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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1868
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 32.   1868.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich bis 2 Bogen. Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.


Die Brüder.
Von Adolf Wilbrandt.
(Fortsetzung.)


Annette hatte sich mit leisem Zittern erhoben, warf noch einen Blick auf Karl, der ihm sagen sollte – sie wußte nicht was – und schickte sich dann geduldig an, der alten Dame zu folgen. Indessen Karl hatte schon seine verlorene Fassung wiedergewonnen. „Ich danke Ihnen, liebe Tante,“ sagte er sehr verbindlich. „Uebrigens, was Ihre Heimkehr angeht, so trifft es sich gut: ich will auch eben nach Hause! Also, wenn Sie erlauben, so schließ’ ich mich Ihnen an. Zu Dreien geht sich’s noch besser. Ich führe Sie auch einen näheren und schöneren Weg: zunächst einige Minuten durch den Wald, und dann schräg über die Straße hin. Ich weiß, diesen näheren Weg kennen Sie nicht – – Und ich auch nicht,“ setzte er in Gedanken hinzu, „denn er ist sehr viel weiter. Aber ich will Dich lehren, mich bei Seite schieben zu wollen!“

Damit hob er Annettens Büchlein auf, das ihr vor Verwirrung niedergefallen war, ging ohne Weiteres voran und schlug einen Pfad rechts von den Eichen ein, der vom Vorwerk hinweg tiefer in den Wald führte. Er summte, wie in völliger Unbefangenheit, ein Lied vor sich hin und blieb dann wieder stehen, um die Alte, die ihm nach einigem vergeblichen Zögern folgte, an sich vorüberzulassen. Der Weg war so schmal, daß ihn nicht Zwei neben einander betreten konnten. Karl, indem er zur Seite auf den Baumwurzeln dahinging oder sich an dem niedrigen Gestrüpp vorüberdrängte, hielt sich neben Annetten. Er kümmerte sich um keinen der giftigen Blicke, die ihm die Alte, aufgeregt den Hals verdrehend, zurückwarf; er hatte auch alle Scheu und Bangigkeit vor dem holden Geschöpf an seiner Seite verloren. Ein feuriger, fröhlicher Uebermuth war in ihm wachgerufen, und die ganze Seligkeit dieses Abends drängte sich ihm unwiderstehlich auf die Lippen. Er begann das Goethe’sche „Mailied“ wieder vor sich hin zu sprechen, aber diesmal mit lauter, schwärmerischer Stimme. Annette horchte und sah still auf den Weg; die Alte trippelte heftiger voran. Die Aeste krümmten sich und knarrten unter ihren Füßen; aber nur um so lauter und glücklicher fuhr der Jüngling fort:

– – O Erd’, o Sonne!
O Glück, o Lust!

O Lieb’, o Liebe!
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn! !

Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blüthendampfe
Die volle Welt.

O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb’ ich Dich!
Wie blickt Dein Auge! –

„Wie liebst Du mich!“ schwebte ihm ersterbend auf der Zunge. Er starrte das Mädchen, sich plötzlich besinnend, an. Sie hatte ihre gefüllten Augen auf ihn gerichtet, schlug sie nun heftig nieder und schien sie in den Boden zu versenken, während ihre glühenden Wangen sich noch glühender färbten. Ein starker, krummer Ast legte sich über den Weg; sie schnellte ihn mit einem unsicheren Tritt in die Höhe, so daß er wie eine Schlange an ihr hinauffuhr, erschrak und strauchelte. Karl sprang hinzu und faßte ihren Arm.

„Wollten Sie fallen, Mademoiselle?“ sagte er hastig.

„O nein,“ flüsterte sie und suchte zu lächeln. „Ich danke Ihnen. Es war ein kleiner Schrecken, weiter nichts. Es ist schon vorüber.“

„Ich werde lieber hinterdrein gehen,“ sagte Demoiselle Merling mit Betonung und einer sehr bösartigen Miene und blieb stehen. „Geh’n Sie voran, mon enfant.“

„Sind Sie so schreckhaft, liebe Mademoiselle?“ fragte Karl, ohne auf diesen zornigen Schachzug der Alten zu achten. „Sind Ihre Nerven so zärtlich?“

„Ich fürchte, sie sind es,“ erwiderte Annette mit dem reizendsten, mädchenhaftesten Kopfnicken. „Aber das thut nichts, ich habe doch Muth. Ich bin leicht zu erschrecken, aber ich kann mich auch zusammennehmen.“

„Da haben Sie Recht, Mademoiselle Annette! Ein Frauenzimmer ohne Muth, pflegte mein Vater zu sagen, ist wie ein Mann ohne Verstand. Aber zum Beispiel?“ setzte er mit einem scherzhaften Blick hinzu, indem er auf das Hinderniß zeigte, das gerade jetzt ihren Weg durchschnitt. Ein ziemlich breiter, wenn auch nicht tiefer Bach floß durch den Wald, und an der Stelle, wo sie standen, führte nur ein schmaler, roh zugehauener Baumstamm hinüber. Etwa zwanzig Schritte weiter hinauf hatte man für die Aengstlichen und Ungeschickten gesorgt und einige hohe, feste Steine in das Wasser gelegt, welche wie Brückenpfeiler ohne Brücke hervorsahen. Karl wies auf den Baumstamm hin und trat dann auf [498] ihn hinauf. „Würden Sie es wagen, Mademoiselle, sich dem Rücken dieser zahmen Schlange anzuvertrauen?“

„Aber mon dieu, Charles, wohin führen Sie uns!“ rief Demoiselle Merling mit entrüsteter Stimme. „Wir sollten jetzt längst auf der Landstraße sein und stecken mitten im Wald – und können nicht weiter! Oder denken Sie etwa, daß ich auf der Stange da Seiltänzerkünste machen soll?“

„Nicht doch, liebe Tante, Sie nicht! Sehen Sie dort hinten die Steinbrücke, da können Sie gar nicht fehlen. Ueber diese ‚Stange‘, wie Sie es nennen, möchte ich nur die junge Dame da herüberlocken!“ Und damit ging er schon den Stamm entlang und winkte vom andern Ufer lächelnd zu Annetten herüber.

