtheilt. Er erlangte jedoch die besondere Vergünstigung, diese Strafe in der Berliner Hausvoigtei absitzen und während seiner Haft die Arbeiten zum dritten Examen machen zu dürfen.

Kaum aus dem Gefängniß entlassen, wußte er durch seine Tüchtigkeit, durch Fleiß, Eifer und Gewissenhaftigkeit alle ihm entgegenstehende Hindernisse und Vorurtheile zu beseitigen, so daß er in verhältnißmäßig kurzer Zeit in seiner Amtsführung immer höher stieg. Wir finden ihn im Jahre 1825 als Assessor zu Soldin in der Lausitz, wo er sich mit seiner würdigen Gattin, der Tochter des dortigen Justiz-Amtmanns Voitus, verband, mit der er in der glücklichsten Ehe lebte; im Jahre 1835 als Oberlandesgerichtsrath in Posen, Ende 1839 als Director der Generalcommission zu Soldin, neun Jahre später als Dirigent der Generalcommission nach deren Vereinigung mit der Regierung in Frankfurt, und endlich als Rath im Ministerium des Innern. Als solcher widmete er seine ganze Kraft den ländlichen Verhältnissen im Geiste jener Freiheit, welcher Preußen seine Erhebung aus tiefem Falle zu verdanken hatte. Es war gewiß nicht Zufall, sondern eine Art Vorherbestimmung, daß sein Vater der erste Gutsbesitzer in der Neumark war, welcher gleich nach Veröffentlichung des Regulirungs-Edicts vom September 1811 den Bauern Dienstfreiheit und Eigenthum verlieh, wobei der Sohn Fürsprecher und Vermittler ihrer Wünsche war. Von dem gleichen Streben als Mann beseelt, setzte er das Dismembrationsgesetz durch, das wenigstens, einer langen Reaction gegenüber, die Freiheit des Eigenthums wesentlich aufrecht erhielt, desgleichen eine überaus zweckmäßige Polizeiordnung und die Einrichtung des Revisionscollegiums, so wie eine ganze Reihe wohlthätiger Veränderungen auf dem Gebiete der landwirtschaftlichen Gesetzgebung.

Die Regierung erkannte seine vielfachen Verdienste durch seine Berufung in den Staatsrath an und später durch seine Ernennung zum Präsidenten des neu errichteten Revisionscollegiums für Landescultursachen, in welcher Stellung er den segensreichsten Einfluß auf diesen wichtigen Theil der Verwaltung übte. Aber hiermit war keineswegs seine Wirksamkeit erschöpft, indem der unermüdliche Mann noch neben seinen Berufsgeschäften eine politische und sociale Thätigkeit entwickelte, die seinem Namen ein unvergängliches Andenken sichert. Alle Zeit, die ihm sein Amt übrig ließ, widmete er, getreu seinem Schwure, einzig und allein dem Wohle des Volkes, der Begründung, Einrichtung und Leitung gemeinnütziger Vereine, wobei er von seinem bewunderungswürdigen Organisationstalent und einer Arbeitskraft ohne Gleichen unterstützt wurde. Schon im Jahre 1841, als er noch in Frankfurt weilte, half er den landwirthschaftlichen „Central-Verein“ [793] gründen, dessen Verbreitung und Belebung hauptsächlich sein Werk war. Bis zum Jahre 1849 bekleidete er die Stelle des Vorsitzenden, auf die er jedoch freiwillig verzichtete, als seine politische Gesinnung, die er keineswegs verleugnete, von seinen conservativen Gegnern, besonders von dem bekannten Senfft von Pilsach dazu benutzt wurde, Spaltungen hervorzurufen. Ebenso hatte er an der Bildung eines solchen Vereins für den Regierungsbezirk Potsdam und des landwirthschaftlichen Provinzialvereins für die Mark Brandenburg den wesentlichsten Antheil.

Unter seiner Mitwirkung trat auch der „Verein zur Beförderuug des Seidenbau’s“ in der Mark Brandenburg in’s Leben, der besonders die Lage der Landschullehrer verbesserte indem sie durch diese gewinnbringende Nebenbeschäftigung eine nicht unerhebliche neue Einnahmequelle fanden. Als bei der ersten deutschen Gewerbeausstellung im Jahre 1844 von einer Anzahl wohlhabender und gesinnungstüchtiger Männer die Errichtung eines „Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Classen“ beschlossen wurde, ward Lette eines der thätigsten Mitglieder und Präsident desselben, muthig gegen das Mißtrauen der Regierung und die Gleichgültigkeit des Publicums für die gute Sache mit dem besten Erfolge kämpfend. Nicht minder betheiligte sich Lette an der politischen Bewegung und den parlamentarischen Kämpfen seit dem Jahre 1848. Er war vielleicht der erste Beamte, der ohne Furcht und Scheu, ohne jede Rücksicht aus vollem Herzen sich der Bewegung anschloß und in den constitutionellen Club trat, zu dessen Vice-Präsidenten er damals gewählt wurde. Als Mitglied des ersten deutschen Parlaments zog er am 18. Mai mit mehreren alten Universitätsfreunden und Burschenschaftern nach Frankfurt am Main, voll freudiger Hoffnung auf die Erfüllung seiner Wünsche für die Freiheit und Einheit des Vaterlandes, für die er als junger Student geschwärmt und gelitten hatte. Leider sollte es dem gereiften Manne nicht besser ergehen, als dem unerfahrenen Jüngling.

Präsident Lette.
Nach einer Photographie.


Lette hatte sich seiner vermittelnden Natur gemäß der sogenannten Casinopartei angeschlossen und stand mit seinen Freunden Simson, Dahlmann, Georg Beseler auf Seiten Gagern’s, der damals noch die Ausscheidung Oesterreichs aus dem deutschen Bunde, dessen Reconstituirung unter Führung eines freisinnigen Preußens in Anknüpfung an den Zollverein und eine weitere Verbindung mit dem österreichischen Kaiserstaate im Auge hatte. Selbst dieses keineswegs übertriebene Ziel blieb bekanntlich unerreicht, das Parlament wurde gesprengt, nachdem Lette schon früher mit dem größten Theil der Casinopartei seinen Austritt erklärt hatte und nach Berlin zurückgekehrt war. Hier erwarteten den Mann dieselben Verfolgungen, die er bereits als junger Burschenschafter kennen gelernt. Die siegreiche Reaction benutzte ein von ihm an seine Wähler erlassenes Circular, in welchem er seine Ansichten über die deutsche Frage und das Verfassungswerk offen aussprach, um ihn aus seinem Amte zu entfernen. Zunächst erhielt er von dem damaligen Minister der landwirthschaftlichen Angelegenheiten eine Aufforderung, sich wegen seiner ausgesprochenen Ansichten zu rechtfertigen, was auch Lette that, so daß man die Angelegenheit wieder fallen ließ, da sich kein genügender Grund fand, gegen ihn, wie man es wünschte, einzuschreiten. Damit begnügten sich jedoch seine politischen Gegner nicht. So erklärte der ihm sonst freundlich gesinnte wirkliche Geheimrath von Meding, daß er mit Lette wegen dessen politischer Gesinnung nicht länger zusammen als Präsident des landwirthschaftlichen Vereins fungiren könne worauf jener im Interesse der Erhaltung des Vereins seine Stelle niederlegte. Um dieselbe Zeit machten auch einige reactionäre Mitglieder des Landes-Oekonomie-Collegiums den Versuch, ihn zum freiwilligen Rücktritt aus seinem Amte zu bewegen, wogegen sich jedoch die Mehrzahl des Collegiums und an der Spitze der Präsident von Beckedorf erklärte.

Aber Lette ließ sich durch diese Anfeindungen weder einschüchtern noch abhalten, ein neues Mandat als Abgeordneter für die erste preußische Kammer anzunehmen und besonders durch einen freisinnigen Antrag auf Untersuchung der Regierungsmaßregeln gegen die dissidentischen Religionsgesellschaften seine Gegner von Neuem herauszufordern. Die Reaction stellte gegen ihn, ähnlich wie gegen Waldeck, einen Denuncianten auf, der ihn wegen verschiedener in einer Wahlrede ausgesprochener Ansichten über die ländlichen Verhältnisse fälschlich beschuldigte, worauf die Disciplinar-Untersuchung gegen Lette eingeleitet wurde. Obgleich der Zeuge, der später von seinem Amte entlassen werden mußte, bei der eidlichen Vernehmung die erheblichsten Aussagen zurücknahm und sich in die größten Widersprüche verwickelte, so daß eine große Zahl der Richter – zur Ehre des preußischen Richterstandes sei es gesagt –, darunter von fünf anwesenden Präsidenten vier, für Lette’s vollständige Freisprechung stimmten, so wurde doch eine Verwarnung gegen ihn wegen seines der Würde und Pflichten seines Amtes nicht entsprechenden Verhaltens ausgesprochen und wurden ihm die Kosten der Verhandlung auferlegt. Zugleich erfolgte seine Entlassung aus dem Staatsrath auf Befehl des Königs, während der Minister von Westphalen ihn seiner Würde als Mitglied des Landes-Oekonomie-Collegiums enthob.

