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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[545]

No. 35.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Brüder.
Von Adolf Wilbrandt.
(Fortsetzung.)


Karl’s Platz zu ihrer Rechten war leer; Wilhelm hörte Annettens Eltern sagen, daß der Arme wegen seines Kopfleidens nach Hause gefahren sei. Betrübt starrte er auf die leere Stelle und nickte vor sich hin. Auf einmal hörte er, aus dem Nebenzimmer hervor, fröhliche Tafelmusik; die Geigen und Trompeten setzten jauchzend und schmetternd ein, und ein Chor von männlichen Stimmen erhob sich, um einzufallen. Diese unerwarteten Töne überwältigten ihn. Er fühlte, wie ihm die Thränen nach den Augen drängten, stand auf und ging hinaus. Ueber den Flur hinweg, ohne der Menschen zu achten, die ihm entgegenkamen oder sich neugierig zusammengedrängt hatten, eilte er auf die Treppe zu, die engen Stufen hinauf, um oben in ein Kämmerlein zu treten, das offen stand, und sich in den Sessel neben dem Bette zu werfen. Es war Annettens Schlafgemach; er wußte es nicht. Es that ihm nur wohl, endlich einsam zu sein und seinen Thränen ihren Lauf zu lassen. Die Musik drang nur dumpf zu ihm herauf, gedämpftes Licht kam durch die verhängten Scheiben, die kältere Luft kühlte seine Schläfen. Er weinte vor sich hin: „Dahin ist es mit euch gekommen, mit dir und ihm! und ihr liebtet euch so! Mein Gott, mein Gott, mein Gott, wie war es möglich!“ – Seinem Herzen versagte alle Freudigkeit, sein Gewissen schlug ihn, er sprang auf, ging umher, warf sich wieder hin, drückte den Kopf in Annettens Kissen und rief kummervoll von Neuem ans: „Mein Gott, wie war es nur möglich!“

Er lag dann eine Weile still; auf einmal berührte ihn eine Hand, er fuhr empor und sah in Annettens Gesicht. Das junge Weib, dessen Augen gleichfalls von stillen Schmerzen gefeuchtet waren, lächelte ihn dennoch sanft und lieblich an und fragte mit ihrer weichen Stimme: „Wo bleiben Sie, Wilhelm? Wo bleibst Du?“ wiederholte sie leicht erröthend; „warum muß man Dich suchen? Was sollen die Gäste denken – und mein Vater und meine Mutter?“

„Wo ist Karl?“ unterbrach er sie mit einer hastigen Frage.

„Er ist fort,“ antwortete sie mit Fassung. „Er hat einen Zettel an Dich und mich zurückgelassen, ein offenes Blatt. Sein Kopf halte es nicht aus, mit beim Fest zu sein. Er sagt uns Lebewohl, er denkt schon heute zu verreisen.“

„Und Du?“ sagte Wilhelm und richtete sich auf. „Hast Du – hast Du mich lieb?“ – Er sah ihr unruhig und wehmüthig in die Augen und suchte ihre Antwort zu errathen.

Annette reichte ihm still ihre Hand und nickte ihm zu. „Komm’!“ sagte sie leise. „Du weißt es –“

Wilhelm hielt ihre Hand, und plötzlich getröstet drückte er sie an die Lippen und stand wieder aufrecht da. „Meine holde, theure Frau!“ sagte er gerührt. Karl wird es verwinden, dachte er; er ist der Starke, er wird es ja bald verwinden! Alles wird noch gut, Alles wird sich noch lösen! – „Vergieb mir, Annette,“ sagte er gefaßt. „Ich habe Dich vorhin verlassen, habe geweint wie ein Kind, weil Karl uns verläßt. Er muß reisen, ich weiß es ja; er hat die Pflicht, es zu thun. Ich weiß, daß es kindisch ist, darum zu weinen. Aber wenn man sich so lieb hat, Annette, wenn man sich im ganzen Leben noch nie getrennt hat – –“

Seine Stimme erstickte wieder, und er fing heftig an wie ein Knabe zu schluchzen.

„Lieber Wilhelm!“ sagte sie erschüttert. Seine Liebe zu dem Bruder rührte sie tief; sie faßte seine Hand, sie umschlang ihn, von schwesterlicher Empfindung hingerissen, und drückte den ersten freiwilligen Kuß auf seinen Mund. Und so hielten die beiden Menschen sich in Thränen umschlungen, die in bangen verhehlten Schmerzen in die Zukunft hinaussahen.

Er fühlte ihren Kuß, ein unaussprechlich holder Balsam schien ihn zu erquicken und zu stärken. „Komm’,“ sagte er mit weicher Stimme und ließ sie aus den Armen, „komm’, gehen wir, Annette, – fahren wir bald; mir wird besser werden, wenn wir aufbrechen, wenn wir diese lustigen, jubelnden Menschen verlassen!“

Sie nickte ihm zu und wandte sich gleich, um zu gehen.

Auf der Treppe stand er noch einmal still, sah sie an und fragte: „Hast Du mich lieb, Annette?“ – Sie nickte wieder. Er lächelte zufrieden. Dann stiegen sie hinab, ohne weiter zu reden. Mit etwas erleichterter Seele ging er in den Hof hinaus und gab seine Befehle, den Wagen bereit zu machen und den Kutscher zu rufen. Er fragte nach Karl; man sagte ihm, der junge Herr habe die Stadt schon verlassen.

Nach einer Stunde rollte der Wagen mit Wilhelm und seinem jungen Weibe unter dem Thor hindurch ihrem Landsitze zu. Noch war es heller, abendlich sich röthender Tag; die gefärbten Wolken hingen tief herunter. Die Fenster zu beiden Seiten waren mit Blumenkränzen und Gewinden geschmückt; ein Postillon saß vor ihnen zu Pferd und blies auf seinem Horn die fröhlichsten Weisen in die Luft hinaus. Den Beiden klangen sie melancholisch in’s Ohr; ihre stillen Trübsale wachten wieder auf, Thränen flossen über Annettens und seine Wangen. Er suchte, ohne sie anzublicken, ihre Hand. Sie gab sie ihm willig hin, er fühlte [546] die kühlen, weichen Finger zwischen den seinen, aber er dachte an Karl und wagte nicht, sie zu drücken. So fuhren sie in ihr neues Leben hinein, dem Abend entgegen.




6.

Der Sommer war mit Sonnenschein und Regen über das Land gegangen, das Laub fing an sich zu röthen, die letzten Fruchtgelände und Kornbreiten hatten sich in Stoppelfelder verwandelt. Ein herbstlicher Wind schüttelte die verstummten Wälder, und der warme Glanz der Wolken, der an Sommerabenden so beseligend herunterleuchtet, kühlte sich schon. Aber ein anderer Glanz hatte sich über das Land gebreitet: die weite, sanft gehügelte Fläche zwischen den Herrenhöfen und Dörfern der Brüder war, mit den silbernen Fäden des „Mariengarns“ übersponnen und schimmerte im schrägen Sonnenlicht, wie wenn ein ungeheurer Schleier sie durchsichtig bedeckte. In der Ferne blitzte hier und da der Fluß in seinen Windungen auf, ein feiner Nebeldunst schien über seinem Lauf zu schweben, bis er sich hinter den fernsten Wäldern verlor. Die reine Luft zitterte nicht mehr, wie in den heißen Sommertagen, wenn sie schwer über dem Kornmeer lagert; wie aus dem dünneren Aether herabgeweht, durchgeistigte sie die warmen Dünste, die dem Boden entstiegen, und trug wie im Spiel den leichten Rauch hinweg, der, im Abendschein sich golden bräunend, von den Strohdächern aufstieg.

Um diese Zeit der sinkenden Sonne saß Frau Annette auf der grünen Bank vor ihrem Hause, unter dem Kastanienbaume, der sie ganz mit seinem Schatten bedeckte, und träumte vor sich hin. Sie hatte den Kopf auf die Hand, den Arm auf die Lehne gestützt, ein Häubchen im Haar, eine blaßrothe Schleife auf der Brust; die etwas matten Augen ruhten in ihrem Schooß, glitten zuweilen über den abendstillen, sonnigen Hof hinweg und kehrten dann, bald gesenkt, zu ihrem hellen Kleide, zu ihrem Busen zurück. In Gedanken verloren, von denen sie selber nichts wußte, hörte sie nichts um sich her, vernahm auch nicht, wie Wilhelm vom Hausflur auf die Thürschwelle trat, und sah nicht, wie seine Blicke über sie hinfuhren. Alle ihre Sinne schienen sacht zu schlafen; sie saß so unbeweglich da, wie die Bank, an die sie sich lehnte, und als wäre sie auf der Welt mit sich allein.

Wilhelm stand in einem wamsähnlichen dunklen Hausrock, in hohen Stiefeln, eine Reitpeitsche in der Hand, an der Thür und betrachtete Annette eine Weile, ohne sich zu rühren. Endlich trat er auf sie zu, und der Klang seiner Stiefeln auf den Steinen schreckte sie aus ihren Gedanken.

„Annette,“ sagte er sanft, „es wird kühl, und Du bist so leicht gekleidet; wirst Du Dich nicht erkälten?“

Sie sah ihn an und schüttelte den Kopf.

„Das Clavier,“ fing er nach einer Weile wieder an, „das Clavier ist auch angekommen. Nun kann das alte Spinett endlich in die Rumpelkammer gesteckt werden, und Du kannst recht nach Herzenslust spielen, liebe Annette.“

„Ich danke Dir,“ sagte sie mit einem freundlichen Blick.

„Ich muß Dich auch noch um Verzeihung bitten, Annette,“ setzte er nach einer neuen Pause mit schmerzhaftem Lächeln hinzu. „Du willst zwar nicht, daß ich Dir noch mit neuen Geschenken kommen soll, aber diesmal konnt’ ich nicht bis Weihnachten warten! Die große silberne Stutzuhr, die ich Dir zum Geburtstag mitbrachte, hat Dir so gar nicht gefallen. Nein, nein – streite nicht. Ich hab’ es wohl gemerkt. Du ziehst sie nicht einmal auf. Ich habe Dir eine andere kommen lassen, Annette, die nicht von so plumpem Geschmack ist.“

Annette richtete sich auf. „Lieber Wilhelm –!“ sagte sie im Ton eines sanften Vorwurfs und sah dann gequält vor sich hin.

„Ich bin ein Verschwender, ich weiß es,“ sagte er und suchte wieder zu lächeln. „Schilt, so viel Du willst. Wenn ich nur – Wenn ich Dir nur einmal eine wahre, herzliche Freude machen könnte,“ fuhr er mit zitternder Stimme fort, „was läge am Gelde?“ – Er starrte in das dichte Kastanienlaub, das bis zu seiner Brust herunterhing und sich ein wenig bewegte; dann wandte er sich wieder zu ihr: „Ich soll Dir noch sagen, Annette, daß der Doctor – ich bin ihm vorhin zu Pferde begegnet – daß er Dich für gesünder hält, als Du selber glaubst. Er meint, es fehle Dir eigentlich nichts. Du werdest uns noch Alle überleben, sagte er. Er hat alle Schuld auf Deine Nerven geschoben – und auf ein wenig Hypochondrie, liebe Annette; Du weißt, wie die Aerzte sind! – Es hat mich recht sehr gefreut,“ setzte er in gepreßtem Ton hinzu, „daß er Dich von allen körperlichen Leiden freispricht.“

Annette blickte zu ihm hinauf und nickte mit aller Heiterkeit, die sich ihren müden Zügen auszwingen ließ; dann starrte sie wieder auf den Boden und schwieg.

„Es ist auch ein Brief von Demoiselle Merling gekommen,“ fing er nach längerem Verstummen wieder an. „Sie stellt uns für den nächsten Monat ihren Besuch in Aussicht. Ich habe ihr geantwortet, sie wäre uns schon in diesem Monat willkommen, und wir würden sie von nun an täglich erwarten.“

Annette starrte ihn befremdet und beunruhigt an. „Warum hast Du ihr das so eilig geschrieben?“ fragte sie mit einem leisen Vorwurf im Ton. „Wenn Du mich erst gefragt hättest!“ wollte sie hinzusetzen, aber sie brach ab und fiel wieder in ihr entschlossenes Schweigen.

„Hätte ich es etwa nicht thun sollen?“ erwiderte er hastig. „Dir wird’s ja doch recht sein, Annette! Ich habe mir’s nicht anders gedacht, als daß es Dir recht wäre. Uebrigens – übrigens kommt sie nicht allein,“ setzte er plötzlich hinzu und begann mit großen Schritten auf und ab zu gehen.

„Sie kommt nicht allein? Wer noch sonst?“ – Annette stand unruhig auf.

„Wir leben hier zu einförmig, liebe Annette,“ sagte er, indem er stehen blieb, doch ohne sie anzusehen. „Das thut Dir – das thut uns Beiden nicht gut. Weißt Du noch, wie wir es uns eigentlich vor der Hochzeit gedacht hatten? Ich hatte im Sinn, wir wollten so recht – zu Dreien leben, Annette. Das ging ja im Anfang nicht. Karl hatte ja in Frankreich zu thun; es ließ sich nicht ändern. Es war auch wohl gut so; wir haben nun wenigstens –“ setzte er mit stockender Zunge hinzu, „unsere Flittermonate für uns allein gehabt. Aber ist es Dir recht, Annette, wenn wir dieser Flitterzeit ein Ende machen? Einmal muß es ja sein. Und es wird auch Dir ein Vergnügen sein, mit Karl zu leben. Es lebt sich so gut mit ihm. Er hat Sinn für Alles, er weiß Alles, – und was wird er nun erst zu erzählen haben, Annette, wenn er aus Frankreich zurückkommt!“

Annette blickte ihn in verstohlener Bangigkeit an, aber erwiderte nichts. Er hatte sich gegen den Baum gelehnt und starrte eine Weile in die Ferne hinaus; endlich kehrte er sich wieder zu ihr und fragte: „Ist es Dir recht, daß ich ihn gebeten habe, wieder nach Hause zu kommen? und daß ich Dich damit überrasche? Er hat mir geantwortet, Annette, er kann heute schon da sein. Ja, er kann in dieser Stunde kommen – und ich sterbe schon vor Erwartung.“

Indem er das sagte, hatte er Annetten im Auge, aber ihr blasses Gesicht, nur von einer schwebenden Röthe überflogen, zeigte nicht, was sie dabei empfand. „Ich dachte mir’s wohl, daß Du ihn erwartetest,“ sagte sie ruhig lächelnd. „Meinst Du, ich hätte nichts davon gemerkt, diese Wochen her? Hast Du nicht sogar im Traum davon gesprochen? Und Deine Unruhe bei Tage – Deine andeutenden Fragen – denkst Du, ich kennte Dich nicht?“

Sie sagte das mit ihrer sanften, fast elegischen Stimme, und Wilhelm starrte ihr überrascht in’s Gesicht. „Du wußtest –“ sagte er. Zu diesem Augenblick klang ein lautes Bellen vom Hofthor herüber, und er brach ab. Er drehte sich dorthin, ohne weiter auf Annette zu achten, und sah und horchte hinaus. Das fröhliche Bellen wiederholte sich. „Caro! Caro!“ rief er und trat ein paar Schritte vor. Karl’s silbergraues Windspiel sprang in leichten Sätzen über den Hof heran, schmiegte und wand sich in den leidenschaftlichsten Bewegungen zu Wilhelm’s Füßen, kroch an ihm hinauf, legte sich wieder hin und schüttelte die Blechkapsel an seinem Halse.

„Ein Brief, ohne Zweifel!“ rief Wilhelm und beugte sich nieder, um die Kapsel zu öffnen. Der Hund lag ganz still. Aber sowie er den Brief in Wilhelm’s Händen sah, schnellte er wie eine Feder in die Höhe und sprang auf Annette zu, um sie liebkosend zu umwedeln. Die junge Frau, während sie mit verhaltener Unruhe auf ihren Gatten blickte, was der Brief ihm wohl sage, streichelte den Boten mit Zärtlichkeit, und Karl’s Bild stand ihr lebhaft vor Augen. Aber auf einmal hielt sie inne, und wie wenn sie sich über einer Schuld ertappt hätte, erröthete sie und zog ihre Hand von Caro’s Nacken zurück. „Was verdrießt [547] Dich?“ fragte sie mit halber Stimme. Wilhelm hatte das Blatt zusammengedrückt und stand mit dem Ausdruck der Enttäuschung da. „Er kommt nicht heut’, sondern morgen,“ sagte er verstört. „Er ist angelangt – aber es eilt ihm nicht, Annette, uns schon heute zu sehen. Er hat Geschäfte. Er ist – weise, wie immer.“

„So muß man sich gedulden,“ sagte Annette mit freundlicher Ruhe und fühlte, wie ihr selber das Herz die Brust bedrängte.

„Geduld!“ wiederholte Wilhelm. „Ich hatte mich so sehr auf diesen Abend gefreut! Aber Du wirst blasser, Annette,“ setzte er hinzu, „die Sonne geht unter – Du erkältest Dich. Du sitzest hier schon zu lange. Ich bitte Dich, geh’ hinein.“

„Ich erkälte mich nicht,“ erwiderte sie mit leisem Kopfschütteln. Aber sie sah seine ungeduldigen, fordernden Augen und stand fügsam auf. Mit stummem Gesicht ging sie an ihm vorbei, zur Thür hinein. Ihre leichten Schritte verhallten sogleich im Hause.

Wilhelm blickte ihr nach. Er lehnte sich wieder gegen den Baum, und der erste Zug aufrichtigen Kummers ging über sein Gesicht. Er hatte sein Taschenmesser gezogen, schnitt damit gedankenlos in die Rinde, und seufzte still vor sich hin. „Es ist Alles vergebens!“ seufzte er. „So geht es nun Tag für Tag. Sie ist so still – doch sie verwelkt. Sie ist so sanft, so ergeben, aber kann das mich glücklich machen? In ihrem Blut ist kein Leben; sie freut sich über nichts so aus vollem Herzen; – sie ist so anders, als ich! – Und wenn ein Mensch auf Erden wüßte, was ihr fehlt!“

Er sah wieder auf das Blatt, das er noch in der Hand hatte, die hastige Schrift Karl’s fiel ihm in die Augen, er empfand, wie unruhig, wie ungeduldig ihn nach diesem Bruder verlangte, daß er nicht ohne ihn leben könne; daß er so ganz Sehnsucht sei, ihm wieder seine Liebe zu beweisen. Er hat’s verwunden, dachte er voll Zuversicht; er hat sie vergessen! Er schrieb ja schon so ruhige, so behagliche Briefe. Wie scherzhaft hat er nicht von den Pariserinnen geschrieben – wie heiter und unterhaltend! Vielleicht, daß er schon eine Andere im Sinn hat; vielleicht nahm ich es damals überhaupt zu schwer. Und wenn Einer es verwinden kann, kann er’s verwinden! – Er hielt sich diese Hoffnungen recht lebhaft vor Augen und fühlte, wie dabei seine Sehnsucht wuchs. Er blickte nach dem Thor, als müßte er ihn doch noch heute kommen sehen, trat dann vor Ungeduld fast schwermüthig in’s Haus und zerknitterte den Brief in seinen Händen.