„Sie sind toll, lieber Charles! Annette, Sie folgen ihm nicht! Lassen Sie sich nicht von ihm zu Narrenspossen verführen!“

„Haben Sie Muth, Mademoiselle Annette?“ fragte Karl von Neuem. „Sie sehen, der Balken hält still. Oder fürchten Sie, daß Sie schwindeln könnten?“

„Schwindeln nicht – aber ich fürchte –“ und das Mädchen sah verlegen auf Demoiselle Merling und ängstlich auf den Bach.

„Also Sie fürchten!“ rief Karl mit einem leisen Anklang von Spott. „Das thut mir leid, ich dachte, Sie hätten Muth.“

Bei diesen Worten zog Annette hastig ihr Kleid ein wenig hinauf, so daß die kleinen Füße sichtbar wurden, und trat auf den Baumstamm. Sie warf einen Blick zu ihm hinüber und erröthete hoch hinauf. Dann fing sie an, zwar etwas behutsam, aber doch mit fester Entschlossenheit vorwärts zu gehen.

„Aber au nom du ciel, Annette!“ rief Demoiselle Merling außer sich, „wollen Sie durchaus in’s Wasser fallen? Wollen Sie sich von diesem abscheulichen Menschen umbringen lassen? Kehren Sie um, Annette, kehren Sie um!“

„Ich bitte Sie, liebe Tante,“ sagte Karl etwas unwillig, „schweigen Sie doch! Sie sehen, es ist zu spät; wollen Sie die Demoiselle außer Fassung bringen?“

„Annette! Annette!“ schrie die Alte nun vollends, „Sie fallen ja unfehlbar hinein! Sie werden straucheln, Annette! Kehren Sie um, oder Sie fallen hinein!“ Ihre gellende, hohe Stimme fing an, das Mädchen in Verwirrung zu bringen. Annette blieb stehen, weil ihre Schritte plötzlich unsicher wurden. „Richtig, da straucheln Sie schon!“ rief die Alte in vollem Entsetzen aus und hob ihre Arme mit dem Sonnenschirm in die Höhe. Diese Bewegung, die Annette von der Seite sah, verwirrte sie ganz, sie gerieth in’s Schwanken, suchte durch einen raschen Tritt festeren Fuß zu fassen, und indem sie darüber das Gleichgewicht verlor, sank sie, blaß wie eine Leiche, lautlos hinunter.

In demselben Augenblick stürzte Karl schon hinzu, sprang vom Ufer in den Bach hinein und haschte nach ihren Gewändern, ihren Armen. Der Fall war nicht hoch; das Wasser schlug zwar einen Augenblick über ihren Schultern zusammen, aber der Jüngling zog sie schnell in die Höhe und an seine Brust. Sie schlug die Augen auf, um sie sogleich wieder zu schließen. Er trug sie in seinen Armen wie ein Kind, hob sie mit starker Anstrengung auf den Uferrand hinauf, dann, als er sah, daß sie mit wiederkehrender Willenskraft sich hielt und ihr Blick mit dem lieblichsten Bewußtsein auf ihm ruhte, ließ er sie auf einen Augenblick los, um sich auf das Ufer hinaufzuschwingen.

„Annette! Annette!“ sagte er, als er oben stand, und beugte sich in fassungsloser Bewegung zu ihr nieder. „Können Sie mir verzeihen?“

„Was soll ich Ihnen verzeihen?“ sagte sie mit noch matter Stimme und lächelte ihn an.

Er hob sie vom Boden auf, um sie nicht länger in der Nähe dieses tückischen Bachs zu sehen, und trug und führte sie einem bemoosten Stein in der Nähe zu. Er fühlte sie auf’s Neue in seinen Armen und? ohne daß der Schreck, wie vorhin, das Gefühl der Wonne in ihm erstickte. Ihre leichte, wieder ein wenig schwankende Gestalt lehnte an seiner Brust; er begriff in diesem Augenblick, daß man für so eine unaussprechlich süße Last das Unaussprechlichste zu wagen vermöchte. Endlich mußten seine Arme sie loslassen; sie saß auf dem Stein und blickte ihn dankbar an, und der erste rothe Schimmer blühte wieder auf ihren blassen Wangen.

Demoiselle Merling hatte bisher starr und wie betäubt dagestanden; ihr Sonnenschirm lag am Boden, ihre laute Stimme schien aus dem halb offenen Mund davongeflogen zu sein. Jetzt endlich trat sie heran. „Wie Sie noch blaß sind, ma chère! Sie haben sich doch nicht weh gethan? Ich sagte es gleich! Ich habe es gleich gesagt, Sie würden hineinfallen!“

„Weil Sie unvernünftig waren wie ein Kind,“ unterbrach sie Karl in sehr unwilligem Ton. „Ich bitte, schweigen Sie, bringen Sie mich nicht auf. Hier ist keine Zeit, sich zu entschuldigen, sondern die Demoiselle in trockene Kleider zu bringen.“

„Wollen Sie mir Impertinenzen sagen, lieber Charles?“ erwiderte die Alte und sah ihn mit offener Feindseligkeit an. „Ich bin also schuld? Ich also habe das Kind zu dieser Thorheit verleitet? Ich habe uns hier in die Irre geführt? Sie übertreffen heute sich selbst, lieber Charles, Sie übertreffen sich selbst!“

„Lassen Sie uns heute nicht mehr streiten,“ brach Karl kurz ab und reichte Annetten seine Hand, um sie von ihrem Sitz sanft in die Höhe zu ziehen. „Kommen Sie, kommen Sie, liebe Mademoiselle. Wir müssen zum Vorwerk zurück; es ist das nächste Haus; dort kann man Sie umkleiden. Sind Sie noch schwach, liebe Mademoiselle? Soll ich Sie tragen? Ich habe Kraft genug, um Sie durch zwei solche Wälder zu tragen wie dieser.“

„Charles! Charles!“ rief die Alte in der höchsten Entrüstung aus, „sind Sie denn ganz von Sinnen? Wissen Sie denn nicht, wie unanständig Sie sind? Ein junges Mädchen tragen – nein, dieser Einfall!“

„Können Sie gehen, Mademoiselle Annette?“ sagte Karl mit weicher, etwas bebender Stimme und wandte sich von der Alten ab. Das Mädchen nickte ihm zu. „Nehmen Sie meinen Arm, liebe Mademoiselle! Sie frieren schon in Ihren nassen Kleidern?“ Sie schüttelte lebhaft den Kopf. Mit einigem Zögern hing sie sich an seinen Arm und vermied es dabei, dem Blick der Demoiselle Merling zu begegnen. „Schreiten Sie recht tapfer aus,“ sagte er, indem er sie zärtlich anblickte, und führte sie rasch voran. Die Alte keuchte mühsam hinterdrein und biß sich stumm auf die Lippen. Karl schien nicht mehr zu wissen, daß sie auf der Welt war; er drückte Annettens Arm an den seinen, flüsterte ihr freundlich belebende Worte zu und fragte sie ein Mal über das andere, ob sie ihm auch verzeihe. „Ob ich Ihnen verzeihe?“ sagte sie leise und blickte mit scheuer Dankbarkeit zu ihm hinauf.

