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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[737]

No. 47.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Erkennungszeichen.
Von A. Godin.
(Fortsetzung.)


War es denn ein Traum, ein leerer Wahn gewesen, als Feldheim noch vor wenigen Wochen mit so ruhiger Sicherheit sich dies reizende Weib als die Seine dachte? Und nun! Er dachte zurück an vergangene Tage, – wie ein Schattenspiel glitten sie an seinem inneren Auge vorüber. Als er Helene vor sechs Jahren zuerst kennen lernte, war ihm das Herz vom Verlust einer geliebten Braut todesschwer gewesen; das liebliche Naturell, das gute Herz der jungen Frau hatte ihm zuerst wieder einen schwachen Antheil am Leben abgewonnen.

Das Haus, in dem sie waltete wie Sonnenschein, war ihm das einzige Asyl gewesen, wo er sich nicht ganz heimathlos und trostlos fühlte.

Als ein Altersgenosse, Freund und naher Verwandter ihres Gatten, war er in diesem Hause immer heimischer geworden, und als Ernst Dalen vor einigen Jahren starb, hatte er Feldheim zum Testamentsvollstrecker und Berather seiner Wittwe bestimmt, was allen Theilen als selbstverständlich erschien. So herzlich hatte sich das gegenseitige Verhältniß zwischen Beiden gestaltet, daß Feldheim’s Versetzung von München nach Bamberg Helene bestimmt hatte, später auch dahin überzusiedeln.

Er selbst hätte wohl kaum zu sagen gewußt, wann das jahrelang so brüderliche Gefühl sich zuerst in ihm wandelte – genug, es war ihm seit einiger Zeit nur allzuklar geworden, daß er Helene mit jedem Herzschlag zu der Seinen begehre!

Die wiederholte Zurückweisung jüngerer glänzenderer Bewerber, die Art, wie Helene sich von Allen ihm mit Innigkeit zuwandte, gab ihm Zuversicht, und schon schwebte die entscheidende Frage auf seinen Lippen, als die erste Begegnung der jungen Frau mit Schaumberg stattfand. Mit jenem seltsamen Instinct, der jedes in seinem Glück bedrohte Gefühl eine Gefahr sofort erkennen läßt, empfand Feldheim vom ersten Augenblicke an, daß es mit seinen erträumten Hoffnungen aus sei.

Zum ersten Mal in seinem Leben rang er mit der brennenden Qual einer Eifersucht, deren Stachel sich um so tiefer in seine Seele bohrte, als er es scharf empfand, wie nothwendig Beherrschung sei, wenn er nicht mit seinen mächtigsten Empfindungen an der Klippe der Lächerlichkeit scheitern sollte.

So lange er ohne wirklichen Nebenbuhler Helenen gegenüber stand, hatte er den Unterschied der Jahre, die sie von ihm trennten, kaum empfunden. Er liebte mit aller Gluth seiner Seele und Sinne, mit aller Kraft eines reichen, nie vergeudeten Gefühls. Von den Frauen bis zur Stunde bevorzugt, ja verwöhnt, hatte nichts ihn daran erinnert, daß auch ihm das Leben verrann, er fühlte sich innerlich noch jung und reich genug, um eine zweite Seele in den vollen Strom der Empfindung mit sich untertauchen zu lassen. Nun aber, den jugendlichen Gestalten gegenüber, die vor seinen Augen so plötzlich sich suchten und fanden, erschien er sich selbst wie ein Bettler, wie ein Thor!

Er auf der Neige des Lebens, er mit dem ergrauenden Haar, er sollte rivalisiren wollen mit dem Manne dort, der ihn an Jugend, an lebensvoller Frische so weit übertraf! Sein Stolz, mehr als das, ein tiefes, innerstes Schamgefühl bäumte sich in ihm bei dem Gedanken, daß irgend ein Auge entdecken könne, was in ihm vorging – vor Allem das Auge Helenens! Und doch vermochte er es nicht immer, ihr gegenüber die ruhige Haltung zu bewahren, um die er rang. Die wenigen Wochen, die den jungen Arzt täglich zu Helenen geführt, hatten hingereicht, eine Intimität zwischen Beiden zu erzeugen, die in den gemeinschaftlichen Musikstudien ihren Vorwand, in täglich wachsender Vertraulichkeit ihren Ausdruck fand. Eine unerträgliche Qual durchschnitt Feldheim’s Seele, wenn er, wie eben jetzt, zusehen mußte, wie der junge Mann sich zu Helene beugte, wie ihr Blick mit dem seinen so leuchtend zusammentraf, wie ein neues, seelenvolles Leben ihre Züge in seiner Gegenwart verschönerte.

Noch rauschten die vollen Klänge der Eroica dahin, als, von den begeistert Spielenden ungehört, der Major lautlos das Zimmer verließ.




5.

Der Sommer war bereits weit vorgeschritten. Bei Helene Dalen, der sonst so Reiselustigen, wurden aber, zur geheimen Befriedigung der alten Cousine, in diesem Jahre keine Anstalten zu irgend einem Ausfluge gemacht. Längst schon wanderte der leichte Fuß der jungen Frau wieder ohne Hinderniß durch Flur und Wald, sie sah lebensfrischer aus, als je, und doch war sie, zum Verdruß ihrer zahlreichen Bewunderer, an den Sammelplätzen der eleganten Welt nur selten zu treffen. Geschah es einmal, so fehlten ihr zwar die frische Heiterkeit, das mädchenhafte Lachen, das ihr so wohl stand, auch jetzt nicht, dennoch fand man sie allgemein verändert. Die Verwandlung mochte vor Allem darin liegen, daß die frühere Koketterie völlig aus ihrem Wesen verschwunden schien, wie ein Parfüm, das nicht mehr benutzt wird. Ein anderer, süßerer Duft umgab jetzt wie ein durchsichtiger Schleier die ganze Erscheinung der jungen Frau.

[738] Helene liebte, und war sich dessen voll bewußt. Mit tiefen Zügen trank sie aus dem perlenden Becher des unbekannten Glückes, dessen Inhalt ihr so süß, und doch schon jetzt so fremdartig erschien. Was war es, das so oft einen Schatten über ihre Stirn, einen verschleierten Blick in ihr Auge warf? Sie konnte nicht daran zweifeln, daß ihr Gefühl lebhaft erwidert ward, und doch lebte in ihrer Seele neben Otto’s Bilde eine seltsame Ahnung von Sorge. Was konnte sie zu fürchten haben? Kein Hinderniß lag zwischen ihr und ihrem Glück – nur das entscheidende Wort durfte von seinen Lippen fallen, und das Leben, die Zukunft strahlten ihr licht entgegen.

Dies Wort aber blieb aus, noch immer aus, so oft es auch schon auf dem Rande der Lippen zu wiegen schien, die ihre Hand so lebhaft zu küssen verstanden. Es war etwas da, was sich nur allzu oft wie eine unsichtbare Schranke zwischen Beide stahl, etwas, was man nicht sah, nur fühlte, das mit ihm bei ihr eintrat und, wenn es in ihrer siegenden Gegenwart auch wich, doch immer wiederkam und sie wie mit dunklem Flügelschlag umschattete.

Helene hätte lange sinnen und suchen können, nimmer würde sie herausgefunden haben, daß die Schranke, die sie ahnungsvoll empfand, in ihrem eigenen Wesen lag.

Otto Schaumberg gehörte zu den Naturen, die der Anziehungskraft leicht nachgeben, der Beherrschung aber entschlüpfen. Das originelle und fesselnde Wesen der jungen Frau hatte eine feurige Empfindung für sie rasch geweckt, und in kürzerer Zeit, als er für möglich gehalten, drängten sich die Consequenzen dieses Gefühls in seine gewohnte, mit Ueberzeugung adoptirte Lebenssphäre. Trotz allem Genuß, der in dem in jeder Weise interessanten Verkehr mit Helene für ihn lag, fühlte doch Schaumberg bei all den fremdartigen Beschäftigungen, in die sie ihn hineinzog, bei der zuversichtlichen Weise, wie sie seine Zeit in Anspruch nahm, ein wachsendes Unbehagen. Ihm, dessen Charakter intensiv war, bis zur Pedanterie sogar, war jede Zersplitterung von Zeit und Kräften störend und verstimmend. Er empfand es scharf und deutlich, daß Helenens Weltanschauung von der seinigen gänzlich verschieden sei, daß er, mit dieser Frau als Gefährtin auf seinem Lebenswege, entweder ihr eigenthümliches Wesen umschmelzen, oder die festgeschlossenen Bahnen verlassen mußte, die er sich vorgezeichnet. Was ihn trotz dieser Ueberzeugung fester an sie band als all ihr Reiz, war die Gewißheit, ihre Liebe zu besitzen.

Man muß es empfunden haben, wie die Liebe eines Andern uns überrascht und erwärmt, wie sie uns gefangen nimmt und zuletzt mit uns fortzieht, um der ganzen Macht eines solchen Bewußtseins gerecht zu werden! Otto’s Ahnung, daß Helene jene Briefe an ihn gerichtet habe, ward ihm bei öfterem Zusammensein mit ihr zwar durch keinen sichtbaren Beweis, aber durch manche Zufälligkeit bestätigt und hatte sich als feste Ueberzeugung in der Tiefe seines Herzens eingenistet. Eine eigenthümliche Rührung ergriff ihn bei dem Gedanken, daß dies schöne, reichbegabte Geschöpf ihn aus der Fülle des eigenen Gemüthes heraus erfaßt hatte. Oft, wenn ihr allzu selbstständiges, kühnes Verschmähen der öffentlichen Meinung ihn verletzte, stieg versöhnend der Gedanke an jenen zweiten Brief in ihm auf, der eine so echt weibliche, ja mädchenhafte Gesinnung verrieth. Dann sagte er sich gern, daß ein Weib, die ihn so selbstlos und innig liebe, sich seiner Denkweise, seinen Lebensgewohnheiten anpassen würde, sei ihr Wesen auch noch so ausgeprägt.

Wochen und Monate vergingen ihm so in wachsender Aufregung und Spannung, die sich oft bis zum Unerträglichen steigerte. Ein unwiderstehlicher Zug führte ihn immer von Neuem zu der Geliebten, aber oft und öfter kehrte er mit einem Gefühl der Müdigkeit und Abspannung von ihr heim in sein stilles Studirzimmer, unfähig, nach seiner einstigen Gewohnheit dort zu schaffen und zu leisten, wozu er sich berufen und verpflichtet fühlte. Helene war eine Künstlernatur, sie gab unaufhörlich, gab, ohne es zu ahnen, oft allzu viel – solche Frauen haben nur eine Weise etwas zu lieben oder zu thun, und das ist, von ganzer Seele! Weil ihnen selbst die Verschwendung so natürlich, so leicht ist, erwarten und fordern sie beständig mehr, als der Mann zu gewähren vermag, will er nicht Alles von sich werfen, was seine Wesenheit ausmacht.

Auch das Verhältniß der jungen Frau zu Feldheim störte und verstimmte Schaumberg immer von Neuem. Er empfand zu lebhaft für Helene, um, trotz aller Selbstbeherrschung ihres älteren Freundes, dessen heißes Gefühl nicht bald errathen zu haben. Es schien ihm unzweifelhaft, daß auch Helene hierüber klar sehen müsse, und darum verletzte und erbitterte es ihn, wenn er sah, wie die Geliebte mit Feldheim schmollte, so oft er ausblieb, wie sie ihn mit Jubel empfing, wenn er wiederkam, und durch hundert unwillkürliche Aeußerungen verrieth, daß der Umgang, die Freundschaft des Majors ihr unentbehrlich waren.

Vielleicht war es doch vor Allem diese stachelnde Empfindung, die unserem jungen Freunde endlich den Entschluß abrang, sich um jeden Preis von der Kette loszureißen, die ihn von Tag zu Tag fester umschlang und zu ersticken drohte.

Ein äußerer Anlaß brachte diesen Entschluß zur Reife. In Berneck, einem nahegelegenen Badeorte des Fichtelgebirges, ward durch einen plötzlichen Todesfall die Stelle des Bade- und Bezirksarztes erledigt, und von Seiten des Medicinal-Collegiums erging an Schaumberg ganz unerwartet die Anfrage, ob er geneigt sei, diese Stellung zu übernehmen.

Trotz aller vorhergegangenen Kämpfe warf dennoch die nun drängend vor ihm stehende Entscheidung einen Brand in die Seele des jungen Mannes, der von der Macht seines energischen Willens zwar gelöscht ward, dabei aber gar Vieles in ihm verheerte. Als er seine Zusage an die Behörde unterzeichnete, in welcher er sich bereit erklärt hatte, in den nächsten Tagen nach dem neuen Berufsorte abzugehen, ging es wie ein Riß durch seine Seele. Nur wenige Meilen waren es zwar, die ihn fortan von Helene trennen sollten, ihm aber bedeuteten sie ein Scheiden auf Nimmerwiedersehen. –

Es dämmerte. Helene saß, von den schweren Gardinen halb verhüllt, in der tiefen Fensternische ihres Wohnzimmers und sah unverwandt auf die menschenleere Straße hinaus.

Die junge Frau sah heute leidend aus, eine durchsichtige Blässe war über ihre feinen Züge ausgegossen, tiefe Schatten lagen um die fieberisch glänzenden Augen. Obgleich sie sich nicht rührte, würde doch ein Beobachter leicht erkannt haben, daß sie heftig erregt war; die kleine Hand, die auf dem Fensterkissen lag, erzitterte mitunter, und eine der blauen Adern, die ihre freien Schläfe durchzogen, pulsirte unaufhörlich. Seit vorgestern hatte sie von Schaumberg weder etwas gehört, noch gesehen, diesen Morgen aber seine Versetzung und Beförderung als amtliche Ankündigung im Tagblatt gelesen. Seitdem saß sie und wartete auf ihn.

Das Warten einer Frau, die liebt und leidet – was käme Dem wohl gleich! Man hat oft gesagt und geschrieben, die Liebe des Weibes sei deßhalb so viel tiefer und ausdauernder als die des Mannes, weil ihr so viel Zeit bleibt, mit dem eigenen Herzen zu verkehren – das aber ist es nicht, was ihr Gefühl so vertieft, es ist das stumme Warten auf ein Glück, das sie sich nicht selbst erobern darf. Sie kann nichts thun für ihre Liebe, sie kann nicht hinaus aus dem Zauberkreise, den Sitte und Zartgefühl um sie ziehen; will sie handeln für das Glück ihres Herzens, so handelt sie gerade dagegen – sie kann nichts thun, als warten! Oft allerdings mit lächelnder Zuversicht, die das Ersehnte sogar freiwillig verzögert, weil solches Warten so süß ist – oft aber auch mit stockendem Herzschlag, der jede Secunde zur tödtlichen Qual werden läßt! Und so wartete heut Helene.

Als die ihr unglaubliche Neuigkeit von Schaumberg’s bevorstehendem Wegzug so unerwartet ihr Auge getroffen hatte, war ihre erste Regung auflodernder Unwille. Er wollte fortgehen – er hatte diesen in sein Leben eingreifenden Entschluß gefaßt, ohne ihren Rath, ihre Wünsche zu befragen, der Entschluß war zur That geworden, und sie wußte nichts davon! Der Gedanke an Vergeltung, der in leidenschaftlichen Gemüthern so rasch aufwallt, färbte ihre Wangen mit dunkler Gluth – sie wollte ihn Das fühlen lassen, ihn dafür strafen, auch er sollte leiden, scharf und glühend leiden, wie sie in diesem Augenblick! Sie würde ihn kalt empfangen, wenn er heute käme, mit gleichgültiger Miene seine Mittheilung anhören, ihn nichts von dem Aufruhr ahnen lassen, der sie in diesem Augenblick durchwühlte! Mit fliegender Brust wanderte sie rastlos in ihrem Zimmer auf und nieder, dazwischen immer von Neuem athemlos aufhorchend. Bei dem leisesten Geräusch im Hause drohte ihr wilder Herzschlag sie zu ersticken – sie haßte Otto in diesen Stunden fast, um all der Qual willen, die sie um ihn litt.

[739] Wie nun aber Stunde um Stunde verrann, ohne ihn zu ihr zu führen, schmolz all das leidenschaftliche Zürnen in Schmerz und Angst dahin. Todtmüde setzte sie sich endlich an’s Fenster, ihr Warten wurde schwere Bangigkeit, sie begann der Stunde der Erklärung entgegenzuleben, wie einem Urtheilsspruch. Sollte sie den Geliebten durch irgend ein Wort, eine Miene verletzt haben?

Grübelnd sann sie über ihr letztes Zusammensein mit ihm nach – jeder seiner Blicke, jeder Laut ging an ihrer Seele vorüber. Er war nicht anders gewesen, als sonst, wenigstens nicht anders, als während der letzten Wochen – aber gerade diese ganze letzte Zeit lastete ja wie ein Alp auf ihrer Seele. All die geheime Sorge stieg gespenstergleich aus der Tiefe ihres Herzens auf, in die sie stets zurückgedrängt worden war; was sind die Sorgen der Liebe denn auch Anderes, als Vorgefühle ihrer Schmerzen!

Oft und öfter war Otto in diesen letzten Wochen tagelang ausgeblieben, sein Blick war manchmal so trübe, er hatte so oft zu Boden gesehen, statt in ihr Auge. – Plötzlich fuhr sie heftig zusammen, jeder Blutstropfen wich zurück bis zu ihrem Herzen und ließ es stocken. Schaumberg war aus der Thür gegenüber getreten. Er sah zu ihrem Fenster auf, grüßte ruhig und kam herüber.