Indessen war er kaum hinter der Thür verschwunden, als auf dem Hofraum, von der Landstraße her, ein Wanderer auftauchte, den Wilhelm trotz seiner fremdartigen Tracht auf den ersten Blick erkannt hätte. Zu grauen Reisekleidern, einen ausländischen, sehr bestaubten Hut auf dem Kopf, auch die Stulpenstiefeln mit Staub überdeckt, kam Karl eben durch das Hofthor eilig herangeschritten. Er verrieth in Allem, auch in seinem arg verwilderten Haar, daß er sich noch nicht die Zeit genommen hatte, an sich selber zu denken. Mit lebhaften Augen spähte er vor sich her, als fürchtete er zu früh entdeckt zu werden. Sein Windspiel sprang ihm mit einem kurzen Bellen entgegen; er drohte ihm, daß es schweigen solle, sah unruhig nach den Scheunen und Ställen, nach den Fenstern unter den Kastanien, die sich im Schatten versteckten. Endlich trat er in den dämmerigen, gewölbten Hausflur, ohne erkannt zu sein.

An der Thür zur Linken stand er still; blickte die großen Schränke, die tiefen Nischen des Vorplatzes, die Gespielen seiner Kinderjahre, mit der Empfindung eines Heimkehrenden an, suchte durch die weiß verhängten Glasscheiben links in das Gemach hineinzublicken. Doch in dem überdämmerten Raum war nichts zu erkennen. In diesem Raum hatte er so lange Jahre verlebt; hier hatte seine Mutter Tag für Tag an ihrem Arbeitstischchen, und er als Kind zu ihren Füßen gesessen; – und nun stand er an derselben hohen Fensterthür, um da drinnen Annette als Herrin des Hauses zu begrüßen. Er fühlte, wie der Gedanke ihm den Athem versetzte, aber dennoch lächelte er furchtlos vor sich hin. Ich werde sie wiedersehen, dachte er; mußt’ es nicht einmal sein? Und wenn das erste thörichte, schaudernde Bangen überwunden ist, – wird es mich nicht abkühlen, sie als die zufriedene Frau meines Bruders zu wissen? Bin ich nicht auf Alles gefaßt, hab’ ich mich nicht auf Alles vorbereitet?

Er stand noch und zögerte hineinzugehen, als drinnen ein Lichtschein auftauchte und, wie er nun erkannte, aus dem Nebenzimmer eine Magd mit zwei brennenden Kerzen erschien. Sie bewegte sich dunkel durch den erhellten Raum, stellte die Kerzen auf den Tisch neben dem Sopha, und jetzt entdeckte der Lauscher dort am Tisch Annettens Gestalt. Sie saß, wie es schien, von ihm abgewandt; ihr zierlicher Umriß verschwamm vor seinen Augen, so sehr dämpfte der weiße Fenstervorhang das Licht. In diesem Augenblick fiel ihm ein, wie seltsam ähnlich das Schicksal sie ihm am ersten Abend gezeigt und verhüllt hatte. So saß sie damals hinter dem Clavier, dachte er, nur ihre Stirn hatte sich mir flüchtig wie ein fallender Stern gezeigt; und wie war ich geschäftig, mir die noch geheimnißvolle Gestalt nach meinen Wünschen zu denken! Wie stellte ich mir die tiefsinnigen, beredten Augen, den schwermüthigen Mund, die ganze räthselvolle, bezaubernde Seele vor! Und dann – Ach, sie war reizend, doch wie anders, wie anders! Ein liebliches Kind, mit einem lachenden Herzen, für einen ganz Andern geboren, als für mich; - aber mich blendeten noch immer meine ersten phantasirenden Gedanken! Und wenn ich nun diese Thür hier öffne und der kleinen, freundlichen Gestalt gegenübertrete, so werd’ ich sie endlich sehen, wie sie ist, wie sie war, – und diese ewigen Qualen, die ich draußen mit mir herumtrug, werden mir vor der beruhigenden Wirklichkeit vom Herzen fallen! – Warum fürcht’ ich mich noch? redete er sich zu, da ihm das Herz doch heftig klopfte, und drückte auf die Thür, um ein Ende zu machen. Er öffnete und sah nun auf einmal Wilhelm sich gegenüberstehen, den er bisher durch das Fenster nicht bemerkt hatte. Der Bruder mochte ein Geräusch vernommen haben. Seine Arme breiteten sich hastig aus, sowie er den Eintretenden erblickte, und mit einem lauten Ausruf schloß er ihn an die Brust.

„Bist Du da! bist Du da!“ rief er ein Mal über das andere mit halb erstickender Stimme. „Verräther! Uns überraschen! Und den Brief vorausschicken! Diese Teufelskünste!“ Er küßte ihn auf die Backen, drückte ihn von sich und starrte ihm mit zärtlichster Neugierde in’s Gesicht. „Es ist noch der Alte,“ rief er aus; „nur das Haar sehr vernachlässigt – ist das die neueste Mode in Paris, Karl, so zu verwildern? Und da an den Schläfen – was ist das? Die braunen Haare silbergrau geworden? Fängst Du schon so früh an, – oder ist das auch der neueste republikanische Styl? – Karl, Karl!“ rief er in plötzlicher Bewegung aus und umschlang ihn von Neuem mit seinen Armen; „wie haben wir’s nur so lange ausgehalten, uns nicht zu sehen? Wie konnten wir nur – Jetzt mach’ Dir’s bequem, mein Liebster, leg’ ab, setze Dich – oder nein, Du mußt ja erst die neue Hausfrau begrüßen! – Ich will nur gleich in den Keller,“ setzte er hinzu und suchte mit den Augen heiter zu lachen; „Du kennst diese Frau ja schon, ich brauche Dir nicht zu sagen, wer sie ist – unterdessen hol’ ich den Wein!“ damit drehte er sich weg und schwankte eilig hinaus, und Karl stand Annetten gegenüber.

Sie hatte sich in ihrem hellen Sommerkleid vom Sopha erhoben und reichte ihm die Hand. „Seien Sie uns willkommen,“ sagte sie leise. Der erste Schreck der Ueberraschung hatte ihre gefärbten Wangen wieder verlassen, und sie stand in ihrer stetigen Blässe da. Ihre großen, erregten Augen strebten ihn recht gelassen anzusehen, sie ließ ihre Hand ruhig in der seinem „Es ist schön von Ihnen, daß Sie kommen,“ setzte sie hinzu. „Sie machen Wilhelm sehr glücklich. Er war so ungeduldig, so außer sich, daß Sie uns noch bis morgen wollten warten lassen! Wie viel werden Sie uns zu erzählen haben!“ fuhr sie nach einer Weile etwas befangener fort, da er noch immer schwieg, ihre Hand hielt und sie großäugig anstarrte. „Warum stehen Sie noch? warum setzen Sie sich nicht? Sie werden – Sie werden müde sein, Karl. Sie scheinen mich nicht mehr zu kennen,“ sagte sie endlich und gab sich Mühe, zu lächeln, „denn Sie betrachten mich, wie wenn Sie eine ganz neue und unerwartete Erscheinung entdeckten.“

„Verzeihen Sie,“ erwiderte er, ließ sie schnell aus den Augen und fuhr sich über die Stirn. „Es war – – es war nichts. Aber dieser Anblick – –“ Er brach ab, und lief erschüttert starrte er sie wieder an. Sie war nicht das weiche, zierliche, glücklich lächelnde Kind, das er wiederzufinden erwartet hatte. Um ihre Lippen hatte sich ein schwermüthiger Ernst gelagert, ihre geheimnisvollen, tiefen, beseelten Augen, ihre vergeistigten Züge erschreckten ihn. Sie war wie um Jahre gereift, – wie in das [548] Bild, das er sich damals von ihr schuf, hineingewachsen. Die sanfte Schüchternheit hatte sich in stille, schmerzliche Entschlossenheit, der harmlose Mädchenblick in tiefes, gedankenvolles Schweigen verwandelt. Der nachdenkliche, gespannte Zug zwischen den dunklen Brauen war der Stirn noch tiefer eingedrückt und schien von bitterlichen Kämpfen, von frühen Leiden zu sprechen. Im Innersten ergriffen, wandte Karl sich mit einer plötzlichen Bewegung von ihr ab, ganz unfähig zu reden. Alle seine Fassung war dahin. Er nahm einen Stuhl, aber statt sich zu setzen, umklammerte er dessen Lehne mit den Händen, stierte auf die Blumen, die in das Polster gestickt waren, und, ohne ein Glied zu bewegen, stand er da und schwieg.

„Sie haben sich auch verändert, Karl,“ stammelte Annette nach einer langen Pause, wie wenn sie etwas von seinen Gedanken errathen hätte. „Sie haben in dem hastigen Paris wohl auch zu hastig gelebt!“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu, aber verharrte in seinem Schweigen. „Verzeihen Sie, daß ich das sage,“ fing sie wieder an, „da ich doch wohl nichts davon verstehe. Aber es wird Ihnen gut thun, denk’ ich mir, wieder in der Heimath und auf dem Lande zu leben. Wie Wilhelm sich darauf freut, das kann ich Ihnen nicht sagen! Und ich, lieber Schwager,“ und sie trat auf ihn zu und suchte ihre unsichere Stimme zu beherrschen, „und ich freue mich auch. Die Tage werden nun etwas lebendiger werden, wir werden Vieles mitgenießen, was Sie genossen haben. Und,“ fuhr sie fort, indem sie den Kopf senkte, „ich werde mir nicht mehr sagen müssen, daß ich Ihr Zusammenleben gestört habe – daß ich schuld bin – – Nein, Sie werden nun da bleiben, hoff’ ich. Sie werden da bleiben und Wilhelm ganz zum glücklichen Menschen machen.“

„Nein, Annette,“ sagte er und schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht.“

„Warum nicht?“ fragte sie und sah ihm erschrocken in die finsteren Augen.

Er ließ die Stuhllehne fahren, und indem er vor sie hintrat, antwortete er: „Ich will es Ihnen sagen, Annette. Weil ich hier zu Grunde ginge. Weil – weil ich Sie liebe.“

Annette erschrak in den Tod und blickte ihn mit aufgerissenen Augen an. Ihre Hände lagen ihr im Schooß, sie saß regungslos da, wie wenn sie irgend eine Elementargewalt über sich hereinströmen ließe. „O mein Gott!“ seufzte sie endlich.

Karl stand, die Hände an: Tisch, die Augen auf die Schleife an ihrer Brust geheftet, und fuhr fort: „Sie begreifen nun, Annette, daß ich hier zu Lande nicht bleiben kann, und Sie werden mich nicht mehr darum bitten! Ich war ein Narr, daß ich kam. Ich bildete mir ein, daß ich Alles verwunden hätte. Es war ein Wahnsinn, nichts weiter. Ich weiß nun wenigstens die Wahrheit!“ setzte er mit wilder Zufriedenheit hinzu, „ich kann diese Narrheit nicht zum zweiten Male begehen. Was ist Ihnen, Annette? Warum verstört Sie das so? Ich habe Sie damals belogen, als ich Ihnen den Brief schrieb, ich will Sie nicht mehr belügen – will wahr gegen Sie sein. Schweigen und Lügen rettet nicht, – fort muß ich, fort! Morgen – morgen denk’ ich darüber nach, wohin. Wilhelm wird kommen –“ und er horchte nach der Thür – „machen Sie ihn glücklich, Annette; seien Sie glücklich und überlassen Sie mich meinem – denkwürdigen Schicksal.“

Er starrte mit düsterer Entschlossenheit zu ihr hinüber und machte eine Bewegung, wie um zu gehen, aber nun sah er erst die ganze trostlose Verzweiflung in ihren Zügen, und in der heftigsten Ueberraschung stand er still. Sie schwieg noch immer, doch ihre Thränen fingen an zu fließen. Ein Blick flog zu ihm hin, aus Allem gemischt, was ihre aufgelöste Seele bewegte. „Annette!“ sagte er, von einer plötzlichen gramvollen Seligkeit erfüllt, und sah und horchte bang nach der Thür, „o Annette, Annette!“ Sie stand auf, sie legte sich die Hände vor die Augen und suchte ihm ihr überströmtes, verrätherisches Gesicht zu verbergen. „Sie sind nicht glücklich, Annette!“ stammelte er.

Auf einmal sah sie ihn an, und mit dem bittersten Lächeln, über das die langen Thränen hinwegflossen, sagte sie: „Warum verwundert Sie das? Warum sollte ich glücklich sein? Warum sagen Sie mir erst heute, daß Sie mich lieben?“

(Schluß folgt.)




Der Reformator der Erziehungslehre.

Von Gustav Steinacker.

Der 9. December 1755[WS 1] brachte, wie an vielen Orten, so auch in der lateinischen Schule der guten Stadt Zürich eine ungeheuere Aufregung hervor. Es war Nachmittags zwischen zwei und drei Uhr; der Lehrer gerade im besten Zuge, seinen neun- bis zehnjährigen Rangen die lateinischen Declinationen einzubläuen, als plötzlich ein gelber Schein sich über die kleinen runden Fensterscheiben verbreitete und eine ungewohnte Erschütterung zu verspüren war. „Ein Erdbeben!“ rief der Lehrer, und die zum Tode erschreckten Knaben rannten mit bleichen Gesichtern von ihren Plätzen hinweg die Treppe hinab auf den Schulhof. Die meisten liefen, unbekümmert um ihre Bücher, Mappen und Mützen, eiligst heim.

Unter den noch Zurückbleibenden befand sich auch der damals kaum zehnjährige Heinrich Pestalozzi. In allen Knabenspielen der unbehülflichste unter sämmtlichen seiner Mitschüler, wollte er, der voll blinden Vertrauens allen Menschen und auch sich selbst stets mehr zutraute, als er sollte, dabei doch auf gewisse Weise immer mehr sein als die andern, die ihn zwar um seiner Gutmüthigkeit und Dienstbeflissenheit willen liebten, aber doch auch oft ihr Gespött mit ihm trieben, wobei ihm einer seiner Mitschüler einmal den hochtönenden Beinamen „Heiri Wunderli von Thorliken“ beigelegt hatte.

„Ach, liebster Heiri!“ riefen jetzt Einige, „hol’ uns doch unsere Mappen herab!“ Und „nicht wahr, Pestaluzz’,“ rief ein Dritter und Vierter, „auch meine Sachen bringst Du mir mit? Ich traue mich vor Angst nicht hinauf, die Treppe möchte einstürzen.“ „Dir, Wunderli,“ meinte der Zaghaften einer, der selbst in der allgemeinen Angst seine Spöttereien nicht lassen konnte, „Dir stößt gewiß nichts zu, Du bist ja immer der Held, der etwas vor uns voraus haben will.“ – Und der gutmüthige, gefällige Heiri unternahm wirklich das Wagstück und kam, mit den Büchern, Mappen und Mützen der Genossen beladen, glücklich wieder auf dem Schulhof an. „Dank’ Dir, Brüderchen!“ erscholl es von allen Seiten.

Ein neuer Erdstoß erfolgte. An eine Fortsetzung der Schulstunden war unter diesen Umständen nicht zu denken, und auch unser Heinrich Wunderlich lief heim nach dem Rüdenplatze, wo seine Mutter, die arme Wundarztswittwe, mit ihren drei unerzogenen Kindern wohnte, denen der fünf Jahre früher gestorbene Vater, der als geschickter Augenarzt in Ansehen gestanden, nur ein kleines Vermögen hinterlassen hatte. Als er fühlte, daß sein Ende nahe war, hatte er das gute Babeli vor sein Todtenbett gerufen, welches er schon in den wenigen Monaten, seit es vom Dorfe weg in sein Haus getreten war, als ein Dienstmädchen von seltener Treue und Tüchtigkeit erprobt hatte. „Babeli,“ sprach er zu ihr, „um Gottes Erbarmen willen, verlaß meine Frau nicht, wenn ich todt bin! Ohne Deinen Beistand ist sie nicht im Stande, meine Kinder bei einander zu halten, und sie kommen in harte, fremde Hände.“ Da sprach Babeli gerührt: „Ich verlasse Ihre Frau nicht, wenn Sie sterben, ich bleibe bei ihr bis in den Tod, wenn sie mich nöthig hat.“ Der sterbende Vater war beruhigt; mit diesem Trost im Herzen verschied er.

Unser Heinrich, am 12. Januar 1746 zu Zürich geboren, war von der Wiege an zart und schwächlich und wuchs so in sehr beschränkten Verhältnissen an der Hand der besten liebevollsten Mutter und unter der Hut des treuen Babeli, das emsig sparen half, als ein rechtes Muttersöhnchen auf, wie er später selber bekannte. Fehlte dem zarten, träumerischen Knaben, dessen Geistes- und Gemüthsanlagen sich frühe entfalteten, die dem Kindesalter so nothwendige Kraftbildung, so war die durchaus liebevolle weibliche Leitung, die er in der Wohnstube der Mutter genoß, wohl geeignet, um jene Besonderheit seiner Natur einseitig zu nähren,

[549]

Pestalozzi’s Abschied von den Waisenkindern.0 Originalzeichnung von Theobald von Oer.

[550] welche später das eigenartige Gepräge der Sinnes- und Denkungsart des Mannes begründete. Er war eben „Heinrich Wunderlich“ und blieb es all’ seine Lebtage.