Es blieb nur noch übrig, Lette aus seiner Stellung als Präsident eines Gerichtshofes zu entfernen, was jedoch nur in Folge eines richterlichen Erkenntnisses möglich war. Damals ging ihm, und zwar durch den Unter-Staatssecretair Bode, die Erklärung zu, daß es der ausdrückliche Wunsch einer hohen Persönlichkeit sei, daß Lette sein Amt als Präsident niederlege, wogegen ihm als Entschädigung eine Advocatur beim Ober-Tribunal [794] oder die gesetzliche Pension angeboten wurde. Hierauf erwiderte Lette mit aller Ehrfurcht, aber auch im Gefühle seiner Manneswürde: daß er, so schmerzlich es ihm auch falle, den von hoher Seite ausgesprochenen Wunsch nicht erfüllen könne, theils mit Rücksicht auf seine Verhältnisse, hauptsächlich aber wegen seiner Ehre, die er seinen Kindern unangetastet hinterlassen wolle, die aber in der allgemeinen Meinung befleckt erscheinen müsse, wenn er nach der Art und Weise, wie er aus dem Staatsrath und Landes-Oekonomie-Collegium entfernt sei, nun freiwillig von seinem Amte zurückträte, was einem Geständniß seiner Schuld gleichkommen würde. Diese offene und entschiedene Sprache machte selbst auf die reactionären Minister von Westphalen und Simons einen so günstigen Eindruck, daß sie von jedem weiteren Schritte abstanden und dem Könige in diesem Sinne Bericht erstatteten. Seit Eintritt der neuen Aera ist Lette in keiner Weise mehr angegriffen oder mit Anklagen belästigt worden.

Für diese Widerwärtigkeiten entschädigten vielfache Beweise der Liebe und Anerkennung von Seiten des Volkes, dem er nach wie vor seine Thätigkeit als Abgeordneter und Vorsitzender der meisten Berliner gemeinnützigen Gesellschaften widmete. In der Kammer, in der er seit 1858 ununterbrochen sitzt, hat er an der Mehrzahl der wichtigeren Gesetze über die ländlichen Verhältnisse und an den Anträgen wegen der Reform der Kreis-Ordnung den größten Antheil, während er im Norddeutschen Reichstag in allen Fragen mit der national-liberalen Partei stimmt. Seine größte und segensreichste Wirkung aber entfaltet er auf dem Gebiete der socialen Praxis. Außer den genannten Instituten verdanken ihm noch die bekannte „Pestalozzi-Stiftung“, der große Berliner „Handwerker-Verein“, der „Frauen-Verein für Fröbel’sche Kinder-Gärten“, der „Central-Darlehn-Cassenverein“, der „Verein für Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts“ und noch viele andere wohlthätige Anstalten entweder ihre Gründung oder ihr Fortbestehen unter seiner Leitung. Mit einer Aufopferung ohne Gleichen verbindet Lette ein seltenes Organisations-Talent, den feinsten Tact, die genaueste Kenntniß der Personen und Zustände, so daß er in der That zum Vorsitzenden geschaffen scheint, indem er die Debatte mit Würde zu leiten, die Gegensätze durch seine Milde zu versöhnen und das Gute durch seine unermüdliche Ausdauer zu fördern weiß.

Wenn man in Berlin der Sitzung irgend eines wohlthätigen Vereines für das Gedeihen und die Fortbildung des Volkes beiwohnt, so wird man gewöhnlich auf dem Ehrensitze des Präsidenten einen älteren, kleinen, elastisch beweglichen Herrn erblicken, dessen faltenreiches intelligentes Gesicht einen hohen Grad von liebenswürdiger Gutmüthigkeit und herzgewinnender Humanität bekundet.

Das ist der Präsident Lette, unser Präsident, wie man allgemein in Berlin ihn nennt; denn er ist geliebt, geachtet und im schönsten, besten Sinne „populär“ bei Hoch und Niedrig, bei Arm und Reich, im Palast seines Königs und in der Werkstätte des Arbeiters.

Das ist unser Präsident Lette, der als Greis noch hält, was er als Jüngling einst gelobt hat, für die Einheit des Vaterlandes und das Wohl des Volkes zu leben und zu wirken.

Max Ring.




Das Erkennungszeichen.
Von A. Godin.
(Schluß.)

Mit bebender Hand ergriff Helene das Päckchen, welches Schaumberg ihr entgegenbot, riß es auf und durchflog mit glühendem Blicke die drei Briefe, welche er dem Etui beigelegt hatte. Eine flammende Röthe bedeckte ihr Gesicht. „Und diese Briefe,“ rief sie, kaum des Wortes mächtig, „diese Briefe glauben Sie von mir geschrieben?“

Es lag ein solcher Ausdruck empörten Gefühls in ihren Worten, daß Schaumberg betroffen zusammenzuckte.

Helene bebte an allen Gliedern. „Der Glaube, daß ich diese Briefe geschrieben, war es also, der Sie damals zu mir geführt? – nein, mein Herr! ich gebe Ihnen Wort und Eid, daß diese Blätter und ihr Inhalt mir fremd sind und waren – und nun, verlassen Sie mich!“

„Vergebung, Helene, Verzeihung für eine Anmaßung, die, ich fühle es, Ihnen unerhört erscheinen muß, für die ich keine Erklärung, keine Entschuldigung habe, als – daß einst –“

„Sprechen Sie es nur aus!“ sagte die junge Frau, und ihr Auge blitzte vor Leidenschaft – „sprechen Sie es aus, daß mein Benehmen gegen Sie mit diesen Briefen, gleichen Schritt gehalten! Aber vergessen Sie dabei ihre eigene Haltung nicht! Wenn, ehe ich Sie noch kannte, mein Auge zuweilen zu Ihnen hinüberirrte, so traf es stets das Ihrige, und als ich Sie kennen lernte, lag da nicht von der ersten Stunde an in Ihrem Blick, in Ihrem Ton eine Wärme – freilich sahen Sie in mir schon damals die Frau, die Ihnen rücksichtslos entgegengekommen war! Warum es leugnen,“ rief sie plötzlich, und ihre sprechenden Züge strahlten ein inneres Feuer aus – „ich habe Sie geliebt, mit der ganzen Kraft meines bis dahin stummen Herzens geliebt, das sich’s nicht träumen ließ, nur der geringgeschätzte Spielball geschmeichelter Eitelkeit zu sein!“

„Nicht weiter, Helene!“ fuhr Otto heftig auf. „Sie dürfen, Sie sollen mich nicht tiefer demüthigen, als ich verdiene! Daß ich mich, allzu leichtgläubig, einem Irrthum hingab, der Ihr Selbstbewußtsein tief verletzen muß, empfinde ich ätzend genug, mein Gefühl für Sie lasse ich aber nicht in den Staub ziehen! Auch ich habe Sie geliebt, habe mit leidenschaftlicher Gluth an Ihrem Bilde gehangen, und Niemand weiß, was es mich gekostet hat, mich von Ihnen loszureißen, nachdem die Ueberzeugung sich in mir befestigte, daß ich der Mann nicht sei, Ihr dauerndes Glück zu begründen. Nie, der Himmel sei mein Zeuge – habe ich gering von Ihnen gedacht; was ich bei einer Andern mißbilligt hätte, das erhielt, von Ihnen ausgegangen, eine Weihe, denn ich kenne Ihre große, makellose Seele, Ihre weite, von allem Kleinen befreite Auffassung des Lebens und seiner Güter! Nie habe ich Ihrer anders gedacht, als mit Ehrerbietung und Wärme – lassen Sie mich nicht jetzt von Ihnen gehen mit dem Bewußtsein, daß Sie mir zürnen, daß Sie sich von der Erinnerung an mich unwillig abwenden werden!“

Helene blieb stumm. Sie raffte das Etui und die Briefe auf und reichte sie Schaumberg hinüber, ohne ihn anzublicken.

„Muß ich Sie verlassen, ohne Ihre Vergebung mit mir zu nehmen?“ sagte Otto weich, indem er die Hand gegen sie ausstreckte.

Ein heftiger Kampf wogte in Helenens Brust, ihr Athem flog, endlich wandte sie sich Otto zu und sah ihn an – es war der alte Blick der Liebe, sie faßte seine Hand und ließ sie wieder nach leisem Druck, indem sie flehend sagte: „Gehen Sie jetzt – vergessen werden wir uns nicht!“

An der Thüre wandte sich Otto noch einmal nach ihr um; sie lächelte ihm traurig zu.