Als er vor der jungen Frau stand, schwiegen Beide einige Augenblicke. Jedes suchte und fand in den blassen, erregten Zügen des Andern den Widerschein der eigenen Empfindung.

„Sie haben vielleicht schon erfahren, gnädige Frau,“ sagte Schaumberg endlich, „daß ich heute komme, um Ihnen Lebewohl zu sagen?“

Helene bejahte durch ein Zeichen, ohne ihn anzublicken.

„Vielleicht haben Sie es seltsam, vielmehr unartig gefunden, daß ich Ihnen nicht vorher über diesen Wechsel meines Geschickes Mittheilung machte. Es kam rasch, unerwartet – die Entscheidung drängte – meine Zeit war in den letzten Tagen bis zur Athemlosigkeit in Anspruch genommen –“

„Mangel an Zeit also“ – sagte Helene, und ihre Lippen zuckten.

„Mangel an Muth vielmehr,“ sprach der junge Mann mit gepreßtem Ton. „Der Antrag eines größeren Wirkungskreises entsprach meiner Lebensaufgabe, meinem Bedürfniß. Ich fühle mich nur dann wohl, wenn ich angestrengt arbeite, und – nur arbeite. Dennoch ist der Entschluß mir nicht leicht geworden, ich wollte, ich müßte allein damit fertig werden.“

„Ich würde ihn nicht erschüttert haben,“ sagte Helene, indem sie ihn mit stolzem, leuchtendem Blicke fest ansah.

„Das weiß ich, gnädige Frau. Mir aber würde vielleicht die Kraft versagt haben, ihn auszuführen, wenn – – Ich komme, Ihnen Lebewohl zu sagen, Ihnen zu danken für all Ihre Güte, Sie um ein freundliches Andenken zu bitten!“

Er hatte Helenens Hand ergriffen; eiskalt lag sie in der seinen. „Wann reisen Sie ab?“ fragte die junge Frau tonlos.

„Morgen früh.“

Kein weiteres Wort fiel mehr zwischen Beiden. Die Regung von Stolz, die Helene einen Augenblick Kraft verliehen hatte, war dahin. Angstvoll zu Otto aufblickend, legte sie unwillkürlich noch ihre zweite Hand auf die seinige, und er erblaßte unter ihrem Blick bis in die Lippen hinein. Welche Sprache vermöchte die Beredsamkeit eines menschlichen Gesichtes zu erreichen, aus dem ein gequälter Geist anklagend zu einer Seele spricht, welche begreift!

Einige Augenblicke vergingen, in denen Keines von Beiden eine Bewegung machte, dann hob Schaumberg plötzlich die kleine, kalte Hand an seine Lippen, und hatte einen Moment nachher das Zimmer verlassen.

Helene stand regungslos, und blickte ihre Hand an. Ein Tropfen schimmerte darauf – war er aus ihrem – war er aus seinem Auge gefallen?

Zusammensinkend drückte sie die strömenden Augen in’s Kissen des Sopha’s, neben dem der Geliebte so oft gesessen, und dachte schauernd an Leben und Zukunft.

Noch war Helene jung genug, um an die ewige Dauer ihrer Schmerzen zu glauben.




Zweite Abtheilung.
Elisabeth.
1.

An der Pforte des Fichtelgebirges liegt ein altes Städtchen, das sich seit einigen Jahren zum Curort aufgeschwungen hat. Neben seinen stärkenden Fichtennadelbädern, seiner gut organisirten Molkenanstalt, bietet es den Curgästen noch den Vorzug der ungezwungensten Lebensweise und pittoresker Naturschönheiten.

Sagenhaft und sagenreich ist das Fichtelgebirge, allerwärts ein Hort von Märchen und Geschichten, und noch heute scheinen die kleinen Unterirdischen, von denen jedes Kind des Landes zu erzählen weiß, dort zu hausen. Ringsum sind ihre Schätze geheimnißvoll ausgestreut. Im Grunde des Baches schlummert die echte Perle, im Grunde der Berge Gold und Erz; je höher der Fuß sich hinaufwagt, desto häufiger begegnet dem Auge der funkelnde Glimmerstein, der im Sonnenlichte blitzt, wie eine Neckerei der Gnomen, die ihre Schätze wohl zeigen, aber nicht hergeben mögen. Sieben hohe, eng zusammengeschobene Berge, theils in nackten, grotesk aufsteigenden Felsmassen, theils dicht bewaldet, aber überall scharfkantig, schließen sich um das tief in enger Thalschlucht gelegene Städtchen, das nur nach Süden hin einen ebenen Ausgang hat, den gleichfalls sieben rasche Gebirgswasser sich nach dieser Seite erzwangen. Wer von dorther durch die schöne nach Baireuth führende Allee sich Berneck nähert, muß von dessen Anblick überrascht werden; langsam aufsteigend, die hochgelegene Kirche als Mittelpunkt von drei Burgruinen terrassenförmig überragt, erscheint der Ort wie eine lebendige Illustration des oft mißbrauchten Wortes: romantisch. Gleich freundlichen Augen blicken die hellen Fensterscheiben der reinlichen Häuser, welche, an hinabdrohende Felsmassen angelehnt, von ihnen oft thurmhoch überragt, gar originelle Straßen bilden. Der durchsichtig klare Perlenbach, die Oelsnitz, von einer freiliegenden Brücke luftig überwölbt, durchrauscht eilfertig das Städtchen; nur einzelne Gasthöfe und Amtswohnungen machen einen gewissen Anspruch auf Stattlichkeit, sonst trägt es einen durchaus ländlichen Charakter. Auch die neuen Anlagen, die zu Curzwecken entstanden, sind der natürlichen Scenerie mit Verständniß angepaßt, und nichts stört die Gäste, die sich meist aus Norddeutschland hierher wenden, im Genuß der ländlichen Freiheit. Wer einmal in Berneck war, kehrt gern wieder, und von Jahr zu Jahr bringt eine größere Zahl von Sommergästen Leben und Bewegung in dies abgelegene Stückchen Welt.

Anders sieht es dort freilich im Winter aus. Da sind die Bewohner dieser engen Bergschlucht wie losgetrennt vom Verkehr mit der Welt draußen, oft genug werden die Straßen unfahrbar, und der festgetretene, fußhohe Schnee schmilzt nicht eher, bis „der Frühling kommt und von den Bergen schaut“.

Auch jetzt lag, obgleich erst Weihnachten vor der Thür war, eine weite, flimmernde Schneedecke über Stadt und Land ausgebreitet, und die Bernecker hatten sich in den Bann ergeben müssen, den der Winter um sie legte. Vielleicht war keinem unter ihnen diese Isolirung so wenig störend, als Schaumberg. Er lebte nun bereits vier Monate an seinem gegenwärtigen Berufsorte und wünschte sich immer von Neuem Glück, eine Stellung eingenommen zu haben, die seiner Neigung so ganz gemäß war. Sein Wirkungskreis umfaßte eine ziemlich bedeutende Landstrecke und war, besonders in dieser Jahreszeit, nicht wenig anstrengend, doch fühlte er sich ganz an seinem Platze. Zum ersten Mal war es ihm vergönnt, in völlig unabhängiger Berufsthätigkeit zu wirken.

Namentlich in den ersten Monaten empfand der junge Mann den Segen unablässiger Thätigkeit als eine große Wohlthat. Durch den Abschied, die Trennung von Helene, war sein Gefühl für sie so gesteigert worden, daß der kaum überwundene Widerspruch zwischen Neigung und Ueberzeugung von Neuem, und diesmal leidenschaftlicher als je, in ihm hervorbrach. Wie aber solcher Widerstreit der unleugbaren Doppelnatur im Menschen nicht unlösbar ist, erfahren wir jedesmal, wenn wir wirklich arbeiten müssen. Da ordnet sich Alles dem Beruf unter, alle Fähigkeiten fügen sich der Einen, die zur That wird. Wenn auch oft in den Stunden der Rast jener schöne blonde Kopf lebendig vor ihm erschien, wenn der letzte, schwere Blick ihn verfolgte, die geliebte Stimme hineintönte bis in seine Träume, so fühlte er doch, daß es möglich sei, sie zu entbehren. Er vergaß [740] nicht – Helene gehörte nicht zu den Frauen, die man überhaupt vergißt –, ihr Bild begann aber in jenen Raum seines Herzens zurückzuweichen, wo unsere überwundenen Schmerzen und unsere Todten schlafen.

In jener Gestalt trat das Leben Otto Schaumberg jetzt frischer und lebendiger entgegen. Sein jugendlich kräftiger Körper empfand die vermehrte Bewegung und Anstrengung wohlthuend, frisches Leben floß durch alle seine Glieder, so manche bis jetzt nicht geweckte Fähigkeit wagte sich, ihn selbst überraschend, hervor und befriedigte sein Selbstgefühl. Wer kennt nicht die Verhältnisse eines Landstädtchens, wo die wenigen Gebildeten zu sehr auf einander angewiesen sind, als daß der Einzelne sich häufigem Verkehr zu entziehen vermöchte! Sogar Besuche mußten gemacht werden, und wenn der junge Arzt auch mit den Familien dadurch in keine nähere Beziehung trat, so hatte ihn doch die kleine Zahl der Beamten in ihren täglichen Abendclub gezogen. Der Landrichter mit seinen beiden Assessoren, ein Notar, der Decan, dann ein alter Bürgermeister, der Apotheker und endlich der Revierförster, der zugleich Perleninspector war, bildeten den Honoratiorenkreis Bernecks. Mit dem Blick des Physiognomikers, der sich bei jedem Arzt, welcher mehr versteht, als Recepte zu schreiben, so scharf ausbildet, erfaßte Schaumberg die Eigenthümlichkeiten dieser verschiedenen Personen. Unter diesen interessirte ihn vor Allem der Revierförster Andlau durch seine scharf ausgeprägte Persönlichkeit.

Von stattlicher, ja hünenhafter Gestalt und tönender Stimme, hatte dieser Mann in seinem ganzen Auftreten etwas Despotisches, was sich auch im geselligen Verkehr nicht verleugnete. Er unterhielt sich fast nie, sondern hielt Reden. Ihn zu unterbrechen war eine physische Unmöglichkeit; erhaschte man einen Augenblick, um ihm etwas zu erwidern, so erhob er seine Stimme derart, daß es dem Andern unmöglich ward fortzufahren. Diese Eigenthümlichkeit machte ihn für Solche, die selbst Raum wünschten, sich in ihrem eigenen Wesen zu zeigen, lästig, ja selbst unerträglich; Schaumberg, der im Gespräch lieber nahm als gab, freute sich des mächtigen, kraftvollen Naturells Andlau’s, und gewann ihn lieb, ohne ihn zu überschätzen, denn es entging ihm nicht, daß in der Praxis des Lebens diese Kraft mehr geeignet war, Böses zu zerstören, als Gutes zu thun.

Bald verkehrte der junge Arzt häufig im Hause des Revierförsters. Es war in einiger Entfernung von der Stadt gelegen, und Schaumberg kehrte auf seinen Landgängen oft und gern dort ein, stets ein willkommener Gast. Andlau lebte mit seiner alten Haushälterin und seinen Hunden allein. Er war Wittwer; seine einzige Tochter Elisabeth, von der er nur selten sprach, war seit mehreren Jahren im Hause von Verwandten, „auf der hohen Schule“, wie er sich spottend auszudrücken pflegte.

Das junge Mädchen, dessen Ausbildung vollendet war, sollte nun zum Vater zurückkehren, der von dieser Aussicht nicht übermäßig entzückt zu sein schien. „Weiß der Herrgott, was für eine Puppe meine Frau Schwester mir zurechtgeschnitzt hat,“ äußerte er am Tage vor ihrer erwarteten Ankunft mürrisch gegen Schaumberg. „Ich hätte ihr das Mädel gar nicht geben sollen! Hab’s schon hundert Mal bereut! Die Kleine war brav, als ich sie zu Hause hatte, beim Bernecker Schullehrer hätte sie Alles lernen können, was ein Mädel braucht; für all’ den städtischen Krimskrams gebe ich keine taube Nuß. Jetzt wird sie Clavier klimpern und Romane lesen wollen! Seit mein Schwager nun gar vor einem halben Jahr nach München versetzt worden ist, führen sie das Kind dort in Theatern und Concerten herum, und gewiß hätte die Alte, dem Pathchen zu Liebe, ihre mürben Knochen auch auf ein Dutzend Bälle getragen. Wäre mir schon recht gewesen – verrückter Einfall das, von der Kleinen, jetzt, mitten im Winter heim kommen zu wollen! Nun, ganz nach ihrem Belieben, wenn sie’s hier nicht nach ihrem Geschmack findet, kann ich ihr nicht helfen.“

„Ihre Fräulein Tochter wünschte also selbst jetzt zu Ihnen zurückzukehren? Das muß Sie doch freuen?“ schob Schaumberg eilfertig dazwischen.

Der Revierförster lachte grimmig. „Da ist was zu freuen! Meinen Sie denn, das Püppchen käme mir zu Liebe? Irgend ein Weiber-Raptus ist’s, vielleicht hat sie in München einen Schatz, den sie nicht kriegen kann, oder sonst was – ein achtzehnjähriges Mädel, die nach Herzenslust in der Residenz tanzen und springen könnte, verlangt nicht auf’s Land zu einem brummigen Vater, wenn Alles richtig ist. Na, wir werden ja sehen! Meine alte Gretel ist vor Freude ganz confus und macht lauter Dummheiten, schon deshalb bin ich froh, daß die Elisabeth morgen anlangt: Elisabeth! Was das für ein ellenlanger Name ist – ich werd’ sie ruhig wieder Lisett’ rufen, wie früher. Man hat’s nur bis jetzt dabei lassen müssen, wie’s meine Schwester ausgeheckt hat; wissen Sie, es ist ihre Pathin und eine Erbtante dazu, da muß man mitunter ein Auge zudrücken. Die Schwester hat keine Kinder, und einen reichen Mann, der nach ihrer Pfeife tanzt. Da meint sie, das müßten alle Leute thun; an mir hat sie auch schon schnitzen wollen, ich bin ihr nicht fein genug – ho, ho, Frau Schwester, das war doch zu hartes Holz! Das Püppchen wird aber besser gerathen sein! Nun, das Haus soll sie mir nicht umkehren, dafür will ich gut stehen, Doctor!“

„Das wollen wir abwarten,“ sagte Schaumberg lachend, indem er sich empfahl.

(Fortsetzung folgt.)




 Deutsche Wanderschaft.
 Frühjahr 1868.[1]

Der Wald steht in Blüthe, die wilden Schwäne zieh’n,
Mir klingt’s im Gemüthe wie Wandermelodie’n;
Zum Stab muß ich greifen beim klaren Morgenschein,
Und singend wieder schweifen in’s deutsche Land hinein.

5
Ihr blauenden Gipfel, ihr Thäler, Gott grüß!

Ihr dunklen Eichenwipfel, wie rauscht ihr so süß!
Ihr wollt mir’s erzählen, daß wieder hoffnungsvoll
In alle deutschen Seelen ein Lenzodem quoll.

Durch Steingeklüft und Forsten zu klimmen, o Lust,

10
Auf schwindelnden Horsten zu lüften die Brust!

Tief unten verklingen die Glocken weit umher,
Ein Adler hebt die Schwingen vom Felsen zum Meer.

In’s Brausen der Quellen wie pocht der Hämmer Schlag!
Da födern die Gesellen das Eisen zu Tag,

15
Da wächst in rother Erde das Schwert für den Feind,

Der noch am deutschen Heerde uns dreinzureden meint.

Nun kommst auch du geschwommen im Kranze von Wein,
Willkommen, willkommen, du königlicher Rhein!
Du tränkst mit goldner Freude dein blühend Geländ,

20
Und weißt von keiner Scheide, die seine Stämme trennt.


Wie lang wird es währen, Altvater, so preßt
Man wieder deine Beeren zum Kaiserkrönungsfest!
Da kommt auf deinen Wogen im Purpurgewand
Der Hort des Reichs gezogen, das Banner in der Hand.

25
Dann ruh’n Wehr und Waffen, dann ist es vollbracht,

Dran tausend Jahr geschaffen, das Werk deutscher Macht,
In Norden und Süden der letzte Zwist gesühnt,
Und Freiheit und Frieden, so weit die Eiche grünt!

Emanuel Geibel.


  1. Das obige Gedicht wurde uns schon vor mehreren Monaten von dem Dichter eingesandt. Es beweist wenigstens, daß Emanuel Geibel bereits „im Frühjahr 1868“, also lange vor dem Lübecker Königsgruß und der Münchener Katastrophe, seinem politischen Zukunftswunsch Ausdruck gegeben hat.
    D. Red.




[741]
Der Katzen-Raphael.


Gottfried Mind.