Wie er in der Fülle seines liebeathmenden Herzens den Seinigen daheim mit rückhaltloser Offenheit, ohne Arg und Hehl, zutraulich sein Inneres preisgab, so lernte er die vorsichtige Zurückhaltung und bedächtige Ueberlegung niemals kennen und üben, die zu einem weltklugen Handeln im späteren Leben so nothwendig erscheint, soll der Mann nicht Zeitlebens Kind bleiben. Er blieb stets schüchtern, linkisch, verlegen und unbeholfen. Konnte man ihn auch nicht gerade unreinlich und schmutzig nennen, so lag ihm doch wenig daran, ob er ungewaschen und ungekämmt, etwas schnudelig und unordentlich, mit Tintenflecken an den Fingern, schiefem Hemdkragen, herabhängenden Strümpfen und beschmutzten Schuhen auf der Straße oder in der Schule erschien.

In dem eine Stunde von Zürich, auf der rechten Seite der Limmat zwischen freundlichen Rebenhügeln gelegenen Dorfe Höngg, wo Pestalozzi’s mütterlicher Großvater Hozze Pfarrer war, verbrachte der Knabe und Jüngling häufig seine Schulferien. Wie hier zuerst der Gedanke in ihm rege wurde, sich selbst dem Prediger- und Seelsorgerberufe zu widmen, den sein Großvater in einfach altväterlicher Weise so gewissenhaft erfüllte, so wurde daselbst durch das Elend einer an Leib und Seele verkümmerten Fabrikbevölkerung zugleich noch ein anderer Keim in seine Seele gepflanzt, der in seinen späteren Jahren unter Dornen und Noth zu reifen und edle Früchte zu bringen bestimmt war: die Liebe nämlich zum niedern Volk, der Sinn für die wahren Bedürfnisse desselben und der Trieb für die Verbesserung der Volksbildung.

In jener Zeit, wo er, achtzehn Jahre alt, in das Collegium humanitas in Zürich eingetreten war, schloß er sich mit aller Gluth seines für Wahrheit und Recht begeisterten Gemüthes jenem von Lavater, Füßli und Fischer gestifteten Freundesbunde an, zu dessen wesentlichem Zwecke es gehörte, alle Ungerechtigkeit, welche diese Jünglinge vornehmlich im Verhältniß der Patricier zum unterdrückten Landvolke begehen sahen, gleich einer heiligen Schaar von Rächern furchtlos zur öffentlichen Kunde zu bringen. So verklagten sie den ungerechten Landvogt Grebel[WS 2], zogen die willkürlichen Bedrückungen des Zunftmeisters Brunner an das Licht der Oeffentlichkeit, befehdeten schlechte Pfarrer, nahmen sich überall Solcher an, die zu arm und niedrig waren, ihre Forderungen geltend zu machen, strebten die gedankenlosen Volkswahlen zu verbessern und suchten aller Orten einzugreifen, wo Ungerechtigkeit geübt wurde. Freilich mußte solches in seiner Quelle edle und hochherzige, aber immerhin unberufene, nicht selten eigenmächtige Treiben bald der Regierung, bald den Vätern, bald den Jünglingen selbst vielfachen Verdruß zuziehen.

Schon früher war Pestalozzi in seinem Schulleben durch Verletzung seines Rechtsgefühls zu thätlichem Einschreiten bewogen worden. Er hatte einst mit einem ungerechten, unwürdigen Unterlehrer einen Auftritt, wobei der kühne Vertheidiger seines schwerverletzten Rechtes zum Erstaunen seiner ganzen Classe siegte. Im Gefühle seiner Kraft und seines Sieges, suchte er nun jedem Unrecht zu wehren. Einst zeigte er heimliche Gräuel einer öffentlichen Erziehungsanstalt den Vorstehern in einem anonymen Briefe an. Er war aber nicht schlau genug, wurde verrathen und zog sich Haß zu. Die Untersuchung bestätigte Alles, was er gesagt hatte. Man verlangte, daß er den Knaben nennen solle, der ihm die Nachricht mitgetheilt. Das wollte er nicht, und als man ihm mit exemplarischer Strafe drohte, entfloh er zu seinen Großeltern über Land. Dort war er Zeuge einer neuen Ungerechtigkeit und Willkür. Die Stadt Zürich hatte eben angefangen, den Handel der Landleute auf alle Weise zu beschränken. Da entstand in ihm der feste Entschluß: „Einst will ich euch, ihr armen Unterdrückten, zu eurem Rechte verhelfen!“ Dieser Gedanke wuchs mit ihm fort und befestigte sich immer mehr in ihm. Volksrecht, Volkskraft, Volkstugend – das ward der Mittelpunkt seiner Gefühle und seiner Thätigkeit.

Mit den edelsten Vorsätzen, für das Volk zu wirken, wie sie durch die gerade damals auftauchenden Rousseauschen Schriften und Freiheitslehren noch mehr angefeuert und gekräftigt wurden, widmete er sich zuerst dem Studium der Theologie. Aber bei seinen Predigtversuchen auf der Kanzel, die er mehrmals auf dem Lande betrat, erging es ihm wunderlich genug. In seiner ersten Predigt blieb er einige Male stecken und verirrte sich im Vaterunser, ein ander Mal brach er wunderlicher Weise mitten in der Predigt in unwillkürliches Lachen aus, und das dritte Mal, so wird wenigstens erzählt, mußte es der auf der Dorfkanzel durch drei volle Stunden in seine Gedanken und Gefühle vertiefte jugendliche Redner erleben, daß ihn die Zuhörerschaft sich selber und dem Küster überlassen hatte, ehe er zum Schluß gekommen war.

Diese Mißerfolge bestimmten ihn, der Theologie zu entsagen und sich der Rechtswissenschaft zu widmen. Doch auch sie sollte ihn nicht festhalten; während eines Sommeraufenthaltes in einem der lieblichen Orte am linken Ufer des Zürichsees lernte er seine künftige Gattin, die Tochter des Züricher Kaufmanns Schultheß, kennen und faßte in der Lebhaftigkeit seiner Statur zugleich eine solche Liebe zur Landwirthschaft, daß er beschloß, sich ihr ganz hinzugeben und auf dem Boden eines ruhigen, glückverheißenden, häuslichen Lebens die Träume seines Herzens für das Wohl des Volkes zu verwirklichen. Bei einem Gutsbesitzer im Emmenthal versuchte er sich zum Landwirth auszubilden, allein bei seinem unpraktischen Wesen kehrte er nur als ein großer landwirtschaftlicher Träumer in seine Vaterstadt heim, um sich, einundzwanzig Jahre alt, seinen häuslichen Heerd zu gründen.

Höchst charakteristisch für seine Art und Weise ist die Schilderung, welche er in einem seiner ersten Briefe an „die theure, einzige Freundin seines Herzens“ von sich selbst entwirft, „Von meiner großen, in der That sehr fehlerhaften Nachlässigkeit[WS 3] in allen Etiketten und überhaupt in allen Sachen, die an sich keinen Werth haben,“ so schreibt er, „bedarf ich nicht zu sprechen, man sieht sie in meinem ersten Anblick. Auch bin ich Ihnen noch das offene Geständniß schuldig, daß ich die Pflicht gegen meine geliebte Gattin der Pflicht gegen mein Vaterland stets untergeordnet halten werde, und daß ich, ungeachtet ich der zärtlichste Ehemann sein werde, es dennoch für meine Pflicht halte, unerbittlich gegen die Thränen meines Weibes zu sein, wenn sie jemals mich mit denselben von der geraden Erfüllung meiner Bürgerpflicht, was auch immer daraus entstehen möchte, abhalten wollte.“ – – „Ohne wichtige, sehr bedenkliche Unternehmungen wird mein Leben nicht vorbeigehen. Ich werde meine ernsten Entschlüsse, mich ganz dem Vaterlande zu widmen, nicht vergessen; ich werde nie aus Menschenfurcht nicht reden, wenn ich sehe, daß der Vortheil meines Vaterlandes mich reden heißt. Mein ganzes Herz gehört meinem Vaterlande. Ich werde Alles wagen, die Noth und das Elend meines Volkes zu mildern. Welche Folgen können die Unternehmungen, die mich drängen, nach sich ziehen, wie wenig bin ich ihnen gewachsen, und wie groß ist meine Pflicht, Ihnen die Möglichkeit der großen Gefahren, die hieraus für mich entstehen können, zu zeigen!“

Dieser Brief scheint indeß die Erwählte seinen Herzens nicht abgeschreckt zu haben, denn am 24. Januar 1769 vermählte sich Pestalozzi, nach endlich erlangter Einwilligung der Eltern, mit seiner geliebten Anna, die sich ihm und seinen Lebensbestrebungen mit aufopfernder Liebe anschloß und diese bis zu ihrem am 12. December 1815 erfolgten Tode unter den schmerzlichsten Wechselfällen des Schicksals treu bewährt hat. Pestalozzi hatte sich im Birsfelde achtzig Morgen Land als Grund zu einem Gute gekauft, das er Neuenhof nannte und wo er, gegen den Rath aller seiner Freunde, ein kostspieliges Wohnhaus im italienischen Kunstgeschmack baute. Ein angesehenes Handelshaus in Zürich verband sich mit ihm zum gemeinschaftlichen Unternehmen einer großartigen Anlage von Krapppflanzungen, zog sich jedoch nach einiger Zeit, auf mehrfach erhaltene Warnungen und ungünstige Gerüchte, davon zurück.

Pestalozzi gerieth dadurch in eine üble Lage. Dennoch verzagte er nicht. Er nahm vielmehr den Kampf gegen das Schicksal auf und beschloß, trotz der Noth, in die er durch diesen Rücktritt des Züricher Hauses versetzt wurde, das Begonnene nicht nur fortzuführen, sondern sein Landgut zum festen Mittelpunkt seiner landwirthschaftlichen und – pädagogischen Bestrebungen zu machen.

Denn er wollte noch Höheres. Im Kreise von Bettelkindern wollte er fortan leben und mit ihnen in Armuth sein Brod theilen, um Bettler wie Menschen leben zu machen. Er fand begüterte, opferwillige Freunde, die ihm behülflich waren, seinen edeln, hohen Zweck, der ihn nicht ruhen und rasten ließ, thatkräftig in’s Werk zu setzen. Im Jahre 1775 ward die Armenschule auf dem Neuenhof eröffnet. Von allen Seiten strömten ihm arme [551] Kinder zu; nicht wenige raffte Pestalozzi selbst aus ihrem Elend von der Straße auf. Bald hatte er fünfzig Zöglinge, welche im Sommer mit Feldarbeit, im Winter mit Spinnen und anderer Handarbeit beschäftigt, gleichzeitig unterrichtet, besonders durch Sprachübungen und Kopfrechnen in ihrem Denkvermögen geübt und aufgehellt werden sollten.

Aber trotz der edelsten, rührendsten, aufopferndsten Liebe, die ihn beseelte, trotz der zum Theil neuen und richtigen Grundsätze, die er bei dem Unterricht und der Erziehung jener Kinder zur Anwendung brachte, scheiterte das Unternehmen durch den Mangel praktischen Sinnes von Seiten seines Begründers, sowie an unzähligen Mißgriffen und Schwierigkeiten, die zu vermeiden oder zu überwinden es Pestalozzi an Einsicht und Geschick fehlte. Im Jahre 1780 löste sich, nach fünfjährigem Bestand, die Armenanstalt auf dem Neuenhofe gänzlich auf, und erst später führte der umsichtige und praktische E. v. Fellenberg in seiner „Wehrli-Anstalt“ zu Hofwyl unweit Bern Dasjenige mit Glück und Erfolg aus, was Pestalozzi angeregt und versucht, aber nicht dauernd zu begründen vermocht hatte.

Dieser, dessen hochherzige Gattin beinahe ihr ganzes Vermögen für ihn verpfändet hatte, lebte nun in Armuth und Dürftigkeit noch achtzehn Jahre auf dem Neuenhof. Aber gerade in diese Zeit, in welcher sein edler Freund Iselin den von der Welt Verhöhnten und Mißhandelten vor Verzweiflung rettete, fallen Pestalozzi’s erste schriftstellerische Arbeiten, in welche er die Gefühle seines Herzens, wie den reichen Gewinn seiner Kämpfe und Erfahrungen niederlegte und welche für den großen Zweck seines Lebens die herrlichsten Früchte trugen.

Der Mann, der seit Jahren kaum ein Buch in die Hand bekommen und kaum eine Zeile ohne Schreibfehler zu Stande zu bringen vermochte, wobei er einst, von Lavater darauf aufmerksam gemacht, ausgerufen haben soll: „Das ist ein Puder auf den Kopf; der Kopf ist die Hauptsache; Puder kann man in jedem Kramladen kaufen,“ begann in seiner Hülfsbedürftigkeit, von einem richtigen Instinct geleitet, seine schriftstellerische Thätigkeit mit den „Abendstunden eines Einsiedlers“, einer kurzen, aber inhaltsvollen Reihenfolge großer Anschauungen und Gedanken, die zuerst in Iselin’s „Ephemeriden“ erschien. Hierauf folgte das Volksbuch „Lienhard und Gertrud“, eine Schrift, die Pestalozzi’s Namen fast durch ganz Europa trug und in weiten Kreisen wirkte.

Er wollte durch diese einfache schweizerische Dorfgeschichte, in der er sein erstes Wort an die Armen und Verlassenen im Volke, vorzugsweise an die Mütter des Landes, als die von Gott selbst bestellten ersten Erzieherinnen der Jugend, richtete, eine von der wahren Lage des Volkes und von seinen natürlichen Verhältnissen und Bedürfnissen ausgehende bessere Volksbildung begründen. Keine seiner zahlreichen spätern Schriften kann sich sowohl nach Inhalt und Darstellung wie hinsichtlich des Erfolges mit dem Volksbuche „Lienhard und Gertrud“ messen.

Während dessen hatte sich Pestalozzi’s äußere Lage immer mehr verschlimmert. Der Besitz seines Landgutes kostete ihm jährlich große Summen und trug ihm so viel wie nichts ein. Da brach die französische Revolution los. Ihre Wirkungen ergriffen bald auch sein Vaterland. Die Revolutionsheere drangen in dasselbe ein, die Schweiz ward in eine untheilbare Republik verschmolzen, an deren Spitze fünf Directoren standen; unter ihnen auch Le Grand, ein Freund Pestalozzi’s. Durch seinen und den Einfluß der edlen Minister Stapfer und Renger wurden Pestalozzi in der neuen Republik einträgliche Stellen angeboten. Er schlug sie in richtiger Erkenntniß seines Mangels an Geschäftsbefähigung und praktischer Tüchtigkeit aus und wiederholte den Freunden sein schon früher gesprochenes Wort: „Ich will Schulmeister werden!“

Durch den Widerstand gereizt, welchen die vier Urcantone der Schweiz der neuen helvetischen Regierung entgegensetzten, sandte Frankreich seine Revolutionsheere in die verborgenen Alpenthäler, wo sie sengten, raubten, mordeten und dabei auch im September 1798 Stans, den Hauptort Unterwaldens, verbrannten. Ein schreckliches Elend war dessen Folge. Schaaren vater- und mutterloser Kinder irrten verlassen und ohne Obdach umher, und die obengenannten drei Männer an der Spitze der Regierung, Le Grand, Stapfer und Renger, sandten mit richtigem Blick die zwei großen Heinriche der Schweiz, Heinrich Zschokke und Heinrich Pestalozzi, jenen als Regierungscommissar in die Urcantone, diesen als Schulmeister in das unglückliche Stans.

Die Regierung hatte Pestalozzi für den Zweck des zu errichtenden Waisenhauses das Gebäude des Klosters der Ursulinerinnen angewiesen, das aber weder ausgebaut, noch zur Aufnahme einer ansehnlichen Zahl von Kindern eingerichtet war. Die armen Waisen drängten sich in beträchtlicher Anzahl von allen Seiten herzu, ehe noch Zimmer, Küche, Betten in Ordnung waren. In einem kleinen Gemach, durch dessen zertrümmerte Fenster das rauhe Herbstwetter schlug, mußte unser Held, nur von einer Haushälterin begleitet, sein Werk beginnen.

Doch wie unbedeutend war dieser regellose Zustand gegen die grenzenlose Verwilderung der Kinder selbst, die mit Ungeziefer beladen, wie abgezehrte Gerippe, gelb, grinsend, einige voll kühner Frechheit, des Bettelns, Heuchelns, Lügens und aller Falschheit gewöhnt, einige vom Elend niedergedrückt, voll träger Unthätigkeit, sich täglich mehrten und von denen kaum eins das A-B-C kannte! Und – ehe das Frühjahr kam, kannte man diese Kinder nicht wieder. Sie waren wirklich zu Menschen, zu frohen, glücklichen, dankbaren Menschen umgewandelt worden durch die Kraft und Ausdauer, die fast übermenschliche Aufopferung einer Liebe, die sich selbst über ihrem Werke ganz vergaß und bei Tag und Nacht mit Vater- und Muttertreue über den Kindern waltete.

Der Grundgedanke, der Pestalozzi bei seinem „Pulsgreifen der Kunst, die er suchte“, leitete, war die Uebertragung des vollen Segens der häuslichen Erziehung auf die öffentliche, des Segens der Wohnstube auf die Schulstube. Erhebend und rührend ist, was er über sein Verhältniß zu seinen Kindern an Geßner schreibt: „Ich war vom Morgen bis zum Abend allein in ihrer Mitte. Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, ging durch meine Hand. Jede Hülfe, jede Handbietung in der Noth, jede Lehre, die sie erhielten, ging unmittelbar von mir aus. Meine Hand lag in ihrer Hand, mein Auge ruhte auf ihrem Auge, meine Thränen flossen mit den ihrigen und mein Lächeln begleitete das ihrige. Sie waren außer der Welt, sie waren außer Stans, sie waren bei mir, und ich war bei ihnen. Ihre Suppe war die meinige, ihr Trank der meinige. Ich hatte nichts, ich hatte keine Haushaltung, keine Freunde, keine Dienste um mich her, ich hatte nur sie. Waren sie gesund, ich stand in ihrer Mitte, waren sie krank, ich war an ihrer Seite. Ich schlief in ihrer Mitte. Ich war am Abend der Letzte, der in’s Bett ging, und am Morgen der Erste, der aufstand. Ich betete und lehrte noch im Bett mit ihnen, bis sie einschliefen. Alle Augenblicke mit Gefahren einer doppelten Ansteckung umgeben, besiegte ich die beinahe unbesiegbare Unreinlichkeit ihrer Kleider und ihrer Leiber.“

Als die von den Oesterreichern geschlagenen und zurückgedrängten Franzosen die Klostergebäude für ihre zahlreichen Verwundeten als Militärhospital in Beschlag genommen hatten, mußte Pestalozzi 1799 alle seine armen lieben Pflegebefohlenen entlassen, nachdem er sie mit Geld, Wäsche und Kleidern versorgt hatte. Herzzerreißend war der Abschied der Kinder von dem geliebten Pflegevater. Sie hingen sich an seine Arme, küßten unter Thränen seine Hände und konnten nur mit Mühe bewogen werden, in ihre verschiedenen Heimathen zurückzukehren. Er selbst ging erschöpft und gebeugt in den Badeort Gurnigel in den Berner Alpen, um seine angegriffene Gesundheit wieder herzustellen, und von dort nach Burgdorf, wo er anfangs unter großen Entbehrungen in einer Winkelschule den in Stans fallen gelassenen Faden seines Unterrichtes wieder aufnahm, wobei er, alle Theorie und fremde Erfahrung gering achtend und von der Anschauung als Grundlage ausgehend, bemüht war, die Anfänge des Unterrichtes zu höchst möglichster Einfachheit und in solche naturgemäße Form zu bringen, welche die Kinder vom ersten Schritte allmählich sicher zu den weiteren führen mußte.