Am Abend desselben Tages umschloß das Postpacket jenen am Morgen geschriebenen, an den Major von Feldheim adressirten Brief. Helene hatte ihn einige Stunden nach Schaumberg’s Besuch geschlossen; eine Thräne war auf das heiße Wachs gefallen.




Als sich der Wagen dem Posthause näherte, sah Schaumberg seinen Schwiegervater mit großen Schritten vor demselben auf und ab gehen. Dies Zusammentreffen erschien ihm in seiner gegenwärtigen Stimmung nichts weniger als angenehm; er wußte, daß er, von dem wortreichen Manne begrüßt, so bald nicht loskommen werde, und er sehnte sich unbeschreiblich nach Hause, nach Elisabeth.

Als ihn jedoch der alte Herr beim Aussteigen in Empfang nahm, mußte schon das Unvermeidliche mit guter Miene aufgenommen werden; Andlau schob seinen Arm unter den des Schwiegersohnes und sagte in seiner gewöhnlichen polternden Art: „Ich habe hier auf Euch gewartet, ehe ich den Heimweg antrete; Ihr [795] könnt mich ein Stück Wegs begleiten; wenn Ihr den ganzen Tag lang herumvagabundirt seid, so kommt es jetzt auch nicht darauf an, ob die Frau noch eine halbe Stunde länger wartet! Ich habe ein Hühnchen mit Euch zu pflücken, Herr Schwiegersohn, und zwar ein ganz gehöriges! Was rührt Ihr für Teufelsbrühen ein! Komme ich heute früh in Euer Haus und finde dort mein Mädel mit rothgeweinten Augen – sie geht nicht mit der Sprache heraus, ein Blinder kann aber sehen, daß sie was auf dem Herzen hat. Ich will sie zum Mittagessen mit hinausnehmen, sie thut’s nicht, ich komme schon verdrießlich nach Hause und denke mich an einem guten Bissen zu erholen – pros’t Mahlzeit, da wartet erst die Bescheerung auf mich! Sitzt da ein ganz confiscirter Kerl, einer von Abraham’s Söhnen, und macht mir Offerten für Euch, weil er Euch nicht am Ort gefunden hätte. Bringt ein Kauderwelsch zum Vorschein, daß Ihr tausend Gulden bei ihm habt aufnehmen wollen, daß er aber selbst nichts gehabt hätte, inzwischen habe er herumgefragt und könnt’ es jetzt schaffen, wenn ich Bürgschaft stellen wollte, wegen der schlechten Zeiten. Ich hab’ den Kerl vor die Thür geschmissen, ehe er noch mit seiner gotteslästerlichen Zinsforderung zu Ende war. Was sind mir das für verfluchte Geschichten, Musje! Wenn Ihr Geld braucht, was geht Ihr da zu dem Judenvolk und kommt nicht zu mir? Bscht – still geschwiegen, ich weiß, was Ihr sagen wollt, daß ich selber ein armer Teufel bin, für Euch hab’ ich aber doch Geld im Hause, Geld wie Heu! Wie Ihr damals so aufsässig wart, als meine Frau Schwester dem Mädel was Jährliches hat aussetzen wollen, da ist sie auch aufsässig geworden, denn sie hat einen harten Kopf, das weiß ihr Mann am besten. So hat sie denn das ganze Capital, das sie Euch verzinsen wollte, in guten Staatspapieren in meine Hand gelegt, mit der Commission, daß ich’s Euch aufhebe und die Zinsen dazuschlage, bis einmal Noth an Mann käme, denn sie war so falsch auf Euch, daß sie Euch in Geldsachen kein gutes Wort mehr geben wollte. Kommt also in’s Guckucks Namen hinaus, heut’ noch oder morgen, und holt Euch von dem Eurigen, was Ihr braucht oder, was mir am liebsten wäre, die ganze Bescheerung. Wozu Ihr’s bracht, das geht mich nichts an – kann mir’s übrigens schon denken – alte Geschichten – Jugend hat nicht Tugend – Universitätsschulden etc. Und jetzt Basta, ich verbitte mir alles Dreinreden, macht Rechtsumkehrt und marschirt zu Eurer Frau. Das sage ich Euch aber, finde ich mein Mädel noch einmal mit rothen Augen, so kriegt Ihr’s mit mir zu thun, und die Tante hetz’ ich Euch auch noch auf den Hals!“

Ohne den jungen Mann zu Wort kommen zu lassen, machte der Revierförster sich von ihm los, drehte ihn mit seinen gewaltigen Fäusten um wie ein Kind und marschirte mit Riesenschritten der Chaussee zu.

Schaumberg sah ihm mit leuchtendem Auge nach. Eine Centnerlast war so unvermuthet, so plötzlich von seiner Seele genommen – ohne Rechenschaft ablegen zu müssen, konnte er sich für alle Zukunft von der Ehrenschuld befreien, die ihm so schwere Sorgen gemacht! Wenn auch noch genug auf seinem Gemüth lastete – die Ehre war nun gerettet!

Sein ganzes Herz drängte ihn jetzt zu Elisabeth – er empfand ein gebieterisches Bedürfniß, sich voll und ganz gegen sie auszusprechen und aus dem Chaos von Empfindungen, das ihn an diesem Tage bedrängt hatte, das eine, höchste Gefühl seines Herzens klar hervorzuheben.

Als er sein Haus betrat, flog Elisabeth ihm entgegen und umfing ihn mit leidenschaftlicher Innigkeit. Er sah ihr in die Augen – ihr Vater hatte wahr gesprochen, noch jetzt trugen sie Spuren vergossener Thränen.

„Endlich bist Du da!“ rief sie erregt, „ich habe mich so nach Dir gesehnt! Warum sagtest Du mir nicht, daß Du nach Bamberg zurückwolltest? – aber still davon, ich sehe, daß Dein Auge heut’ heller blickt – die Sorgenfalte ist fort von der lieben Stirn – Du hast Deinen Zweck erreicht!“

„Ja, Elisabeth,“ sagte er, „diese Sorge ist gehoben, so weit es meine Verpflichtungen betrifft, und Dein Vater ist es, der mich in ganz unerwarteter Weise davon erlöst hat. Was mich heute nach Bamberg führte, war aber nicht dieser Anlaß – es gab dafür einen andern Grund.“

„Also doch!“ sprach Elisabeth erblassend. „Ich fürchtete es wohl.“

Otto sah sie fragend an.

„Ich kenne den Grund, der Dich hingeführt,“ sagte die junge Frau bebend, – „ist Dir Aufklärung über die Absenderin des Kreuzes geworden?“

„Nein,“ erwiderte Otto mit wachsendem Erstaunen, „wie hast Du aber erfahren können, was nie über meine Lippen kam, was ich Dir eben jetzt zu vertrauen dachte?“

Elisabeth barg den Kopf an seine Brust. „Das Kreuz ist mein!“ hauchte sie, kaum hörbar, „– wird es mich Deine Liebe kosten, Otto?“

„Elisabeth!“ rief er in unbeschreiblichem Ton.

„Höre mich an!“ sagte sie, ohne die Stelle an seiner Brust zu verlassen, „ich will Dir Alles, Alles gestehen! In jeder Stunde dieses angstvollen Tages hab’ ich’s mir von Neuem gelobt, Dir nichts zu verhehlen!“

Ihr ganzer Körper zitterte in Otto’s Armen; sanft leitete er sie zum Sopha, wo er sie neben sich niederzog, mit kosender Hand über ihre Flechten strich und ihre fieberisch glühende Stirn mit seinen Lippen berührte. „Sprich denn, mein Liebling!“ sagte er bewegt.