Wenn wir in den Blättern der Kunstgeschichte nachschlagen und etwa vom dreizehnten Jahrhunderte an alle die hervorragenden Künstler an unserm Auge vorüberziehen lassen, die als ritterbürtige durch ihre Werke in den großen Galerien vertreten sind, so können wir in absteigender Linie drei deutlich gesonderte Classen von Existenzen unterscheiden. In der ersten, die wir das Herrenhaus der Malerei nennen wollen, begegnen wir jenen großen Malerfürsten, die nicht nur auf dem Gipfelpunkte der Kunst, sondern auch auf der Sonnenhöhe des äußern Lebens standen, um deren Gunst sich weltliche und kirchliche Fürsten bewarben, denen Kaiser die Pinsel aufhoben, Könige die höchsten Ehrenämter übertrugen und welche mit den feinsten Cavalieren ihrer Zeit an äußerem Glanz, ritterlicher Tugend und höfischer Bildung wetteiferten. – In dem Hause der Gemeinen stoßen wir auf die gut bürgerlichen Künstler, die fern von der Hofluft in ihrer Malerstube ihre Welt finden, die Kunst wie ein Gewerbe betreiben, das einen goldenen Boden hat, und die in Friede und Freude zu hohem Alter, hohem Ruhme und behäbigem Besitz gelangen. – Weitab von diesem Reich der goldenen Mittelstraße liegt noch eine Gesindestube, wo jene Künstler vergraben sind, deren Glücksstern weniger glänzend war, als ihr Genius, auf deren Leben des Dichters Wort als Grabschrift dienen könnte:

„Im engen Kreis der Menschheit Loos erfüllen“,

deren Ruhm ein erst nach des Künstlers Tod entstandener war, und die als Kärrner und arme Tagelöhner mit der Noth und der Beschränkung eines kargen Lebens rangen. Zu dieser letzteren Classe bescheidener Existenzen gehörte auch Gottfried Mind von Bern, der in der Kunstgeschichte unter dem Namen des Katzen-Raphael’s bekannt ist.

Mama Mietze mit Familie.
Aquarelle von G. Mind.

In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts war ein armer Tischler und Formschneider aus Ober-Ungarn auf seiner Wanderschaft bis nach der Schweiz gekommen und hatte sich endlich im Dorfe Worblaufen bei Bern häuslich niedergelassen, weil die dortige Papierfabrik ihm lohnende Beschäftigung gab. Dieser Tischer war der Vater unsers Gottfried. Ein schwächliches, kränkliches, geistig und körperlich unentwickeltes Kind, wuchs der letztere ohne Schulunterricht und fast ohne Aufsicht auf, wie hundert andere arme Kinder auf dem Dorfe, fast immer im Freien, weil seine Eltern, wohl nicht mit Unrecht, von diesem Zigeunerleben die sicherste Abhärtung und Stärkung seines Körpers erwarteten. Einstmals erhielt der Besitzer der Papiermühle, für welche der alte Mind arbeitete, den Besuch eines deutschen Malers, Namens Legel, der nach dem schöngelegenen, von prachtvollen Wäldern umgebenen Worblaufen in die Sommerfrische kam. [742] Wenn dieser nun Naturstudien machte, Landschaften oder Vieh nach der Natur zeichnete, so folgte ihm der junge Mind wie ein Schatten, blickte ihm über die Schultern auf sein Skizzenbuch und beobachtete mit Interesse das Fortschreiten seiner Entwürfe. Der arme kränkliche Knabe flößte Legel Mitleid und Interesse ein; er gewöhnte sich an seine Gesellschaft, nahm ihn auf seine Wanderungen mit, lud ihn zu sich in seine Wohnung ein und zeigte ihm dort seine Skizzen- und Kupferstichsammlungen, von denen namentlich die Thierbilder des Knaben Aufmerksamkeit erregten. Dieser fing jetzt selbst an zu zeichnen, copirte unter Legel’s Anleitung kleinere Bilder, ließ sich dieselben berichtigen und wagte sich bald auch daran, Ziegen, Kühe und namentlich Katzen nach der Natur zu zeichnen. – Gottfried’s Vater war indeß mit diesen Kunststudien nicht einverstanden. Für den biedern Tischlermeister war Papier doch eben nur Papier, und das einzige würdige Material für Nachbildung der Außenwelt war für ihn das Holz. Da er nun seinem Knaben nur dieses zur Verfügung stellte, Papier aber hartnäckig verweigerte, so machte sich derselbe aus Noth daran, seine Thiere zu schnitzeln statt zu zeichnen, und bald waren seine hölzernen Kühe, Schafe und Bettelknaben der Gegenstand der Bewunderung und die Zierde der Hütten von Worblaufen.

Mittlerweile hatte im Jahre 1778 der große Menschenfreund und Volkserzieher Pestalozzi, dessen Lebensbild erst neulich die Gartenlaube ihren Lesern gezeichnet hat, auf dem zu Birr im Canton Aargau gelegenen Neuhof seine Arbeitsanstalt für arme Kinder errichtet. In diese ward auch Gottfried aufgenommen und hier empfing er seinen ersten Schulunterricht. Aber weder seine geistige, noch seine körperliche Entwickelung machte hier Fortschritte, dagegen entfaltete sich damals schon sein auffallendes Zeichentalent. In einem Berichte, welchen die ökonomische Gesellschaft von Bern im Jahre 1778 über jene Anstalt veröffentlichte, erhält er folgendes Zeugniß:

Friedli Mynth von Byssi, Amts-Aubonne, saßhaft in Worblaufen, sehr schwach, unfähig zu jeder anstrengenden Arbeit, voll Talent zum Zeichnen, die besonders sich auszeichnende Creatur, voll Künstlerlaune, mit einiger Schalkheit begleitet. Zeichnen ist seine ganze Arbeit. 10 Jahre alt.

Als Gottfried vom Neuenhof ins Elternhaus zurückgekehrt war, wurde der Maler Freudenberger in Bern auf dessen auffallendes Zeichentalent aufmerksam gemacht, und er nahm ihn zu sich ins Haus. Freudenberger genoß damals einen ehrenvollen Ruf als Genremaler und veröffentlichte eine große Anzahl seiner Blätter, indem er sie in Kupfer radirte und dann colorirte. Für diese letztere Arbeit gedachte er Mind zu verwenden, dem, er daher auch sowohl im Zeichnen als im Malen mit Tuschfarben Unterricht ertheilte. Mit großem Eifer unterzog sich Gottfried seiner Aufgabe, und wunderbar entwickelte sich bei dieser mechanischen Beschäftigung sein Zeichentalent und sein seltenes Gedächtniß, das, wie ein Skizzenbuch, Alles festhielt, was er einmal gesehen hatte, so daß er es lange nachher mit der größten Treue aus der Erinnerung zeichnen konnte. Zu einem selbstständigen Arbeiten kam er übrigens erst nach Freudenberger’s Tod; so lange dieser lebte, wurde er fast ausschließlich als Famulus und Colorist desselben verwendet, wofür er im Hause des Künstlers verpflegt wurde. Kaum aber war Frau Freudenberger Wittwe geworden, als sich der Katzen-Raphael in seiner ganzen Originalität entwickelte.

Mind’s Kränklichkeit, geistige Beschränkung und ein gewisser unwirscher Zug in seinem Charakter hatten ihn von Jugend an vom Umgang mit Menschen fern gehalten; ein halber Idiot, hatte er sich um so inniger an die Thierwelt angeschlossen und namentlich mußte ihm, den Kränklichkeit so viel an’s Zimmer fesselte, die Katze als das Hausthier par excellence, das er immer um sich haben konnte, sein Lieblingsgesellschafter sein. So war er denn auch immer von seinen „Büssi“ (Schweizer Gattungsname für Katze) umgeben; sie schnurrten hinter seinem Lehnsessel, auf seinen Schultern oder auf den Knieen, wenn er an der Arbeit saß. Das Leben und Treiben dieser anmuthigen und intelligenten Thiere war seine ganze Welt; in allen Phasen ihrer Entwicklung, vom neugebornen Miezchen bis zum lebenssatten alten Kater Murr studirte er sie mit dem Auge des Künstlers. Das Wochenbett seiner Lieblingskatze war für ihn ein Ereigniß, das ihn wochenlang in fieberhafter Spannung erhielt; inmitten seiner geschwänzten Pfleglinge wurde der einsilbige scheue Mensch ein liebenswürdiger Gesellschafter.

Die Früchte dieser Beschäftigung mit seinen Lieblingen sind jene wundervollen Zeichnungen die unter dem Namen „Mind’sche Katzengruppen“ eine solche Berühmtheit erlangt haben, daß sie seine leibliche Existenz ermöglichten und seinen Künstlernamen in ganz Europa bekannt machten. Nicht mit Unrecht hat ihn die Kunstgeschichte den Katzen-Raphael genannt, da weder vor noch nach ihm ein anderer Künstler diese hohe Virtuosität, im Auffassen und Wiedergeben des Lebens und der Gestalt der Hauskatze erlangt hat. Die Katze gehört zu denjenigen Thieren, die am schwierigsten zu zeichnen sind. Nur wenige selbst unsrer ersten Maler und Illustratoren sind im Stande, eine Katze richtig zu zeichnen; nur gar zu häufig glauben wir die Abbildung eines ausgestopften Thiers vor uns zu haben.

Mind allein hat es verstanden, lebende Katzen darzustellen, dieselben mitten in der Bewegung aufzufassen, ihren eigenthümlichen Charakter, ihr Temperament, ihre Individualität, ihre Physiognomie, den schmeichelnden Blick der liebkosenden, wie den Tigerausdruck der gereizten Katze, ihre Wendungen, Balgereien, zierlichen Bewegungen auf wahrhaft geniale Weise zu schildern. Und wie natürlich sind alle diese Gruppen, wie sauber und doch nicht geleckt diese Zeichnungen, mit welchem Geschick behandelt er den feinen, glänzenden Balg! Kein Strich ist zu viel, kein Zug wiederholt sich. Freilich muß man, um seine Blätter recht zu schätzen, ein Katzenfreund sein, wie man ja bei jedem Kunstwerk, um ihm gerecht zu werden, sich in Stimmung und Geist seines Urhebers hineinleben muß.

Mind, oder wie ihn seine Landsleute nannten und noch heute nennen, „der Berner Friedli“, hat seine Lieblinge in allen Situationen und Phasen ihres Lebens gezeichnet, im Kampfe mit ihrem Feinde, dem Hunde, bei der Mondscheinpromenade auf dem Dache, in gemüthlichen Scenen aus dem Ehe- und Familienleben, auf der Mäusejagd u. s. w.; seiner reizenden Katzenstudien sind daher so viele, daß wir uns nicht im Stande sehen, nur einen Theil derselben, viel weniger alle zu beschreiben, wie sie im Originale oder in mehr oder weniger gelungenen Nachbildungen vor uns liegen. Aber einen Augenblick möchten wir noch vor dem Katzenfamiliengemälde verweilen, welches einen Schmuck der heutigen Nummer der Gartenlaube bildet. Es ist eines der gelungensten Blätter unsers Katzen-Raphael und ohne Zweifel die getreuste und feinste Wiedergabe seiner so selten gewordenen Aquarelle. Auch hier ein Familiengemälde: das Frühstück ist vorüber, die Kinder sind gewaschen und gekämmt, die Mutter darf an ihre eigene Toilette denken. Nicht mit der Koketterie einer Weltdame, sondern im Bewußtsein ihrer Mutterwürde, in Mitte ihrer Kleinen richtet sie sich her. Breitspurig und behaglich sitzt sie da, selbstbewußt, wie die Mutter der Gracchen. Während dessen treiben die jungen Bälge allerlei Muthwillen und zwei wälzen sich gar zankend am Boden umher. Wir machen namentlich auf das reizende Gesichtchen des unterliegenden Kätzchens aufmerksam, das mit beiden Hinterfüßen den Kopf des andern wegstößt. Solche Koboldsgesichter konnte eben nur Mind zeichnen!

Unser Künstler behandelte seine Katzenbilder in derselben Weise, wie sein Lehrer Freudenberger seine Genrebilder aus dem Schweizer Landleben; er zeichnete sie mit Feder oder Bleifeder auf einzelne Blätter und colorirte sie leicht mit Wasserfarben. Meist sind die Thiere in der Größe, wie in dem umstehenden Holzschnitte, nur wenige Katzen hat er in Lebensgröße gemalt. Die Oelmalerei war ihm ganz unbekannt; auch zeichnete er keine seiner Bilder auf Kupfer behufs der Vervielfältigung. Die Radirungen, die nach seinem Tode herauskamen, sind von anderen Künstlern nach seinen Originalen auf die Platte übergezeichnet worden. Sie dienten jedoch nicht dazu, seinen Ruhm zu erhöhen, da sie weder die Correctheit, noch die Zartheit und Nettigkeit der Urbilder wiedergeben.

Von seinen Zeichnungen müssen wir auch noch seine auf dem Papiere nachgebildeten Bären und die Kindergruppen erwähnen. Mind selbst hielt auf die erstern fast eben so große Stücke, wie auf seine Katzen, und behauptete, daß noch Niemand Meister Petz so getreu dargestellt habe, wie er selber. Die Studien zu diesen Bildern machte er am Bärenzwinger in Bern, wo bekanntlich immer ein Paar dieser Wappenthiere des Cantons gehalten werden und wo er ein so häufiger Gast war, daß ihn die Thiere als gerngesehenen Hausfreund auszeichneten. Diese Blätter zeichnen sich durch frische Naturwahrheit und Unmittelbarkeit aus; [743] die Gruppirung ist leicht und gefällig, denn Freudenberger war in dieser Richtung ein trefflicher Lehrer gewesen, und die Zeichnung durchweg correct, obwohl etwas ängstlicher, als in den Katzenstudien, vielleicht weil Mind in diesen Darstellungen weniger selbständig und noch von der Richtung seines Lehrers beeinflußt war. –

Im Anfange seines selbständigen Arbeitens verkaufte Friedli seine Katzenbilder noch zu wahren Spottpreisen. „Eis i z’angere füf Batze“[1] war seine stehende Antwort, wenn man ihn nach dem Preise eines Blattes fragte. Als aber die Blätter berühmt geworden, als Einheimische und Fremde sich um dieselben bewarben, stellte Frau Freudenberger, die eine gute Hausfrau war, den Preis höher und schließlich wurden so viele Louisd’ors dafür bezahlt, als ursprünglich Batzen dafür gefordert worden waren. Viele der Blätter schmücken jetzt die Galerien von Rußland und England.

Aber vielleicht eben so viele werden als Minds verkauft, die er nie gesehen hat, indem industrielle Künstler Copien als Originale auf den Markt brachten, von denen einzelne mit großer Virtuosität den Styl der Urbilder wiedergeben sollen. – Die echten Minds sind sehr selten geworden. –

Obschon Mind in Folge der Anerkennung des Publicums für seine Bilder sich eine unabhängige Stellung hätte gründen können, so verzichtete er gleichwohl darauf und blieb auch nach dem Tode Freudenberger’s in dessen Hause als Taglöhner der Wittwe, wie er früher im Solde ihres Mannes gestanden war. Sie gab ihm Wohnung, Kleider und Kost und verpflegte ihn bis zu seinem Tode, wogegen sie den Erlös für seine Arbeiten einstrich. Es fehlte nicht an wohlmeinenden Versuchen, den Künstler aus dieser unwürdigen Stellung und der Botmäßigkeit eines launischen Weibes zu befreien, sie schlugen aber fehl, weil Mind weder Energie noch Ehrgeiz hatte und in dem gewohnten Fortleben unter den alten Verhältnissen seine Befriedigung fand. Immer nur in der Gesellschaft mit Katzen, scheint er zuletzt selbst die Eigenthümlichkeit dieser Thiere sich angeeignet zu haben, fest an der einmal gewählten Behausung zu hangen. Ein künstlerischer Taglöhner, von Morgens früh bis Abends spät vor seinem Reißbret sitzend, über einen Tisch gebeugt, dessen Besitz er mit seinen Katzen und seinen Laubfröschen theilte, die ländliche Zipfelmütze tief über die Ohren gezogen, ein verkrümmter Rücken, ein sauertöpfisches unwirsches Gesicht, ein kleiner Körper mit auffallend groben Händen und Füßen und eine dünne magere Castratenstimme – das ist das äußere Bild eines Mannes, dem die Kunstgeschichte in einem Anfing von Laune den wohltönenden Namen des italienischen Malerfürsten beigelegt hat. So lebt er noch in der Erinnerung weniger Greise fort, die ihn vor sechszig Jahren in seiner bescheidenen Arbeitsstube besucht haben; und so erscheint er auch in einem charakteristischen Bilde von Lips, das nie in den Buchhandel kam und das jetzt die Gartenlaube durch ihren Holzschnitt der Gefahr der Vergessenheit entreißt.

Mind’s Körperbeschaffenheit war nicht der Art, daß ihm eine lange Lebenszeit bestimmt sein konnte. Ein Brustleiden stellte sich bei ihm ein, das ihn längere Zeit arbeitsunfähig machte und schließlich im November 1814 durch eine Lungenlähmung dahin raffte.

So wenig Erfreuliches oder gar Glänzendes das äußere Leben des Katzen-Raphael im Gegensatz zu demjenigen seines großen Namensverwandten auch aufweist, so reich ist das Interesse, das sein inneres Leben, seine geistige Entwickelung darbietet. Ein Mensch fast ohne alle geistige Begabung, von der Natur vernachlässigt, unter den ungünstigsten Bedingungen aufgewachsen, zeigt in einem engbegrenzten Kunstgebiete eine eigenartige, wahrhaft geniale Befähigung, die aus der harten Schale zur schönen Blüthe und Frucht herauswächst. Erscheinungen dieser Art sind ein sprechender Beweis, daß in den Gesetzen von Gall’s Schädellehre neben vielem Uebertriebenen und Ausschweifenden am Ende doch wohl einige goldene Wahrheit enthalten ist.