(Schluß folgt.)
[552]

Bettina’s Theetisch.

Als ich blutjung war, kaum sechszehn Sommer zählend, betrat ich zum ersten Mal das Arnim’sche Tusculum, jenes abgelegene, romantische Haus im Berliner Thiergarten, dessen Belétage die Bettina von Arnim, die bekannte Verfasserin von „Goethe’s Briefwechsel mit einem Kinde“, und ihre Töchter zu einer idealen Dichterwohnung umgestaltet hatten. – Es giebt ein Märchen von einem Studiosus, der bei einer alten Fee eingeführt wird, welche eine wunderlich phantastische Welt umgiebt; dem Alltagsleben fühlt er sich vollständig entrückt, sobald er die Schwelle überschritten hat, und zwischen den seltsamen Geräthschaften, Spiegeln und Gemälden wandelt. Die Fee, immer noch mit einem Nimbus umgeben, fordert von ihrem Adepten blinde Unterwürfigkeit und Bewunderung, obgleich ihre Locken bleichten, ihre Sprüche machtlos wurden, ihre „Gespräche mit Dämonen“ im Winde verklangen und die großen Geister, durch deren Umgang sie berühmt geworden, längst verstummten.

An dieses Märchen dacht’ ich, so oft es mich unwiderstehlich nach der Thee-Tafelrunde zog, wo berühmten und unberühmten Rittern des Geistes der chinesische Trank von den Töchtern des Hauses auf das Anmuthigste gereicht ward. Fast immer fühlte man sich in dieser Atmosphäre angenehm und angeregt berührt; die jungen Wirthinnen besaßen eine hinreißende Liebenswürdigkeit für ihre Gäste. Das anmuthig schalkhafte „Gethue“ von Marialla Fitchersvogel – wie die Jüngste auf dem Titelblatt ihrer Märchen sich nannte – sowie die Eleganz der pikanten Weltdame, der zweiten Tochter, waren Magnete seltener Art. Die älteste dieser interessanten Schwestern, schon seit mehreren Jahren verheiratet, war im Theezimmer nur im Bilde anwesend. Steinle aus Frankfurt hatte ihren ausdrucksvollen Kopf mit der Adlernase in einem Lorbeerkranz portraitirt; zuerst hielt ich das Bild für eine Leonore Sanvitale.

Dieser Cirkel, dessen Worten mein junges Ohr begierig lauschte, wußte dem Unbedeutendsten Reiz abzugewinnen, aber ebenso wurde das Bedeutendste ganz unbarmherzig aus Laune, aus Widerspruch und Willkür seines Reizes beraubt und lachend zu den Todten geworfen. Die Paradoxen waren vorherrschend; Achim von Arnim’s Wurzelmännchen, Onkel Clemens’ Kobolde schienen unsichtbar mit am Theetisch zu sitzen, und oft nach solch’ einem Abend parodirte ich lachend den Macbeth: „ich hab’ zu Tisch gesessen mit Gespenstern“ – jene waren freilich lieblicher Art.

Bettina’s leichthin ausgesprochene Verachtung gegen die meisten Kunst- und Dichterautoritäten aller Länder und aller Zeiten war beispiellos. Mit Ausnahme des Zeus-Goethe, dem sie einen Götzendienst weihte, schlau berechnend, daß sie durch ihn berühmt werden würde, sagte sie von den meisten classischen und modernen Dichtern: „Der kann mir gestohle werden.“ Nur Petöfi, dem Ungar, ließ sie Gerechtigkeit widerfahren. Die ganze Weltgeschichte galt ihr als „Plunder“, wie sie es schon im Briefwechsel mit der Günderode gesteht; eine Zeit, in der sie nicht existirt hatte, war ihr gleichgültig. Daß sie sich in so eigensinnigen Vorurtheilen verstricken konnte, ist eigentlich räthselhaft, da sie doch einen so großen Sinn für das Schöne und eine so lebhafte Anschauung hatte.

Oft schlugen auch Abneigung und Widerwille ganz plötzlich in Liebe und Versöhnung bei ihr um; dann aber auch wehe dem, der nicht mit geliebt, sich in ihren Widerspruch nicht gefunden hätte! Auf eine meiner nahen Verwandten, eine damals schöne junge Frau, war sie einst, vor langen Jahren, ganz unverhohlen eifersüchtig gewesen; weshalb? weil einer unser berühmten Gelehrten, mit welchem Bettina in einem überaus geistreichen Verkehr stand (kürzlich feierte derselbe seine goldene Hochzeit mit der Wissenschaft), jener schönen jungen Frau eine leidenschaftliche Verehrung zollte. Bettina konnte einen kleinen Aerger darüber nicht unterdrücken, und obgleich die junge Dame ihr ganz unbekannt war, so konnte sie nach gewohnter Weise doch nicht unterlassen, kleine boshafte Hiebe auszutheilen, so oft von jener die Rede war.

Eines Abends aber trat die Dame bei Rahel Varnhagen ein, um deren Theetisch sich der interessanteste Kreis, darunter Bettina und jener junge Professor, versammelt hatte. Ganz überrascht von der Anmuth ihrer Rivalin, betrachtete Bettina sie ein Weilchen und rief ihr dann zu: „Also, so sehe Sie aus, kleine G…le? Na, da kann ich’s dem verfluchte Kerl, dem R., nicht verdenke, daß er von mir fortgelaufe ist, wie die Laus vom todte Jude.“

Seitdem blieb sie ihr gewogen. Lange nach diesem Begegnen – Bettina war indeß fünfzig Jahre alt geworden – trifft sie die frühere Nebenbuhlerin einmal unter den Linden und redet sie mit den Worten an: „Sehe Sie mir nichts an? Ich hab’ mich soeben in eine Studente verliebt.“ Sie sprach von Philipp Nathusius, der in der Begeisterung über den „Briefwechsel mit einem Kinde“ an sie geschrieben und dann ihre Bekanntschaft gemacht hatte. An jenen Brief reihte sich die „Correspondenz zwischen Ilius Pamphilius und der Ambrosia“.

Sehr ergötzlich ist ihr erstes Begegnen mit Leopold Ranke. Der Rahel’sche Salon führte gleichfalls diese beiden Feuergeister zusammen. „Sie sind der Ranke?“ fragte Bettina, indem sie gerade anfing eine Weintraube zu essen; „komme Sie und essen’s mit mir die Traub,“ worauf Ranke die „Traub“ mit aufessen half. Nach beendeter Soirée begleitete der neue Bekannte die berühmte Frau nach Hause, alsdann brachte sie ihn wieder den ganzen Weg zurück, darauf wiederum er die Bettina bis zu ihrer Wohnung, sie wieder den Ranke bis zu der seinigen, und so bis zur Morgendämmerung. „Dabei haben wir die schönsten Dinge gesprochen, die uns je die Begeisterung eingegeben,“ gestanden Beide in Rückerinnerung der originellen Nachtpromenade.

Auch mit Fürst Pückler-Muskau traf Bettina bei Rahel zusammen. Wir wissen, daß diese beiden außergewöhnlichen Persönlichkeiten viel miteinander verkehrten, correspondirten, sich gegenseitig anzogen und ebenso oft abstießen, mit ihren Gedanken ein kühnes Federballspiel trieben, oft Jahre lang sich ignorirten, dann wieder den alten Ton neckischen Humors, dithyrambischer Ergüsse anstimmten und somit trotz alledem befreundet blieben. Der scharfsinnige, geistreiche „Verstorbene“ nannte sie Orlanda und verstand darunter „rasende Orlanda“, da sie rastlos, immer athemlos, immer stürmisch aufgeregt war. Sie beklagte sich anfangs fortwährend über den undankbaren Pückler, der selbstständiger blieb, als sie es gewöhnt war, „er glitte ihr unter den Händen fort, es wäre kein Verlaß auf ihn“. Nach dem lebendigsten Verkehr, den Beide während ihrer ersten Bekanntschaft gehabt, verließ Fürst Pückler Berlin, und Bettina erzählt von dem Abschied: „Gestern Abend kommt der verfluchte Kerl, der Pückler, und macht mir weis, er würde bis ein Uhr bleibe, dann habe er den Wagen bestellt; gleich darauf aber fährt die Kutsch vor, und er sagt, er müsse abreisen. Und ich hatte ihm eben nur noch die schönste Anekdote von Goethe erzählt und ihm zwölf nackte Figure von meine Zeichnunge geschenkt! Da lacht’ ich ihm denn in’s Gesicht und sagte ihm, sonst würde ich bei seinem Abschied geweint haben.“

Beide zusammen zu sehen, war ebenso interessant, als sie zu hören. Glich sie in ihrem nachlässigen schwarzen Gewande einer nordischen Sibylle, so war er immer noch der vollendete Salonherr, der sich, wie sonst, mit feiner Koketterie zu kleiden verstand und dessen graciös ungezwungene Bewegungen ihn bedeutend jünger erscheinen ließen, als er war. Noch war er nicht, wie jetzt, seinem Aeußern nach, ein schöner orientalischer Magier mit silberweißem Bart, doch viel milder war er bereits geworden, der sonst gefürchtete, sarkastische Grandseigneur; von seinen Lippen floß echte, humane Weisheit bei jovialster Lebensanschauung, während Bettina launischer, unnahbarer, wortkarger geworden war. Der Maler Wilhelm Hensel, der sich seiner höchst interessanten Albums wegen scherzhaft den Albummler nannte, zeichnete damals den Fürsten und seine Gönnerin. Beide Portraits sind ganz vortrefflich, besonders charakteristisch die nornenhafte Bettina. Sie schrieb unter ihre Zeichnung: „Anführer sei mir stets ein Gott und nie ein Mensch.“ Pückler unterzeichnete mit den Worten: „Vorwärts durch das Leben, vorwärts durch den Tod, und daher Beides jederzeit willkommen.“ Glücklicher Weise zog bis jetzt Asrael, der Todesengel, an dem vierundachtzigjährigen merkwürdigen Manne vorüber. Einst erzählte er, Graf Saint Germain habe ihn als ganz kleinen Knaben in Muskau gesehen und ihm ein sehr langes Leben prophezeit.

Welch’ eine Meinung Bettina selbst und auch die Ihrigen von der Weltberühmtheit und dem politischen Einfluß der Mutter hatten, beweist folgendes Geschichtchen.

[553] In einem mir befreundeten Kreise war beschlossen worden, das Lustspiel „der König von sechszehn Jahren“ aufzuführen; mir war die Rolle Ludwig’s des Fünfzehnten zu Theil geworden, und nicht wenig freute ich mich, in der Generalprobe in einem reichen Rocococostum von rothem Sammet zu erscheinen. Ich konnte dem Wunsche nicht widerstehen, so besternt und bestickt wie ich war, dem Fräulein Fitchersvogel meine Huldigung darzubringen, und droschkete nach beendigter Probe, einen Mantel umgeworfen, Galoschen über die Schnallenschuhe, in den Thiergarten hinaus. „Melden Sie,“ flüsterte ich dem Diener zu, der mich erkannte, „den König von Frankreich.“ Einverstanden schmunzelte er, meldete jedoch nicht „den König“, sondern der Politik des Tages folgend den Kaiser von Frankreich, ohne sich durch meinen gepuderten Kopf stören zu lassen.

Ich blieb lange allein, so daß ich nicht wie mein Vorgänger Ludwig der Vierzehnte sagen konnte: j'ai faili attendre (ich hätte beinahe gewartet), sondern ich wartete wirklich. Es rauschte in den Nebenzimmern des großen Saales, in dem ich mich befand, Thüren gingen, leichte Schritte näherten sich, entfernten sich wieder, endlich trat Marialla etwas feierlich ein. „Ach, Sie sind es, Wildfang!?“ rief sie lachend; dann aber setzte sie ganz ernsthaft und wie sich von selbst verstehend hinzu: „wir glaubten nicht einen Augenblick anders, als daß Louis Napoleon incognito hier sei, um der Mutter ein Staatsgeheimniß anzuvertrauen; ist ihr ja oft Aehnliches passirt!“

Der Traum ihres Lebens war Goethe ein Denkmal zu setzen, zu dem sie selbst das Modell componirt hatte, welches im Balconzimmer ihrer Berliner Wohnung stand. Leider ist dieser Traum nicht so zur Wahrheit geworden, wie sie es ersehnte. Es wäre ihr zu gönnen gewesen, denn es war nicht Eitelkeit, welche sie zu diesem Werke antrieb, sondern wirkliche Begeisterung, und es ist keine Kunstfaselei, zu behaupten, daß jenes Modell die Eingebung eines Genius sei. In der That, die zeusartige, sitzende Statue, welcher eine breite, umfangreiche Terrasse zum grandiosen Piedestale dient, ist von unbeschreiblicher Wirkung selbst in so kleinem Maßstabe, und würde das nüchterne Standbild in Frankfurt glänzend überstrahlen. Zeichnen sich die Piedestalreliefs des letzteren durch die unbedeutendste Auffassung aus, so sind diejenigen Bettinens von übersprudelnder Genialität und, obgleich nur skizzenhaft angedeutet, der Ausführung eines gewandten Meisters würdig. Namentlich kühn und poetisch ist das eine, wo Goethe als Jüngling, eine nackte Idealgestalt, den Musen trunken in die Arme taumelt. „Hier ist er besoffen, des göttlichen Nektars voll,“ erklärte an jenem Abend die reich Begabte.

Nur die schmächtige, fragwürdige Psyche, diese dem ersten Blick des Beschauers unbegreifliche kleine Puppe, welche vor dem olympischen Dichter steht, „das Kind“, müßte weggelassen werden. Diese schadete auch damals der Aufnahme im Publicum ungemein; man sah in „diesem Kinde“ nur das persönliche Hinzudrängen von Bettina, spottete über diese Theilhaftigkeit an der Unsterblichkeit und erkältete sich auf der Stelle dagegen.

Der Bildhauer Steinhäuser führte bis jetzt nur den thronenden Dichterfürsten aus, der, im Park zu Weimar in einem Gartenhäuschen eingezwängt, gar nicht an seinem Platz ist. Bis zu ihrem Ende hoffte aber Bettina, Friedrich Wilhelm der Vierte, dem sie seit 1848 nicht mehr nahen durfte, werde sich mit ihr versöhnen und alsdann nicht säumen, das Denkmal ausführen zu lassen. Aber ils étaient passés ces jours de fête, wo der König an die neue Diotima schrieb: „Rebenentsprossene, Sonnenumflossene!“

Oft erzählte ein intimer Freund des Hauses, Freiherr von Haxthausen, ein seltsamer alter Herr, der lange im Kaukasus gelebt hatte, prächtige Spukgeschichten und tscherkessische Sagen von wilder hinreißender Schönheit und Volksthümlichkeit. Hermann Grimm, seitdem Marialla’s Gatte, wurde dadurch zu seinen zwei herrlichen Gedichten „die Schlange“ und „Aßly und Kiarem“ (das Liebespaar, das in gegenseitiger Umarmung verbrennt) angeregt. Unbegreiflich, diese beiden Romanzen, in denen echtes, heiliges Feuer glüht, sind ganz unbekannt geblieben und verdienten doch unter dem Schwungvollsten und Reizendsten moderner Poesie genannt zu werden. Varnhagen von Ense besuchte ab und zu den Theecirkel der alten Fee und ihrer jungen Töchter. Während seiner geistreichen, anziehenden Unterhaltung handhabte er eine seine Scheere, mit der er allerliebste Figürchen, Blumenbouquets, Landschaften, auch mitunter ein markirtes Profil in größter Meisterschaft ausschnitt. Kein angenehmerer Gesellschafter als er, zugänglich für Alt und Jung, mittheilend und belehrend. Ranke erschien sehr selten einmal, wenn er auf seinen weiten einsamen Spaziergängen den Thiergarten passirte. Dann scherzte er mit Marialla und dem kleinen Hofe duldsamer Jungfräulein, welchen sie gern um sich versammelte, wie ein possierliches Kind, und vom tiefen Historiker war nichts an ihm zu merken; alle Sprühteufelchen seiner lebendigen Phantasie wirbelten dann um ihn her, selten vermochte man einen davon einzufangen und genau zu betrachten, seine Gedankenblitze zerstiebten knatternd in der Luft, ohne daß man sich nachher auf sie besinnen konnte. Einst fragte er, sich in diesem jungen Kreise quecksilberartig bewegend, nach den verschiedenen Lieblingslectüren der jungen Damen, worauf denn gar sentimentale Geständnisse erfolgten: „Tieck’s Genoveva“, „Lamartine’s Raffael“ etc. Die schalkhafte Marialla war klüger und rief lachend, als die Reihe an sie kam: „Ranke’s Geschichte der Päpste!“ Der Verfasser des berühmten Werkes lachte überlaut, griff nach dem Hut und lief davon.