„Lange, ehe Du von meinem Dasein wußtest, habe ich Dich geliebt! Du hast gehört, daß meine Tante, als ich in Bamberg bei ihr lebte, am Regnitzufer wohnte. Die Fenster meines Zimmers, nach dem Garten zu, gingen nach dem Spital – da sah ich Dich täglich in den Sälen wirken und walten – durch die hohen Scheiben konnte ich Alles unterscheiden, was in der Nähe der Fenster vorging. Ich sah die Freundlichkeit, mit der Du den armen Kranken begegnetest, ich sah, wie ihre Gesichter aufleuchteten, sobald Du in ihre Nähe kamst, und ich gewann Dich lieb aus dem Grunde meines Herzens! Ein ganzes Jahr lang genügte es mir, Dich so zu betrachten, an Dich zu denken – da kam des Onkels Versetzung nach München. Ich sollte fort – der Gedanke, Dich nicht mehr sehen zu dürfen, nie wieder von Dir zu hören, ließ mich erst ganz empfinden, wie fest mein Herz an Dir hing! Ich verweinte damals alle Nächte, der sehnlichste Wunsch, Dich ein einzig Mal zu sprechen, ehe ich ging, ließ mir keine Ruhe mehr! In diesen Tagen führte ein unglücklicher Zufall einen Roman in meine Hände, in dem ein ähnlicher Brief, wie der erste, den ich Dir geschrieben, zu einer glücklichen Verbindung zweier Herzen geführt hatte. Im ersten Augenblick war ich betroffen – dann schien es mir wie ein Fingerzeig von Oben! Die Tante wollte noch in Bamberg bleiben, bis die Festlichkeiten zu Ehren der Königin vorüber seien, ich sollte meinen ersten Ball bei diesem Anlaß mitmachen, gleich nachher war die Abreise bestimmt. Ich versuchte, meine Schrift zu verstellen – es gelang mir, und ich schrieb jenigen unseligen Brief! Zwei Tage lang kämpfte ich noch mit mir, mein innerstes Herz warnte mich – endlich warf ich ihn doch in den Briefkasten! Was hätte ich schon eine Stunde nachher darum gegeben, wenn ich ihn hätte zurücknehmen können! Als der Ball abbestellt wurde, fühlte ich mich wie erlöst – ein paar Tage darnach reisten wir ab, da gönnte ich mir das kurze Lebewohl an Dich, weil ich fest überzeugt war, Dir nie mehr zu begegnen. Denke Dir nun meine Empfindung, als mein Vater im Herbste schrieb, Du seist hierher versetzt. Unwiderstehlich zog es mich in Deine Nähe, und ich bat meinen Vater, daß ich nach Hause kommen dürfte. Ich lernte Dich kennen, Otto! Du gewannst mich lieb, mein Gefühl für Dich ward mit jedem Tage tiefer, nun aber kam auch die Strafe für mein keckes, unweibliches Beginnen! Je mehr ich Deinen Charakter erkannte, desto klarer empfand ich, daß Du mich verurtheilen würdest, wenn Du wüßtest –“

Elisabeth brach ab; die plötzliche Erregung erstickte ihre Worte.

Otto zog sie näher an sich, „Geliebtes, thörichtes Kind!“ sagte er innig, „welche Schreckgespenster hast Du Dir heraufbeschworen! Wie konntest Du noch fürchten, daß Dein Bild sich mir entstellen würde, nachdem ich Dein Herz, Dein ganzes, in schönster Weiblichkeit aufgehendes Herz erkannt und besessen habe!“

„Denke an den Abend vor unserem Hochzeitstage!“ rief Elisabeth erregt.

„Ich denke daran,“ – sagte Otto, und ein ernster Zug glitt über sein Gesicht, „und ich kann es nicht fassen, daß jener Augenblick in Deinem Zimmer, wo mein ganzes Herz Dir offen lag, kein Vertrauen in Dir weckte!“

[796] „Ach, Otto, Du hast mir damals das tiefste Herz erschüttert, und nur die Furcht, es nicht ungestört vor Dir ausschütten zu können, hielt das Bekenntniß noch auf meinen Lippen zurück! Wir hatten nur Minuten des Alleinseins vor uns, am nächsten Tage war ich Dein, da wollte ich Dir Alles sagen – das gelobte ich mir heilig, als Du mich so innig batest, immer offen gegen Dich zu bleiben! Aber denke an die Worte, Otto, die Du eine Stunde später zu mir sprachst, nachdem Dein Freund der anonymen Briefe erwähnt hatte! Es waren harte Worte! Du sagtest mir, nie würdest Du auf den Besitz einer Liebe Werth legen, die sich Dir unverlangt geboten – im Gegentheil! Du sagtest mir, daß Du mich gerade deshalb liebtest, weil mein Herz sich nimmermehr ausbieten würde, wie ein herrenloses Gut! Diese Worte fielen wie Donnerschläge in mein Gemüth und blieben von dieser Stunde an der Gifttropfen in meinem Glück. Nie solltest Du die Wahrheit erfahren, wenn es von mir abhing, das ward mein fester Entschluß! Ruhe fand ich darum doch nicht – ich kam mir vor wie eine Verbrecherin, so oft Du Worte der Liebe, des Vertrauens an mich richtetest, ich genoß mein Glück mit Angst und Zittern, wie ein gestohlenes Gut, auf das ich kein Recht besaß!“

„Daß Du gegen mich gesündigt hast, leugne ich Dir nicht,“ sagte Otto ernst, als sie schwieg. „Hätte ein Zufall mich entdecken lassen, was ich bis heute nicht ahnte, so würde ich Dein Schweigen, Dein Verhehlen vielleicht schwer vergeben haben! Gott sei Dank, daß endlich das Vertrauen siegte, daß Du den Muth gefunden hast, mir wahr zu sein – meine Elisabeth, mein Weib!“

„Weiß Gott, ob ich zum Entschluß gekommen wäre, ohne den heutigen Tag!“ rief die junge Frau, „ohne die Folgen des neuen unwahren Schrittes, den ich kürzlich wieder gewagt!“

„Du sprichst von der Zusendung des Kreuzes an mich?“ fragte Otto gespannt.

Elisabeth nickte. „Seit ich mich neulich halb gegen Dich verrieth, fühlte ich es klar, daß ich Dir Offenheit schuldig sei, und der alte Kampf in mir ward wieder lebendig – in diesem Zwiespalt meiner Seele that ich den letzten falschen Schritt – ich schrieb Dir abermals, diesmal aber nicht, um Dich zu täuschen, sondern in der Hoffnung, mir das Geständniß zu erleichtern. In Bamberg kam mir plötzlich der Gedanke, das unselige Kreuz als Hülfsmittel für unsere bedrängte Lage zu benützen. Ich hatte es, um jedem verrätherischen Zufall vorzubeugen, gleich nach unserer Hochzeit an meine dortige Freundin gesandt und sie gebeten, mir das versiegelte Päckchen zu bewahren, bis ich es selbst zurückfordern würde. Nun holte ich es bei ihr ab, schrieb dort die letzten Zeilen an Dich und gab es zur Post. Meine Hoffnung war, Du würdest mir den Empfang des Kreuzes vertrauen und vielleicht ein milderes Wort über die Geberin daran knüpfen, das mir Muth gab zu sprechen! – Es kam ganz anders! Du verschwiegst mir die erhaltene Sendung – ich wußte sie in Deinen Händen – Du gingst nach Bamberg, ohne mir ein Wort gesagt zu haben! Mit Centnerschwere fiel es mir nun auf’s Herz, daß Du mir gesagt, Du wüßtest, wer die Briefe geschrieben! Was habe ich heute durchgerungen, Otto! Ich wußte ja nicht, zu wem mein unbesonnener Schritt Dich führen, was daraus entstehen würde! Eine Ahnung, daß ich Dich verlieren könnte, stieg schreckensvoll in mir auf, und tief empfand ich, daß ich nicht unverdient litt! Erst heute ward meine wirkliche Schuld gegen Dich mir völlig klar, und ich gelobte mir’s hoch und heilig, Dir wahr zu sein, heut und in alle Ewigkeit!“

„Laß mich die Thränen von Deinen lieben Augen küssen!“ rief Otto tief ergriffen. „Erst jetzt bist Du ganz die Meine, mit Herz und Seele!“

Lange hielten die Glücklichen sich umschlossen, ein Hauch jener Seligkeit, die den Sterblichen nur für kurze, unvergeßliche Momente gegönnt wird, flog mit Geisterschwingen über sie hin.

Als sie sich endlich ließen, sagte Otto mit einem scherzenden Ton, in dem noch die tiefste Bewegung nachzitterte: „Nun aber sollst Du Dich für mich schmücken, wie Du es einst im Sinne hattest!“

Er öffnete das Etui und knüpfte das Sammtband, welches durch den Ring des Brillantkreuzes gezogen war, um Elisabeth’s Hals. Mit leuchtenden Blicken sah er sie an, nie war sie ihm so schön erschienen! In bräutlicher Verwirrung, mit hoch erglühter Wange und gesenktem Auge stand sie vor ihm – von Neuem schloß er sie an’s Herz und sagte mit tiefer Empfindung: „Dein Erkennungszeichen hat uns doch zusammengeführt!“




Hermann’s Hort in Hildesheim.

Es war am 17. oder 18. October dieses Jahres um die Mittagszeit, als sich in der guten Stadt Hildesheim das Gerücht verbreitete, daß in der Nachbarschaft ein großer Schatz gefunden worden sei. Dasselbe bestätigte sich, und bald war der Fund in Aller Munde. Wochenlang bildete er dann das Gespräch der Stadt, das Räthsel, an dem alle Welt mit rieth, die Zufallsgabe, über deren Vertheilung jeder sein Urtheil abgeben zu müssen meinte.