Aus dem Unterinnthal.
Von Ludwig Steub.
1. Das Passionsspiel in Brixlegg.

Hin und wieder geschieht es doch, daß dem Menschen schon hienieden ein Wunsch in Erfüllung geht. So bin ich eben dazu gekommen, zwei schöne Herbstwochen in dem lieblichen Brixlegg zu verleben. Es ist dies ein ansehnliches Dorf, welches im untern Innthale, in einer grünen Bucht des Gebirges liegt, nahe bei der alten Stadt Rattenberg, nicht weit von dem fröhlichen Zillerthale. Nachdem ich manches Jahr umsonst nach einer Wohnung gefahndet, bot sich dieses Jahr eine Mühle dar, ein schönes großes Haus, das oben im Dorfe steht und auf seiner Altane eine herrliche Ansicht der Landschaft bietet. Mühlen sind ohnedem poetischer Natur und von der deutschen Dichtkunst, wie man weiß, schon öfter gefeiert worden. Diese besondere Mühle hat aber noch den Vorzug, sehr helle reinliche Stuben zu besitzen und einem Ehepaare zu gehören, welches sehr geachtet und liebenswürdig ist, ein Musterbild für alle Hausleute, in den Städten wie auf dem Lande.

Es war am Feste Mariä Himmelfahrt (15. August), als wir am Orte unserer Sehnsucht glücklich ankamen und vernahmen, daß am andern Tage, welcher ein Sonntag war, das Passionsspiel, von dem die Zeitungen schon so viel erzählt, an uns und hoffentlich auch an vielen Andern vorübergehen würde. So schlenderten wir denn am Abend noch im Dorfe und seiner Gegend umher, betrachteten die herrliche Landschaft und standen auch ein Weilchen vor der Auslage eines ländlichen Photographen, welcher das Passionsspiel mit Industrie verwerthet und die bedeutenderen Figuren, Adam und Eva, Christus nach der Geißelung und am Kreuze, die allerseligste Jungfrau und sämmtliche Apostel, kurz alles, was für die große Welt von Werth sein möchte, mit Kunst und Wahrheit darzustellen weiß. Die Bauersleute sprechen bei dem Künstler nicht selten zu und tragen um billigen Preis gern eine Erinnerung an die Passion nach Hause. Beim Abendtrunke trafen wir mit den Honoratioren zusammen und hörten sehr erfreuliche Nachrichten über den Verlauf der theatralischen Unternehmung. Herr Cooperator Winkler, der geistliche Vorstand, erzählte mit Behagen, wie das Gedränge bisher mit jedem Spieltag größer geworden; auch Herr Hillepold, der Wachszieher und weltliche Mitdirector, zeigte ein zukunftsicheres Gesicht. Nach langen und belehrenden Gesprächen gingen wir in unsre Mühle hinauf und fielen, des großen Morgens gewärtig, unter dem Rauschen der Bäche bald in tiefen Schlaf.

Plötzlich um drei oder vier Uhr in der Nacht, wenn der Fremdling eben im tiefsten Schlummer liegt, erweckt ihn ein vielstimmiges Freudengeläute. Der Meßner und sein sämmtliches Hausgesinde befinden sich im Glockenthurme und ziehen an allen Strängen, dergestalt, daß der vereinte Schall das ganze Dorf ans dem Schlafe bringen muß. Es besteht überhaupt unter den tirolischen Meßnern von Kufstein bis Meran eine geheime Verschwörung, ihre Glocken an Sonn- und Feiertagen vom frühesten Morgen bis zum spätesten Abend nicht zur Besinnung kommen zu lassen. Jene Morgenfanfaren bilden aber ein wunderliches Durcheinander von Solo, Duo, Trio und Tutti, so daß der Hörer immer geneigt ist, ihren Klängen eine gewisse nur dem Eingeweihten faßliche Bedeutung beizulegen. Auch mir kam es oft vor, als wenn es Novellen ohne Worte wären. Hin und wieder glaubte ich sogar einer Familienscene beizuwohnen. Um drei oder vier Uhr nämlich erheben sich Vater und Mutter mit sämmtlichen Kindern, um eine Bergpartie zu unternehmen, die am Abend vorher verabredet worden. Alles wünscht sich guten Morgen und freut sich, zu rechter Zeit erwacht zu sein (Tutti). Mama, eine schöne Altglocke, sieht aber ein Wölkchen am Himmel und spricht sich besorglich darüber ans (Solo). Kanin hat sie geschwiegen, so ergreift das jüngste Kind, ein liebliches Mädchen mit blonden Haaren, eine kleine Sopranglocke, das Wort, protestirt gegen die Aengstlichkeit der Mutter (ebenfalls Solo) und wird bald von seinem älteren [744] Bruder unterstützt, so daß ein Duett entsteht, welches durch den Zutritt eines anderen Sohnes, der vielleicht schon auf der Universität ist und als sonorer Bariton spricht, zum Trio erhoben wird. Endlich reden Vater und Mutter auch wieder drein und es giebt ein lebendiges Tutti, welches anfangs darstellt, wie man sich über die Witterung von allen Seiten abdisputirt, zuletzt aber auch, wie man sich verständigt, den Ausflug nach Alpbach oder Brandenberg gleichwohl beschließt und sich plaudernd und schäkernd auf den Weg macht. Derlei oder andere Sachen lassen sich bei diesen vielsagenden Glockentönen allerdings denken, allein Mancher, der seinen gesunden Schlaf zu schätzen weiß, wird sich gleichwohl ärgern, daß er aufgeweckt worden, und christlicher wäre es jedenfalls, den müden Menschen in Frieden schlummern zu lassen, bis die Zeit seiner Thätigkeit gekommen, als ihm lange vor Tagesanbruch mit siebenfachem Glockenschall zu melden, daß nichts passirt, vielmehr noch alles finster sei und daß er sich immerhin noch einige Stunden auf’s Ohr legen könne.

Das arme Land Tirol hat überhaupt einen ungemeinen Reichthum an schönen Glocken. Selbst in den kleinsten Dörfern hört man oft ein Geläute, wie es anderswo kaum der Herr Stadtpfarrer erklingen lassen kann. Wohlthäter und Wohlthäterinnen sorgen überdies durch Schenkungen und Vermächtnisse, durch freiwillige Sammlungen für jeden Schmuck der Kirche. Stets wird an neuen Fahnen, an neuen Meßgewändern gestickt, die alten Bilder werden durch neue ersetzt, die vergilbten Altäre wieder frisch bemalt und neu vergoldet, zuweilen mit schweren Kosten ein heiliger Leib verschrieben – auf Büheln und Bergen entstehen neue Einsiedeleien, Capellen und Kirchen, die man fast für überflüssig halten möchte, weil deren im Thal schon zu viele sind. Diese rege Sorge für die Kirche läßt aber wenig Theilnahme für die Schule aufkommen, und es war jedenfalls ein schlimmes Seitenstück zu dem Glanz des Cultus, daß es in Tirol vor nicht so langer Zeit noch Schullehrer gab, welche jährlich sechszig Gulden einnahmen und ihre mageren Küchel mit Leinöl backen mußten.

Es ist jetzt sieben Uhr des Morgens und ein wunderschöner Tag. Unter der Altane rauscht der Mühlbach dahin; die Aepfelbäume des Dorfes paradiren mit ihren goldenen Früchten; da und dort schlendert ein schmauchender Jüngling, ein feiertäglich prangendes Mädchen durch die Gassen. Rechts auf der Höhe steht die Dorfkirche im stillen Friedhofe und streckt den rothen Spitzthurm sehnsüchtig in die Luft; die rothen Kuppeln, die das „Herrenhaus“ zieren, zeugen von der einstigen Bedeutung dieses Baues, der jetzt zum Gasthof geworden, früher aber ein adeliger „Ansitz“ gewesen ist. Ueber dem freundlichen Dörfchen mit seinen raschen Bächen, seinen steinbeschwerten Dächern, unter denen die Kürbisse und die gelben Maiskolben trocknen, seinen Büschen und Bäumen erheben sich die wilden Hörner verschiedenen Namens, der waldige Brandenberg, das kahle Sonnwendjoch, die nackten Spitzen des Vomperjoches. Jenseits des Baches aber in nächster Nähe zeigt sich die lange, mächtige Hütte, in welcher das Passionsspiel vor sich gehen soll. Den Giebel zieren einige Flaggen und der rothe tirolische Adler. Unter diesem hängt ein Laubkranz mit der Inschrift: Willkommen! Die Cassirer haben sich bereits auf ihren Amtssitz begeben, denn vorsichtige Leute treten wohl jetzt schon ein, um sich einen guten Platz zu sichern. Auch die Hökerinnen setzen ihre Tische zurecht, decken ihre Obstkörbe auf oder legen Würstchen, Krapfen, Trauben und andere beliebte Näschereien zum Verkaufe aus. Allmählich stellen sich am rauschenden Bach verschiedene Häuflein beiderlei Geschlechts im Sonntagsstaat zusammen, um die Hütte, die Landschaft und sich selbst zu betrachten.

Ferner fahren zahlreiche Rollwagen aus dem Zillerthal und anderer Nachbarschaft knallend herein und bringen viel zierliche Jugend, viel würdiges Alter mit. Auch der Extrazug, der von Bozen und Innsbruck kommt, rollt in den Bahnhof und wirft unzähliges Volk aus, das sich in dichtem Gedränge durch das Dorf nach der Spielhütte wälzt.

Nachgerade ist es neun Uhr geworden und krachende Böller verkünden den Anfang des Stücks. Dort drinnen spielen sie zum Willkomm bereits die Ouvertüre zur Stummen von Portici, über deren Zusammenhang mit dem bittern Leiden und Sterben unseres lieben Heilandes sich mancher städtische Grübler den Kopf zerbricht. Auch „die schönsten Augen“, welche gleich darauf folgen, scheinen eher geeignet, die Stimmung für ein Schäferspiel vorzubereiten, als für den Kreuzestod auf Golgatha. Glückliches Landvolk, das über solche Zweifel weit hinaus ist und mit ungestörtem Behagen sich von den weichen Klängen ergötzen läßt!

Endlich haben wir Platz genommen und betrachten uns zunächst den Vorhang. Dieser stellt das Dorf Brixlegg mit seiner Kirche, dem Herrenhause und andern namhaften Gebäuden, den, Hüttenwerken dem Bahnhof und zwei dampfenden Zügen, sowie die gesammte Berglandschaft wahrheitsgetreu vor Augen. Ist es auch nicht Rottmann’s Pinsel, so würden wir doch, wenn wir Kunstkritiker wären, dem Vorhang eine milde Beurtheilung nicht versagen können, da ihn Anton Windhager, damals Gehülfe im nahen Bade Mähren, umsonst gemalt hat. Ob die inneren Decorationen, mit denen wir im Laufe des Stücks bekannt werden, ihm an Kunstfertigkeit vor- oder nachstehen, wollen wir auch nicht untersuchen – genug, daß Herr Franz Staudacher, der Tischlermeister und Maler zu Rattenberg, der sie gefertigt, ein sehr braver Mann ist.

Die Hütte faßt gegen dreitausend Zuschauer und war dieses Mal nahezu gefüllt. Auf dem ersten Platze zeigte sich heute wenig Vornehmheit, dagegen erschienen viele wohlhabende Bauern, Müller und Wirthe mit den gutgenährten und reichgeschmückten Gattinnen. Hinter diesen, auf den wohlfeileren Bänken, sitzt der mindere, aber gleich biedere Landmann von Tirol mit Weib und Kindern. Doch mischen sich auch einige Zuzügler und Pilgerinnen aus dem bairischen Gebirge ein, wie aus den niederen Spitzhüten mit den goldenen Schnüren und Quasten leicht zu ersehen. Der Hitze wegen hatten viele Männer ihre Röcke ausgezogen und sahen dem Spiele in bloßen, doch reinlichen Hemdärmeln zu.

Den Inhalt dürfen wir wohl bei allen guten Christen als bekannt voraussetzen; daher nur einige Mittheilungen über die Art der Darstellung. Diese ist der Hauptsache nach dieselbe, wie bei dem Passionsspiel, welches alle Jahrzehnte zu Ammergau im bairischen Gebirge abgehalten wird. Das Stück zerfällt darnach in zwei gesonderte Bestandtheile, in die symbolischen Vorgänge aus dem alten Testamente, welche als prophetische Vorzeichen der Leidensgeschichte in lebenden Bildern oder Pantomimen dargestellt werden, und in die Ereignisse der Leidensgeschichte selbst. So oft ein lebendes Bild erscheinen soll, treten fünfzehn Genien, lauter Mädchen von sechs bis achtzehn Jahren, vor den niedergelassenen inneren Vorhang und eine der älteren giebt die Erklärung der kommenden Darstellung. Hierauf entfernen sich die Genien, der Vorhang rollt auf, das lebende Bild wird bei griechischem Feuer sichtbar und unten fällt Gesang mit Instrumentalbegleitung ein. Nach einer kleinen Weile sinkt der Vorhang, erhebt sich wieder und es zieht dann ein Stück der Leidensgeschichte mit Bewegung und Rede an uns vorüber, um später wieder einem lebenden Bilde Raum zu geben.

Diese Einrichtung ist zwar altherkömmlich, allein es wäre vielleicht doch besser gewesen, sie zu beseitigen. Einmal ist die Symbolik mitunter sehr gesucht, denn es gehört fast übermenschliche Combinationsgabe dazu, um in dem Backenstreiche, welcher dem Propheten Micha zu Theil wurde, weil er dem König Achab die Wahrheit sagte (I. Kön. 22, V. 24.), ein Vorbild jenes späteren zu sehen, welchen Jesus vor dem Hohenpriester Annas erhielt. Ebenso fraglich wird es Vielen vorkommen, ob sich Judas mit Beziehung auf den treulosen Ahitophel erhängt hat, welch’ letzterer viele Jahrhunderte vorher (nach II. Sam. 17, V. 23.) jene Todesart ebenfalls wählte, weil sein Rath nicht befolgt worden war. Diese Bilder wären an und für sich gar nicht zu verstehen, und es kommt dem Beschauer daher ein billiges Passionsbüchlein zu Hülfe, welches Vorbild und Handlung nach der Reihenfolge angiebt, allein auch so setzt die Bekanntschaft mit Micha, Achab, Ahitophel und andern jüdischen Celebritäten des alten Testaments eine Bibelfestigkeit voraus, wie sie bei dem Tiroler Landmann nicht gesucht werden darf und vielleicht auch nicht gern gefunden werden möchte. Die Auferstehung Christi wurde in den ersten Vorstellungen durch einen Walfisch und den Propheten Jonas symbolisirt, deren ersterer letzteren „gesund an das Land setzte“.

Beide miteinander, und zwar der Prophet trotz oder vielleicht wegen seiner Gesundheit, erregten aber jedesmal ein so heiteres Gelächter, daß man später dieses Vorbild ganz entfallen ließ.

Wenn man aber die lebenden Bilder einmal zulassen wollte, so müßte man, meine ich, dem Ammergauer Theater auch die [745] vielbesprochene äschyleisch-shakespearische Mittelbühne entlehnen, was man leider nicht gethan hat. Auf dem Ammergauer Theater kommen nämlich alle die Vorbilder nur in der Mittelbühne zur Darstellung, und diese kann mit eigenem Vorhang geschlossen werden. Es ist daher die Möglichkeit gegeben, jene in dieser inneren Halle vorzubereiten, während die Leidensgeschichte im Proscenium ungehindert fortspielt. Nichts desto weniger treten mitunter auch in Ammergau sehr lange Pausen ein, welche durch den Gesang der Schutzgeister, die dort aus Männern, Weibern und Jungfrauen bestehen, nicht sehr ansprechend ausgefüllt werden. In Brixlegg aber nimmt dieser Uebelstand ein riesiges Maß an, weil die lebenden Bilder nur gestellt werden können, wenn der Hauptvorhang herabgelassen ist. Die fünfzehn Genien sind dann zur Ausfüllung der Leere auch nicht zu verwenden, weil die Kürze der Zeit nicht erlaubt hat, sie zu Sängerinnen heranzubilden, und so entsteht eine thatenlose Leere, die mitunter fast eine halbe Stunde dauert. Das ganze Orchester, die Geiger, die Trompeter, die Sänger und Sängerinnen verlassen dann ihre Plätze und viele von den Zuschauern, denen es innen zu heiß geworden, begeben sich ebenfalls in’s Freie, um frische Luft zu schöpfen. Dagegen werden Bier- und Weinflaschen, Brod, Würstchen und andere Erfrischungen herumgereicht, welchen das Publicum immer gerne zuspricht. So verwandelt sich denn das Theater mit plötzlichem Umschwünge in eine Schenke, wo man sich zwar einer anständigen und gemüthlichen, aber von den Leiden Christi weit abliegenden Unterhaltung überläßt.