In den letzten Zeiten vor Bettina’s Ende, dem ein langes sehr schweres Siechthum voranging, traf ich eines Abends – der Thee wurde damals in ihrem eigenen Wohnzimmer genommen – einen freundlichen älteren Herrn, dessen lebhaftes Mienenspiel und einnehmendes Wesen mir auffielen. Trotzdem er fließend deutsch sprach, erkannte ich sofort in ihm den Italiener, Salvodi hieß er. Damals hörte ich den Namen gelassen an, saß dem amüsanten Manne harmlos gegenüber und lachte über seine fein maliciösen Scherze, nicht ahnend, daß ich einige Jahre später nicht einen Augenblick in demselben Zimmer mit ihm geblieben wäre, sondern ihn wie den ärgsten Feind gemieden hätte. Dieser Salvodi, so erfuhr ich lange nachher, war österreichischer Polizeiminister in Venedig, hatte Silvio Pellico dem Spielberge überliefert und unzählige Andere in’s Exil, in die Bleikammern, wohl gar auf das Schaffot geschickt. Wie kam er, den Varnhagen in den Tagebüchern vom Jahre 1851 mit Recht geißelt, wie kam er zu Bettina, die für die Gebrüder Grimm, Hoffmann von Fallersleben und Bruno Bauer Lanzen gebrochen hatte? Es war nur insofern zu erklären, als der Sohn Salvodi’s, Scipione, ein antik römischer Charakter, ein Mensch von Wissen und Gefühl, vom eigenen Vater abgefallen, als Verbannter in Berlin lebte und im Arnim’schen Hause freundschaftlich aufgenommen war. Vielleicht wollte Bettina Bekehrungsversuche mit dem alten Spion anstellen, vielleicht hat sie sogar die Versöhnung zwischen Vater und Sohn herbeigeführt, denn Beide sah ich am selben Abend friedlich nebeneinander. Trotzdem blieb Scipione nach wie vor in der Stadt der Intelligenz. Ist sein Vaterland doch erst seit Kurzem von der Fremdherrschaft befreit! Dieser junge Mann mit dem Falkenblick und der bereits kahlen Stirn hatte im Verein mit Friedmund von Arnim eine höchst merkwürdige Brochure geschrieben: „die Religion der Liebe“. Eine neue, bessere Welt zu schaffen, war ihr gemeinschaftliches Ideal.

Zur Zeit, wo die Manie des Tischrückens durch den Psychographen verdrängt ward, gab es große Versammlungen bei den Arnim’schen Damen, und Jeder sollte mit dem Instrumente experimentiren. Man denke, welch’ ein Unsinn dabei herauskam. Bettina stellte sich, als glaube sie allen Ernstes daran. Auf ihre Frage an den buchstabirenden Apparat: „wie heißt der Geist, der Dir innewohnt?“ setzte sich die Antwort „Mephisto“ zusammen. „Na, da habt ihr’s, Dummköpfe!“ rief sie. Ein ihr verwandter Gardeoberst und ein Abgeordneter des Landtages vermochten nicht ihr spöttisches Lachen zu unterdrücken. Wer aber schildert die betretenen Gesichter aller Anwesenden, als plötzlich der Psychograph sich in Bewegung setzt und buchstabirt: „Geh’ nach Hause, Officiersesel und Kammernarr.“

Gisela Arnim arrangirte oft Spaziergänge nach Charlottenburg, dabei ging es harmlos und anmuthig zu. Vor dreizehn Jahren war Berlin keine Weltstadt, keine Pferdeeisenbahn im Thiergarten, kein solch’ Gewimmel auf Schritt und Tritt, keine Corsofahrten, keine Modetyrannei. Einfach angezogen, einfach frisirt, ein Päckchen Kuchen unter dem Arm, so gingen „die Kinder berühmter Leute“ und ihre Adepten die grünen Alleen entlang nach Muskau’s Kaffeegarten, nachher an den Karpfenteich im Schloßgarten. Neulich kam mir ein Zettelchen aus jener Zeit in die Hand, ein Einladungsbilletchen Gisela’s zu solcher Wanderung in’s Grüne; das sonderbare Format erklärt sie mit der Aufschrift: „Der Brief ist [554] in Form einer Maifahne, die Tintenkleckse sind Frühlingsmücken, es kommt Alles auf den Gesichtspunkt an.“

Zum letzten Male begegnete ich Bettinen im Opernhause, beim zweiten Berliner Gastspiele der Ristori; der italienischen Melpomene galt ihr letzter Enthusiasmus. Sie besuchte sie mit der jüngsten Tochter, welche sogar ein Drama für die schöne Adelaide geschrieben hatte, worin letztere jedoch nicht auftrat, obwohl man es für sie in’s Italienische übersetzen ließ. Von einem zahlreichen Verwandten- und Freundeskreise umgeben, saß Bettina, wie mich dünkt, zum letzten Mal, im Opernhause, und klatschte der Francesca von Rimini lauten Beifall. So steht ihr Bild mir in lebhafter Erinnerung vor Augen.



Zu Deutschlands Sagenthron.
Eine Thüringer Bergfahrt. Von Friedrich Hofmann.
Madonna Thuringia. – Die „Güldene Aue“ – Der Rothenburger Einsiedler. – „Du schöner Wald“ – Die Rothenburg. – Die erste deutsche Dampfmaschine. – Die Kaiserburg. – Deutschlands Sagenthron. – Die falschen Barbarosse. – Der Sagenbaum und die Wunderblume. – Der Schmied von Jüterbogk und die Prinzessin. – Die Schlacht am Welfisholz und Deutschlands Einheit. – Die Schlucht der Wollweda. – Das Rathsfeld und das denkwürdige Wort. – Thomas Münzer’s Schlachtberg. – Die Barbarossahöhle. – Prinzenraub. – Das Echo des heiligen Thals.

„Halle!“ rief der Schaffner in den Waggon, und „Grüß Gott, mein Thüringen!“ rief ich, denn auf der Saale linkem Strande stehen die Füße der schmucken Jungfrau im Schooße Deutschlands, deren schönes Haupt die Wartburg ist. Und sie muß der Madonna gleichen, die Thuringia, denn sie hält ein wunderschönes Kind im Arm, es lacht aus dem Wäldermantel des Harz, den sie um ihre linke Schulter geworfen, heraus, seine Füße reichen bis Wallhausen und Brücken, sein Haupt ist Heringen, Kelbra sein Herz und sein Name „Goldene Aue“. Also wird er auch Recht gehabt haben, jener Graf Bodo von Stolberg, da er vom Kreuzzuge aus Palästina heimkam und wieder vom Kyffhäuser in die Thale hinabschauend ausrief: „Gehet mir mit dem gelobten Lande! Ich nehme die Güldene Aue dafür."

Lange Zeit war dieses geschichte- und sagenreiche Thal- und Bergland mit dem Kyffhäuserthurm als Wahrzeichen nur ein Wallfahrtsort für die sogenannte „schwärmerische Jugend“ im altdeutschen Rock; die Besucher mehrten sich, jemehr das Nationalgefühl in Deutschland Gemeingut wurde; nachdem aber eine Eisenbahn die goldene Aue durchzieht und die Jahre 1848 und 1866 an der Nation gerüttelt, wollen Tausende zum alten Barbarossa, und das allein schon verpflichtet uns, auch unsere Leser zu einer solchen Thüringer Bergfahrt einzuladen.

An einem schönen Sommer-Sonntagmorgen sagte ich in Roßla dem Dampfroß Valet. Da lag sie vor mir weit ausgedehnt, des Kyffhäusergebirgs, dieses im Norden von dem Helme-, im Süden von dem Wipperfluß umgrenzten Bergreviers, steile Nordwand mit ihrem dichten Wäldervorhang und den dunkeln Falten ihrer tiefen Schluchten, zur Linken auf höchster Höhe der Thurm der Kyffhäuserburg, gerade vor mir, der grünen Riesenkuppel eines versunkenen Domes gleich, der Berg der Rothenburg und zu ihren Füßen Thürme und Dächer von Kelbra.

Ich eilte zur Rothenburg hinüber, vor deren Berge ich nach etwa einer halben Stunde stand, und bald darauf umfing mich der Schatten in hohen, feierlichen Waldeshallen.

Meine Fahrt fiel noch in die Zeit, wo auf der Rothenburg der Dichter und Kaufmann Friedrich Beyer aus Kelbra als der in Thüringen allbekannte „Rothenburger Einsiedler“ gemüthliche Wirthschaft führte. Wer damals die originelle Benutzung der beschränkten Räumlichkeit für zahlreiche Gäste, die Grotten, Häuschen und Plätzchen, die der fleißige Einsiedler im Verlaufe von fast dreißig Jahren alle eigenhändig hergestellt, neben dem Alten selbst betrachtete, war gewiß mit Beiden zufrieden und fühlte sich behaglich. Jetzt ist leider, nach Beyer’s ziemlich rücksichtsloser Beseitigung von dieser schwarzburgischen Stätte, aus der poetischen Einsiedelei eine gewöhnliche Schenke geworden.

Der freie nach Süden schauende Platz vor der ehemaligen Einsiedelei fesselt Jeden, auch den Weitgereisten. Vor uns senkt der Berg sich zu einem tiefen Thale ab, genannt „das heilige Thal“, und jenseits erhebt sich eine hohe steile Bergwand, an welche zur Linken und Rechten wieder andere Höhenzüge sich anschließen, bald sanft übereinander aufsteigend, bald kühn vorspringend; nur zur Rechten neigen sich die Höhen zur hereinwinkenden Goldenen Aue nieder, – und all’ diese Bergwände und Vorsprünge sind der üppigste, grünste Laubwald, nichts als herrlicher Wald, wohin das Auge blickt, hochstämmig, weitästig, laubwogend und aufathmend mit millionenblättrigem Rauschen! Das Auge schwelgt in dieser unnennbar wohlthuenden Fülle, es schweift nach allen Seiten hinaus und ruht wieder aus, und wo es ruht, ist grüne entzückende Herrlichkeit. Aus tiefster Brust, Alles um mich vergessend, mußte ich laut hinaussingen:

„Wer hat dich, du schöner Wald,
Aufgebaut so hoch dort droben?“

Die Rothenburg war von geringem Umfange; die meisten Grund- und Seitenmauern, eine hohe Giebelwand, die Fenster des Rittersaales und ein mächtiger runder Wartthurm sind noch bis zu ziemlicher Höhe erhalten. Das Anziehendste auch dieser Ruine ist aber ihre Lage, ihre „Aussicht“. Vor dem nördlichen Eingänge tritt ein Altan hinaus, auf dem in einer Nähe, die das unbewaffnete Auge beherrscht, der ganze obere Theil der Goldenen Aue uns zu Füßen liegt. Umrahmt von dem grünen Kyffhäusergebirg im Süden und den dunkeln Nadelwäldern der Vorberge des Harz von Norden her, dehnt wie ein einziges ungeheures Aehrenfeld die breite Ebene des Thales sich aus, und die Städtchen und Flecken, Dörfer und Weiler, die grünen Wäldchen und Wiesen, die Fruchtbäume der Straßen, das Ufergebüsch der Helme – das Alles lag so klar und ruhig, wie auf Goldgrund gemalt, zwischen der Fülle des Erntesegens. Bis zu dem Ohmgebirge des Eichsfeldes reicht zur linken der Blick und diesem zur Rechten gipfelt Höhe über Höhe sich auf, bis der Doppelrücken des Brocken mit seinem dunklen verschwimmenden Blau das ganze Bild krönt.

Neben diesem Prachtstück der Natur hat die Geschichte der Rothenburg und ihrer Bewohner für uns wenig Anziehungskraft. Dennoch nimmt ein Kreuzgewölbe, von einer Säule getragen, unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. In einer Nische desselben soll der berühmte Püsterich gefunden worden sein, jene zwei Fuß hohe hohle Erzfigur, die einen unförmlich dicken knieenden Knaben vorstellt, der zwei Oeffnungen im Kopfe hat. An die Ergründung der Bedeutung des Püsterich, der jetzt das Sondershäuser Naturaliencabinet ziert, ist schweißtriefende Gelehrsamkeit verwendet worden; er stieg bis zum slavischen Götzen, ja bis zum Germanengott des Donners hinauf und bis zur Branntweinblase herunter. Unsere dampfkundige Zeit thut am besten daran, in ihm die erste deutsche Dampfmaschine zu verehren, mittels deren kluge Priester ihrem Willen als dem ihres Gottes den nöthigen Nachdruck zu verschaffen wußten; denn wenn man den alten Püsterich halb mit Wasser gefüllt über Feuer setzt und seine beiden Oeffnungen verpflöckt, so benimmt er sich wie der jüngste Dampfkessel: wenn das Feuer seine Schuldigkeit gethan hat, fahren Pflöcke und Dampf donnernd und zischend in’s Freie – und mehr brauchten die Priester für ihren Zweck gewiß nicht. Dem frommen Betrug dieser Art gebe ich sogar den Vorzug vor den Wundern ungenähter Röcke, weinender Crucifixe und curpfuschender Heiligengebeine.

Auf einem freien Plätzchen vor dem Wartthurm sieht man im Osten den Thurm der Kyffhäuserburg über alle Wälder emporragen. Von ihm, nach dem ich mich tausend Male in der Sagen- und Kaiser- und Reich-Schwärmerei meiner Jugend gesehnt und den ich nun erst als Graukopf schauen sollte, trennte mich hier nur noch ein Wegstündchen. Da galt kein Halten mehr.

Die ersehnte Ruine kommt uns auf dem ganzen Weg nie zu Gesicht und erst an seinem Ende, wo er plötzlich ansteigt, steht mit einem Male, wie auf einem grünen bebuschten Kegel, der ungeheuere, massige, schaurig zerrissene Barbarossa-Thurm vor uns, röthlichgrau, wie seines Kaisers Bart, in den blauen Himmel aufragend. Ich eilte mit Jünglingshast den schmalen Treppenpfad hinauf [555] um meine Hand auf sein geschichtliches und sagenerfülltes Gestein zu legen.

Und nun dieses Rundbild! Gegen anderhalbtausend Fuß hoch auf des Gebirges Scheitel den Jahrhunderten trotzend erhebt der Thurm selbst noch an seinem Fuße uns durch das Gefühl majestätischer Erhabenheit über alle Lande ringsum und alle Höhen nah und fern. Da liegen zu unseren Füßen im weiten Umkreise Auen und Wälder, Dörfer und Städte, Schlösser und Ruinen – dort, im Osten, Allstedt mit seinem Schlosse, Artern und Sangerhausen, jenseits der Goldenen Aue die langgestreckten dunkeln Linien der Berge des Vorharz, daraus hervor leuchtend und ragend da die Trümmer von Questenberg, weiter die Josephshöhe mit ihrem Kreuz, dann der Eichenforst, der Rammberg mit der Victorshöhe und vom Blau des Himmels leise geschieden der Brocken – der alte Sagennachbar Blocksberg –, etwas westlicher Nordhausen mit seinem hohen Petrithurme, und ganz im Westen begrenzt, über die freundlich herüberwinkende Rothenburg sich erhebend, das Ohmgebirg den Blick, die Hafenburg tritt hervor, dann schließt sich das Nachbargebirg der Hainleite mit dem Jagdschloß Possen und nach geringer Unterbrechung das der Finne mit der Doppelruine Sachsenburg an, und zwischen beiden grüßen die Thürme von Erfurt und Weimars Ettersberg herüber und über sie alle spannt seine fernen blauen Bogen der Thüringerwald. Es ist auf den ersten Blick sonnenklar: welchen Glanzes und Ruhmes Schlösser und Burgen rings umher sich rühmen mochten, alle beugten ihr Haupt vor der Kaiserburg.

Nur wer hier gestanden, wundert sich nicht mehr darüber, daß unser Volk gerade diesen Berg und seine Burg durch die schönste und bedeutungsvollste seiner Sagen verherrlicht hat: die Lage von Barbarossa’s Verzauberung und dem Glauben an seine und des Reichs endliche Erlösung. Der Kaiser Friedrich, so lautet sie allbekanntlich, war in den Bann gethan, jede Kirche und Capelle ihm verschlossen. Da ritt der edle Held kurz vor der Osterzeit zur Jagd, nur seine liebsten und Treuesten bei ihm, auch sein geliebtes Töchterlein. Und im Walde am Kyffhäuser nahm er ein Zauberfingerlein hervor und drehte es und verschwand mit Allen von der Erde. Aber er wird nicht verschwunden bleiben, sondern, wenn ein Adler die Raben vom Kyffhäuserthurm vertreibt, wieder hervorkommen zu Kampf und Sieg,

Da wird er seines Schildes Last
Hangen an den dürren Ast

eines Birnbaums, der auf dem Rathsfeld steht, und er wird die Pfaffen demüthigen und das heilige Land befreien, und die Herrlichkeit des deutschen Reichs wird aufgehen, und das ist Deutschlands Sagenthron und der graue Thurm ist seine Denksäule!

Kein Wunder, daß dieser Volksglaube von manchem falschen Barbarossa mißbraucht wurde. Es sind deren im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert zwei verbrannt, zwei „heimlich hinweggeschafft“ worden, und dennoch fand sich noch im Jahre 1545 ein fünfter, der größeres Aufsehen erregte, als alle früheren, vor dem sogar Fürsten in Furcht geriethen, denn die Meisten glaubten damals noch wirklich an Barbarossa’s Wiederkehr, und große Volksmassen strömten dem Kyffhäuser zu, den großen Kaiser zu begrüßen, bis der langbärtige Alte sich als einen Schneider aus Langensalza zu erkennen gab. Der Graf von Schwarzburg schonte ihn als einen armen Irren und gewährte ihm „sein lebelang umbs Golleswille das Allmuß“. Aber so tief und fest stand der Glaube an Barbarossa’s Schlummern im Kyffhäuser und seine Wiederkehr, daß alle diese Täuschungen ihn nicht erschütterten.