„Sie haben mich gerettet! Sie haben mir –“ Sie verstummte. Dann begann sie nach einer Weile, indem sie plötzlich ihren Schritt zu beschleunigen schien: auch ihre Eltern würden ihm danken wollen, ihre guten Eltern. Es würde sehr freundlich von ihm sein, wenn er sie aufsuchen wollte, damit sie den Retter ihrer ungeschickten Tochter kennen lernten. Sie riß einen Zweig von dem Gebüsch am Wege ab und fragte dabei mit etwas hastiger Stimme: „wann er wieder zurückkomme?“ Karl glaubte die holdeste Musik zu hören, indem sie das sprach. Er ergriff ihre Hand, drückte sie und betheuerte, daß er keinen wärmeren Wunsch habe, als sie wiederzusehen. Sie erröthete sehr und wandte ihr Gesicht zur Seite hinaus. Unterdessen hatte die Alte sie endlich wieder erreicht, das dürre Holz knatterte unter ihren hastigen Füßen. Der Wald lichtete sich, und zwischen den Bäumen durch schien das Haus des Vorwerkspächters herüber.

Die Kinder, die vor der Thür in der Abendsonne spielten, sprangen Annetten mit liebkosenden Ausrufungen entgegen. Auf ihr ungestümes Schreien, als sie die nassen Kleider sahen und hörten, was vorgefallen, kam die Mutter heraus und eilte fast mit Zärtlichkeit auf das Mädchen zu. Annette schien nun wirklich trotz des raschen Ganges kläglich zu frieren; ihre Lippen verloren alle Röthe. Die erschrockene Pächterin führte sie schnell hinein, die alte Dame und die Kinder folgten, und Karl blieb allein vor der Thür zurück, in seinen hocherregten, wogenden Gedanken.

Eine lebhafte Bangigkeit bedrückte ihn, dann zerschmolz sie vor dem Feuer seiner Gefühle; er sah sich wie über alle Wipfel weggetragen, er wiederholte sich Annettens Blicke und Worte und drückte sie im Geiste wieder an seine Brust. Auf einer der Bänke, die in dem Wirthsgarten vor dem Hause unter den Lauben standen, warf er sich hin und starrte mit überfüllten Augen in den Himmel hinein. Nach einer Weile kamen die Kinder wieder hervor, schlichen neugierig näher, standen stumm um ihn her und sahen dann wieder voll Erwartung nach der Hausthür zurück. Endlich erschien auch Annette, und nun sprangen ihr die Kleinen mit lautem Lachen entgegen. Sie hatte sich von Kopf bis zu Fuß verwandelt und stand in ländlicher Mädchentracht, wie eine etwas [499] unwahrscheinliche Dorfschöne, da. Das große, farbige Brusttuch, die kurzen Aermel, die leinene Schürze standen ihr seltsam drollig zu Gesicht. Karl war aufgesprungen und starrte sie an; sie blickte in der liebenswürdigsten Heiterkeit zu ihm herüber. Ihre Lippen waren wieder frisch und roth, ihre Wangen blühten. Sie drückte einen mächtigen ländlichen Strohhut auf den Kopf; darüber brachen die Kinder in neues Jubeln aus, hingen sich rechts und links an ihre Schürze und gaben ihr die lustigsten Schmeichelnamen, während sie mit herzlicher Liebe und Holdseligkeit auf die kleinen Schelme herabsah.

Karl schritt auf sie zu und wollte eben ihre Hand ergreifen – ohne zu wissen, warum – als auch Demoiselle Merling aus der Thür hervortrat und zugleich ein kleiner, einspänniger Wagen von der Stallung heranfuhr, um vor dem Hause zu halten. „Bemühen Sie sich nicht weiter, lieber Charles,“ sagte sie mit ihrem süßesten Lächeln, „und haben Sie schönen Dank, daß Sie uns das böse Mädchen da so weit wieder gerettet haben. Wir fahren heim, wie Sie sehen. Ich habe sofort beim Eintreten einen Wagen bestellt. Es ist leider nur Platz für Zwei, es wäre schöner gewesen, wenn wir den Lebensretter hätten mitnehmen können. Aber Sie machen sich ja nichts aus weiten Wegen zu Fuß. Leben Sie wohl, lieber Charles. Steigen Sie ein, mon enfant, steigen Sie ein. Helfen Sie mir ein wenig, lieber Charles. Ich danke Ihnen so. Und nun fahren Sie zu, Kutscher, was die Pferde nur laufen wollen.“

Karl stand überrascht. Er hatte in der Verwirrung noch ein mal Annettens Hand ergriffen, drückte sie lebhaft und glaubte ihren Gegendruck zu fühlen; aber dann riß die Alte, wie durch eine zufällige Bewegung, den Arm des Mädchens zurück, und die ungeduldigen Pferde zogen an. Ein letzter Blick aus Annettens sanften Augen flog zu dem Jüngling zurück, und ihre ganze Seele schien ihn daraus anzustrahlen. Beglückt und verstört zugleich stand er und sah ihr nach. Der Wagen rollte zum Gehöft hinaus, eine leichte Staubwolke schwebte hinter ihm auf, und durch diesen grauen Schleier hindurch glaubte er noch den boshaft triumphirenden Blick der Alten zu erkennen.




3.