Und in der That war der Schatz ein der Besprechung in weiten Kreisen in ungewöhnlich hohem Grade würdiger Gegenstand. Denn abgesehen davon, wie hoch man seinen Metallwerth taxirt hat, erwies sich sein Kunstwerth als höchst bedeutend, und sodann stammen die gefundenen Gefäße ohne Zweifel zum größten Theil und wahrscheinlich alle aus der Zeit der ersten römischen Kaiser. Ja, wenn ein gewisses Stückchen Pergament nicht wäre, welches in einem der Gefäße gelegen haben soll, oder wenn ein gewisser Archivar, der auf diesem Pergamentfragment ein gewisses neuhochdeutsches Wort las, nicht zu scharfe Augen gehabt hätte, so wäre die Vermuthung nichts weniger als zu kühn, daß der gefundene Schatz, der beiläufig jetzt nach Berlin gewandert ist, nichts Geringeres sei, als ein Theil der Beute aus der Befreiungsschlacht im Teutoburger Walde, der Schatz eines der germanischen Häuptlinge, die jene Schlacht mitschlugen, vielleicht der Hort des Helden, der ihr oberster Führer war, Hermann’s des Befreiers also.

Die deutsche Gründlichkeit wird darüber bald auf’s Reine kommen, und muß sie dem bedächtigen Archivar Unrecht geben, so wird das deutsche Volk an dem Hildesheimer Fund einen geradezu unvergleichlichen Schatz besitzen, ein Kleinod ersten Ranges, ebenso schön als ehrwürdig durch seine Beziehung zu einem der größten Ereignisse unserer Geschichte.

Der Ort, wo der Schatz gefunden wurde, liegt am westlichen Fuße des Galgenberges und gehört dem preußischen Fiscus. Die Finder waren Soldaten, die hier einen Schießstand ausgruben. In der Tiefe von neun Schuh stieß ihr Spaten auf eine hohle Stelle. Etwas wie ein Stück verrostetes Metall kam zu Tage. Unten in der Erde glänzte es wie Silberbruch. Die Leute gruben vorsichtiger weiter, und siehe da, ein reicher Schatz silberner Gefäße zeigte sich ihren überraschten Blicken. Einzelnes war von der Feuchtigkeit zerstört und gelangte nur in Bruchstücken an’s Licht, das Meiste erwies sich, nachdem es kunstgerecht gesäubert war, als wohl erhalten, wozu die Reinheit des Metalles, welches nur einen geringen Zusatz von Kupfer hat, wesentlich beigetragen haben wird. Kenner aber gaben schon auf den ersten Blick ihr Urtheil dahin ab, daß der Fund, dessen Silberwerth jetzt auf etwa dreitausend Thaler veranschlagt wird, in Betreff des Kunstwerthes der einzelnen Gefäße beinahe unschätzbar genannt werden müsse.

Eins stand zunächst fest: die gefundenen Vasen, Schalen, Becher, Kandelaber, Tiegel etc., im Ganzen einige fünfzig Stücke, hatten das Küchen- und Tafelgeräth eines Fürsten oder sonst eines vornehmen Mannes gebildet, und diese Ansicht ist nicht angefochten und widerlegt worden.

Anders verhielt sich’s mit der Meinung, die man anfänglich über die Kunstperiode hegte, welche diesen Gegenständen ihre Gestalt gegeben. Edle, der Antike entnommene Formen, reiche Masken, trefflich erfundener Thier- und Blätterschmuck ließen auf Arbeiten der Renaissancezeit, also auf Meister der ersten Hälfte des sechszehnten Jahrhunderts schließen. Mehreres war offenbar von Künstlern ersten Ranges geschaffen, und man rieth bei einigen besonders vollendeten Stücken sogar auf den Großmeister jener glorreichen Schöpferzeit, Benvenuto Cellini.

Diese Ansicht, die unter Anderem auch von dem hochgebildeten [797] und um Hildesheim außerordentlich verdienten Senator Römer eine Zeitlang vertreten wurde, erhielt sich nicht lange. Sie stellte die betreffenden Gegenstände sehr hoch, aber bald hieß es: höher hinauf.

Am 25. October kam der Professor Friedrich Wieseler von Göttingen nach Hildesheim, um den Fund in Augenschein zu nehmen und wo möglich endgültig über die inzwischen aufgetauchte Frage zu entscheiden, ob nicht wenigstens einzelne Stücke desselben dem classischen Alterthum, der Griechen- und Römerzeit ihre Entstehung verdankten. Der Professor erschien ohne vorgefaßte Meinung und mit dem Entschluß, jedem Zweifel an der Herkunft der Gefäße aus altrömischen Werkstätten Gehör zu geben und jeder Spur einer Entstehung derselben in der Zeit der Renaissance sorgfältig nachzuforschen. Hatte sich doch bisher Niemand, auch nur im Traum, beikommen lassen, daß so hoch oben im Norden ein Schatz wirklich antiker Gefäße und Geräthe von solcher Menge und solcher Schönheit vorhanden sein könne.

Altrömischer Becher aus dem Hildesheimer Silberfund.

Allerdings sind im Bereiche der Landstriche, die früher das Königreich Hannover bildeten, römische Münzen, vorzüglich silberne, bisweilen in ziemlich großer Anzahl bei einander gefunden worden. Aber aus dem Gebiete der Gefäße von Edelmetall hat man hier nur eine kleine silberne Schale in Bruchstücken ausgegraben, und der Fundort derselben liegt weit entfernt von Hildesheim, bei Lengerich im Osnabrück’schen.

Ja noch mehr, nicht nur Hannover, nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa hat in neuerer Zeit noch nie einen Schatz altclassischer Kunstwerke von edlem Metall der Erde entsteigen sehen, der dem Hildesheim’schen gleich zu stellen wäre. Der im Jahre 1830 bei Bernay in der Normandie gemachte Fund dieser Art übertrifft den unsern nur nach der Zahl der Stücke (es waren 69) um etwas, steht ihm aber sonst in allen Beziehungen nach. In Pompeji ferner wurden 1835 Silbergefäße ausgegraben, aber es waren nur fünfzehn, und keines derselben war von höherem Werth als eins der am Hildesheimer Galgenberge zu Tage geförderten. Dort bei Bernay sodann war man auf dem Boden eines früher völlig romanisirten Landes, und hier in Pompeji hatte man eine in ihrer vollen Blüthe unvermuthet verschüttete Stadt Mittelitaliens vor sich, während in die Gegend Hildesheim’s Römer nur selten und nur vorübergehend gekommen sein konnten. Endlich sind auch die glänzenden Funde von ähnlichen Gegenständen, die in Südrußland vorkamen, dem Hildesheimer nicht überzuordnen; denn sie haben niemals soviel Silber auf einmal geliefert.

Altrömische Schale aus dem Hildesheimer Silberfund.

Nach alledem war große Vorsicht in der Beurtheilung geboten, und diese Vorsicht hielt den untersuchenden Göttinger Gelehrten auch dann noch von einem endgültigen Bescheid zurück als er sich nach kurzer Besichtigung des Fundes auf Grund des Kunstwerthes desselben stark der Ansicht zuneigte, daß derselbe mindestens in einigen seiner Theile in der That aus dem classischen [798] Alterthum herstammen müsse. Einige untergeordnete Stücke konnten recht wohl modernen Ursprungs sein. Für die besseren war die Möglichkeit, daß sie Schöpfungen eines nach classischen Mustern und mit dem Feinsinn der classischen Meister arbeitenden Künstlers der Zeit Raphael’s und Michel Angelo’s seien, nicht völlig ausgeschlossen. Einige anscheinend altrömische Inschriften, die man auf den Gefäßen erkannte, ließen sich in der Kürze der Zeit, die Wieseler in Hildesheim auf deren Untersuchung verwenden konnte, nicht mit genügender Genauigkeit betrachten.

So schied der Professor von Hildesheim, ohne auf’s Reine gekommen zu sein. Als er aber, nach Göttingen zurückgekehrt, das Detailstudium begann, schwand bald aller Zweifel. Schon am 30. October konnte er vor einem Kreise gelehrter Freunde als seine feste Ueberzeugung aussprechen, daß es sich hier um Erzeugnisse der besten römischen Kunstperiode handele, und diese Ansicht bestätigte sich, als später von Professor Sauppe die Inschriften, von denen man inzwischen mehrere, im Ganzen vierundzwanzig, entdeckt hatte, genau untersucht wurden, sowie durch eine Anzahl anderer zwingender Gründe.