Darum will auch ich ihn nicht erschüttern; er ist ja so schön, und alle die Hunderte von Sagenzweigen führen so klar zu dem Stamm des Bannes hin: zum unterirdischen Hofhalt des Kaisers, der so rein menschlich alles Gute und Schlimme der überirdischen Hofhalle fortpflegt. Da walten Gerechtigkeit und Laune des Herrn, Schalkerei und Uebermuth des Dienervolks, besonders der Zwerge, „ganz wie bei uns“, und die Bedürfnisse der Menschenkinder, Lust an Glanz und Pracht, Vergnüglichkeit und Kurzweil fordern auch hier ihre Befriedigung, und nur deshalb gehen Ritter und Zwerge und sogar der Kaiser und die Prinzessin so gern mit den Menschen droben um, belohnen oder bestrafen, erfreuen oder necken sie, und diese erzählen dann weiter und treiben den Sagenbaum zu immer neuen Blüthen. Bald öffnet sich ihnen der Ritterkeller voll köstlichen Weins, bald die Kaiserhalle voll Gold und Edelstein; bald verschwinden Heerden im Berg, denn der Hofhall bedarf ihrer, bald wird einem Bauer sein Hafer abgekauft, denn die Rosse des Kaisers und der Ritter fressen noch immer; bald erlustiren sich die Ritter mit Kegeln beim Thurm, bald lustwandelt die Prinzessin allein und zeigt dem Glücklichen die berühmte, glückverheißende blaue Wunderblume. Und daß die Prinzessin Leinknotten ausstreut, beweist, daß sie und ihre Hoffräulein fleißig die Spindel führen – und wie tanzt sie so gern! Wenn ein Hirt oben die Schalmei bläst, oder lustige Musikanten dem Kaiser ein Stücklein zum Gruß aufspielen, kommt sie mit zwei brennenden Kerzen hervor und tanzt so freudig und belohnt die Musikanten reichlich aus ihres Vaters Schatz. Besonders freut es mich, daß auch der Schmied von Jüterbogk mit drunten ist. Weil er den Tod auf seinen Birnbaum gebannt und den Teufel so lederweich geschmiedet hatte, erhielt er weder im Himmel noch in der Hölle Einlaß. Er aber machte kurz Federlesen: er stieg hinab zum Kaiser Friedrich, der nahm ihn gar wohl auf und da beschlägt er die Rosse und bedient den alten Kaiser, am liebsten und freudigsten aber des Kaisers holdiges Töchterlein, und dasselbe verkehrt mit ihm ganz besonders gern, denn so ein aller Schmied und eine gute Prinzessin, die halten merkwürdig zusammen.

Vom alten Kaiser-Friedrichsthurm, der, von Mauern und einem besondern, noch sichtbaren Wallgraben umgeben, die Oberburg bildete, gelangen wir zu einem weiteren Plateau. Hier war Raum zu Palästen, Höfen und Gärtchen, hierher führte auch das Hauptthor, das „Erfurter Thor“ genannt, weil hier zwischen den Höhen der Finne und Hainleite die Thürme der Thüringer Hauptstadt am sichtlichsten herüberschauen. Jetzt ist Alles öde und wüst. Nur eine kleine Wirthschaft hat sich hier eingenistet mit einem bescheidenen Häuschen, Lauben und Bänken. Einzelne Mauertrümmer und ein verschütteter Brunnen erinnern allein an die vergangene Pracht. Eine tiefe Schlucht, wohl später durch einen Steinbruch vergrößert, der Fundort versteinerter Baumstämme, trennt diesen Theil der Burg von der Capelle, welche die schönsten Reste der Ruinen zeigt, und dem ehemaligen Gottesacker, und weiter am Berg hinab steigen noch mächtige Mauertrümmer der alten Befestigung auf, so daß kaum eine volle Stunde zur Umgehung der ganzen Kaiserburg ausreicht.

Die vier kaiserlichen Pfalzen der Goldenen Au, Tilleda, Wallhausen, Ahlstedt und Memleben, sind Zeugen, wie oft und gern die Beherrscher Deulschlands in dieser Gegend weilten. Die Kyffhäuserburg, die stärkste aller Bergvesten Thüringens, war wohl schon in dem Besitz der sächsischen Kaiser und soll damals schon fast ein halbes Jahrtausend alt gewesen sein. In die Geschichte tritt sie durch ihren ersten tiefen Fall. Drunten in Wallhausen hatte Kaiser Heinrich der Fünfte den Sachsen den Grafen von Mansfeld zum Herzog aufgedrungen. Aber die Fürsten und Edlen der Sachsen sammelten ein Heer und vernichteten des Kaisers Macht in der großen Schlacht am Welfisholze, in welcher die damalige letzte Hoffnung auf Deutschlands Einheit zu Grunde ging. Das ist jetzt siebenhundertdreiundfünfzig Jahre her! Viele Gerettete des Kaiserheeres flohen in die Kyffhäuserburg. Drei Jahre lang vertheidigten sie sich, dann erlag die Veste und ward von der Sachsen Rache in einen blutigen Trümmerhaufen verwandelt. Das Alles hat der alte Thurm gesehen. Und er sah die Veste in neuer Pracht erstehen, sah die Flammen von sechszig Burgen am Himmel lodern, als Kaiser Rudolph den Thüringer Raubadel züchtigte, sah dann die Rothenburger Beichlingen als kaiserliche Burggrafen walten und, nachdem die Schwarzburger des Landes Herren geworden, den Berg von einem Heiligenschein umgeben, der von dem wunderthätigen Kreuz der Capelle ausstrahlte und Tausende von Wallern zu seinen Höhen rief. Der Gottesacker ward zur Goldgrube, denn nur die Reichsten konnten das Glück erkaufen, sich hier begraben zu lassen. Da kam Luther und vertrieb die Pfaffen und ihr Kreuz, wie das Pulver längst das Ritterthum vertrieben hatte – und nicht im Sturm der Waffen, nicht durch die Gewalt einer Feindeshand, sondern an der Gleichgültigkeit der Menschen ging die Kaiserburg unter. Der verlassene Berg ward öde und wüst, und keine Chronik meldet, wohin die Trümmer der verfallenen Pracht gekommen. Der Thurm hat’s auch gesehen, aber der schweigt.

Seitdem waren Schatzgräber, goldsuchende Venetianer und Räuber des Berges unheimliche Bewohner und die letzten Pfleger seines Sagenbaumes. [556] Wer etwa „das Gruseln lernen“ will, dem empfehle ich, am östlichen Abhang des Bergs hinabzusteigen und sich dann rechts zu wenden. Tief und dunkel zieht dort die Schlucht der Wollweda, vom klaren Taterborn durchrieselt, den kahlen und von mächtigen Steinbrüchen tief ausgehöhlten Berg entlang. Es ist ein wahrer Schauergang, wild durcheinander liegt das herabgestürzte Gestein und drohend hangen über unseren Häuptern die unterwühlten Felsen. Aber wie tief sie auch hinein drangen, Barbarossa’s Zauberhöhle haben sie nicht erschlossen. Dagegen haben Bergleute unweit Frankenhausen wenigstens eine Vorhalle zu ihr entdeckt und dahin eilte ich nun, als zum dritten Ziel dieser Bergfahrt.

Die breite Straße nach Frankenhausen, zu welcher man vom Kyffhäuser zurückkehren muß, führt uns zur Hochebene des Rathsfeldes. Links liegt ein schwarzburgisches Jagdschloß mit guter Wirthschaft; rechts dehnen saftig grüne Wiesen, vom Wald in großem Bogen begrenzt, sich aus. Hier also steht der Birnbaum, an welchem Kaiser Friedrich seinen Schild aufhängen wird. Hier ist er oft citirt worden im Sturmjahr Achtundvierzig, hierher strömten Tausende zu Volksversammlungen und riefen nach Kaiser und Reich. Alle die gewaltigen Reden auf dem Rathsfeld sind verschollen, nur eine einzige hat sich im Volk erhalten und zeugt von der Begeisterung der Treuen für das deutsche Banner. Stundenweit hatte ein Bäuerlein die schwarz-roth-goldene Ehrenlast getragen, schwer keuchte er den Berg hinauf, aber dennoch sprach er das denkwürdige Wort: „Ich schwitz’ wie ein Esel, aber nicht um fünfzig Thaler gäb’ ich die Fahne her.“

Beim Rathsfeld fand sich ein wegkundiger Genosse zu mir, mit dem ich den kürzesten, schwer zu findenden und leider noch immer nicht durch Wegweiser bezeichneten Waldpfad hinab in das Wipperthal ging. Als ich unten die Thürme von Frankenhausen und den Schlachtberg sah, stand abermals ein blutiges Stück Geschichte vor meinen Augen. Hier war die letzte Schlacht Thomas Münzer’s und seiner Bauern, hier kämpften Kittel und Knüttel gegen Harnische und Karthaunen, bis siebentausend dreihundert dreiundzwanzig Bauern erschlagen lagen und ihre Weiber und Kinder in der Wagenburg über Frankenhausen ein so furchtbar entsetzliches Wehklagen erhoben, daß die Stätte das Geheul und Geschrei genannt ward; jetzt haben sie „Eulengeschrei“ daraus gemacht.

Das ganze Thal ist nach der Sage einst eine Meeresbucht gewesen, und die Geologen bestätigen, die Salzlager der Frankenhäuser Saline beweisen dies. Selbst die Höhle, die wir jetzt besuchen, soll ein solches Salzlager gewesen sein, über welchem die Fluth einen Gypsberg aufschwemmte. Als das Meer aus dem Thal gewichen war, löste allmählich das beständig von oben ein dringende Gebirgswasser die Salzmasse auf, die Gypshöhle ward immer größer und zuletzt blieb als Filtrat der völlig aufgelösten Salze nur eine mergelartige Bodenmasse übrig, wie sie noch heule dort zu sehen ist. Diese Erklärung verdanken wir einem bei der Bergarbeit, die zur Entdeckung der Höhle führte, beschäftigt gewesenen Fachmann, dem Herrn Bergverwalter F. Herthum in Könitz bei Saalfeld, welcher über diese „Barbarossa-Höhle“ ein besonderes Schriftchen (Leipzig bei Ed. Wartig) veröffentlichte, das wir jedem Besucher dieser Naturmerkwürdigkeit empfehlen. – Entdeckt wurde die Höhle in der Weihnachtswoche 1865. Unter den Fäusteln der Bergleute, welche einen Stollen als Hülfsbau eines Unternehmens auf Kupferschiefer trieben, öffnete sich plötzlich der geheimnißvolle Raum.

Der Eingang hat einen sonderbaren Wächter, die Ruine eines einst berüchtigten Raubnestes, der Falkenburg. Gerade unter ihr gelangen wir zu den Jahrtausende verborgenen Geheimnissen der Tiefe jetzt auf einem sehr bequemen Pfade in einem Stollen von nahe an sechshundert Fuß Länge. Bergleute begleiten uns als Führer; Lichter kauft man am Eingang. Die Länge der ganzen, in der Hauptrichtung von Süd nach Nord laufenden Höhle beträgt etwa tausend Fuß; zum Theil sehr umfangreiche Seitenhöhlen verdoppeln diese Länge für unsere Gehstrecke. Ich brauchte zur Durchwanderung derselben in allen ihren Theilen anderthalb Stunden. Dreierlei zeichnet diese Gypsgrotte besonders aus. Die den Höhlenfirst bildenden Gypslagen sind in einzelne Gypstafeln wie aufgeblättert und hängen bald in äußerst dünnen, beim Anschlag klingenden Scheiben, bald wie zarte Blätter, bald wie gegerbte Thierhäute oder gar täuschend ähnlich wie Speckseiten von der Decke herab. Das ist ein köstlicher Schmuck, der bei dem Wechsel der Schatten durch die wandelnde Beleuchtung immer neue Zeichnung darbieten. An den meisten dieser Platten, jedoch wegen der Höhe der Gewölbe, die von zehn bis zu fünfzig, ja wohl achtzig Fuß aufsteigt, und wegen der schwachen Beleuchtung nur selten sichtbar, dagegen an den Seitenwänden ganz scharf hervortretend, ist ein anderer dieser Höhle ganz eigenthümlicher Schmuck: durch Fältelungen des Alabasters in den Schichtungszonen grauen Plattengypses entstanden höchst regelmäßige, bald tapeten- und bordüren-, bald schriftartige Zeichnungen, die, je heller sie beleuchtet sind, als eine um so wunderbarere Zierde hervortreten. Der dritte Schmuck sind die im Verhältniß zum Höhlenraum bedeutenden sieben Wasserflächen. Und zwar ist dieses Wasser so klar, so durchsichtig, daß bei schwacher Beleuchtung ein Unterschied zwischen dem Wasserstande und der trockenen Sohle kaum zu bemerken und es eben deswegen nicht ganz ungefährlich ist, von den gutgebahnten Wegen nach rechts oder links ohne größte Vorsicht abzuweichen. Um so mehr tragen sie zur feenhaften Pracht bei, wenn jenseits ihrer größten Flächen bengalische Feuerpulver abgebrannt werden, denn sie sind dann Spiegel des Höhlenschmucks und Selbstschmuck zugleich.

Und doch thut uns der Strahl der Sonne noch einmal so wohl, wenn wir wieder in ihrem Lichte stehen. Von rechts her sind wir zur Höhle gekommen; wir wenden uns jetzt links am Falkenburger Berg hin und sehen denselben bald von großartigen Steinbrüchen bis zu bedeutender Höhe bloßgelegt. Unmittelbar über denselben erhebt sich ein Fels mit einem von unten sichtbaren thorähnlichen Loch, an welches sich die jüngste Romantik dieses Zaubergebirges knüpft. Vor einigen Jahren lief durch die Zeitungen die Kunde von einem neuen, jedoch vor der Ausführung vereitelten Prinzenraub. Ein Doctor Weiß hatte den Plan entworfen, ein Kind der Schwarzburg-Rudolstädtischen Fürstenfamilie zu entführen; der Zweck der romantischen Unthat soll auf Erpressungen hingerichtet gewesen sein. Die Vorbereitungen waren weit gediehen und eine gegen achtzig Fuß tiefe Felsenhöhle, zu welcher jenes Loch über den Steinbrüchen den einzigen Zugang bot, war zum Aufenthaltsort des geraubten Prinzen ausersehen. Es war Winterzeit. Weiß soll deshalb Wasserflaschen in den hintersten Theil der Höhle gestellt haben, um zu prüfen, wie stark der Frost hier wirke, denn Feuer hätte man nicht schüren dürfen, um nicht den Rauch zum Verräther des Verstecks zu machen. Weiß kam in’s Zuchthaus, ward aber später – „Was hilft’s mir, daß er im Zuchthaus sitzt!“ sagte der gütige Fürst – nach Nordamerika entlassen.

Mein Tagewerk war vollendet, ich kehrte über das Rathsfeld und durch den dämmernden Wald zur Rothenburg zurück. Hier bereitete mir der gute Einsiedler noch eine unvergeßliche Ueberraschung. Die letzten Lichter waren erloschen, die letzten Gäste gegangen. Es war wonnige Ruhe nah und fern. Selbst der Wald schlief mit allen seinen Blättern. „Den will ich aufwecken,“ sagte der Alte, „der muß Dir den Gutenachtsgruß bringen.“ Da holte er ein großes Sprachrohr herbei und sang voll und gezogen nach der Waldschlucht hinüber die Töne eines Dreiklangs – und hervor brach’s aus dem heiligen Thal wie ein stimmenreicher voller Männerchor, wohl zehn Secunden lang hallte der Dreiklang in den Waldeshallen dahin, leiser und leiser, bis er verhauchte. Ich stand mit verhaltenem Athem vor dem neuen Wunder und lauschte dann den Worten des Alten, der erzählte, daß dort tief in dem Grunde eine Wallfahrtskirche versunken sei, weil eine wilde Rotte die Priester gemordet und den Tempel geschändet, und die Geister der Märthyrer wären es, sagte er, die nur in heiligen Tönen den Weckeschall der Menschen erwiderten. Einem Worte, noch so laut gerufen, gäben sie keine Antwort. Ich machte den Versuch, ich rief die der feierlichen Stimmung des Augenblicks angemessensten Worte hinüber, aber Wald und Thal blieben stumm. Als aber der Alle das Rohr wieder zu Hülfe nahm, da hallte Dreiklang auf Dreiklang, zum Choral verbunden, wie ein hundertstimmiges Lied ohne Wort, durch die Schauer der Nacht. Noch im Schlummer unter des Einsiedlers Strohdach klang es in mir fort, das Echo des heiligen Thals.



[557]

Der Laternenmann.

Die Namen des Tages, und nicht blos in Paris und in Frankreich, sind augenblicklich Rochefort und seine „Lanterne“. Die Kühnheit, mit welcher der geistreiche Satiriker seine beißenden Epigramme gegen die Minister, die Richter, ja selbst gegen den Kaiser und seine Familie schleudert, sind unerhört unter dem Decemberscepter und haben die Augen der ganzen Welt auf sich gezogen. Vergeblich hat die auf’s Blut getroffene Regierung Frankreichs alle Mittel aufgeboten, die ihr zu Gebote stehen, den unerbittlichen Gegner unschädlich zu machen, sie hat eine Meute feiler Scribenten auf ihn gehetzt, die ihn, seine Mutter, ja seine zwölfjährige Tochter mit den gemeinsten Persönlichkeiten anfallen mußten, sie hat es in der That auch dahin zu bringen gewußt, daß sich Rochefort zu einer Unbesonnenheit verleiten ließ und in Folge derselben zu vier Monaten Gefängniß verurtheilt werden konnte; sie hat die letzte Nummer seiner Zeitschrift confiscirt – dies Alles jedoch wird ihr nichts helfen. Rochefort hat sich nach Brüssel zurückgezogen und wird, von dort aus sicherem Asyle seine Angriffe auf ein System fortsetzen, dessen Existenz nach allen Anzeichen nur noch eine Frage der Zeit ist und selbst durch einen äußeren Krieg blos gefristet, nicht befestigt und erhalten werden könnte. Als eines dieser Anzeichen vielleicht mehr noch wie durch seine Bedeutung an sich verdient Rochefort’s Blatt die allgemeinste Aufmerksamkeit, als der wahre Ausdruck der Stimmung in Frankreich, das sich endlich zu ermannen beginnt wider die Tyrannei, welche es unter der Maske äußeren Glanzes so lange in Banden geschlagen hat, und unbeirrt von allen Zwangsmaßregeln den Ruf nach Freiheit immer lauter und lauter erhebt.

Henri Rochefort.

Henri Rochefort, der Sohn des Marquis von Rochefort-Lucay, ist noch ein Dreißiger, ein hochgewachsener, schlanker Mann mit imposanter Stirn und einem mageren, scharf ausgeprägten Gesicht, welches ein dunkles Schnurrbärtchen ziert. Sein Blick hat etwas Stechendes, der Ausdruck der ganzen Physiognomie aber etwas unleugbar Bedeutendes. Im Umgange höchst liebenswürdig und anspruchslos, ohne eine Spur jener bramarbasirenden Renommisterei, welche so oft den Franzosen kennzeichnet, hat er nur eine Leidenschaft, die ihm zur Unehre gereicht: er ist ein passionirter Spieler, so daß ihm von den sehr beträchtlichen Einnahmen, die ihm seine „Lanterne“ gewährt – wöchentlich vielleicht fünfzehn- bis zwanzigtausend Franken – wenig oder nichts übrig bleibt.