Unterdessen war Wilhelm, seit er sich auf dem Marktplatz vom Bruder getrennt hatte, mit seinen hastigen Schritten durch die Straßen geraunt; er sprach vor sich hin, er sang, er nahm seinen Hut in die Hand und irrte durch die Sommerluft der Gassen umher, ohne zu wissen, wohin seine Füße ihn führten. Endlich blieb er stehen und dachte, was für ein Thor er gewesen sei, das Zimmer seiner Tante Merling zu verlassen; er sah sich wieder auf seinem Platz, neben Annette, – und plötzlich kehrte er um, zu dem kleinen schmalen, hochstirnigen Eckhaus am Marktplatze zurück. Er trat auf den Flur und horchte, um Annettens liebliche Stimme drinnen zu hören. Aber Alles war still. Er klopfte und fand die Thür verschlossen, er zog an der Hausthürglocke, das Dienstmädchen erschien und sagte ihm, daß die Demoiselle spazieren gegangen sei. Es war ihm unmöglich, so wieder von dannen zu gehen. Er ließ sich aufschließen und trat in das Zimmer hinein, um auf dem Stuhl, auf dem vorhin Annettens kleine Gestalt geruht hatte, niederzusitzen. Ihr unfertiger Strickstrumpf war auf der Tischdecke liegen geblieben; mit Zärtlichkeit nahm er ihn in die Hand, dachte sich die zierlichen Finger hinzu, die ihn so weit gebracht hatten, und starrte ihn sehnsüchtig an, wie wenn sich ihre ganze Seele in diese Maschen verstrickt hätte. Endlich trieb ihn seine Unruhe wieder davon. Es drängte ihn, der Tante Merling ein Zeichen seines Zustandes zurückzulassen. Auf dem Clavier fand er einen weißen Briefbogen, er theilte ihn in seine beiden Hälften und hing das eine Blatt unter sein Bild, nachdem er darauf die Worte geschrieben hatte: „Ist sehr verliebt.“ Dann nahm er die andere Hälfte, schrieb mit übergroßen Buchstaben: „Ich komme wieder!“ auf dieses Blatt, stellte es aufrecht gegen das Erbauungsbuch und legte Annettens Strickstrumpf davor, um es vor dem Fallen zu schützen. Hierauf drückte er der Magd, die mit sehr verwunderten Mundwinkeln wieder in die Thür getreten war, zum Abschied die Hand, rief sein getreues Windspiel, das ihn auf dem Flur erwartet hatte, und eilte hinaus, um von Neuem seine Irrfahrt durch die Straßen, am Hafen, auf den Stadtwällen zu beginnen.

Es war dunkle Nacht geworden, als er nach Hause kam; nun endlich hoffte er den Bruder wiederzufinden, nach dem er sich herzlich sehnte. Sein Geheimniß, sein inzwischen glühend heiß gewordener Entschluß brannte ihm auf der Zunge; es trieb ihn, wie es ihn noch nie getrieben hatte, in Karl’s Herz seine überladene Seele auszuschütten. Indessen die Wohnung war leer. Statt des Bruders fand er auf seinem Tisch einen Brief. Er ließ sich vom Bedienten die Kerzen bringen, öffnete ihn und las:

„Liebster Wilhelm! Die Nacht ist so schön, ich wandere zu Fuß hinaus. Ich bitte, schicke mir morgen den Wagen nach und sei inzwischen, wie immer, guter Dinge. Ich habe hier in der Stadt keine Ruhe mehr; der Mond geht eben auf, und es wandert sich im Mondlicht so gut, wie im Sonnenschein. Mir ist, als müßt’ ich mich einmal austoben! Gute Nacht, gute Nacht! Zu wenigen Tagen, Liebster, sehen wir uns wieder.“

Wilhelm starrte eine Weile in den Zettel hinein, dann auf den Himmel hinaus, wo der Mond schon aus der Höhe in sein Fenster herabsah. Er dachte in seiner Unruhe einen Augenblick, ob er dem Bruder nachlaufen, seinem Beispiel folgen, ihn einholen sollte; dann belehrte ihn wieder das hohe Gestirn, daß es ohne Zweifel zu spät sei, und sehr beklommen warf er sich in die Sophaecke und fühlte sich traurig allein. Er sprach laut vor sich hin, um nur eine Stimme zu hören. Er redete den Flüchtling an, warf ihm mit herzlichen Scheltworten vor, daß er so ein Pflichteiferer sei, sich zur ungeschicktesten Zeit davonzustehlen. Wie eine sichtbare Frage schwebte es ihm vor den Augen, was er nun thun solle. Es däuchte ihn ganz unmöglich, sich nicht schon jetzt zu entscheiden. Wenn er nur an Annette dachte, so erschien es ihm wie eine Pflicht, dieses Mädchen zu heirathen. Sie allein auf der Welt, und sogleich! Es konnte ihm ein Anderer zuvorkommen – schon morgen – noch heute! Bei diesem Gedanken sprang er wie gemartert in die Höhe und hastete mit großen Schritten im Zimmer umher, riß alle Fenster auf, um die Beklemmung, die ihn umdunstete, hinauszulassen. „Er kann nicht anderer Meinung sein, als ich,“ sagte er, auf- und niedergehend, vor sich hin. „Er kann diese Wahl nicht mißbilligen, er kann’s nicht! In diesem Mädchen ist Alles! Wie Tante Merling sie lobt! Wie ihr Liebe und Güte aus den Augen sehen! Ach, und Karl als ihr Schwager – wie wird ihm wohl sein, so eine Schwester zu haben; er hat sie ja gern. Ich hab’s ihm ja angesehen! Er hat keine Leidenschaft für sie, wie ich, aber mit brüderlichem Herzen, wie es seine Art ist, wird er sie lieb haben.

Und dann wir Drei miteinander – bis auch er das Mädchen findet, das ihn so toll macht, wie mich! Wenn er je so eins findet,“ dachte er und blieb stehen, „wenn es je Eine geben wird, die ihn nicht kühl laßt, an der sein kluger Geist nichts zu tadeln findet – Doch, doch, so Eine wird es geben!“ sagte er laut mit ermuthigender Stimme und sah in den Nachthimmel wie in die Zukunft hinaus. „Auch er wird einmal heiß werden, wird alle Sinne verlieren – und dann leben wir Vier wie die Engel im Himmel.“

Bei diesem rosigsten Gedanken stand seine Seele still; es that ihm unendlich wohl, ihn sich fort und fort vor Augen zu halten, die letzten Zweifel hinter ihm zu verbergen. So verbrachte er den Rest des Abends und einen Theil der Nacht. Endlich entkleidete er sich, halb im Traum, suchte sein Bett auf und war, indem er im Geist noch einmal Karl’s Hände drückte, plötzlich entschlafen.