Die einzelnen Stücke des Schatzes passen sämmtlich für die Tafel und die Küche eines reichen Römers. Es befinden sich darunter zunächst Aufbewahrungs-, Vertheilungs- und Mischgefäße von großen Dimensionen und schwerem Gewicht, sowie mehrere Schalen bis zu etwa zehn Zoll Durchmesser, die aus dem innern Boden mit erhabenen Reliefs geschmückt sind und wohl nur als Schaustücke auf den Tisch gesetzt wurden. Ferner treffen wir darunter Trinkbecher von verschiedener Art und Gestalt, zum Theil mit dem herrlichsten Bilderwerk bedeckt, welches sich auf Bacchus und seinen Dienst bezieht, Schüsseln, von denen die eine offenbar für Eier, eine andere vielleicht für Pasteten bestimmt war, große Teller mit oder ohne Arabeskenverzierung auf dem Rande, Casserolen und Tiegel. Sodann sind fünf kleine Gefäße dabei, die länglich-runden Präsentirtellern gleichen und, mit niedrigen Füßen versehen, zum Aufsetzen kleiner Vögel gedient zu haben scheinen. Auch das Salzfaß fehlt nicht. Zwei ovale Gegenstände, die am oberen Rande eine Auskehlung und unten ebenfalls Füßchen haben, sehen fast wie unsere Lichtscheerenschiffchen aus, werden aber Untersetzer gewesen sein. Endlich sind, um von weniger Bedeutendem abzusehen, die Ueberbleibsel einer rundlichen Cista (Schmuckkästchen), der Fuß von einem Lampenträger und von einem Dreifuß die drei Füße und drei Aufsätze, sowie mehrere Querstäbe dieses Geräthes vorhanden.

Alle diese Gefäße und Geräthe sind, wie bemerkt, von Silber, mehrere vergoldet, bei zweien findet sich Arbeit in Email. Sämmtliche Gegenstände passen nach ihrer Form durchaus in die Zeit, in welche Wieseler ihre Entstehung verlegt. Auch das ansehnliche Gewicht mehrerer Stücke spricht dafür. Seit in Rom während der Kriege mit Karthago der Gebrauch aufkam, von Silber zu speisen, aus Silber zu trinken, sehen wir, wie das Gewicht des silbernen Geräths, mit dem die Tafeln vornehmer Leute bedeckt waren, fortwährend zunahm; und schon vor Beginn der Kaiserzeit war auch das Küchengeschirr reicher Häuser von Silber.

Zu diesen Beweismitteln für die Ansicht, daß der Hildesheimer Silberfund aus dem römischen Alterthum stammt, kommen noch drei andere: die Inschriften der Gefäße, dann die Eigenthümlichkeiten der bildlichen Darstellungen, endlich das in technischer Hinsicht befolgte Verfahren.

Die Inschriften enthalten zum Theil altrömische Namen, meist aber Gewichtsangaben und zwar fast durchaus nur in Abkürzungen und Chiffern. Auf zwei der schönsten Pokale findet sich der Name eines Silberhändlers oder Silberschmieds Boccus oder Bocchus, der die Vornamen Lucius Mallius oder Malleolus führte, und daß es in der Zeit der ersten römischen Kaiser den Namen Boccus oder Bocchus gab, ist nachgewiesen. Wir kennen aus Plinius einen Schriftsteller Cornelius Bochus, und dessen Name war in Lusitanien, dem heutigen Portugal, sogar häufig. Andere Geräthe stammen aus anderer Hand, die Inschriften darauf bezeugen, daß sie aus den Werkstätten von noch vier anderen römischen Künstlern hervorgegangen sind, von denen einer sich Marsus, ein anderer sich Aurelius C. nennt. Das Gewicht ist in Pfunden sowie in Unzen und Scripula angegeben. Die Gestalt der Buchstaben weist auf die von Wieseler angenommene Zeit hin, ebenso die Art der Gewichtsangabe, desgleichen die Stelle, wo die Inschriften angebracht sind. Endlich entspricht auch die Ausführung der Buchstaben und Zeichen vollständig dem, was im Alterthum, vorzüglich bei Werken von edlem Metall, üblich war, d. h. sie sind entweder durch Punktiren oder durch Einritzen und zwar meistentheils in ersterer Weise hergestellt.

Schon das Gesägte läßt kaum noch Raum für die Ansicht, daß der Hildesheimer Silberfund viel jünger als der Anfang der christlichen Zeitrechnung sei, und von Renaissancearbeit ist wohl nicht mehr die Rede. Aber hören wir die Gelehrten weiter.

Von den beiden größeren Schalen mit Bildwerk auf dem inneren Boden zeigt die eine die vergoldete und etwa acht Zoll hohe Figur einer Minerva, die auf einem Felsen sitzt und den Kopf nach links wendet. Ihre Gewandung mit wundervollem Faltenwurf ist die gewöhnliche. Die Aegis liegt, schärpenartig übergeworfen, auf der linken Schulter. Das Haupt bedeckt ein Helm mit drei Roßschweifen, deren mittelster eine Sphinx zur Unterlage hat. Mit der linken Hand hält die Göttin einen großen runden Schild, der in der Mitte das Medusenhaupt zeigt, während der Rand mit Olivenblättern geziert ist, in der rechten aber nicht, wie gewöhnlich, die Lanze, sondern einen Pflug. Vor ihr endlich, etwas zur Rechten, sitzt auf einem Stein, an dem ein Oelkranz lehnt, die Eule, das heilige Thier der Göttin. Nun kommen drei Roßschweife auf dem Helm der Minerva im Alterthum sehr selten vor, es ist daher nicht glaublich, daß ein Künstler der Renaissancezeit gerade diese Form nachgeahmt haben sollte. Noch wichtiger aber für uns ist der Pflug. Derselbe bezeichnet die Göttin als Erfinderin des Pflugs. Daß sie im Alterthum auch als Göttin des Ackerbaues galt, ist bekannt; daß sie den Pflug erfunden habe, wird nur in zwei lediglich von Fachgelehrten gelesenen alten Schriftstellern gesagt, die schwerlich in den Werkstätten von Silberschmieden des sechzehnten Jahrhunderts den Ton und die Norm angegeben haben.

Ein ähnliches Medaillon kommt in der zweiten größeren Schale vor. Es ist ein stark aus der Fläche hervortretendes Brustbild, stellt Hercules als neugebornes Kind vor, wie er spielend und lächelnd die bekannten beiden Schlangen erdrückt, und ist ein Meisterwerk im Ausdruck des Gesichts, dem nichts Modernes an die Seite zu setzen ist.

Die beiden kleineren von den vier Schalen, die mit erhabenem Bilderschmuck versehen und vergoldet sind, gehören unzweifelhaft zu einander; denn sie entsprechen einander nach Größe, Form und Decoration vollständig. Die eine zeigt die Büste eines nach links gewendeten Weibes, die eine Mauerkrone auf dem Haupte trägt, und hinter deren linker Schulter eine Handpauke hervortritt, auf welcher ein großer Stern erscheint, Attribute, welche sie als die Göttin Cybele bezeichnen. Die andere Schale dieses Paares enthält die Büste eines jungen, bartlosen Mannes, der ebenfalls nach links hinblickt. Sein Haupt bedeckt eine phrygische Mütze, seine Brust ein phrygisches Gewand, um seinen Hals legt sich ein gewundenes, vorn offenes Halsband. Wie der Halbmond hinter seinen Schultern und die Sterne auf seiner Mütze schließen lassen, ist dieser, beiläufig außerordentlich schön gebildete, Jüngling der Deus Lunus, d. h. der Mondgott. Dieser aber ist bisher mit der Cybele noch nicht so gruppirt gefunden worden. Ein Künstler des Alterthums indeß konnte beide sehr wohl mit einander verbinden; denn beide wurden von vorderasiatischen Völkern besonders verehrt, und beide standen sich ihrer Bedeutung nach nahe, ja Cybele wurde neben die thracische Mondgottheit Hekate gestellt. Indeß war diese Ansicht im Alterthum nicht weit verbreitet. Wir werden also kaum glauben dürfen, daß ein Künstler des sechzehnten Jahrhunderts nach ihr verfahren sei.