Früher gehörte Rochefort merkwürdiger Weise zu den Beamten des Seinepräfecten Haußmann und war darnach Inspector der schönen Künste, bis er sich in die Journalistenlaufbahn stürzte, zuerst am „Charivari“, dann bei dem „Nain Jaune“ und endlich am „Figaro“ betheiligte, zu dessen ausgezeichnetsten und bestbezahlten Mitarbeitern er Jahre hindurch zählte. Vielleicht würde er sich noch heute in dieser Stellung befinden, die ihm einen Monatsgehalt von zweitausend Franken abwarf, hätte ihn der Redacteur des Blattes auf eine Verwarnung vom Ministerium des Innern hin nicht opfern müssen. Diesem Umstande verdanken wir die Gründung der „Laterne“.

Wie unsere Leser wissen, ist dies eine Wochenschrift in Duodezformat, die jeden Sonnabend erscheint und mit Blitzesschnelle von einer Hand in die andere übergeht, von allen Parteien verschlungen, von den Zeitungsverkäufern meist förmlich und buchstäblich erstritten wird, bereits in mehr als einmalhundert und fünfzigtausend Exemplaren verbreitet ist und sicher über eine Million von Lesern in allen Theilen Frankreichs zählt. Auch eine deutsche Uebersetzung des Blattes hat schon zu erscheinen begonnen, wir sind aber der Ansicht, daß Rochefort’s Witz zu specifisch französisch ist, um überhaupt übersetzt werden zu können.[1]



Der Teufel.
(Fortsetzung und Schluß.)


„Der Entschluß fällt Ihnen schwer, Herr Geheimerath,“ sagte der Buckelige; „ich kann es mir denken. Die glänzenden Namen der Aristokratie dürfen durch keinen Mörder aus ihrer Mitte verdunkelt werden. Die hohe Beamtenwelt gar, die das Gesetz aufrecht erhalten soll, wie könnte ein Mord aus ihr hervorgehen? Gar ein Consistorialpräsident des Mordes gegen die eigene Frau angeklagt! Man müßte gegen den Ankläger oder Denuncianten einen besonderen Haß- und Mißvergnügen-Erregungs-Paragraphen erfinden. Sie schweigen, Herr Geheimerath?“

„Mein Herr,“ erwiderte der Geheimerath, „meine Stimmung ist eine viel zu ernste, als daß ich Ihnen auf so etwas antworten könnte. Sie haben kein Herz, mein Herr; herzlos haben Sie mir die Tochter, meinen Enkeln die Mutter geraubt, herzlos wollen Sie den Armen nun auch den Vater, gar dessen Andenken, die eigene Ehre, die Ruhe und Zufriedenheit des Lebens rauben.“

Auch der Buckelige wurde ernsthaft.

„Mein Herr,“ sagte er, „das Herz Ihrer Tochter war längst zerrissen ohne mich, es wäre auch gebrochen ohne mich. Am Tage nachher hätte sie den Tod des Lieutenants Hille erfahren müssen, durch die Blätter der Stadt, durch das Stadtgespräch. Meinen Sie, die Vorwürfe, welche die Unglückliche sich selbst machte, das Leben an der Seite des Elenden, der sie betrogen, hätten

[558] nicht unter den schwersten Leiden und Qualen den kranken Körper bald aufgerieben, oder gar ihren Geist mit dem Schrecken des Wahnsinns umdunkeln müssen? Der Tod, den sie gefunden hat, war eine Wohlthat für sie, er war zugleich in derselben Weise, und vielleicht noch mehr, eine Wohlthat für ihre Kinder. Und was diese Kinder ferner betrifft, dem Vater gegenüber, den übrigens zu seiner That wahrlich nicht das Bedürfniß, irgend Jemand eine Wohlthat zu erzeigen, sondern die gemeinste Gesinnung des Hasses und der Rache antrieb, so, mein Herr, bedenken Sie nur das Eine, die Kinder erführen oder erhielten auch nur eine Ahnung davon, daß ihr Vater der Mörder ihrer Mutter sei! Und wie leicht kann ein einziges unbedachtes, unvorsichtiges Wort es ihnen verrathen! Setzen Sie einmal den Fall, ich träte über kurz oder lang vor sie und sagte ihnen: ,Eure Mutter ist nicht durch einen unglücklichen Zufall um’s Leben gekommen, sondern durch die Hand eines elenden Mörders, und dieser Elende war Euer Vater!‘“

„Sie wären im Stande dazu,“ sagte der Geheimerath.

„Nein!“ versetzte der Buckelige kurz und kalt. „Aber,“ fuhr er dann fort, „Sie, Herr Geheimerath, sind ein Mann von Herz und Ehre. Gestatten beide es Ihnen, Ihre Enkel in den Händen des Mörders Ihrer Tochter zu lassen? Und unter welchem Vorwande wollen Sie dem Vater die Kinder, und gar den Kindern den Vater entziehen? Sie müßten, namentlich den Kindern gegenüber, zu einer Lüge sich hergeben.“

Der Geheimerath war unruhig geworden; er mußte aufstehen und im Zimmer umhergehen. Der Buckelige verfolgte ihn mit seinen listigen Blicken.

„Sie haben Ihre Kräfte wieder, Herr Geheimerath,“ sagte er.

„Das Sitzen ist Ihnen kein Bedürfniß mehr; so werden Sie auch die Kraft zu einem Entschlusse haben. Erlauben Sie, daß ich mich Ihnen empfehle.“

„Ein Wort noch, mein Herr,“ hielt ihn der Geheimerath zurück, „was wollen Sie thun?“

„Nichts, bis ich Ihren Entschluß kenne.“

„Und dann? Was haben Sie für den einen oder den anderen Fall vor?“

„Ich weiß es noch nicht.“

Der Geheimerath verbeugte sich und der Buckelige ging. Aber er hatte nur mit einem stillen Vorbehalt gesagt, daß er vor der Hand nichts thun wolle. Als er das Zimmer des Geheimeraths verlassen hatte, suchte er den Bedienten des Hauses auf.

„Melden Sie mich bei dem Herrn Präsidenten, gleichfalls in einer dringenden Angelegenheit.“

Der Buckelige mußte lange warten, bis der Diener zurückkam. Dieser öffnete ihm dann schweigend die Thür, und der Buckelige trat ein. Der Präsident stand in der Mitte des Zimmers und erwartete ihn, vornehm, kalt, fremd, wie ein hoher Beamter, der Audienz ertheilt.

„Du hast mich lange warten lassen,“ sagte der Advocat zu ihm. „Du warst wohl zweifelhaft, ob Du mich annehmen sollest? Die Furcht vor mir entschied; ich habe Dich in meiner Gewalt.“

Der Präsident verzog keine Miene.

„Was willst Du von mir?“ fragte er, ganz so kalt und vornehm, wie er da stand.

„Ich komme von Deinem Schwiegervater,“ antwortete der Buckelige.

Der Präsident entfärbte sich.

„Hättest Du vielleicht einen Auftrag von ihm?“ fragte er höhnisch.

„So ist es. Wir sind Beide übereingekommen, daß Deine Frau ermordet ist und daß Du ihr Mörder bist.“

„Elender!“ wollte der Präsident auffahren, aber das Wort erstarrte ihm auf den Lippen.

„Sprich es ganz aus,“ sagte der Kleine. „Es ist in diesen Tagen oft aus Deinem Munde gekommen, gegen Dein armes Opfer.“

Der Präsident suchte sich zu fassen, doch gelang ihm dies nur halb.

„Hast Du mir sonst noch etwas zu sagen?“ fragte er.

„Hm, ja,“ erwiderte der Buckelige. „Ich will Dein Geständniß, daß Du der Mörder bist.“

„Du hast Dich vergebens zu mir bemüht, Freund Sebastian Brand.“

„Ich denke nicht, denn ich habe Dich in meiner Gewalt.“

„Durch die jämmerlichen Drohungen mit Deiner sentimentalen Cousine? Es ist lächerlich, mehr als lächerlich. Aus Furcht vor dem Eclat einer alltäglichen Liebesgeschichte soll ich einen Mord auf mich nehmen!“

„Du bist im Irrthum, Freund Römer,“ sagte der Buckelige. „Die Drohungen mit meiner Cousine waren nur Scherz. Sie ist längst eine glücklich verheirathete Frau. Solche weiche Herzen sind wie knarrende Wagen: sie halten sich am längsten; zerbrechen ist ihre Sache nicht. Ich würde nur ihr Glück zerbrechen, wenn ich Deine Niederträchtigkeit gegen sie proclamirte.“

Der Präsident hatte seine Fassung wiedergewonnen; er konnte wenigstens die Miene annehmen, als sei es so.

„Ich denke,“ sagte er, „Du verlässest jetzt mein Haus, damit ich nicht gezwungen werde, Dich durch die Domestiken hinauswerfen zu lassen.“

„Alle Wetter,“ lachte der Kleine, „ich würde mit Polizei und Gensd’armen zurückkommen, um Dich zum Criminalgefängniß abführen zu lassen.“

Der Präsident mußte zum zweiten Male erblassen, trotz des Lachens des Kleinen, vielleicht gerade deshalb; er kannte ja seinen buckeligen Freund, den sie schon auf der Universität den Teufel geheißen und der ihm geschworen hatte, sein Teufel zu werden.

„Versuche es,“ nahm er sich zusammen.

„Ich sehe noch keine Domestiken hier,“ versetzte der Buckelige ruhig, „und so kann ich ja auf meine Bitte, oder eigentlich auf mein Verlangen, zurückkommen. Nun, wirst Du mir eingestehen, daß Du Deine Frau ermordet hast?“

„Du bist ein Narr, – ein Schurke, – ein Satan, – ein Wahnsinniger!“ rief in steigender Wuth der Präsident.

Es giebt auch eine Wuth der Angst, sie steigt und wächst mit dieser eine Zeit lang.

„Sprechen wir vernünftig, Freund Römer,“ sagte der Buckelige.

„Dein Geständniß muß ich haben, darum bin ich hergekommen, und kommst Du nicht willig damit heraus, so brauch’ ich Gewalt – ich gehe zum Criminalgericht. Aber damit Du hinterher nicht sagen kannst, Du seiest überrumpelt, so erkläre ich Dir, daß, wenn ich Dein Geständniß habe, mir der Weg zum Gericht auch noch offen steht. Also, wirst Du bekennen, daß Du der Mörder Deiner Frau bist?“

„Willst Du mich zwingen, Dich hinauswerfen zu lassen?“ fragte der Präsident zurück.

„Nicht sogleich,“ sagte der Buckelige. „Du warst sonst für Gründe empfänglich, höre sie auch heute an.“

Der Präsident besann sich.

„Sprich!“ sagte er.

„Setzen wir uns,“ sagte mit seinem listigen Blick der Kleine.

„Nimm Dir einen Stuhl.“

„Ah, Dir fehlt wohl die Ruhe zum Sitzen? Ja, das Gewissen! Nun, ich kann stehen, und an Dich wird das Sitzen schon kommen, wenn auch ohne die Ruhe. So höre mir zu. Deine Frau ist am Dienstag Abend plötzlich gestorben, durch einen Fall, oder durch einen Sturz von dem Nadelfelsen in der Sebastiansschlucht. Du hast gesagt, durch einen Fall, Du hast keine weiteren Beweise dafür, als eben Deine nackte Behauptung. Dafür aber, daß sie von Dir, und zwar vorsätzlich und gar mit Vorbedacht, hinuntergestürzt ist, sprechen folgende Beweise. Ich hatte Dich am Montag, am Abend vor der That, an jenes Sterbelager geführt und Dich zum Augenzeugen gemacht von dem Abschiede, den Deine Frau von dem sterbenden Geliebten nahm. Du hattest so die erforderliche Portion von Eifersucht, Haß, Rache, Zorn und Wuth in Dich aufgenommen, um den Mord zu begehen. Ich bezeuge damit das Motiv zur That. Du lachst höhnisch dazu? Darüber, daß ich als Zeuge gegen Dich auftreten werde? Es sind noch andere Zeugen da.“

Der Präsident konnte in der That noch einmal lachen.

„Deine Anwesenheit am Orte der That,“ fuhr der Buckelige fort, „hast Du eingeräumt; sie verdächtigt Dich in sofern nicht. Um so mehr verdächtig wird sie dadurch, daß Du sie hattest verbergen wollen, und erst, als Dir dies mißglückte, gezwungen sie zugestandest. Du warst Deiner Frau heimlich gefolgt und hattest Wege eingeschlagen, die damals menschenleer waren. Nur ein einziger Mensch begegnete Dir. Du suchtest Dich vor ihm zu verbergen, doch es war zu spät. Als Du gewahrtest, daß er Dich gesehen hatte, [559] gingst Du auf ihn zu, fragtest ihn nach Deiner Frau und logst ihm vor, sie erwarte Dich in der Schlucht. Dem Regierungsrath Amberg war Dein Benehmen schon sofort aufgefallen, doch von der Lüge wußte er nichts. Er wird der zweite Zeuge gegen Dich sein.“

Der Präsident war nachdenklich geworden.

„Dritter Zeuge gegen Dich ist die Majorin von Hake. Sie war unmittelbare Augenzeugin des Mordes selbst. Deine Frau hatte sie gebeten, auch am Dienstag Abend mit ihr in die Schlucht zu gehen; sie hatte jedoch nicht gewollt. Nachher überfiel Frau von Hake eine Angst; sie ging Deiner Frau nach und – kam zu spät, freilich nur um den Mord zu hindern. Sie sah Dich mit Deiner Frau oben auf dem Felsen. Du sprachst mit zornig unterdrückter Stimme zu ihr. Dann riefst Du: ‚Elende!‘ und ergriffst die Unglückliche. Ein Angstruf entfuhr ihr; von Deinem Arm hinuntergeworfen, stürzte sie von Zacke zu Zacke an dem Felsen hernieder; unten war sie leblos. Frau von Hake entfloh.“

Der Präsident war leichenblaß geworden; die Kniee schienen ihm zusammenbrechen zu wollen.

„Willst Du Dich nicht setzen?“ fragte der buckelige Advocat.

„Satan!“ knirschte der Präsident.

„Kannst Du damit Frau von Hake zur Lügnerin machen?“ fragte der Advocat. Dann fuhr er fort: „Ich wollte Dein Geständniß, ich habe es schon. Dieses erdfahle Gesicht, der kalte Schweiß auf Deiner Stirn, die schlotternden Kniee – was will ich mehr? Sie werden aber auch Deinen Richtern Beweis sein, wenn ich sie ihnen bekunde. Adieu, ich gehe zum Gerichte.“

„Mensch, Unmensch!“ rief der Präsident.

„Sollen die Worte mich zurückhalten?“

„Bleib’!“

„Was hättest Du mir zu sagen?“

„Du hast mich erschrecken wollen. Du hast gelogen.“

„Gehen wir zur Frau von Hake.“

„Sie hat sich geirrt.“

„Worin?“

„Sie muß sich geirrt haben.“

„Darin, daß sie Dich oben bei Deiner Frau sah, daß sie das Wort ‚Elende‘ hörte, daß sie dann sah, wie Du die Frau ergriffst, hinunterstürztest? Höre, Freund Römer, Du hast Deine Sache schlecht eingerichtet. Du hast nun einmal gesagt, Du seiest nur unten, gar nicht oben gewesen. Du hattest nicht daran gedacht, daß Gott Dir einen Zeugen geschickt haben könne. Hättest Du daran gedacht, so könntest Du sagen: sie wollte sich von der Höhe stürzen, ich wollte sie zurückhalten, wir rangen mit einander; sie riß sich von mir los, so geschah das Unglück. Die Frau von Hake konnte in der Dunkelheit nicht genau sehen; sie konnte Dir nicht widersprechen. Es war kein Beweis gegen Dich da. Das Alles ist jetzt vorbei. Du hast aller Welt gesagt, Du seiest gar nicht oben, nur unten gewesen. Es war eine Dummheit von Dir. Sie ruinirt Dich, bringt Dich auf das Schaffot. Die Gerichte müssen Dich verurtheilen; die Gesetze fordern es unabweislich. Ich bin Jurist, Vertheidiger; wenn ich Dich zu vertheidigen hätte, ich gäbe Dich verloren. Du kennst selbst die Gesetze, Du kannst Dir keine Hoffnung machen, und ich sehe es Deinem verstörten Gesichte an, daß Du Dir keine machst. An Begnadigung wäre noch zu denken, aber einen Consistorialpräsidenten, der wegen Mordes, gar wegen Gattenmordes verurtheilt ist, zu begnadigen, das geht nicht. Wärest Du blos von Adel, oder mit einem andern Amte, es ginge an; der Adel hat einmal das Privilegium für solche Fälle; allein Chef einer so hohen geistlichen Behörde – das ist zu Deiner Dummheit das Unglück. Gerade die hohe Geistlichkeit ist ja immer gegen die Begnadigungen der Regenten, seit langen Zeiten schon. Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut muß wieder vergossen werden, halten sie den Königen vor, in echt mildem, christlichem Sinne, nämlich mit dem Zusatze: das unschuldige, wie das schuldige Blut würde sonst auf Euere Majestät und auf Euerer Majestät Kinder und Kindeskinder kommen! Hast Du mir noch etwas zu sagen, Freund Römer?“

Der Präsident hatte schon lange während der boshaften, wie freilich auch überzeugenden Worte des buckeligen Advocaten sich setzen müssen, und er saß mit einem nicht blos verstörten, sondern mit einem völlig vernichteten Gesichte da. Jedes der Worte, die er anhören mußte, war für ihn ein Dolchstoß der Wahrheit und der Verurtheilung geworden.

„Bleibe noch,“ stöhnte er.

Auf den boshaften Lippen des Advocaten schwebte die höhnische Frage: „Willst Du mir Dein Geständniß ablegen?“ Aber er unterdrückte sie. „Man muß dem Feinde manchmal goldene Brücken bauen,“ sagte er für sich.

„Ich werde Dich nicht verrathen,“ sprach er dann laut, „Du kennst mich. Auch Frau von Hake wird es nicht; ich stehe für sie ein. Nur wir Zwei sind die Zeugen gegen Dich, Herr Amberg für sich allein kommt nicht in Betracht. Aber Dein Geständniß muß ich nun einmal haben. Du kennst den Teufel auch darin.“

„Satan!“ fluchte der Präsident, aber er murmelte es leise; dann nahm er sich zusammen, in seiner Ohnmacht. „Nun ja! Du hast es.“

„Was habe ich?“ fragte listig der Buckelige.