Am andern Morgen stand die Sonne schon hoch, als er aus dem tiefsten Schlaf erwachte und aufstand. Er rief sich seine Entschlüsse von gestern zurück, mit einem Gefühl, wie wenn er sich des Bruders Einwilligung herangedacht hätte; Alles schien ihm so klar, so sonnenhell; er kleidete sich an, warf sich in seinen schönsten Sammetrock, nahm seinen zierlichsten und reichsten Busenstreif und wanderte hinaus, dem Eckhaus am Marktplatz zu. Die Sonne schien auch heute, wie gestern, aus der Bläue herab. In den Straßen war es so warm, die kühle Morgenfrische schon aufgesogen, die vorübergehenden Gesichter glänzten in der Sonne. Ihm war so wohl, wie wenn er zum schönsten Fest seines Lebens ginge. Er hatte endlich die Thür in der Hand, zu der es ihn zog, und öffnete ohne zu klopfen, – und Demoiselle Merling, die an ihrem Nähtisch saß, blickte ihn verwundert an und fuhr in die Höhe.

[500] „Was verschafft mir so früh das Vergnügen, lieber Wilhelm ?“ sagte sie und ging ihm ein paar Schritte entgegen.

„Liebste Tante,“ erwiderte er, indem er ihre beiden Hände nahm und sie mit seinen leuchtenden blauen Augen anglänzte, „haben Sie meine beiden Zettel von gestern gelesen?“

„Ja, mein alter Wilhelm,“ sagte sie und lachte.

„Haben Sie auch den Zettel unter meinem Bildniß gelesen?“

„Ich denke.“

„Und wissen Sie, wen ich meine?“

„Ich glaube so was zu merken,“ sagte sie und durchbohrte ihn mit ihren listigen Augen. „Ist sie klein, lieber Wilhelm? Hat sie blaue Augen? Hat sie ein feines, kleines Naschen? – Hab’ ich Recht oder Unrecht, mein alter Wilhelm?“

Der aufgeregte Jüngling hatte ihre Hände losgelassen, warf sich in’s Sopha und streckte die Arme an den Lehnen aus. „Tante Merling,“ sagte er, „dieses Mädchen muß ich heirathen, und Sie müssen meine Freiwerberin sein, und Sie müssen jetzt sogleich Ihre Enveloppe nehmen und Ihren Hut aufsetzen und diesen Gang für mich machen.“ .

„Was soll ich – ?“ fragte die alte Dame und starrte ihn an.

„Für mich werben, Tante; bei den Eltern, bei Annette; mich ihr antragen! Ich habe keine Ruhe, bis Sie wieder zurückkommen.“

„Und das muß sogleich sein? – Lieber Wilhelm – – Mein Gott, ich bin ganz erschrocken; – ist das ein ungestümer, stürmischer Mensch! – Seit vorgestern Abend –“

„Fragen Sie nicht viel, liebe Tante; glauben Sie mir’s! Ich liebe sie; ich halte Annette für einen Engel, und Sie wissen ja, daß ich Recht habe.“

„Sie ist ein gutes Kind; – aber so eilig – – Nein, diese jeunesse!“ – Sie stand noch immer und konnte sich, nicht fassen.

„Sind Sie nicht auch ein Mal jung gewesen, Tante Merling? – Seien Sie gut, seien Sie liebenswürdig und foltern Sie mich nicht lange. Sie wissen, ich war ja immer von raschen Entschlüssen. Und jung gefreit hat noch Niemand gereut. Und eh’ ein Andrer kommt und sie mir wegnimmt, müssen Sie hinüberlaufen, liebe Tante –“

„Nun, nun!“ unterbrach sie ihn lachend, „so schlimm wird’s ja nicht stehen! Daß gerade in dieser Minute –“

„Alles geschieht in irgend einer Minute, liebe Tante! – Was bedenken Sie noch? Haben Sie nicht immer Gutes von ihr gesagt? Sind ihre Eltern nicht brave und gebildete Menschen? Und ist sie nicht so reizend, so liebenswürdig –“

„Aber arm, lieber Wilhelm! Die Eltern haben nichts; sie sind stets in Verlegenheiten –“

Wilhelm sprang auf. „Wollen Sie mich böse machen, Tante Merling? Wenn ich für uns Beide genug habe, was geht ihre Armuth mich an?“ Er begann unruhig auf und nieder zu gehen. „Sie soll reich werden!“ stieß er heraus. „Sie soll ihren Eltern aus der Noth helfen! – Warum kommen Sie mir mit solchen Bedenken, Tante? Was haben Sie, warum stehen Sie so in Gedanken?“

Die Alte stand in der That sehr nachdenklich da; aber bei diesem Anruf faßte sie sich und suchte es hinter einem Lächeln zu verbergen. Die Erlebnisse von gestern traten ihr vor die Seele; der Abend im Walde, der Unfall, Karl’s Schwärmereien – sein Benehmen gegen Annette – gegen sie selbst – ihre Galle fing wieder an sie zu ersticken. Er hat sie gern, dachte sie. Er mißhandelte mich um ihretwillen! O, wie ich mich jetzt an ihm rächen könnte, wenn ich nur wollte! Wenn ich nur nicht so gut wäre! Sie fühlte, wie ihr der giftige Aerger wieder in’s Gesicht trat, und wandte sich ab, als sähe sie auf einen Augenblick zum Fenster hinaus, um ihre unholden Gefühle nicht zu verrathen.