Diese weltlichen Pausen möchten denn auch die Ursache sein. warum sich die andächtige Empfindung, die doch beabsichtigt wird, nie recht festsetzen will. Während in Ammergau das Publicum, und namentlich das ländliche, dem Spiel mit frommer Beschaulichkeit, mit andächtigem Starren, oft mit Thränen in den Augen folgt, ist in Brixlegg die Stimmung eher kritisch und moquant. Man scheint lieber lachen als weinen zu wollen, wenigstens werden alle die kleinen Ungeschicklichkeiten, die sich im Spiel ergeben, mit heiterm Kichern glossirt und es ist oft zu bemerken, wie der Nachbar die Nachbarin mit dem Ellenbogen stößt, um sie auf dieses oder jenes Fehlerchen aufmerksam zu machen. In dein Augenblicke aber, da Judas, der Verräther, an seinem Aste baumelt, geht ein ganz vernehmliches Gelächter durch die gefüllten Räume. Dies hängt wohl auch mit dem Volkscharakter zusammen, denn die Unterinnthaler sind fast immer bei guter Laune und werden überhaupt zu den heitersten Völkerschaften Deutschlands gerechnet.

Indessen – wenn auch nichts in dem Stück vollkommen ist, so ist doch fast Alles so gut, als es unter solchen Umständen erwartet werden darf. An dem Spiele der Männer ist sehr wenig auszusetzen, der Heiland wird allgemein belobt. Ihn stellt der Hüttenarbeiter Josef Schweiger dar, der aber auch Intendant einer bäuerlichen Bühne in der Nachbarschaft ist. Auch für den Judas hat sich eine tüchtige Kraft gefunden, die den Charakter drastisch, doch ohne Uebertreibung darzustellen weiß. Pontius Pilatus, der Wirth von Mähren, imponirt durch seine römische Insolenz. Die Frauen und Jungfrauen dagegen haben nicht Allen genügt. Damit hat es aber eine besondere Bewandniß. Es giebt nämlich für das schwache Geschlecht im bajuvarischen Stamme (vielleicht auch in den übrigen) eine eigenthümlich hohe, weinerliche, singende Stimmlage. Sie gilt für besonders ehrwürdig und wird nur bei feierlichen Gelegenheiten verwendet, wie z. B. bei Schulprüfungen, wo die Mädchen auf die Fragen, die der Herr Dechant stellt, immer in solch’ erhabener Tonart antworten. So konnten sich denn auch die Frauen und Jungfrauen zu Brixlegg dieser herkömmlichen Sprachweise so wenig einschlagen, als es jene zu Ammergau vermögen. Natürlich zu sprechen würde unehrerbietig und dem heiligen Gegenstand nicht angemessen erscheinen.

So weit es zulässig ist, sind die Costüme der Hauptpersonen mit weidlichem Prunke ausgestattet, die vorkommenden Anachronismen in Kleidung, Waffen u. s. w. wirken nicht störend, da der Liebhaber tirolischer Bauernspiele an derlei naive Abweichungen von der historischen Strenge ohnedem gewöhnt ist. Daß dem Ammergauer Spiele im Ganzen der Vorzug einzuräumen, scheint uns allerdings außer Frage. Die Ammergauer haben aber auch eine mehr als hundertjährige Tradition für sich sie haben Alles prüfen und das Beste behalten können, während in Brixlegg, da keiner der Leiter jenes Vorbild gesehen, Alles von Neuem erdacht und improvisirt werden mußte. Namentlich sind die großen, volkreichen Scenen, wie der Einzug Christi in Jerusalem oder die Kreuzigung, in Ammergau viel lebendiger und malerischer eingerichtet, als zu Brixlegg.

Alle die Schwierigkeiten und Hindernisse eines solchen Unternehmens wohl beachtend, war aber das Publicum im großen Ganzen immer sehr beifällig gestimmt. Daß sich gebildete Städter und Städterinnen hin und wieder kritische Noten zu machen erlaubten, versteht sich von selbst; das Landvolk dagegen sprach sich unbedingt zufrieden aus und gab dieser Anerkennung auch durch immer wachsenden Besuch den erwünschtesten Ausdruck.

Was endlich die irdischen Früchte des Brixlegger Spiels betrifft, so ist der Segen sehr reichlich geflossen. Es sind über zwölftausend Gulden eingegangen, wovon die eine Hälfte zur Deckung der Einrichtungskosten diente, die andere zur Verfügung steht. Da man vorher an die Möglichkeit eines Ueberschusses gar nicht gedacht hat, so ist für diesen Fall keine Bestimmung getroffen worden und sollen die Ansichten über die Verwendung jetzt ziemlich weit auseinander gehen. Doch wollen wir hoffen, daß der Friede, der die Spielenden bisher zusammengehalten, über ihnen auch walten werde, wenn die kitzlige Frage zur Entscheidung kommt, wie die Silberlinge vertheilt werden sollen.




Germain Colot, der Steinoperateur,

Von Georg Hiltl.

Am 29. November 1866 sind es dreihundertdreiundneunzig Jahre, daß eine der schwierigsten und wichtigsten Operationen, welche die Hand des erfahrenen Arztes an dem Körper eines Leidenden verrichtet, zum ersten Male kunstgerecht vollzogen wurde: die Operation des Steines.

In dem kleinen Städtchen Invisi lebte in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts ein Landarzt, Germain Colot. Es war ein fleißiger, geschickter Mann, der für seine erhabene Kunst glühte und täglich die schwierigsten Versuche anstellte, um neue, überraschende Resultate zu erzielen. Aber die Zeit war dem braven Arzte nicht günstig. Colot’s Hauptfach war die Operirkunst; er handhabte seine Messer mit großer Geschicklichkeit, hatte manche glückliche Cur vollendet, erfreute sich aber dennoch nicht einer höheren Anerkennung, weil die gelehrten Herren seines Jahrhunderts sich wenig mit großen Operationen beschäftigten und wunderbarer Weise diesen wichtigen Theil der Heilkunst umherziehenden Quacksalbern und Landstreichern zur Ausbeute überließen. Namentlich war das in Italien der Fall, wo selbst Augenoperationen durch Privatleute vollzogen wurden. Nach und nach erbten die „Kunststücke“, wie man damals solche gewagte Dinge nannte, von Familie auf Familie, bis sie zuletzt das Gemeingut gewisser Stadtbewohner und Genossenschaften wurden, die um ihre Kenntnisse, Mittel und Verfahrungsarten sorgfältig den Schleier des Geheimnisses breiteten.

Eine solche Genossenschaft bestand seit langer Zeit in dem Städtchen Norcia, welches zum Gebiete des Kirchenstaates gehörte. Seine Bewohner standen in dem Rufe, durch kühnen Schnitt das gräßliche Leiden des Steines beseitigen zu können, und sie bildeten eine Art Secte, welche man nach der Stadt die Norcianer nannte. Einen besondern Ruf genossen Giovanni Acarombono und dessen Sohn Antonio, dann ein Schmied Namens Peter von Norcia, endlich ein gewisser Horaz, der auch vortrefflich Verkrümmungen heilte. Zu beklagen blieb es nur, daß die Männer ihre Kunst geheim hielten, oder die Ausübung derselben doch nur einer kleinen Anzahl Befreundeter lehrten. Da ergriff die Wanderlust einige dieser Norcianer und sie zogen über das Gebirg nach Frankreich hinein, heilten auf ihren Wanderungen mancherlei Schäden durch ihre kunstgeübte Hand und kehrten mit Gold beladen in die Heimath zurück.

Nicht Allen ging es freilich so erwünscht. Der Neid der [746] Aerzte verfolgte die Apostel der Chirurgie von Norcia, und oft genug mußten sie bei Nacht und Nebel vor der pedantischen Facultät flüchten. Germain Colot, der in günstigen Vermögensverhältnissen lebte, kümmerte sich nicht viel um die blinden Eiferer gegen eine Kunst, deren Jünger ihm ehrwürdig schienen, von welcher er schon so viel gehört hatte, die seinen Geist, sein Nachdenken mächtig erregte. Er hatte in vergilbten Schriften gelesen, wie die Alten zu Rom die gefährliche Operation betrieben, daß schon in grauer Vorzeit ein Privilegium darauf bestanden. Celsus, Meges und Paulus der Arzt gaben ihr Verfahren an, dessen sich auch viele Aerzte der Epoche Colot’s bedienten. Aber er hatte auch gefunden und durch sich selbst die Erfahrung gemacht, wie wenig ausreichend jene Methode sei, wie oft der Leidende, in den meisten Fällen sogar, ein Opfer der grausamen Zerfleischung wurde. Die Norcianer allein besaßen das Richtige, ihre Werkzeuge, ihre Kunstgriffe waren allein vermögend, das Uebel zu beseitigen und den Kranken zu erhalten. Wenn er hinter das Geheimniß kam, die Art jener Operation sich zu eigen machte – welch’ ein Glück für ihn! welch’ ein Ruhm! welch’ ein Segen für die Menschheit!

Da pochte es in stürmischer Nacht an das Thor seines Hauses. Es ist ein flüchtender, fahrender Arzt. Unwissende Mönche haben seine Kunst für Teufelswerk erklärt, neidische Aerzte haben die’ verbrieften Rechte emporgehalten, nach denen kein Anderer als sie, die mit der Robe Bekleideten, das Leben eines Menschen retten dürfe. Von dem Schmerzenslager eines in Qualen sich Krümmenden, der jammernd und winselnd die Arme nach dem Erlöser ausstreckt, hat das starre, vermoderte Recht der Stubengelehrten denselben hinweggescheucht, ihn mit harter Strafe bedroht. Er flüchtet in das Haus Germain Colot’s, den man als einen Freund der Verfolgten schildert.

Germain verschloß seine Thür dem Geächteten nicht. Er bereitete ihm ein Lager und bei dem Nachtmahle entdeckte der Flüchtling seinem Schützer: daß er ein Mitglied der Genossenschaft von Norcia sei, daß er eine Steinoperation vollenden gewollt und vertrieben worden. Germain Colot horchte auf; er hatte das wichtige Geheimniß in seiner Nähe, es mußte um jeden Preis sein eigen werden. Der Norcianer fand den besten Schutz bei Colot, dessen große Popularität ernstliche Maßregeln gegen den fahrenden Arzt verhinderte. Der Schützling war nicht undankbar. Er hatte den glühenden Wunsch Germain’s vernommen. –

Eine Zeit lang waren der Arzt und sein Schützling für Niemand sichtbar. Die Hausgenossen Colot’s deuteten verstohlen auf die verschlossene Thür seines Arbeitszimmers, hinter welcher er sich mit dem Norcianer befand. Man trug ihnen Speise und Trank auf die Schwelle, sah noch spät in der Nacht die Fenster erleuchtet, hörte feilen und hämmern. Endlich am vierten Morgen, noch ehe die Sonne heraufstieg, nahm der Norcianer Abschied von Colot und zog auf einem stattlichen Pferde, die Taschen mit Geld gefüllt, aus der Stadt.

Germain aber stand vor dem Secirtische seines Gemaches und blickte triumphirend, mit funkelnden Augen auf eine kleine Cassette, welche einen Theil seines gewonnenen Geheimnisses barg; der Norcianer hatte dem Arzte das Verfahren erklärt, dessen er und seine Landsleute sich bei der Operation bedienten.

Germain Colot war in großer Aufregung, denn obwohl er nunmehr in den Besitz des wichtigen Geheimnisses gelangt und über die Anwendung ganz einig mit sich war, fehlte doch die Hauptsache, die Gelegenheit, eine so schwierige Heilung durch das Messer praktisch zu vollführen. Wer sollte sich ihm anvertrauen? Die Steinkranken litten häufig eher an den Schmerzen, als einer so fürchterlichen Operation sich auszusetzen; außerdem standen die heimischen Aerzte gar nicht in dem Rufe, gerade diese Uebel durch ihre Hand vertilgen zu können, und erklärte Colot sein Verfahren, so besaß er es nicht mehr allein, der Werth des Geheimnisses ging verloren; auch fand sich in der Gegend von Juvisi, wo Colot seine ärztliche Praxis betrieb, kein Steinkranker um diese Zeit; wenn er zu lange zögerte, kam ihm vielleicht Jemand zuvor, denn wer bürgte dafür, daß der Norcianer sein Geheimniß nicht zum zweiten Male verkaufte?

Der Arzt spähte wie ein Geier umher, der Beute sucht – umsonst. Der Herbst kam heran, die Winterstürme begannen zu wehen und Germain Colot hatte noch immer keine Gelegenheit gefunden, seine Kunst bei dem neuen Verfahren zeigen zu können.

Der Arzt begab sich eines Tages in trüber Stimmung nach Paris, um daselbst Einkäufe für seine Hausapotheke zu machen.

Die feuchten Nebel eines Novembermorgens begannen ein wenig zu weichen, als Colot auf seinem Klepper von der Straße, welche nach Charenton führte, abbiegend durch das Thor St. Antoine ritt. Die schwarzen Steinmassen der Bastille ragten aus den sie umfluthenden Dunstwolken hervor, ein Gewirre von Stimmen, Menschen und Thieren angehörend, scholl von dem Bastilleplatze herüber, zahlreiche Marktkarren, Treiber, Krämer und Bettler umringten den Reiter. Als Colot bei dem Palais Tournelles angekommen war, bemerkte er plötzlich, daß der ganze Menschenknäuel sich nach einer gewissen Richtung hin wälzte. Es ertönten die Rufe: „Da bringen sie ihn!“ „Sie haben ihn!“ „Armer Teufel!“ u. s. w. Colot lenkte sein Pferd nach dem Orte, wo sich die Massen zusammenballten, und erblickte den Gegenstand, welchem die Menge eine so besondere Aufmerksamkeit zollte. Es war ein Mann etwa in dem Alter von fünfundvierzig Jahren, der, auf einem Esel rückwärts sitzend, festgebunden und geknebelt war. Sein zerfetzter Anzug ließ eine Beschäftigung oder ein Leben im Walde vermuthen, denn die grüne Friesjacke war mit vielen kleinen Rehkronen und Schweinshaaren verziert. Bart und Haar, von der Anstrengung, der Flucht und dem Transporte verwirrt, umgaben Kopf und Gesicht wie ein Büschel aus Gras und Aesten zusammengesetzt.

Colot erfuhr, daß der arme Teufel ein Wilddieb aus Meudon sei, der von den Jägern nach vergeblichem Suchen endlich ergriffen, geknebelt ward, und nun zum Gefängniß geschleppt wurde.

Der Arzt zuckte mit den Achseln und warf noch einen Blick auf den Unglücklichen, der nach den grausamen Gesetzen jener Zeit eine fürchterliche Todesstrafe erdulden mußte. Glücklich, wenn er mit einem Hiebe durch den Henker vom Leben zum Tode befördert wurde, und nicht, auf einen Hirsch geschmiedet oder mit Eisen an den Stamm eines Baumes gefesselt, sein elendes Leben in langer Qual verhauchen mußte.

Der Arzt besorgte seine verschiedenen Geschäfte und kam endlich zu dem Apotheker in der Straße Saint-Jacques, wo er sein Pferd eingestellt hatte. Dieser Apotheker wohnte in der Gegend des kleinen Châtelet, welches zu jener Zeit das Hauptgefängniß von Paris war. Als der Doctor, noch damit beschäftigt, seine Einkäufe in den Mantelsack zu packen, in den Laden des Apothekers blickte, sah er einen Mann eintreten, der auf seinem rothen Wamms das Wappen der Stadt Paris, das Schiff, in weißer Seide gestickt, trug. Es war einer der Stadtschergen oder Häscher.

„Hollah, Meister Patelin,“ rief er. „Schnell ein kühlendes Arcanum, eine Art von Schlagwasser oder dergleichen.“

„Was giebt es?“ sagte der Apotheker. „Wofür soll es sein?“

„Nun, der Wildschütze, den sie heut morgen eingebracht haben, droht uns durch den Tod zu entschlüpfen,“ lachte der Scherge roh. „Er schreit und wimmert und behauptet, er habe einen Stein im Leibe, der ihn zur Verzweiflung treibt. Meister Artus, der Schließer vom Châtelet, sendet mich zu Euch, daß ich einen kühlenden Umschlag hole. Es wird wohl nicht so arg sein.“

Germain Colot war bei diesen Worten aufmerksam geworden; er legte hastig seinen Mantelsack nieder und trat zu dem Schergen.

„Wie sagt Ihr? einen Stein?“ fragte er. „Dafür ist dieses Schlagwasser kein Mittel. Hier – da habt Ihr ein Stück, zwei Livres tournois; wollt Ihr noch einmal so viel verdienen, so sorgt dafür, daß ich zu dem Gefangenen kommen und ihn untersuchen darf.“

„Ah, Ihr seid der Doctor Colot,“ grins’te der Scherge, „ich kenne Euch wohl. Geht mit mir.“

Bei der Bekanntschaft mit dem Häscher, und auf eine Empfehlung des Apothekers hielt es für den Arzt nicht schwer, in das Gefängniß zu gelangen. Der arme Sünder saß in einem niedrigen Gewölbe. Ein schmales Fensterloch ließ den spärlichen Lichtstreifen hereinfallen, der das feuchte Behältniß nur an einer Stelle matt erleuchtete. Der Wilddieb ruhte auf einem Steine, den man mit schlechter Wolldecke bekleidet hatte, sein linker Fuß war durch eine starke Kette an die Wand gefesselt. Als der Doctor mit dem Schließer in die Zelle trat, suchte der Gefesselte sich zu erheben, fiel aber mit lautem Stöhnen auf sein hartes Lager zurück.