„Mein Geständniß.“

„Du bist also der Mörder Deiner Frau?“

„Ja!“

Das Ja war kaum hörbar. Der buckelige Advocat hatte es gehört. Er war damit befriedigt.

„Adieu!“ sagte er.

„Du giebst mir Dein Ehrenwort?“ rief ihm der Präsident noch nach.

„Zum Teufel, ja!“ rief der Buckelige zurück. Und lachend verließ er das Zimmer. „Der Narr!“ lachte er noch draußen für sich dann kehrte er zu dem Geheimenrath von Wangen zurück.

„Herr Geheimerath, ich komme von Ihrem Schwiegersohn. Er ist unschuldig.“

„Ihr Blick sagt das Gegentheil,“ versetzte der Geheimerath.

„Herr Geheimerath, mein Blick bricht nicht mein Ehrenwort.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Was ich nicht sagen darf. Genug, Herr Geheimerath, Ihr großväterliches Herz darf sich beruhigen. Ihre Enkel können den Vater ansehen, ohne an Mord und Mörder zu denken. In Ihrem Hause darf man von Gattenmord sprechen, ohne das Sprüchwort in Gefahr zu bringen, daß man im Hause des Gehenkten nicht vom Stricke reden darf. Ihr Herr Schwiegersohn kann Minister werden. Er wird es werden, denn er ist von dem Holze, aus dem manchmal Minister geschnitten werden, wenigstens geschnitten werden können. Und nun noch Eins, Herr Geheimerath, Ihre Augen sprechen eine Frage aus, die Sie schon einmal an mich richteten: wozu das Alles, das Verbrechen, das Andere? Sie wissen wohl nicht, daß ich auf der Universität schon von meinen Freunden den Beinamen ‚der Teufel‘ erhielt. Der Teufel aber säet nach der Bibel Unkraut unter die Menschen, und nach der Volkssage hilft er zuweilen dem lieben Gott, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Ich empfehle mich Ihnen, Herr Geheimerath!“

J. D. H. Temme.




Blätter und Blüthen.


Auswanderung nach Araucanien. Nachdem meine letzte „Warnung für Auswanderer“ in Betreff Araucaniens in der Gartenlaube erschienen, kam mir der Brief eines Deutschen zu Händen, der selber lange Jahre in Chile gelebt hat und sich nicht allein mit der Warnung vollkommen einverstanden erklärt, sondern mir auch die neuesten Berichte über Araucanien, sowie zwei neuere chilenische Zeitungen, den Mercurio vom Mai und Juni dieses Jahres, sandte. Nach diesen stellt sich die Warnung nicht allem als vollständig begründet heraus, sondern die Gefahr für die Auswanderer tritt noch viel deutlicher und entschiedener hervor.

Chile befindet sieh danach keineswegs im Besitz des ganzen Araucaniens, sondern hat nur in letzter Zeit wieder neue Einfälle in das indianische Gebiet der Araucaner gemacht, einen Theil im Norden erobert und zerstreute Militärposten darin angelegt, die aber einer vorgeschobenen Ansiedlung nie im Leben Schutz gegen die kriegerischen Indianer bieten könnten.

Dem veröffentlichten officiellen Decret nach hat Herr Alfred L. Poppe in Valparaiso, als Repräsentant des Handlungshauses J. C. Godefroy und Sohn in Hamburg, den schon angezeigten Contract abgeschlossen, für die Provinz Nacimiento in Araucanien eine bestimmte Anzahl von Familien nach Chile zu schaffen, die im Hafen von Lota ausgeschifft werden sollen.

[560] Artikel drei sagt, daß die chilenische Regierung vierzig Pesos oder Dollars für jede erwachsene.Person, zwanzig für jedes Kind unter zwölf Jahren zahlt, und es wird im Artikel vier der Firma zur Pflicht gemacht, ihre Arbeiten zu beeilen, damit schon Anfang nächsten Jahres einige Colonisten eintreffen. Der District Nacimiento liegt im Norden von Araucanien. Lota ist eine Kohlenstation Chiles und zu Land von den übrigen chilenischen Colonien vollkommen abgeschnitten, denn sie liegt schon südlich vom Biobiostrom, im Staat Araucanien selber, und nach Allem, wie es mir scheint, hat man diesen sonst noch nie zur Ausschiffung von Emigranten benutzten Hafen, der gar keine Bequemlichkeit bietet, während das unfern davon gelegene Concepcion Alles hat, was man wünscht, nur deshalb gewählt, damit die Einwanderer vollkommen abgeschnitten von ihren Landsleuten sind und nicht vor der Zeit von ihnen gewarnt werden können. Der Krieg mit den Indianern ist nicht etwa beendet, sondern im Gegentheil in vollem Gang, und chilenische Zeitungen schreiben selber darüber. Der Mercurio vom Mai sagt, und zwar von chilenischer Seite vom Los Angelos, etwas weiter im Inneren: „Nachdem die Division (fünfhundert Mann) am 26. etwa zwanzig Leguas in’s Innere vorgedrungen war, beschloß der Commandeur sich zurückzuziehen und die Berge zur Deckung zu benutzen. Kaum hatte sich aber die Truppe in Marsch gesetzt, als zweitausend oder mehr Indianer, die in den Büschen versteckt gewesen, mit dem Vor- und Nachtrab den Kampf begannen. Da die Division solcher Art ihren Marsch nach den Bergen nicht fortsetzen konnte, sahen sie sich genöthigt eine kleine Ebene zu überschreiten, und hier wurden sie jetzt auf allen Seiten von den Indianern überfallen.“

Der Correspondent beschreibt dann die blutige Schlacht der Chilenen – Einer gegen zwanzig unter dem Feuern der Truppen und dem wüthenden Geheul der Indianer, ein Kampf Fuß an Fuß mit Lanze, Bajonnet und Messer. Die Division verlor, wie der Schluß lautet, sämmtliche Pferde mit hundert Beutethieren, und „der Rest der Truppe“ gewann endlich die Berge und es gelang ihr, indem sie Tag und Nacht eine hohe Cordillere erklommen und darauf hin geflüchtet, Chiguaguë zu erreichen. Die Zahl der Todten wußte man nicht, und der Correspondent setzt hinzu: „Alle, die an diesem Kampfe betheiligt waren, können nicht Worte genug finden, die Kühnheit sind Wildheit dieser Indianer zu schildern.“

Der Krieg mit den Indianern war das Tagesgespräch und die nämliche Nummer, welche diese Correspondenz bringt, bietet ihren Lesern auch zu gleicher Zeit den Contract, den ein deutsches Haus mit der chilenischen Regierung abgeschlossen hat, um deutsche Auswanderer in das kaum erst überfallene Gebiet dieser nämlichen Indianer zu liefern. Die Nummer vom 2. Juni bringt einen Bericht des Generals Jose M. Tinto an das Kriegsministerium, der aber nichts weiter als die Kunde enthält, daß er „einen neuen Einfall nach Araucanien“ gemacht habe, ohne eine Strecke in das Land hinein Widerstand gefunden zu haben. Er sah nur kleine Trupps von zehn bis zwölf berittenen Indianern, welche die bewaffnete Macht „beobachteten“. Er glaubt, daß sich keine größere feindliche Macht bis auf dreißig Leguas befände. – Aber wenn das selbst der Fall gewesen wäre, die Indianer brauchen kaum vierundzwanzig Stunden, um mit ihren raschen Pferden eine solche Strecke zurückzulegen, und folgen gewöhnlich den wieder abziehenden Trupps auf dem Fuße. Trotzdem erklärt der General aber mit der größten Zuversicht, daß die „alarmirten Grenzbewohner sich vollkommen beruhigen könnten; er hätte Niemanden gesehen“ – und über die Grenzen hinaus wollen sie jetzt die Deutschen schieben. Der Bericht schließt mit den Worten, daß jetzt überall vollkommene Ruhe herrsche und ein Friedensbruch nicht mehr zu fürchten wäre, und unmittelbar unter diesem Artikel beginnen „Importantes noticias de la frontera“ oder wichtige Nachrichten von der Grenze, worin von der vierten Division gesprochen wird, die nach Araucanien gerückt wäre, „um die Verluste der drei vorhergegangenen zu rächen.“

Diese Division fand, nachdem der andere Artikel erklärt hatte, daß das Land vollständig pacificirt sei, sieben Leichen, unter ihnen den Beamten Argomedo. „Sie schienen erst seit wenigen Tagen, und zwar nicht in einem Kampf, getödtet zu sein – es waren Märtyrer. Der Beamte war,“ wie das Blatt schreibt, „seinen Wunden nach, von Lanzen getroffen, geschleift und dann aufgehängt, die Zunge war ihm ausgeschnitten und andere Scheußlichkeiten begangen. Die Soldaten waren ebenfalls auf furchtbare Weise verstümmelt.“– Ein anderer Bericht aus Santa Juana, an der unmittelbaren Grenze, meldet erneute Einfälle und Viehdiebstähle, und der Bericht schließt mit den Worten: „So, während unsere Truppen im Süden von Araucanien vor Hunger schmachten, plündern die Indianer im Norden, und es sollte uns gar nicht wundern, wenn sie selbst die Städte angriffen.“ Und auf der nämlichen Seite steht wieder eine Notiz über die Colonisation von Arauco durch die Deutschen. Die Chilenen sind dabei theilweise zu entschuldigen. Sie wollen das Land gern bevölkern, um den Indianern, deren sie nie habhaft werden können, einen Damm vorzuschieben, aber hat sich das Handlungshaus in Hamburg oder dessen Stellvertreter in Chile so wenig um die Verhältnisse dort bekümmert, daß es die Gefahr gar nicht kennt, der es unsere deutschen Landsleute entgegenschicken will? Man kann doch nicht annehmen, das es des Kopfgeldes wegen sei!

Schon die ganze Art und Weise, in welcher der Contract abgefaßt ist, zeigt die Absicht der chilenischen Regierung. Artikel fünf lautet: „Der gegenwärtige Contract soll auf vier Jahre lauten, und wenn die chilenische Einwanderung in Deutschland ‚gute Aufnahme‘ findet, würde das Gouvernement im ersten Jahre einhundert Familien, einhundertundfünfzig das zweite, zweihundert das dritte und dreihundert das vierte einführen.“ Sehr natürlich[WS 4] – die Regierung hofft mehr und mehr von dem Lande zu erobern oder durch deutsche Auswanderer besetzen zu lassen, und je größer das gewonnene Terrain wird, desto mehr Familien braucht sie.

Ich weiß nicht, ob sich deutsche Regierungen veranlaßt sehen werden, einem solchen Unfuge mit deutschen Landeskindern zu steuern. Bis dies aber geschieht, wäre es recht von Herzen zu wünschen, daß alle jene Blätter in der Nähe solcher Districte, wo vorzüglich für Auswanderung geworben wird – hauptsächlich Tirol, auf welches die chilenische Regierung auch speciell hinweist, die ärmeren Districte am Rhein etc. – ihre unmittelbare Nachbarschaft vor einer Auswanderung warnen möchten, deren Gefahren sie hier in Deutschland gar nicht absehen können. Der deutsche Auswanderer will, wenn er das fremde Land erreicht, wenigstens Sicherheit und Ruhe, um sein Land bebauen und seine Früchte ernten zu können. Die bietet ihm aber in jetziger Zeit Araucanien nicht, und es hieße mit der Unwissenheit unglücklicher Menschen freveln, wenn man sie einem solchen gefährdeten Zustand ahnungslos entgegenschicken wollte.

Sowie es die Berichte aus dem jetzigen Krieg melden, ist es aber von jeher gewesen. Vor den regulären Truppen weichen die Indianer, wenn sie sich nicht stark genug glauben, zurück, aber umgehen sie und fallen in ihrem Rücken wieder in das Land ein; um seine Grenzen gegen ihre Ueberfälle zu schützen, wünscht Chile eine Bevölkerung von deutschen Arbeitern für das nur erst eroberte, aber von den Indianern noch nicht einmal aufgegebene Land. Dazu aber bietet ein deutsches Handlungshaus die Hand, ihm durch vier Jahre hindurch die betreffenden Familien hinüber zu führen und sie gleich in einem Hafen zu landen, wo sie von dem Verkehr mit ihren besser situirten Landsleuten abgeschnitten sind und sich willenlos in den Händen der Regierungsbeamten befinden, die dort hingestellt sind, um sie an die gewünschten Punkte zu dirigiren.

Friedrich Gerstäcker.


Von wem ist die Anekdote nun wahr? Dr. Gwinner in seinem Buche: „Arthur Schopenhauer, aus persönlichem Umgang dargestellt,“ (Leipzig 1862) erzählt von dem Philosophen Folgendes: „Um ein Uhr ging Schopenhauer zu Tisch im Englischen Hof. (Der Philosoph lebte bekanntlich in Frankfurt am Main.) Bei der Mahlzeit, sprach er gern, doch verhielt er sich aus Mangel an tauglicher Tischgesellschaft öfter beobachtend. So legte er z. B. eine Zeit lang täglich ein Goldstück vor sich hin, ohne daß die Tischnachbarn wußten, was er damit wollte; nach aufgehobener Tafel nahm er es wieder zu sich. Endlich darüber zur Rede gestellt, erklärte er: ‚das sei für die Armenbüchse, wenn die am Tische sitzenden Officiere (Preußen und Oesterreicher) nur ein einzig Mal eine andere ernsthafte Unterhaltung auf die Beine brächten, als über Pferde, Hunde und Frauenzimmer.‘“ – In einem ältern Buch: „Der französische Soldat unter Napoleon, von E. Blase, (aus dem Französischen, Leipzig, 1839) finde ich die Anekdote so erzählt: „Wir lagen bei Breslau im Cantonnement, ein Theil unseres Regiments, bei dem ich stand, in Oels, wo wir Officiere im besten Wirthshaus unsre gemeinschaftliche Tafel hielten. Zu den Officieren unseres Regiments gehörte auch ein Capitain R., ein schweigsamer, wunderlicher, aber sehr geistreicher Mann. Bei der Tafel in Oels legte dieser täglich, wenn er sich mit uns zu Tische setzte, ein Vierzigfrancsstück vor sein Couvert. Nach dem Dessert nahm er das Goldstück wieder weg, steckte es in seine Börse und entfernte sich. Auf unsere oft wiederholte Frage nach dem Grunde dieses Manövers, erwiderte er: ‚Ihr werdet es erfahren, wenn wir abmarschiren,‘ mit welcher Antwort wir uns einstweilen bescheiden mußten. Endlich beim letzten Mittagstisch in Oels erklärte er: ‚An den Officiertafeln dreht sich die Conversation immer nur um Dienstangelegenheiten oder um Liebesabenteuer oder Gewinnst und Verlust im Spiel, nach meinem Geschmack höchst langweilige Gegenstände. Ich hatte mir nun vorgenommen, das Goldstück den uns bedienenden Marqueuren zu geben, wenn ich einmal das Glück haben sollte, über andere Dinge sprechen zu hören. Es wurde mir niemals zu Theil, und ich habe mein Goldstück behalten.‘“

C. Sp.


Petersen’s Rettungsboot erprobt! Diese Nachricht wurde uns wenige Tage, nachdem unser Artikel über das Normal-Rettungsboot in der Gartenlaube (Nr. 32) erschienen war, aus Altona direct mitgetheilt und hat bereits die Runde durch alle Zeitungen gemacht, wie wir dies bei der Wichtigkeit des Gegenstandes voraussagen konnten. Die Erprobung fand am 6. und 7. August auf der Elbe bei Hamburg und vor einer Prüfungscommission statt, welche aus Vertretern der deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und des norddeutschen Marineministeriums bestand. Was wir in unserem Artikel besonders betont, die Wiederaufrichtungsfähigkeit des Bootes nach dem Umschlagen, hat es auf das Glänzendste bewährt. Mit und ohne Belastung, Wasserballast und Masten bestand es Proben, welche der zahlreichen Zuschauer und der Fachmänner höchste Bewunderung erregten. An seinen Masten trug es zum ersten Mal die neue Flagge der Rettungsboote der deutschen Gesellschaft für Schiffbrüchige: in weißem, schwarzgerandetem Felde ein rothes Kreuz.

Kleiner Briefkasten.

F. in A–dt. Leider haben uns die Wiener Zeichner, die uns Darstellungen aus dem Schützenfeste zu liefern versprochen hatten, nicht Wort gehalten; wir verzichten daher nunmehr auf alle Illustrationen des erwähnten Festes und glauben dies um so mehr thun zu müssen, als die große Auflage unserer Zeitschrift, wie Sie ja wissen, eine äußerst langsame Herstellung derselben bedingt und überdies inzwischen das Lesepublicum von allen möglichen Blättern mit Mittheilungen über das Bundesschießen förmlich überfluthet worden ist. Unser Beiblatt, „Die deutschen Blätter“, wird dagegen noch einige interessante Episoden aus dem letzten Bundesschießen mittheilen. D. Red.



Inhalt: Die Brüder. Novelle von Adolf Wilbrandt. (Fortsetzung.) – Der Reformator der Erziehungslehre. Von Gustav Steinacker. Mit Abbildung. – Bettina’s Theetisch. – Zu Deutschlands Sagenthron. Eine Thüringer Bergfahrt. Von Fr. Hofmann. – Der Laternenmann. Mit Portrait. – Der Teufel. (Fortsetzung und Schluß.) – Blätter und Blüthen: Auswanderung nach Araucanien. Von Fr. Gerstäcker. – Von wem ist die Anekdote nun wahr? – Petersen’s Rettungsboot erprobt. – Kleiner Briefkasten.


  1. Wie wir soeben lesen, ist Rochefort, der inzwischen wegen Majestätsbeleidigung zu einem Jahre Gefängniß verurtheilt worden ist, nach Paris zurückgekehrt, um gegen das Urtheil Berufung einzulegen; Jules Favre wird ihn vertheidigen.
    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. vergl. Liste von Erdbeben in der Schweiz; Vorlage: 19. December 1755
  2. Felix Grebel (1714–1787), Vorlage: Gorbel
  3. Vorlage: Nachlässigkeiten
  4. Vorlage: natürllich