„Liebe Tante Merling!“ sagte Wilhelm mit zärtlicher Stimme und trat an sie heran, indem er seinen Arm sanft um ihre Schultern legte. „Seien Sie nicht wunderlich; kommen Sie mir nicht mit Frauenzimmer-Bedenken, die Sie vielleicht im Sinn haben; thun Sie mir etwas zu Liebe! Sie haben mich ja immer gern gehabt,“ und er sing an sie zu streicheln. „Sie haben mir so oft gesagt, daß Sie mir einmal eine recht liebe, gute, reizende Frau aussuchen wollten. Nun haben wir sie gefunden, Tante Merling; sie ist gerade wie ich sie wünsche, und Sie sollen sie mir verschaffen, Sie und kein Anderer. Vorgestern Abend haben Sie Annette die Elevin Ihrer Seele genannt; wissen Sie das nicht mehr? Wenn Sie jetzt nicht auf der Stelle gut sind und mir die Hand darauf geben, daß Sie bei diesem Mädchen noch heute für mich werben wollen, und wenn Sie nicht Ihre Enveloppe und Ihren Hut nehmen, um hinüberzugehen, – so sehen Sie mich hier zum letzten Mal, so gebe ich Sie auf, so verlasse ich Sie, so erkläre ich der ganzen Welt, daß ich Sie für immer verlasse.“

Die Alte drehte sich herum, sah ihn an und warf sich ihm in die Arme. Dann machte sie sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder los und ging mit einigem Pathos auf die Nebenthür zu, in’s andere Zimmer hinein. Nach wenigen Augenblicken kam sie zurück, den mächtigen Hut auf dem Kopfe, in ihren grauen Ueberwurf gehüllt, ganz zum Auszug gerüstet und in jedem Auge eine Thräne, die sie ruhig stehen ließ, als gehöre sie dahin. „Sie sehen, mein Wilhelm, ich gehe,“ sagte sie sehr gerührt. „Ich sage nichts weiter. Verlassen Sie sich auf Ihre Alte; fürchten Sie nichts! Sie hören von mir. Ich glaube, Ihre Sache ist in guten Händen, in ganz guten Händen, lieber Wilhelm! Haben Sie Vertrauen und Geduld und leben Sie wohl!“ Sie reichte ihm ihre Hand, die er sehr glückselig an seine Lippen drückte, sah ihn noch mit einem weinenden Lächeln an und glitt dann eilig hinaus.

„Der vortreffliche, einzige Mensch!“ sagte sie in Gedanken, indem sie unter ihrem Sonnenschirm über den Marktplatz hinweg schritt; „was seine alte Tante für diesen Menschen nicht thäte! – Wie er die Sache auffaßt! Wie glücklich wie unendlich glücklich er sie machen wird! Wenn es so steht, ja, dann ist es freilich das Beste, schnell zu Ende zu kommen. Karl ist ein schlechter Mensch, ein bösartiger Mensch; aber so lieblos will ich an ihm nicht handeln – was er freilich an meiner Stelle thäte – daß ich sein Gefühl für das Kind wachsen lasse, bis es unheilbar wird! Nein davor wird ihn diese beleidigte, verachtete alte Frau bewahren, die er nicht ausstehen kann! die sich trotzdem noch einbildet, mütterliche Pflichten gegen ihn zu haben! – Heirathen kann er ja das Mädchen nie. Der gute Wilhelm liebt sie, und für den ist sie wie geschaffen. Und der ist der Aeltere. Also verzichten Sie nur, lieber Karl, verzichten Sie! Lassen Sie sich bei Zeiten sagen, daß Annette für einen Andern auf der Welt ist, und drücken Sie Ihr armes Herz nur wieder zusammen, ehe es zu groß wird, und dann danken Sie Ihrer mißhandelten alten Tante Merling, daß sie zum Dank für Ihre Abscheulichkeiten Sie vor Ihrem Unglück bewahrt hat!“

In diesem freilich etwas unsicheren Gefühl ihrer Herzensgüte schritt sie eifriger aus und hatte bald, der alten Marienkirche gegenüber, das niedrige Haus erreicht, in dem sie die zukünftige Frau ihres Lieblings aufsuchen sollte. Annettens Eltern wohnten zu ebener Erde, und mehrere der Geschwister kamen der alten Dame gleich beim Eintritt entgegen. Sie liefen ihr mit Lärm voran, um sie zur Schwester zu geleiten und den Besuch schon von Weitem durch ihre hellen Stimmen anzumelden. Annette stand in der Küche, eine blanke weiße Schürze vorgebunden, und das Heerdfeuer schien roth über ihr Gesicht. Sowie sie die alte Demoiselle kommen sah, band sie hastig ihre Schürze los und eilte mit der ganzen Freundlichkeit ihres Wesens auf sie zu, um sie nach vorn in’s Wohnzimmer zu führen.

„Nein, nein,“ sagte Demoiselle Merling und schüttelte mit einiger Feierlichkeit den Kopf. „Kommen Sie in den Garten, meine Liebe. Ich habe Ihnen etwas zu sagen – etwas Besonderes zu sagen. Zu der Laube, – kommen Sie, mon enfant!“ – Und damit nahm sie Annettens Hand, drückte sie mehrere Male und zog das verwunderte Mädchen auf den Hof hinaus und dem Garten zu.


(Fortsetzung folgt.)
[501]

Ein deutsches Normal-Rettungsboot.

In den vier Artikeln,[1] welche die Gartenlaube bis jetzt den Bestrebungen der „Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger an den deutschen Nordküsten“ gewidmet hat, und namentlich in dem „Mahnruf an das deutsche Volk“ in Nr. 23 des Jahrgangs 1865, ist dargethan, welche wichtige Rolle bei diesen kühnen Unternehmungen der Menschenliebe dem sogenannten Rettungsboote zufällt. Es ist die Hülfe des Augenblicks, für die es gerüstet sein muß: es muß dem furchtbarsten Aufruhr desjenigen Elements, dem der Mensch am schwersten entrinnt, Trotz bieten; es muß auf alle Tücken desselben vorbereitet sein in jedem Augenblick, denn schon der nächste gehört ihm nicht mehr, wenn es einem einzigen unterliegt. Darum hat man es als nächste, unerläßlichste Anforderung an ein solches Boot aufgestellt, daß es dem Anprall der stärksten Wogen widerstehe, dem Winde wenig Spielraum biete, nicht leicht umschlage (kentere), nach jedem Kentern sich leicht wieder aufrichte und von dem eingedrungenen Wasser sich selbst entleere.

Vorderansicht von Petersen’s Rettungsboot.

Diesen Anforderungen entsprachen bis jetzt am nächsten die Rettungsboote des Engländers Peake, des Amerikaners Francis und des Deutschen F. Devrient (Schiffsbaumeisters in Danzig). Dem ersteren ist durch Luftkästen an beiden Enden des Bootes große Tragfähigkeit, und durch Wasserballast, den man im unteren Theile des Centrums des Bootes angebracht hat, sowie durch einen Schwerkiel (wie der gewöhnliche Kiel genannt wird, wenn er mit Blei oder Kupfer beschlagen oder ganz von Eisen ist) die Fähigkeit verliehen, dem Umschlagen Widerstand zu leisten. Ist aber daß Boot mit vielen Geretteten belastet, die bei einem Kentern sich an den Ruderbänken (Duchten) anklammern, so geschieht es leicht, daß die niederziehende Menschenwucht das Wiederaufrichten des Bootes unmöglich macht. Nur wenn beim Umschlagen die meisten Insassen hinausfielen, würde es sich sofort wieder aufrichten, aber jene wären größtentheils verloren.