[747] „Was ist Dir, Mann?“ fragte Colot begierig. „Du scheinst durch heftigen Schmerz zu leiden. Ich bin ein Arzt, rede.“

Der Wilddieb heftete seine Augen auf den Fragenden, dessen Züge er in dem Halbdunkel nicht zu unterscheiden vermochte. „Herr,“ stöhnte er, „ich leide furchtbar. Die Flucht, die Mißhandlungen und vor Allem der schreckliche Ritt hieher haben mich fast getödtet. Ein rasender Schmerz zerreißt meine Eingeweide. Schon oft plagte es mich also, aber die klugen Bruder im Dorfe linderten das Weh. Sie meinen, ich trage einen Stein in mir, und wollten ihn durch Zauberei vertreiben.“

„So laßt mich untersuchen,“ rief der Arzt schnell.

„Was soll’s?“ sagte der Gefangene. „Ich muß ja doch dran, laßt mich immer heulen. In zwei Tagen ist Alles vorüber.“

„Wer weiß? wer weiß?“ entgegnete Colot, in dessen Hirn sich ein Plan gestaltete. „Laßt mich erst sehen, was zu machen ist.“

„Soll ich eine Leuchte holen?“ fragte der Schließer.

„Nein. Ich kann meiner Hand trauen.“

Der Arzt untersuchte nun sorgfältig den Wilddieb. Seine Hand hatte bald die Ursache des Leidens entdeckt. Während dessen schrie der Gefangene immer lauter und zuckte bei jeder Berührung des Doctors. Colot zitterte vor Erregung, denn der Missethäter trug wirklich jenes Leiden in sich, dessen Beseitigung in kunstgerechter Weise der Arzt möglich machen konnte.

„Ihr seid auf jede Art dem Tode verfallen, wenn Euch nicht Rettung wird,“ sagte er zu dem Wilddiebe. „Kommt Ihr vor den Richter, so tödtet man Euch; aber wenn Ihr auch selbst frei ausgehen solltet, Ihr müßt an dem Stein, der in Eurem Körper sitzt, zu Grunde gehen.“

Der Gefangene wimmerte vor Schmerz und Angst.

„Ich will Euch einen Vorschlag thun,“ fuhr Colot fort. „Ich besitze wunderbare Instrumente, mit denen ich es vermag, den quälenden Gegenstand aus Eurem Körper zu entfernen. Es ist ein Verfahren auf Leben und Tod, noch hat Niemand die geheimnißvolle Operation vollbracht, noch hat sich kein Mann gefunden, der sich unter das Messer begeben wollte. Wenn Ihr nun unter der Bedingung Eure Freiheit erhieltet, daß Ihr jenen gewagten Schnitt an Euch thun lassen wollt, würdet Ihr Euch dann meinem Messer anvertrauen?“

Der Wilddieb zauderte.

„Bedenkt es wohl. Schreckliche Qualen erwarten Euch durch des Henkers Hand, sie sind noch ärger als die, welche das Operirmesser verursacht. Ich glaube Euch die Freiheit und die Heilung versprechen zu können, wenn Ihr einwilligt, und eine gute Belohnung soll Euch außerdem nicht fehlen. Nur zwei Tage und die Henker verrichten ihr Werk.“

Der Gefangene raffte sich empor. „Sei es denn, Meister,“ rief er. „Wenn Ihr mich retten könnt, so versucht Eure Kunst an mir. Soll ich verrecken, so geschehe es lieber durch Eure Hand, als durch die des Henkers.“

Colot verordnete nun schnell einige Mittel, schrieb ein Verhalten vor und verließ das Châtelet.

Er kannte den Arzt König Ludwig’s des Elften, den Angelo Catto. Eiligst suchte er ihn auf. Lange Zeit mußte er sprechen, erläutern, auseinandersetzen. Glücklicher Weise gehörte der Doctor Angelo nicht zu den Kurzsichtigen, und obgleich er eine Regung des Kunstneides schwer zu unterdrücken vermochte, überwand doch die Achtung vor der Wissenschaft das kleinliche Hemmniß. Noch am Abend dieses Tages ließ der Arzt dem Herrscher melden, daß er ihm einen Genossen vorstellen wolle, der eine neue, bisher nur wenig bekannte Operation zu machen entschlossen sei, deren Ausführung von dem Machtspruche des Monarchen abhänge.

Ludwig der Elfte liebte, trotz aller politischen Intriguen und Wirren, in die er sich stürzte, dennoch die Wissenschaft. Er hielt namentlich die Aerzte sehr hoch, weil er stets vor dem Tode bebte. Der König war durchaus nicht feig, sondern zeigte im Gegentheil die größte Kaltblütigkeit, Verwegenheit und Todesverachtung in allen Gefahren, nur das Hinsiechen an einer Krankheit, die Gewißheit, daß er einem Leiden nicht entrinnen könne, war ihm entsetzlich. Er hielt es für höchst nothwendig, jede neue Curmethode zu begünstigen, weil er sich stets vorspiegelte, das Leiden, dessen Heilung irgend eine pedantische Rücksicht verhindere, müsse ihn, den König, heimsuchen.

Colot baute fest darauf, noch mehr auf den Charakter Ludwig’s, der an allen schrecklichen, außergewöhnlichen und blutigen Dingen besonderes Interesse fand. Er vertrieb sich oft genug die Zeit damit, kleinere Thiere durch größere, zerreißen zu lassen, oder ließ sich Folterinstrumente beschreiben, oder erfand Schreckmittel für Gefangene; dabei war er eifersüchtig auf seinen Ruhm und sah es gern, wenn neue Erfindungen auftauchten, die seine Regierungsjahre dereinst berühmt machen konnten.

Als daher Catto ihm die Mittheilung machte, willigte er sogleich ein, den fremden Arzt zu sehen, und befahl, daß derselbe ihm einen kurzen Vortrag über das neue Verfahren halten solle.

Der König wohnte im alten Louvre, in jenem Theile, der heute nach der Wasserseite zu gelegen ist. Colot harrte auf den Ruf seines Collegen im Vorzimmer, welches durch verschiedene Leibwachen und Pagen bevölkert war. Endlich rief ein Officier des Königs ihn mit Namen und der schlichte Landarzt trat in des Herrschers Gemach.

Der König saß in einem Lehnstuhle. Er hatte einen grünen, mit Fuchspelz wattirten Schlafrock an, auf seinem Haupte trug er eine schäbige, hohe Filzmütze, an welcher einige zwanzig bleierne und silberne Heiligenbildchen befestigt waren. Um den Hals hing ihm eine Schnur Amulets. Seine Füße steckten in langen, spitzen Schnabelschuhen. Der Schuh am rechten Fuße war schwarz, der des linken gelb gefärbt. Sein markirtes, boshaftes Gesicht zeigte Neugierde und Mißtrauen, als er den Eintretenden anstierte.

„Ihr sollt ein sonderbares Verfahren entdeckt haben, den sogenannten Menschenstein zu entfernen aus dem Körper,“ schnarrte er. „Aber ich glaube noch nicht recht daran. Bisher war das ein Geheimniß.“

„Das ist es auch noch, Sire,“ sagte ruhig Colot. „Nur bin ich im Besitze desselben.“

„Ihr wollt es an dem Wilddiebe von Meudon versuchen. Gut. Kommt der Schurke lebendig unter Euren Messern hervor, so mag er in des Satans Namen laufen.“ Die Hand des Königs fuhr bei diesen Worten an die Mütze, wo sie die geweihten Bilder berührte. „Wie ist denn nun Euer Verfahren?“

„Wenn ich das verschweige, so werden Ew. Majestät nicht zürnen,“ entgegnete Colot unerschrocken. „Ich hätte es schon längst veröffentlicht, wenn ich es eben nicht geheim halten wollte. Genug, daß ich mich für das Gelingen verbürge.“

„Ihr seid ein dreister Mann. Pasques Dieu!“ rief Ludwig. „So kurz zu sprechen mit mir. Wenn ich nun Eure Bitte abschlage? Euch hinaus weise? Euch als einen Schwarzkünstler verurteilen lasse?“

„Dann schaden Sie der Menschheit und – wer kann es wissen? sich selbst vielleicht, Sire. Vor einem Leiden ist Niemand sicher, der sterben muß.“

Ludwig fuhr erschrocken auf. Er schoß einen wahren Basiliskenblick auf den Arzt. „Olivier, Tristan, André – kommt!“ rief der König. Die Gerufenen traten ein. Der König erhob sich und ging zu einem Tische.

„Aber Catto hat mir von Instrumenten gesagt, die Ihr gefertigt für Euren Gebrauch, diese werdet Ihr doch zeigen?“ sagte er.

Colot verneigte sich. „Sie sind zu Euer Majestät Ansicht bereit,“ versetzte er, seine Cassette hervorholend. Er stellte sie auf den Tisch und öffnete den Deckel. Auf einer Unterlage von schwarzem Sammet sah man eine Anzahl wunderlich geformter Messer, kleiner Zangen, Lanzetten und zwei löffelartige Instrumente, deren Anwendung vollständig räthselhaft erschien. Der König hielt mit der Linken das Amulet umklammert, nahm aber mit der andern Hand die blitzenden Messer. Er betrachtete mit sichtlichem Wohlgefallen die haarscharfen Spitzen und Schneiden, klappte mit der Zange und schnitzte mit den Lanzetten.

„Welches verrichtet nun den Hauptdienst?“ sagte er. Colot zeigte die wichtigsten Messer.

„Sehr scharf – sehr leicht und gut zu handhaben, Olivier,“ sagte er zu dem Günstlinge. „Man möchte selbst einmal das Ding versuchen.“ Er fuhr mit dem Messer durch die Luft. „Hei – das muß eine Menge Blut geben. Ihr werdet sehen, der Bursche wird gewaltig schreien. Ihr laßt ihn doch binden?“

„Es wird nothwendig sein, Sire,“ entgegnete der Arzt.

Der König lächelte seltsam. „Wie nennt Ihr Eure Instrumente?“

„Die hohe Geräthschaft, Sire.“

[748] Colot theilte nun noch Einiges über die Zangen mit, ohne sein Verfahren zu entschleiern. Nach und nach wurde der König immer stiller, aufmerksamer. Als der Arzt geendigt hatte, forderte Ludwig Pergament und seine Rohrfeder. Er fertigte eigenhändig die Begnadigung für den Wilddieb aus, falls derselbe aus der Operation des Meister Colot lebend hervorgehen sollte.

„Wenn Alles vorüber ist, bringt mir Bescheid, Catto,“ sagte der König. „Germain Colot, ich bleibe Euch gewogen.“ Er winkte mit der Hand und die beiden Aerzte traten aus dem Zimmer. Colot war glücklich, die Erlaubniß und das Versprechen erhalten zu haben. Er eilte sofort in das Châtelet.

Am folgenden Morgen erschien er mit drei Gehülfen des Baders vom Platze St. Gervais im Gefängnisse. Der Wilddieb zitterte, als der Arzt eintrat, denn was er leiden sollte, war freilich mit den Qualen der Folter zu vergleichen. Germain Colot ließ ein Polster bringen, auf dieses ward der Gefangene gelegt und damit in ein helles Gemach getragen. Hier angekommen mit seinem Arzte und den Gehülfen, wurden seine Arme und Beine gebunden. Colot empfahl Ruhe und entdeckte ihm, daß ein Bruder vom Orden des heiligen Bernhard während der Operation die Gebete für ihn sprechen werde. Noch einmal prüfte der Arzt seine Werkzeuge, dann trat er schnell zu dem Leidenden. „Seid Ihr bereit?“ rief er.

„Im Namen des dreieinigen Gottes – ich bin es,“ antwortete der Wilddieb.

„Haltet fest,“ befahl Colot den Gehülfen. Sie drückten die Schultern des Gebundenen nieder und faßten seinen Kopf.

„An’s Werk im Namen des Himmels!“ sagte Colot. Er schloß die Thür.

Draußen harrte eine neugierige Menge, Aerzte und Laien,. Mönche und Ritter. Sie vernahmen das Wimmern, Alle warteten ängstlich des Erfolges. Nach geraumer Zeit öffnete, Colot die Thür. Sein Gesicht war geröthet, Schweiß tropfte hernieder. Er hielt sein Messer in der Hand und rief: „Es ist gelungen, der Mann lebt, ist befreit und wird hinausziehen in die weite Welt – ein freier Mann.“

Alles umringte den Arzt, und Angelo Catto eilte sofort zum Könige, der mit sichtlichem Interesse den Bericht anhörte. Der Wildschütze aber zog nach seiner Heilung wieder frei hinaus in die Wälder von Meudon. Colot übte seit dem 29. November 1475 den Steinschnitt unter Schutz des Privilegiums zum Wohle der Menschheit aus. Auch er hielt sein Verfahren geheim und lehrte es nur den Mitgliedern seiner Familie. Nach ihm ward Lorenz Colot mit dem Titel eines königlichen Lithotomisten von Heinrich dem Zweiten angestellt, und das Geheimniß blieb in der Familie erblich bis zum Tode Franz Colot’s, der im Jahre 1706 starb. Auf ihn folgte Tolet; aber schon hatte die Wissenschaft so bedeutende Fortschritte gemacht, daß das Geheimniß der Colots ihrem Nachfolger keinen Nutzen brachte; durch die Forschung war es zum Gemeingut geworden.




Ein Kleinod aus deutscher Vergangenheit.

„War denn dieses Thal durch Jahrhunderte verzaubert? Oder ist der Kyffhäuser in diesen verborgenen Winkel versetzt und streckt nun die wiedererstandenen Thürme seiner Kaiserburg auf dem Berge dort zum alten deutschen Himmel empor?“

Das Topplerschlößchen.

So hat wohl Mancher schon gedacht, den sein Weg zum ersten Mal in den Taubergrund führte und vor dessen Blicken sich dann in der Thalwindung hinter Detwang die alte Berg- und Thürmestadt Rothenburg ob der Tauber erhob. Man glaubt sich einer der großartigsten Fürstenburgen der Ritterzeit zu nähern und täuscht sich zu seiner freudigsten Ueberraschung, denn wir betreten, wenn wir Graben, Wall und Thor, Alles Zeugen einer hohen Vergangenheit, hinter uns haben, eine so, rein und vollkommen mittelalterliche Stadt, wir wandeln in Gauen, denen so gar nichts von neuer Zeit anklebt, in welchen der steinerne Hintergrund des mittelalterlichen Bürgerlebens sich so stattlich darstellt und so gut erhalten hat, daß wir unwillkürlich an den Fenstern die Köpfe unter großen Halskrausen suchen und beim Rathhause nach der Schaarwache spähen, die wir von Rechtswegen dort zu sehen erwarten mit blanken Harnischen und langen Spießen. Wie gern wir auch in das Lob Nürnbergs einstimmen, wenn es alte deutsche Städtepracht zu preisen gilt, so verdient doch diese weit kleinere fränkische Stadt in Bezug auf Reinheit mittelalterlichen Charakters ihrer äußeren und inneren Erscheinung den Vorzug selbst vor der alten Reichszierde des Frankenlandes.

Je unverantwortlicher fast überall und noch bis diesen Tag mit unzähligen Baudenkmalen der deutschen Vorzeit umgegangen worden ist, um so mehr Achtung sind wir dem Geist einer Bürgerschaft schuldig, welcher offenbar seit Jahrhunderten stets die Schonung der Werke der Väter eine Pflicht der Ehre war, denn ohne ein solches Pietätsgefühl würde auch die Art und Weise der Erhaltung des Alten, wie der Rothenburger Mauergürtel sie zeigt, ganz unmöglich gewesen sein.

Wir haben nämlich für die Geschichte des Burgen- und Festungsbaues von den Zeiten der Hohenstaufen bis zum dreißigjährigen Kriege in ganz Deutschland schwerlich noch ein zweites so vollkommen alle Uebergänge bewahrendes Stadt-Muster, wie dieses Rothenburg. Während die ältesten Umfassungsmauern noch aus Kaiser Rudolf’s Tagen herrühren, seit welchen der Umfang der Stadt sich nicht mehr verändert hat, setzte jeder Fortschritt in der Befestigungskunst dem Mauerkranze neue Blätter an, Thurm um Thurm wuchs, bis endlich vierzig Thürme die Mauer krönten, und als vor dem schweren Geschütz der Städte das Burgen- und Raub-Ritterthum in den Staub sank, prangte auch Rothenburg mit seinen Rundbasteien und vorgeschobenen, durch ihre Stärke den Feindeskugeln trotzenden Mauerfäusten. Und so steht die Stadt, ein Bild der Bürger-Ritterlichkeit, auf ihrem Berge, von welchem sie etwas über dreizehnhundert Fuß hoch auf das zwar liebliche, aber eng gewundene Thal hinab und auf eine mehr als tausendjährige Geschichte zurückblickt.

Schon im sechsten Jahrhundert rühmte sich der Berg einer „Burgstraße“, und auf das Wappen einer Dynastie war zuerst der Name Rothenburg geschrieben: ein Grafengeschlecht saß in der Burg auf dem Felsenrücken, welcher die Stadt überragt. Erst nach dem Aussterben desselben und nachdem von den Hohenstaufenkaisern namentlich Friedrich der Rothbart zu der Einsicht gelangt war, daß nur durch die Macht eines freien Bürgerthums der

[749]

Rothenburg ob der Tauber.
Klinger-Bastei. St. Jacob. Dominikaner Kloster. Altes Burg-Thor. Spital.
Der Weisse-Thurm. Markt-Platz. Koboldzeller-Thor.
XA. W. Aarland. Richard Püttner. 67.