Eines der schönsten Gefäße ist die eine von den drei großen, gegen zwanzig Zoll hohen Vasen des Schatzes. Am Fuße derselben stehen vier Greife, aus deren Flügeln sich Arabesken entwickeln, welche in feinen Ranken die ganze Vase umflechten. Dieses Geflecht ist von einer Zierlichkeit, die wir aus Pompeji hinlänglich kennen, und die keine nachahmende Kunst moderner Zeiten jemals ganz erreicht hat. Von den sich kreuzenden Ranken aus harpuniren und fischen schäkernde Kinder in den anmuthigsten Stellungen Fische, Krebse und andere Wasserthiere. Ebenso künstlerisch vollendet ist ein etwa vier Zoll hoher Henkelbecher. Derselbe ist mit Weinranken überzogen und zwischen denselben mit Theatermasken tragischer und kölnischer Art besetzt. Die Masken sind so erhaben gearbeitet, daß man sie kaum noch Reliefs nennen darf, und von einer Vollendung in Zeichnung und Ausdruck, die [799] schwerlich von einer anderen auf uns gekommenen Schöpfung der alten Welt übertroffen und sicher von keiner Arbeit der Renaissance erreicht wird. Den erhaben gearbeiteten Rand eines großen Tellers bilden köstliche Arabesken von Blattwerk, zwischen denen Vögel, Käfer und Schmetterlinge herumfliegen. Von drei flachen Trinkschalen sind zwei mit reichem, aber nur wenig hervortretendem Blätterschmuck, eine andere, ungleich werthvollere mit einem Löwenfell sowie mit Thier- und Menschenköpfen verziert. Durch große Einfachheit zeichnet sich ein anderes nur mit einem Lorbeerkranze geschmücktes Trinkgefäß aus. Auf den bandartigen Rändern von fünf anderen flachen Trinkschalen sehen wir rankende Pflanzen mit emaillirten Bändern eingravirt. Ein ganz eigenthümliches Stück der Sammlung, der Form nach ein nach oben sich erweiternder Cylinder und etwa achtzehn Zoll hoch, zeigt Bilder von Pferden und wilden Ebern.

Die handwerksmäßige Arbeit an diesen Silbersachen ist durchaus die der Zeit, in welche Wieseler im Einklang mit den Professoren Benndorf, Unger und Sauppe die Herkunft derselben verlegt. Es sind theils gegossene, theils gehämmerte und theils ciselirte, theils getriebene Werke. Zu den ciselirten gehören die meisten und die schönsten Trinkbecher sowie die oben geschilderte große Vase, die jedenfalls ein sogenannter Krater, d. h. ein Gefäß war, in dem man den Wein mischte. Bei diesem Mischkrug sowie bei verschiedenen Bechern ist jetzt die äußere Schale von dem massiven Einsatz, mit dem sie gefüttert war, getrennt, indem das sie verbindende Blei sich in der Erde aufgelöst hat. Dieses Verfahren bei der Herstellung ist ganz dasselbe, welches man von den bei Bernay und in Pompeji gefundenen antiken Silbergefäßen bemerkt hat.

Hiermit ist erschöpft, was sich für den Ursprung des Hildesheimer Schatzes im Alterthum sagen läßt. Es genügt, um denselben für festgestellt zu halten. Die gefundenen Gegenstände gehören zu einem Tafelservice, welches moderner Sitte und modernem Bedürfniß mit seinem Dreifuß, seinem Kandelaber, seinen massiven Casserolen und Anderem nicht entspricht. Die Ornamente und Darstellungen der Reliefs fallen ausnahmslos in das Bereich der antiken Kunst und Mythologie. Die lateinischen Inschriften weisen auf den Gebrauch römischer Werkstätten hin. Die hohe Kunst, die sich in dem Stil der Figuren und Arabesken sowie in der Handhabung der Silbertechnik ausspricht, läßt wenigstens bei einigen der besten Stücke auf griechische Meister der Zeit des Augustus oder Tiberius schließen.

Da ferner, wie bei der Ausgrabung zweifellos festgestellt wurde, die sorgfältig zusammengelegten Theile des Schatzes sich in keinerlei Baulichkeit befunden haben, so sind dieselben zum Zwecke heimlicher Aufbewahrung vergraben gewesen. Endlich sprechen verschiedene Gründe dafür, daß die Niederlegung derselben nicht später als im Alterthum stattgefunden hat. Es wäre sonach möglich, daß der Schatz wirklich von der Schlacht im Teutoburger Walde, der nur wenige Meilen von Hildesheim entfernt ist, herrührte, daß er ein Theil des Tafel- und Küchengeräths des Varus und die dem Arminins bei jener Gelegenheit zugefallene Beute wäre.

Die Fürsten der Germanen liebten es, einen Hort zu haben. Häufig wurden solche Schätze in der Zeit der Völkerwanderung vergraben. Oft werden in den Heldensagen geheimnißvolle Schätze erwähnt, so der Schatz Fafnir’s in der Edda, der Nibelungenhort, der Drachenschatz, welcher Beowulf den Tod brachte. Mit Begier strebten die Gegner der Besitzer solcher Reichthümer nach denselben. Das Erste, was Agilulf, der Langobardenkönig, that, als er den aufständischen Herzog Gaidulf bezwungen, war, daß er ihm seinen Schatz nahm, den er auf einer Insel des Comer Sees verborgen. Unter den Friedensvorschlägen, welche Kaiser Justinian dem Gothenkönig Vitigis machte, ist auch der, daß dieser seinen Schatz mit dem Kaiser theilen soll. Der Frankenkönigin Brunhilde wurde nach dem Tode ihres Gemahls von dem Nachfolger vor Allem ihr Schatz genommen.

Es ist nicht undenkbar, daß Hermann der Cherusker oder einer seiner Angehörigen aus irgendwelchem Grunde, in Bedrängnis aus Mißtrauen und dergleichen den ihm zugefallenen Antheil an der Beute der Schlacht, in der Varus und seine Legionen der Wucht der vereinigten nordwestlichen Germanen erlagen, der Erde anvertraut hat. Es wäre ferner möglich, daß dies in der Nähe von Hildesheim geschehen wäre, bis wohin sich das Gebiet der Cherusker erstreckt haben mag, und wo die frühzeitige Gründung einer Kirche vielleicht darauf zu schließen gestattet, daß hier einst ein altes Heiligthum der heidnischen Germanen oder sonst ein Versammlungsort von Bedeutung stand.

Die Phantasie kann darauf weiter bauen.

Vorher aber hat der Verstand noch ein nicht unerhebliches Hinderniß zu bewältigen. Ein kleines Pergamentstückchen, welches in einem der Gefäße des Galgenbergs gefunden worden sein soll, rückt, falls es echt ist und wirklich enthält, was man auf ihm lesen will, zwar nicht die Entstehungszeit des Schatzes, wohl aber die Zeit, wo er vergraben wurde, sofort aus dem Alterthume über das Mittelalter hinweg in eine verhältnißmäßig nicht sehr entfernte Zeit. Auf diesem verhängnißvollen Fetzen Thierhaut wurde nämlich, für gewöhnliche profane Alltagsaugen zwar kaum erkennbar, für geübten Gelehrtenblick aber fast unzweifelhaft das Wort „Herzog“ und dabei ein „U“ entdeckt, und das wiese auf den Herzog Ulrich von Braunschweig hin, der vor circa dreihundert Jahren einmal in der Gegend von Hildesheim lagerte. Nur wäre dann wunderbar, daß damals vom Verschwinden eines so bedeutenden Schatzes nichts ruchtbar geworden sein sollte.

Bis auf weitere Untersuchung dürfen wir also wohl noch an die Möglichkeit glauben, daß die Ueberschrift unseres Berichts von dem denkwürdigsten Funde antiker Silbergeräthe, der seit Menschengedenken gemacht worden ist, wenigstens annähernd auf Richtigkeit Anspruch hat.

Sei dem aber auch anders, Eins steht fest, daß der Hildesheimer Fund kein Product der Renaissance oder irgend einer spätern Zeit, sondern altrömischen Ursprungs und zwar aus der alleredelsten Periode des römischen Kunsthandwerks ist, und daran knüpft sich eine Erwartung, die in das praktische Gebiet hineinschlägt.

Es kann kaum ausbleiben, daß dieser Fund auf die Entwickelung unsres heutigen deutschen Kunsthandwerks erheblichen Einfluß übt. Nicht nur den Goldschmieden, sondern auch anderen Handwerkern, Töpfern und Bronzearbeitern z. B., liegen hier Muster von Gefäßformen und Ornamenten vor, wie man sie so schön in Deutschland noch nicht gesehen hat. Durch Photographien und Abgüsse, namentlich aber durch Holzschnitte, wie wir hier zwei von den besten Stücken des Schatzes gegeben haben, werden diese Schätze sehr bald allgemein bekannt werden, und es ist nicht zu bezweifeln, daß der deutsche Geschmack nach Verlauf einiger Zeit die Anregung erkennen lassen wird, die diese wahrhaft herrlichen Vorbilder ihm bieten werden.




Blätter und Blüthen.

Erklärung. Auf meine in Nr. 37 der Gartenlaube abgedruckte Feuilletonnotiz: „Schiller’s Gedichte“ hat der Buchhändler Hempel eine Schmähschrift veröffentlicht, deren Ton jede Erwiderung von vornherein abschneidet. Er widerlegt darin mit keiner Silbe den ihm gemachten Vorwurf: unsittliche und von Schiller stets verworfene Gedichte in seine für das Volk bestimmte Nationalbibliothek aufgenommen zu haben, und ich kam, deshalb meine Aufforderung, daß der Hempel’schen Ausgabe der Schiller’schen Gedichte der Eingang in jedes deutsche Haus, in jede deutsche Familie gewehrt werde - eine Aufforderung, die nur so viele beistimmende Zuschriften eingetragen – heute nur wiederholen. Kein um die Sittlichkeit seiner Linder bekümmerter Familienvater kann und wird den Hempel’schen Schiller in die Hände seiner Tochter legen.)