Längendurchschnitt von Petersen’s Rettungsboot.

Das zweite Boot behauptet vor dem ersteren den Vorzug geringerer Schwere und größerer Tragfähigkeit, weil es außer den beiden Luftkästen an den Enden noch an beiden Seiten des Bootes dergleichen hat, die dem Umschlagen ziemlichen Widerstand leisten; geschieht aber letzteres, so sind diese Luftkästen auch das Hinderniß gegen das Wiederaufrichten des Bootes, und seine ganze Bemannung ist unrettbar verloren. – Das Danziger Rettungsboot, vorläufig in den Rettungsstationen der Ostsee eingeführt, vereinigt die Vorzüge der beiden vorigen, leidet aber wohl auch unter deren Nachtheilen mit.

Die Rettungsboote Wilhelm Bauer’s sind zweierlei Art: solche, die, ohne Gefahr des Zerschellens, sich zwischen Klippen wagen dürfen, weil er sie aus dem Material seines Schiffhebeballons bauen will, und solche, welche zu seinen unterseeischen Fahrzeugen gehören und da Anwendung finden, wo das Meer die nöthige Tiefe bietet, um unter dem Wogenschlag weg zum bedrohten Schiff und auf demselben Wege mit den Geretteten zurückzufahren. Beide sind bis jetzt unausgeführt geblieben.

Dagegen macht das so eben im Bau begriffene Boot neuester Construction von C. W. Petersen aus Hadersleben den Anspruch, ein deutsches Normal-Rettungsboot zu werden. Die mit dem drei Fuß langen Modell desselben in der Elbe bei Hamburg vor Sachverständigen angestellten Proben haben allen Anforderungen entsprochen, und da Petersen mit dem ersten Boote dieser Construction, das auf der Werfte von Nibbe in Neumühlen bei Altona gebaut ist, Fahrten nach London und New-York unternimmt, so wird dasselbe ohne Zweifel ein oft besprochener Gegenstand der Tagespresse, über welchen unsere Leser Mittheilung auch in diesem Blatte suchen; um so mehr freut es uns, derselben eine Abbildung von dem Durchschnitt und dem Vordertheil des Bootes, in Figur 1 und 2, hinzufügen zu können.

Petersen’s Boot unterscheidet sich von den genannten dadurch, daß es dem Kentern allerdings ebenfalls möglichsten Widerstand leistet, nach jedem Umschlagen aber sich sofort von selbst wieder ausrichten muß, und zwar ohne dazu eines Schwerkiels oder des Ballastes zu bedürfen.

Nehmen wir die beiden Abbildungen des Längendurchschnitts (Fig. 1) und der Vorderansicht (Fig. 2) des Bootes zu Hülfe, so sehen wir, daß unter dem Kiel, L, noch ein sogenannter Loskiel, M, angebracht ist. Der Kiel ist bekanntlich das Rückgrat des Bootes, von welchem die Rippen desselben ausgehen. Der lose Kiel liegt unter dem eigentlichen Kiel, an diesen zwischen dem Vorder- und Hinter- (oder Achter-) Steven – N und O – durch Bolzen befestigt. Er tritt, wie M Fig. 2 zeigt, an jeder Seite des Kiels sechs Zoll hervor und wird als Kielwasserregulator bezeichnet, weil er, wenn der Seegang quer durchschnitten werden muß, das Abtreiben des Bootes von seiner nothwendigen Richtung und zugleich das Kentern mit verhindert; er soll, weil er so tief unter dem Luftraum des Bootes liegt, zum Theil den Schwerkiel sowie den Ballast der anderen Boote ersetzen und dem Hauptkiel Schutz geben.

Den Raum an beiden Enden des Bootes, welchen bei den früheren Booten die Luftkästen einnehmen, sehen wir hier zu Cajüten – E und D – benutzt, in welchen je sechs Gerettete Platz finden. Die Vordercajüte (D) enthält einhundert und fünfzehn, die Hintercajüte (E) einhundert Kubikfuß Raum. Die Hauptcajüte ist aber im Mittelpunkt des Bootes angebracht, bei C; ihre beiden Seitenwände – B und B – ragen hoch über den Bord hinaus und bieten dem Kentern ebensoviel Widerstand, als sie im Fall des völligen Umschlagens des Bootes zur Wiederaufrichtung desselben beitragen. Diese Cajüte enthält einen Raum von dreihundert und achtzig Kubikfuß und hat Sitze (i) für vierundzwanzig Mann, und zwar auf vier je neun Fuß neun Zoll langen Bänken. Sämmtliche Cajüten sind mit Fenstern (c) und mit Luftröhren (d) versehen; die letzteren bestehen aus Guttapercha-Schläuchen, welche anderthalb Fuß über die Cajütendecke hervorragen und vor jedem Wogenschlag sich auf die Seite legen. Beim Umschlagen des Bootes würde der Gegendruck des Wassers sie fest zusammenkneifen, und da sie nur wenige Secunden unter Wasser bleiben können, so kann schwerlich durch sie Wasser in die Cajüten eindringen. Sollte dies dennoch geschehen, so wird dasselbe durch eine in den Cajüten angebrachte Pumpe sofort wieder entfernt.