[750] Uebermuth des Reichsfürsten gebändigt werden könne, begann das selbstständige Leben von Rothenburg. Zur gleicher Zeit mit Regensburg, Reutlingen, Speier, Nürnberg und vielen anderen schwäbischen, fränkischen und rheinischen Städten erhob es der Kaiser zur freien Reichsstadt, und die Schlagfertigkeit der Bürger sorgte dafür, daß die Stadt Herrin eines ansehnlichen Gebiets wurde.

Letzterer Umstand allein macht es uns erklärlich, wie diese an sich so kleine Stadt, welche in ihren besten Tagen nie über sechstausend Einwohner zählte, die Mittel erschwingen konnte zu den noch heute bewunderungswürden Kirchen- und Rathhausbauten, die wir außerdem in Deutschland nur in den durch ihre eigene Größe mächtigen, oder in fürstlichen und bischöflichen Sitzen wieder finden. Wie der jetzt so öde Marktplatz von da an nicht selten Enthaltung kaiserlicher Herrlichkeit sah, so erinnern uns noch zwei Baudenkmale an die höchstes Glanzzeit der Stadt und leider auch an den Undank der regierenden Geschlechter: das alte Rathhaus, welches sich hinter den Prachtbau des neuen versteckt, und die thurmartiges kleine Burg, welche wir in besonderer Abbildung (S. 748) beifügen.

Als nämlich gegen das Ende des vierzehnten Jahrhunderts in Südwestdeutschland der große Freiheitskampf der Städte gegen die Fürsten ausbrach, der in den Siegen der Schweizer über Oesterreich – Sempach! – seinen höchsten Triumph feierte, besaß Rothenburg in seinem Bürgermeister Heinrich Toppler einen der tüchtigsten und kühnsten Feldhauptleute, jener Zeit. Er führte den Kampf gegen den umwohnenden Adel und selbst gegen den Bischof von Würzburg mit solchem Glück, daß er das Stadtgebiet über fast sieben Quadratmeilen mit einhundertdreiundsechszig Dörfern und vierzig Burgen ausdehnte. Auf zwanzig Stunden weit war dieses Gebiet mit Gräben umzogen und mit Thürmen zur Verteidigung versehen, und Toppler herrschte außerhalb der Stadt noch über achtzehntausend Landesunterthanen. So hoch angesehen war der Mann, daß die schwäbischen Städte ihn zu ihrem Feldobersten ernannten, als welcher er dem Herzog Ulrich von Würtemberg die siegreiches Schlacht bei Reutlingen lieferte. Den Raubadel vertilgte er, soweit sein Arm reichte. Die Chronik von damals erzählt, daß „1399 Raban von Ernberg, Fritz Pfaffenangst und der junge gleißende Wolf“ gefangen, und auf dem Markt zu Rothenburg enthauptet worden. Selbst dem Kaiser bot er Trotz. Wenzel forderte viertausend Gulden von der Stadt und als diese ihm verweigert wurden, schrieb er die seine gemeine Natur gar deutlich kennzeichnenden unkaiserlichen Zeilen zurück: „Buser vngetrewen zu Rotenburg, die dem Reiche ungehorsam seyn. Der Teufel hub an zu scheren ein Saw, vnd Sprach also vil gescheyes und wenig wolle. Rex.“ Später ließ dieser Kaiser sich nicht nur mit eilfhundert Gulden versöhnen, sondern war oftmals des Bürgermeisters Gast, weshalb der Volkswitz das Thurmschlößchen Toppler’s, wo Wenzel seine Tage und Nächte in Faulheit und Schlemmerei verbrachte, den Kaiserstuhl und das Faullenzen „Wenzeln“ nannte, wie es dort noch heute heißt.

Es liegt im menschlichen Wesen, daß ein Mann, der mit dem Befehlswort des Feldherrn so Großes vollbracht, auch in städtischen Angelegenheiten daheim den Commandoton annahm; und wenn wohl auch die Bürger, im Stolz auf die Macht ihrer Stadt, die sie ihm verdankten, von ihrem Bürgermeister eine etwaige hochfahrende Art duldeten, so muß er doch in den Reihen der Patricier um so schärfere Feindschaft gegen sich erregt haben. Seine Rathsgenossen griffen zu dem oft bewährten Mittel, einen gewaltthätig Hochstrebenden zu verderben: sie erklärten die Freiheit durch ihn gefährdet, ja, man beschuldigte ihn sogar, mit dem Burggrafen von Nürnberg um die Herrschaft über Rothenburg gewürfelt zu haben. Offenbar war es aber kein Rechts-, sondern ein Racheact, daß man den Helden so vieler Siege und den Träger des Ruhms und des Glanzes seiner Vaterstadt in einem geheimen Gefängniß des alten Rathhauses lebendige einmauern und verhungern ließ. Das geschah im Jahre 1408.

Die Strafe folgte der Unthat auf dem Fuße, denn um dieselbe Zeit wurde die Stadt von jenem Nürnberger Burggrafen, Friedrich dem Hohenzoller, gestürmt und erobert. Ihrer Selbstständigkeit gewiß nicht ohne schwere Opfer zurückgegeben, wurde sie in die endlosen Kämpfe der Städte gegen Fürsten und Adel verwickelt, welche unter Kaiser Friedrich dem Dritten das Reich verwüsteten, und nur eine geringe Entschädigung für all’ das Elend war das glänzende Schauspiel, als dieser Kaiser auf dem Markte zu Rothenburg den König Christian von Dänemark mit Holsteins Starmarn und Dithmarsen belehnte und selbst ein türkischer Prinz, Bajazet, zu den Zuschauern dieses Staatsacts gehörte.

Auch der innere Friede Rothenburgs war dahin; die Zwietracht zwischen der Bürgerschaft und den sogenannten Geschlechtern kam endlich zum Ausbruch, und ein Wollenweber, Namens Spieß, war es, der im Jahre 1450 sich an die Spitze der Zünfte schwang und die Geschlechter aus der Stadt vertrieb. Und wie im Ausgang des Mittelalters tritt auch an der Pforte der neueren Zeit Rothenburg sofort in den ersten großen Kampf ein: es war einer der Krater der verheerenden Lavaströme des Bauernkriegs.

Wie an vielen anderen Orten, und namentlich in Reichsstädten, hielt auch hier der aristokratische Rath noch an dern alten Kirche fest, während das Volk bereits den „Prädicanten“ lauschte und muthige Priester ihr Gotteshaus der neuen Lehre öffneten. In Rothenburg wurden der Prediger Dr. Johann Deutschlin und ein blinder Barfüßermönch, Hans Schmid, genannt der Fuchs, die ersten Verbreiter der Reformation. Zu ihnen gesellte sich der aus Sachsen vertriebene Bilderstürmer Karlstadt, der zuerst Bürgern und Bauern predigte, daß Luther die neue Lehre, die dem Volke die Freiheit bringen solle, zu einer Fürstensache erniedrige und daß man ohne Luther das Ziel verfolgen müsse, und Henselin, genannt der Pauker, ein Prädicant von Nicklashausen, trat hier mit seinem socialistischen Evangelium auf. An ihrem Feuereifer entzündete sich rasch genug die Flamme, die bald „die hellen Haufen“ ergriff und in einen jammervollen Vernichtungskampf führte. Der „Rothenburger Haufen“ eines Menzinger und Anderer, und die „Rothenburger Landwehr“ werden in der Geschichte dieses Krieges viel genannt, ebenso das „Rothenburger Geschütz“, mit welchem der größte und edelste Held der Bauern, Florian Geyer, noch tapfer focht, nachdem der Sieg der Fürsten bereits bei Königshofen in fürchterlicher Mordschlacht errungen war. „Dem Erzbischof von Trier, dem Pfalzgrafen und den anderen Fürsten dünkte es ergötzlich, gleichwie eine Schweinhatz“ – so erzählt ein zeitgenössischer Geschichtschreiber in pfälzischen Diensten. Mehrere Tausende der dem Gemetzel entronnenen Bauern flohen den Taubergrund hinauf bis Rothenburg. Von einem Wald gedeckt wehrte sich die Mehrzahl bis zum letzten Mann; noch viele Jahre später fand man Massen von Todtengebeinen zwischen Bäumen und Büschen. Die Gefangenen, darunter Menzinger, wurden auf dem Markte zu Rothenburg hingerichtet. Karlstadt, der Miturheber des großen Unheils, hatte sich heimlich in der Stadt zu halten gewußt bis zum Ende des Kriegs; als die Rächer nahten, ließ ein Fräulein ihn des Nachts über die Mauer hinab in’s Freie.

Durch eine Kaisererinnerung geweiht wurde auch das neue Rathhaus. Als Karl der Fünfte den Schmalkaldischen Krieg siegreich beendigt hatte, öffnete Rothenburg ihm gehorsam die Thore. Der hohe Herr litt schwer am Zipperlein und mußte zwölf Tage hier Stand halten. Im ersten Erker sitzend mochte er grimmig genug darein schauen, als er von da die Huldigung der ketzerischen Bürgerschaft entgegennahm. – Und wer sich durch das Klingerthor hinausbegiebt, wo jetzt eine breite Landstraße nach Mergentheim führt, kann sich auch den steilen Weg betrachten, auf welchem Karl’s des Fünften Nachfolger, Kaiser Ferdinand der Erste, einst mit seinem stattlichen Gefolge zu Thal geritten ist.

Wenn zu irgend einer Zeit, so war während des dreißigjährigen Krieges der Zinnengürtel Rothenburgs gefährlichster Schmuck: er zog Freund und Feind an, um dort Schutz oder Kampf, Hülfe oder Beute zu suchen. Kaiserliche und Schweden berannten häufig und erstürmten mehrmals die Stadt; am tapfersten vertheidigte sie sich gegen Tilly, „den alten Teufel“, wie Gustav Adolf ihn nannte. Dreißig Stunden ohne einen Ausblick der Ruhe kämpften die Bürger und die geringe schwedische Besatzung auf den Wällen, so daß nach der Uebergabe nur wenige der Männer sich noch aufrecht halten konnten. Jedermann sah für die Stadt Magdeburg’s Schicksal entgegen. Da warfen die schwangeren Frauen sich Tilly zu Füßen, und umfaßten die Hufe seines Rosses, und er ließ Gnade ergehen, indem er den Seinen zuherrschte: „Laßt die Hunde leben!

Die Chronik fügt ein freundlicheres Bild hinzu. Nach ihrem Berichte hatte Tilly sämmtliche Rathsherren zum Tode verurtheilt und dem Bürgermeister Bezold geboten, in eigener Person den [751] Scharfrichter herbeizuholen. Während aber letzterer sich hartnäckig weigerte, dem Bürgermeister zu folgen, benutzten die Verurtheilten klug die dadurch gewonnene Frist. Sie credenzten dem Sieger den großen Rathspocal mit ihrem Besten, und diese Aufmerksamkeit soll Tilly so menschlich gestimmt haben, daß er Allen Begnadigung verhieß, wenn Einer unter ihnen den Pocal auf einmal zu leeren vermöge. Der Altbürgermeister Nusch war der Mann, welcher sich den gewaltigen Trunk zutraute, er setzte das Gefäß tapfer an und trank es mit „Gottes Hülfe“ leer bis zur Nagelprobe. Dieser Pocal wird noch heute aufbewahrt, er hält zwölf Schoppen bairisch gut, aber „es schadete dem Altbürgermeister nichts“, sagt die Chronik. Die Freudenbotschaft traf den Bürgermeister Bezold unterwegs, und die Gasse, wo dies geschah, heißt seitdem bis diesen Tag das Freudengäßchen. Eine leidliche Brandschatzung war Alles, was die Stadt nach dem schweren Schrecken zu tragen hatte. – Nahe am Ende des Krieges, 1645, eroberten auch noch die Franzosen den nach all den Drangsalen endlich arm und hinfällig gewordenen „festen Platz“.

Wie das gesammte Volksthum in Deutschland lag insbesondere das reichsstädtische Leben nach jenem Kriege eines ganzen Menschenalters zum Erbarmen darnieder und sank immer tiefer in eine für uns kaum noch faßbare politische Erbärmlichkeit. Rothenburg machte davon keine Ausnahme, und die Grade seines Sinkens bezeichnen zwei kriegerische Vorfälle: im spanischen Erbfolgekriege wurde es sogar von der Reichsarmee erobert, und im siebenjährigen Krieg genügte die Keckheit eines preußischen Husarencornets, um an der Spitze von fünfundzwanzig Mann und einem Trompeter und mit dem alleinigen Aufwand einiger Pistolenschüsse dieser alten Heldenstadt eine Brandschatzung von vierzigtausend Gulden abzuängstigen! – Dennoch dürfen wir nicht verschweigen, daß diese Versunkenheit weniger in den bürgerlichen und unteren Volksschichten, als in den oberen Kreisen und den aus ihnen hervorgegangenen Behörden grassirte; auch dafür lieferte Rothenburg noch im letzten Jahre des vorigen Jahrhunderts den Beweis. Als des französischen Generals Moreau flinke Schaaren damals über den Oberrhein brachen, von Sieg zu Sieg zogen und selbst das unbezwingliche Hohentwiel von seinem Commandanten ohne Schuß übergeben wurde, erschien auch vor Rothenburg ein französisches Streifcorps. Schon war der Rath abermals bereit zu capituliren und Brandschatzung zu bezahlen, als die Bürger sich mannhaft dazwischen legten und den Feind mit Mistgabeln von den Thoren verjagten.

Wenige Jahre später und noch vor dem Untergange des alten deutschen Reichs ging Rothenburg’s Selbstständigkeit unter, Stadt und Gebiet wurden 1808 Baiern einverleiht. Seitdem verscholl ihr einst so ehrenvoller Ruf, sie ging auch in der Bevölkerung mehr zurück als vorwärts, und da keine Eisenbahn sie in ihrem Tauberthal aufsuchte, so war es nicht zu verwundern, daß die norddeutschen Soldaten, welchen der Donner der Kanonen von den Gefechten des Jahres 1866 an der Tauberlinie voraus ging, dort das herrlichste Stuck deutschen Mittelalters für alle deutschen Alterthumsfreunde und Jünger der architektonischen Kunst gleichsam neu entdeckten. Bereits hat ihre Wallfahrt dorthin begonnen, und wir können nur wünschen, daß dieselbe sich fort und fort mehre, daß aber auch die Bewohner von Rothenburg den Schatz ihrer alten Bauwerke als ein deutsches Kleinod vor jedem Eingriff der Zerstörungs- und Modernisirungssucht hüten mögen. Die Befestigungs- und Prachtbauwerke Rothenburg’s verdienten unter nationalen Schutz gestellt zu werden.

Um unseren Abbildungen einige Bemerkungen beizufügen, kehren wir noch einmal in die Stadt zurück. Dem Wink der beiden höchsten Thürme folgend gelangen wir zur St. Jacobskirche, einem Prachtbau im reinsten gothischen Style. Die Entstehungszeit desselben fällt in die Jahre von 1373 bis 1443. Im Innern wird der Kunstfreund ganz besonders auf die meisterhaften Holzschnitzereien, die Glasmalereien und die Gemälde von Dürer, Wohlgemuth und Herrlein aufmerksam gemacht. Diese Kirche ist neuerdings durch Heideloff in allen beschädigt gewesenen Theilen wiederhergestellt worden. Auch die St. Wolfgangskirche und die zu St. Johann bieten Sehenswerthes. Ehedem besaß die Stadt zehn Kirchen; davon sind jedoch nur sieben, fünf für den protestantischen und zwei für den katholischen Gottesdienst, erhalten. Von den weltlichen Gebäuden zeichnet das neue Rathhaus sich durch Reichthum und Geschmack der Architektonik aus. Bürgerwohnungen, die durch ihren reinen mittelalterlichen Charakter den Blick des Sachverständigen fesseln, bietet jede Straße und jedes Gässchen. Auch der hundert Fuß hohe Wasserthurm ist der Beachtung werth; ein Mönch legte im fünfzehnten Jahrhundert die Wasserkunst an, die durch Druckwerke aus der Tauber verschiedene Brunnen die Stadt speist.

Rothenburg gehört zu den Orten unseres Vaterlands, die schwer darunter leiden, daß sie vom großen Weltverkehr ausgeschlossen sind. Die etwa fünftausend Bewohner der Stadt sind auf örtlichen Erwerb angewiesen, während ihnen Capital und Kunst- und Gewerbfleiß genug zu Gebote steht, um eine höhere Industriestufe einzunehmen und den alten rührigen Kampfgeist auf lohnenderem Felde zu bewähren.

Fr. Hfm.
Blätter und Blüthen.

Der Specialdraht. Welche gewaltige Umwälzung der elektrische Telegraph auch in unserer Tagespresse hervorgebracht hat, bedarf keiner Erwähnung; eine Zeitung ohne die Mitwirkung von Funken und Draht ist jetzt eben so undenkbar wie eine Zeitung ohne Setzer und Drucker; unbedeutend aber ist die Rolle, die unser deutscher Journalismus zur Zeit noch den Telegraphen anweist, den wahrhaft ungeheuerlichen Diensten gegenüber, welche die amerikanischen und englischen Zeitungen von ihm fordern. Die New-Yorker Blätter namentlich leisten in dieser Beziehung Erstaunenswerthes, insbesondere während der Session des Congresses. So lange derselbe tagt, befördert der Draht Tag für Tag den Inhalt von zehn bis zwölf enggedruckten riesenhaften Zeitungscolumnen von Washington nach New-York, d. h. die Reden der Haupttheilnehmer an den Debatten, die Briefe der verschiedenen Specialcorrespondenten und die Berichte von sämmtlichen Unfällen, Verbrechen, Gerüchten und sonstigen Neuigkeiten, die man erlangen kann.