Im Uebrigen verbietet die Gewissenlosigkeit des Angriffs jede weitere Antwort. Derselbe Buchhändler Hempel, der mich in seiner Schmähschrift als Uebersetzer der Demimonde-Literatur hinstellt, der mich als einen von der Cotta’schen Buchhandlung Bestochenen zu brandmarken sucht, der mich von seinem Helfershelfer als „bornirt und blödsinnig“ bezeichnen läßt, derselbe Herr fordert mich unterm 2. Januar d. J. in “einer eigenhändigen und mehr als höflichen Zuschrift auf, mich an der Herausgabe der Nationalbibliothek zu betheiligen, und schließt diesen von mir nie beantworteten Brief mit den Worten: „Die Gelegenheit benutzend, die Gesinnungen meiner hohen und aufrichtigen Verehrung gegen Sie auszusprechen, verharre etc. etc.“ – Paßt hier nicht der bekannte Ausspruch Friedrichs des Großen nach der Schlacht bei Zorndorf hin: „Und mit etc. etc.“?

     
A. Diezmann.




Instinct oder Uebertragung. Die Gartenlaube hat schon oft in ihren „Blättern und Blüthen“ Beiträge zu der Frage über die geistigen Fähigkeiten der Thiere gebracht, Belege, daß auch bei Thieren, die auf [800] einer verhältnismäßig tiefen Stufe stehen, nicht alle und jede Geistesthätigkeit fehlt, daß auch sie nicht allein von dem sogenannten Instinct, von einem unbewußten Triebe geleitet werden, sondern in gewissem, wenn auch beschränktem Maße der vernünftigen Ueberlegung fähig sind.

Ich habe öfters mit Thieren Experimente angestellt, und dieselben haben sich stets auf eine bewundernswerthe Weise „aus der Affaire“ gezogen. Ich will hier nur ein Beispiel, das mir besonders interessant erscheint, mittheilen:

Ich brachte eine Spinne auf ein Brettchen, legte dieses auf ein Wasserglas, das ich in einen fast ganz mit Wasser gefüllten Napf stellte, so daß das Brett sich einige Zoll über dem Wasserspiegel befand. Die Spinne mußte nun, wenn sie sich von ihrem einsamen Sitze entfernen wollte, entweder durch das Wasser schwimmen oder darüber hinwegfliegen – tertium non datur dachte ich. Sie schlug aber keinen von diesen für sie allerdings etwas unpraktikabeln Wegen ein und kam doch glücklich auf’s Ufer des kleinen See’s.

Zuerst lief sie rathlos auf dem Brettchen hin und her und suchte vergebens einen Ausweg. Darauf ließ sie sich an einem Faden von einer Ecke des Bretts hinab und suchte so zu entkommen, hier kam sie aber auf den Wasserspiegel, und sobald sie dessen inne wurde, lief sie eilig wieder in die Höhe auf’s Trockne. Denselben Versuch stellte sie an mehreren Stellen unermüdlich an, als er aber immer dasselbe, d. h. kein Resultat lieferte, schien sie seine Nutzlosigkeit einzusehen und gab ihn auf. Längere Zeit saß sie darauf still auf einer Stelle, sei es um auszuruhen, sei es um zu überlegen, was nun zu thun sei, Nach einiger Zeit wurde sie wieder lebendig und fing an, auf dem Rande des Brettchens um dasselbe herumzulaufen. Nachdem sie vielleicht ein Dutzend Mal dasselbe umkreist hatte, kehrte sie um und schlug die entgegengesetzte Richtung ein. Plötzlich sah ich sie dann durch die Luft zu dem mehrere Zoll weit entfernten Rande des Gefäßes wandeln. Da es mir unklar war, wie sie dies bewerkstelligt haben möchte, so fing ich sie wieder ein und setzte sie auf’s Neue auf das Brett. Alsbald fing sie wieder an dasselbe zu umkreisen, wobei sie, wie ich bei genauem Zusehen bemerkte, einen Faden nach sich zog, den sie dann ablöste und in der Luft flattern ließ (in der Nähe stand ein Fenster auf, so daß der Faden in dem Luftzug fliegen konnte); als sich derselbe am Rande des Gefäßes festgesetzt hatte, lief sie über die so hergestellte Brücke unbehindert hinüber.

Kann man nun annehmen, daß es ein Instinct war, der sie dazu trieb, sich in solcher Weise zu befreien, daß ihr Mutter Natur für diesen besonderen Fall einen besonderen Instinct verliehen habe? Daß es ein „Instinct“ sei, der jede Spinne einer bestimmten Art treibt, ein Netz von bestimmter Gestalt anzufertigen, könnte man vielleicht gelten lassen, wenn nicht diese bestimmte Gestalt durch eine besondere Organisation der Beine oder Spinndrüsen bedingt ist; daß sie aber, wie die Thiere überhaupt, in allen Lebenslagen unbewußt handeln, von einem Instinct getrieben werden sollten, das scheint doch mehr als unwahrscheinlich. O. W.     




Gute Nacht!
Illustrationsprobe aus dem neuen für Mädchen sehr empfehlenswerthen Kinderbuche:
„Hausmütterchen“, von Oscar Pletsch.


Zum Stein-Denkmal. Mit Bezugnahme auf das Inserat eines Herrn Kunstwäscher Stressig in Schweidnitz, in welchem derselbe bekannt macht, daß er den Ertrag von ihm verkaufter „Gallenfleckseife“ für das Stein-Denkmal und die Wasserbeschädigten in der Schweiz bestimmt und an die Redaction der Gartenlaube bereits abgeliefert habe, bemerken wir einfach, daß letzteres auf Unwahrheit beruht und bis heute (23. Novbr.) von genanntem Herrn für obige Zwecke keine Geld- oder Werthsendung eingegangen ist. Expedition der Gartenlaube




Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!

Bock, Buch vom gesunden und kranken Menschen. 7. Aufl. broch. 1 Thlr. 221/2 Ngr., eleg. geb. 2 Thlr.

Bernstein, A., Vögele der Maggid. Eine Geschichte aus dem Leben einer kleinen jüdischen Gemeinde.
In engl. Cartonnage 271/2 Ngr.

Gartenlaube 1859. 1860. 1862 bis 1867. broch. à Jahrgang 2 Thlr., eleg. geb. in gepr. Decke à 22/3 Thlr.

Gerstäcker, Gemsjagd in Tirol. Mit 34 Illustrationen, eleg. broch. 3 Thlr. 10 Ngr., in engl. Preßdecken 4 Thlr. 5 Ngr.

Marlitt, Gold-Else 4. Auflage, geb. 1 Thlr. 8 Ngr.

Marlitt, das Geheimniß der alten Mamsell. 2 Bände. 2 Auflage. 2 Thlr.

Schefer,Leopold, Für Haus und Herz.Hinterlassene Gedichte. Herausgegeben von Rud. Gottschall.
Eleg. geb. 1 Thlr. 27 Ngr.

Stolle, Ein Frühling auf dem Lande.broch. 271/2 Ngr.

Stoll, Palmen des Friedens.Eine Mitgabe aus des Lebens Pilgerreise. 4. Auflage, geb. mit Goldschn. 11/3Thlr.

Traeger, Gedichte.Sechste, sehr vermehrte Auflage. Prachtvoll geb. mit Goldschnitt 11/3 Thlr.

Carl Maria v. Weber. Ein Lebensbild von Max Maria v. Weber. Drei Bände. Mit Portrait. broch. 6 Thlr. 25 Ngr.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Mit welchem Eifer Lette zu diesem Feste eilte, dafür spricht ein Zeuge, an den er vielleicht selbst nicht mehr gedacht hat: seine eigenhändige Namensunterschrift in der Liste der Wartburgfestgenossen von 1817. Dieses Actenstück hat Scheidler in Jena vor den Verfolgungen in böser Zeit gerettet, aus seinem Nachlaß wurde es Eigenthum des Burschenschaftsausschusses in Jena, und die Brüder Robert und Richard Keil machten dasselbe zu einer höchst werthvollen Beigabe ihres von uns bereits empfohlenen trefflichen Buchs: „Die burschenschaftlichen Wartburgfeste von 1817 und 1867 – Erinnerungsblätter mit Originalbeiträgen von Hofmann, Riemann und Zober. (Jena, Mauke.)“ Dort finden wir im treuen Facsimile der Schriftzüge Lette als den Zehnten der 364 Burschen, unter deren Namen viele von dauernder Bedeutung in Deutschlands Literatur und Geschichte sind.
    D. Red.