England steht zwar hinter diesen Bravourstücken zurück, indeß sind die Anstalten, welche die großen schottischen und irischen Tagesblätter machen, um ihren Lesern alles, was tagtäglich in London Mittheilenswerthes passirt, mit Blitzesschnelle zur Kenntniß zu bringen, immer merkwürdig und wunderbar genug. In London, als dem großen geistigen, staatlichen und materiellen Centrum des Reichen, besitzen drei irische und vier schottische Organe ihre sogenannten „Specialdrähte“, mit andern Worten, einen Telegraphendraht zwischen London und Dublin, oder London und Glasgow, wie nun gerade der Fall ist, dessen Benutzung von sieben Uhr Abends bis drei Uhr nächsten Morgens ausschließlich dem betreffenden Blatte zusteht. Zu solchem Zwecke vermiethen die Telegraphencompagnien ihre Drähte zu einem bestimmten hohen Preis an die Zeitungen und liefern das nöthige Telegraphistenpersonal, übernehmen aber keine weitere Verpflichtung oder Verantwortlichkeit.

Die Eigenthümer der Zeitungen selbst unterhalten in London ein ganzes Corps von Beamten. Reporter, Unterredacteure, Leitartikelschreiber, Specialcorrespondenten, sie Alle haben in London ihr Hauptquartier und jeder sein besonderes Departement, und was sie an Nachrichten gesammelt und mitzutheilen haben, das blitzt allnächtlich der Telegraph nach Schottland oder nach Irland, damit das liebe Publicum es schon am nächsten Morgen in seiner Zeitung lesen kann. Während das Parlament zusammen ist, liefert, wie man sich denken kann, Westminster die Hauptausbeute für diese Nachtarbeit. Bei wichtigen Verhandlungen werden die Reden sogar wörtlich nachgeschrieben und telegraphirt, und es ist mehr als einmal vorgekommen, daß, wenn Gladstone oder d’Israeli eine lange Rede hielten, die Setzer in Edinburgh oder Glasgow schon den ersten Theil derselben in die Form brachten, während der letzte noch gesprochen wurde. Auch ist es geschehen, dass, als 1866 Russell’s Reformbill noch in der Wagschale schwankte, die Edinburgher Redacteure der Sitzung im Unterhause beiwohnten, ihren Leitartikel darüber schrieben und in der Nacht noch nach der schottischen Hauptstadt telegraphirten, so daß er im Morgenblatte des nächsten Tages gedruckt erschien!

Man kann also sagen, daß die vornehmsten schottischen und irischen Blätter ihrem wesentlichen Inhalte nach in London geschrieben und häufig auch redigirt werden. Arbeit, Sorge und Angst, welche dabei in’s Spiel kommen, sind weit größer, als das Publicum sich vorstellt, und Alles muß mit Dampfeseile abgethan werden; die Oekonomisirung der Zeit ist hierbei eben so sehr Lebensfrage wie die Oekonomisirung des Raumes auf einem Kriegsschiffe. Oftmals entscheiden Minuten; in den ersten Morgenstunden laufen Zeit und Telegraph gleichsam um die Wette. Die kritische Periode fällt zwischen Mitternacht und zwei Uhr früh; in diesen beiden Stunden strömt der größere Theil des im Laufe des Tages eingeheimsten und verarbeiteten Materials im Telegraphenzimmer zusammen, die Beamten kommen dann nicht mehr von den Apparaten hinweg. Vielleicht hat der Premierminister um halb elf Uhr eine große Rede beim Lord-Mayor-Bankett gehalten; vielleicht ist das Opernhaus in Feuer aufgegangen, nachdem die Vorstellung beendet war; vielleicht hat Bright gegen den Schluß einer langen Nachtsitzung [752] eine heftige Attake auf d’Israeli losgelassen; vielleicht sind in Tottenham Court Road oder sonst wo eine ganze Reihe Häuser eingestürzt, gerade als sich die Bewohner derselben zur Ruhe gelegt hatten. – Ereignisse, wie sie während der Londoner Saison fast allwöchentlich sich zutragen, die brühwarm nach Dublin und Glasgow gemeldet werden müssen, wo sie das Publicum bereits beim Frühstück zu genießen wünscht. Was dem Telegraphenbureau nach Mitternacht zugeht, das ist unfehlbar allemal von Wichtigkeit, denn unbedeutendere und uninteressantere Mittheilungen werden nach elf Uhr nicht mehr expedirt.

Besitzt der Telegraphist die gehörige Geschicklichkeit, so befördert er hundertundzwanzig Worte in sechszig Secunden und schlägt so auf der vierhundert englische Meilen langen Rennbahn zwischen London und Glasgow Mutter Zeit um eine Minute – in Berücksichtigung des Längenunterschiedes der beiden Orte. Der Correspondent, welchem das Referat einer späten Rede, der Bericht von der großen Feuersbrunst oder dem herzbrechenden Begebniß, von dem geheimnißvollen Vorfall oder dem brutalen Anfall auf eine vornehme oder gar „hohe“ Person obliegt, sitzt neben dem Telegraphisten am Apparat und schreibt seine rührenden oder erschreckenden Mittheilungen mit Hochdruckgeschwindigkeit nieder. Sobald er eine Seite gefüllt hat, reicht er sie dem Telegraphisten zu, um sie dem Drahte zu übermitteln, so daß, während Seite Zwei auf das Papier geworfen wird, Seite Eins bereits ihre Bestimmung erreicht hat, und so fort, bis die ganze Geschichte telegraphirt ist. In Glasgow hat die Redaction auch ihren Beamten auf dem Telegraphenbureau stationirt, der Seite für Seite in Empfang nimmt und in die Druckerei befördert. Auf diese Weise ist in vier Minuten, nachdem der Reporter in London seine Arbeit beendet hat, schon die Ueberschreibung der Depesche in Glasgow bewerkstelligt, eine Stunde darauf steht der Bericht gedruckt, und mit den Morgenzügen der Bahnen geht die Zeitung, welche ihn enthält, in die Welt hinaus. Drängt die Zeit noch mehr, so dictirt der Berichterstatter seinen Artikel unmittelbar dem Telegraphisten und mittelbar einem Collegen, der vierhundert englische Meilen davon in Glasgow oder Edinburgh „in stiller Mitternacht“ am Arbeitstische Wacht hält.

Aus diesem Allen scheint hervorzugehen, daß die Redactionen in Schottland und Irland nichts weiter zu thun haben, als das ihnen von London aus zugehende Manuscript in die Druckerei zu schicken und dafür zu sorgen, daß es rechtzeitig und so correct wie möglich in die Presse kommt. Das würde jedoch eine sehr irrige Annahme sein. Wie sorgfältig die verschiedenen Artikel auch in London verfaßt sind, wenn sie nach Glasgow oder Edinburgh oder Dublin kommen, befinden sie sich meistens in einem Zustande, für welchen man in England den technischen Ausdruck „Pie“ (Pastete) zu gebrauchen pflegt, durch die lange Reise oft völlig durcheinander geschoben und aus dem Zusammenhange gerissen; Sätze sind ausgelassen, Ueberschriften und Rubriken fehlen und das Ganze ist ohne Anordnung und ohne Interpunction. In London sind zwar die Mittheilungen in einzelnen Abschnitten, Satz für Satz expedirt worden, allein in Edinburgh oder Glasgow langen sie in einer endlosen und ungeschiedenen Masse an; ein Gegenstand mischt sich mit dem andern, und die Unterredacteure, in deren Departement dies Geschäft fällt, haben in der Regel die größte Mühe und müssen allen ihren Scharfsinn aufbieten, das Chaos zu entwirren und den Text in die rechte Verfassung zu setzen. Börsenschlußcourse der Fonds; gefühlloses Benehmen eines Waliser Pfarrers; Tod eines Cabinetministers; Gerücht vom Abgang des Premiers; Verzeichniß der Fastenprediger; Brutalität in Whitechapel; Einsturz eines Theils der Themseeinfassung; verwegener Straßenraub; Schiffbruch in Cornwallis; Hinrichtung in Preston – so läuft es wild durcheinander, gleich den Phantasien eines Fieberkranken, und der geplagte Unterredacteur in seinem dicht neben dem Setzersaale gelegenen Bureau hat kaum eine halbe Stunde Zeit, das tolle Durcheinander zu lichten und die gehörige Ordnung herzustellen!

Die Arbeit wird dadurch noch mehr erschwert und verwickelt, daß von Zeit zu Zeit Privatmittheilungen, insbesondere von hervorragenden politischen Persönlichkeiten, auf die man Rücksicht zu nehmen hat, einlaufen und sofort zum Abdruck kommen müssen. So läßt vielleicht Gladstobe oder Bright, mitten in der Hitze einer Debatte, dem betreffenden Londoner Subredacteur plötzlich den Wunsch ausdrücken, „für ihn zwei Columnen Petitsatz“ behufs Erörterung dieser oder jener eben auf dem Tapete befindlichen Frage „offen zu lassen“, und somit bleibt das endgültige Arrangement des Blattes suspendirt, bis seine Darlegung eingelaufen ist. Langen im Londoner Telegraphenzimmer Nachrichten an von mehr als gewöhnlichem Interesse, so wird die Depesche, mit deren Beförderung man soeben beschäftigt ist, ohne Weiteres unterbrochen und zunächst die wichtigere Mittheilung telegraphirt. Demgemäß kommt es öfters vor, daß die Ankündigung einer Ministerkrisis oder der Bericht eines Unfalls, durch welchen zwanzig Menschen das Leben verloren haben, oder die Anzeige vom Tode eines regierenden Hauptes und dergleichen mitten aus einem Referate über das Wetter und die Ernte oder über die letzten Wollmärkte herausgeschält werden müssen.

Während der Parlamentstagung haben die Specialdrähte wahrhaft Unglaubliches zu vollbringen. Gar oft müssen sieben Columnen Debatten im Verlaufe eines Abends in Westminster stenographirt, dann umgeschrieben, hierauf nach dem in der City in Threadneedlestreet – derselben Straße, wo sich die Bank von England befindet – gelegenen Telegraphenbureau gesandt, hier telegraphirt, in Glasgow oder Edinburgh übergeschrieben, für die Presse zurecht gemacht, gesetzt, corrigirt und gedruckt werden, um in der nächsten Morgenausgabe des Blattes erscheinen zu können. Zu dieser Zeit ist der Telegraphensaal der Schauplatz von Angst, Aufregung und Spectakel. Die Verhandlungen im „Hause“ haben vielleicht bis tief in die Nacht hinein gewährt und Haufen von Manuscript fluthen bis zum Thorschluß ins Bureau, zum Theil in unleserlichem Gekritzel. Der Bote, welcher die erste Rede in der Tasche hat, ist saumselig und erscheint erst eine Stunde später als der zweite Bote mit der zweiten Rede; drei Seiten aus dem wichtigsten Theile der wichtigsten Rede des Abends fehlen ganz; neue Boten müssen danach ausgesandt werden, und dazwischen regnet es Telegramme von Glasgow und Edinburgh, daß dort die Setzer warten! Den Beamten an den dreißig Apparaten läuft der Schweiß von der Stirn; die Unterredacteure sind in Verzweiflung; Manuscriptbündel in der einen Hand, die Abendblätter in der andern, den Bleistift hinter den Ohren, das Federmesser im Munde – so rennen sie von einem Telegraphisten zum andern, roth von Hitze und Aerger, streichen hier ein paar Sätze, fügen dort welche hinzu, lassen plötzlich mitten in einem Telegramm pausiren, um geschwind ein anderes zu entsenden, und verwünschen, während das Klappern der Instrumente und das Klingeln der Glocken die Ohren betäubt, den Telegraphen als eine Erfindung der Hölle. So geht es fort, bis mit dem grauenden Morgen London erwacht und die armen Telegraphisten, ohne der Wunder zu achten, die sie vollbracht, müde und matt nach Hause und zu Bette schleichen.

Ist das Parlament aber vertagt, jagen seine Mitglieder auf den schottischen Mooren oder lungern sie am Seestrande, steht Belgravia verödet, haben die Clubs sich entleert, schweigt die Politik, alsdann hat der Specialdraht ein paar Monate gute Zeit. Selbst in dem großen Verkehrsstrom von London beginnt dann das Meer der Neuigkeiten zu ebben. Dennoch wird dem Telegraphen nicht völlige Ruhe gegönnt; die armseligste Nachricht aus den Londoner Abendblättern muß der „Special“ nach Irland und Schottland tragen. Und so geschieht es, daß häufig Mittheilungen Hunderte von Meilen gesandt und der Ehre des Druckes gewürdigt werden, die man, wären sie ohne Kostenaufwand in Edinburgh oder Glasgow selbst den Redactionen zugegangen, einfach in den Papierkorb geworfen hätte. Was thut es? – man hat doch seinen „Specialdraht“!


Das Erdbeben in Südamerika. Die Katastrophe an der Westküste Südamerika’s, deren die Gartenlaube bereits in Nr. 42 ausführlicher gedachte, hat auch eine große Anzahl deutscher Landsleute ihrer ganzen Habe beraubt und in namenloses Elend gestürzt. Ein Hülfscomité, bestehend aus den angesehensten Kaufleuten in Lima, wendet sich in einer warmen Ansprache an alle Deutschen mit der Bitte, den so plötzlich unglücklich gewordenen, deren Sympathieen für die alte Heimath bei allen Gelegenheiten, zuletzt bei den Sammlungen für die Verwundeten aus dem Kriege von 1866 sich so wacker bethätigten, hülfreiche Hand zu leisten, und durch Einsendung von Liebesgaben der schrecklichen Noth mit steuern zu helfen. Wir wollen nicht unterlassen, auch unsere Leser auf diesen Aufruf hinzuweisen, mit dem Bemerken, daß das Comité in Bremen, an dessen Spitze Herr S. M. Gildemeister (Firma J. Gildemeister u. Co.) steht, alle, selbst die kleinsten Gaben entgegennimmt und für schnellste Weiterbeförderung besorgt sein wird.

Kleiner Briefkasten.

L. B. in R. Eine ausführliche Antwort auf Ihre verschiedenen Anfragen können wir leider nicht abgeben. Ein Leitfaden zur Kenntniß der Mineralien ist von G. Ramann (in Arnstadt) erschienen, auch können wir Ihnen die dazu gehörigen Mineraliensammlungen in saubern Holzkästen sehr empfehlen, namentlich bei der herannahenden Weihnachtszeit für Schulen und Familien. Es existiren von diesen Sammlungen vier Ausgaben, achtzig Species zu 2 1/2 Thlr., hundert Species zu 4 Thlr. 3 Sgr., hundert Species größeren Formats zu 8 Thlr. und hundertundfünfzig Species zu 15 Thlr. Wenden Sie sich bezüglich Ihrer übrigen Anfragen an den Verfertiger dieser Sammlungen, Herrn G. Ramann in Arnstadt.

Den Herren E. F. Rh. in L., B. in Frankenberg, L. und G. E. in Esp. Die Erfindung, welche in dem Artikel „Ein Londoner Kummerhof“ nur beiläufig erwähnt ist, wird in einer der nächsten Nummern, so weit sie bis jetzt bekannt geworden, mit einigen anderen praktischen Rathschlägen mitgetheilt werden.

„Eine deutsche Frau“. Möchten Sie nicht dem Dichter, zur Beantwortung Ihrer Anfragen, Ihren Namen nennen?


Zur Beachtung.

Oefter vorgekommene Verwechselungen nöthigen mich zu der wiederholten Mittheilung, daß die meiner Zeitschrift zuweilen beiliegenden „Allgemeinen Anzeigen“ in durchaus keinem innern Zusammenhang mit der „Gartenlaube“ stehen und daß, während die „Gartenlaube“ mein alleiniges Eigenthum ist und von mir allein redigirt und herausgegeben wird, die „Allgemeinen Anzeigen“ Eigenthum des Herausgebers derselben, Herrn Robert Apitzsch in Leipzig sind, der diese Anzeigen der Gartenlaube unter denselben Bedingungen beilegt, welche für jeden andern Geschäftsmann maßgebend sind.

Leipzig, im October 1868.
Ernst Keil.

Inhalt: Das Erkennungszeichen. Von A. Godin. (Fortsetzung.) – Deutsche Wanderschaft. Gedicht. Von Emanuel Geibel. – Der Katzen-Raphael. Mit Abbildungen. – Aus dem Unterinnthal. Von Ludwig Steub. 1. Das Passionsspiel in Brixlegg. – Germain Colot, der Steinoperateur. Von George Hiltl. – Ein Kleinod aus deutscher Vergangenheit. Mit Abbildungen. – Blätter und Blüthen: Der Specialdraht. – Das Erdbeben in Südamerika. – Kleiner Briefkasten. – Zur Beachtung.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Eins in andere fünf Batzen (1/2 Gulden rhein.) d. h. 20 Kreuzer für jede einzelne Katze auf einem Blatt.