Die Einsteigeluken zu den Cajüten sind bei b, also zugleich als Fenster benutzt, deren Scheiben aus halbzölligem grönländischem Glase bestehen. Der große Vortheil, den diese Cajüten für die Sicherheit der Rettungsmannschaft und der Geretteten selbst bieten, besteht hauptsächlich darin, daß letztere nicht, wie bei den anderen Booten, die Matrosen in ihrer Arbeit beengen und stören und beim Kentern des Bootes durch das Anklammern an den [502] Bord die Wiederaufrichtung desselben unmöglich machen können; diese Sicherheit wird noch dadurch erhöht, daß sämmtliche Insassen des Bootes, Gerettete wie Ruderer, an ihre Sitzplätze durch Riemen festgeschnallt werden. Die Geretteten bilden durch ihr Gewicht den besten Ballast des Bootes, und je größer ihre Zahl, desto stärker wird die Aufrichtungsfähigkeit des Bootes. Im Nothfall können in der Mittelcajüte, statt vierundzwanzig, sogar zweiunddreißig Menschen Platz finden. „Dann geht es freilich sehr eng zu,“ bemerkte hier Prinz-Admiral Adalbert, aber Capitain Petersen versicherte dagegen, „daß Schiffbrüchige auch keine Ansprüche auf Bequemlichkeiten eines Hotels machten.“

Die Lufträume sind zwischen den beiden End- und der Mittelcajüte, bei F und G, angebracht; der Hinterboden-Luftraum (F) enthält achtzig, der Vorderboden-Luftraum (G) neunzig Kubikfuß. Der Platz der Rettungsmannschaft ist das Hinterdeck – J – und das Vorderdeck – K –; die Ruderbänke (Duchten), auf welchen, wie bereits bemerkt ist, die Matrosen ebenfalls festgeschnallt sind, bezeichnen die Buchstaben a, und bei f sind die Ruder- (in der Semannssprache Riemen-) Dollen zum Einlegen der Ruder während der Handhabung derselben.

Zwischen beiden Decks J und K und den beiden Cajütenwänden B und B (vergl. auch Fig. 2) befindet sich ein wesentlicher Theil der neuen Construction des Rettungsboots: eine bewegliche Hebekraft, – A, in Fig. 1 und 2 – welche in einem eiförmigen Ballon aus Korkholz besteht und im Centrum des Bootes der Länge nach auf Charnieren liegt, die an den beiden Seitenwänden der Mittelcajüte befestigt sind. Bei einem Umschlagen des Bootes zieht sich dieser Ballon nach der entgegengesetzten Seite und bewirkt, mit Hülfe dieser Seitenwände, ein schnelleres und sichereres Wiederaufrichten desselben, als dies den Endluftkästen, den Schwerkielen und dem Wasserballast anderer Rettungsboote möglich ist.

Auch für die Selbstentleerung des Bootes von dem auf das Deck hereingeschlagenen Wasser ist zweckmäßiger gesorgt, als bei den anderen Booten; letztere haben die Wasserentleerungsöffnungen im Centrum und sind daher genöthigt, sämmtliches eingeschlagene Wasser so lange zu tragen, bis sie in die normale Lage zurückgebracht und es auszupumpen im Stande sind, und schaffen sich dadurch ein Hinderniß des Wiederaufrichtens mehr. Petersen wies diesen Oeffnungen ihren Platz an den Seiten – vergleiche die Buchstaben e in beiden Figuren – an und bewirkt damit, daß das Wasser gleich nach dem Einschlagen auf der Leeseite, das heißt der dem Windstrich abgewendeten Seite des Bootes wieder abläuft; die dem Windstrich zugekehrte nennt der Seemann bekanntlich die Luvseite.

Da möglichst fester Zusammenhalt aller Theile ein Haupterforderniß dieser Boote ist, so müssen wir noch auf zwei dazu beitragende Vorrichtungen hinweisen. Figur 1 zeigt uns eine durch die Vordercajüte D laufende Stange – g –, welche das Oberende des Vorderstevens N mit dem äußersten Vorderende des Kiels und Loskiels, L und M, verbindet. Diese „Klammerstange“ verleiht dem Vorderende des Bootes eine bedeutende Stärke und gestattet am Oberende des Vorderstevens eine sogenannte „Kreuzklampe“ (Fig. 1 und 2 h) anzubringen, welche dazu dient, vom Wrack aus Trossen (Taue von wenigstens achtzehn Garnen) und anderes Tauwerk zu befestigen, um eine Verbindung mit demselben herzustellen, ohne daß das Boot dadurch gefährdet wird. – Die andere Vorrichtung führt uns an das entgegengesetzte Ende des Bootes: zum Steuer H. Petersen’s neuer Einhakungsapparat befähigt das Steuerruder, sich bei jedem Aufstoßen auf dem Grund in die Höhe zu heben; sobald das Boot wieder flott wird, fällt es von selbst in seine gehörige Lage zurück; bei einem Umschlagen hebt es sich bis zwanzig Zoll, nimmt aber beim Aufrichten gleich wieder seine alte Lage ein, ohne auszuhaken. Das Einhaken desselben ist bei dunkler Nacht wie bei schwerem Seegange sehr leicht auszuführen.

Endlich ist es noch ein Vorzug von Petersen’s Boot, daß es kaum die Hälfte der Last der bis jetzt bekannten Boote hat: es wiegt etwa zweitausendfünfhundert Pfund und eignet sich deshalb ganz besonders zum Transport an den Küsten.

Wenn wir bedenken, daß ein solches Boot nicht allein zur Rettung Schiffbrüchiger zu verwenden ist, sondern daß es sich auch für den gefahrvollen Beruf der Lootsen längst als unentbehrlich herausgestellt hat, so muß man die möglichste Vervollkommnung, aber dann auch die möglichste Verbreitung desselben auf das Dringendste wünschen. Noch am dritten Februar dieses Jahres haben bei der Boesch (Lootsenstation) an der Elbe sieben Lootsen, zwei Hannoveraner und fünf Holsteiner, sämmtlich Familienväter, durch Kentern ihres Bootes das Leben verloren. Die Wohlthätigkeit hat freilich in Hamburg und Altona für die Wittwen und Waisen eine beträchtliche Summe aufgebracht, aber die Todten bleiben todt. Für dieselbe Summe hätten zehn Petersen’s-Boote gebaut werden können, deren eines genügt hätte, die braven Männer den Ihrigen zu erhalten.

Der Capitain Karl Wolfgang Petersen aus Hadersleben ist seit seinem dreizehnten Jahre praktischer Seemann, hat viele Meere befahren und Vieles von Dem gesehen und geprüft, was anderwärts für das Rettungswesen Schiffbrüchiger geschieht. Sein Boot ist das Werk jahrelangen Nachdenkens und vielfacher Versuche. Möge ihm, wenn sein Werk gelungen ist, dafür Anerkennung und Lohn werden, wie er Beides verdient hat!




Die Mutter unserer heutigen Scheidekunst.
Vortrag von Prof. Dr. O. L. Erdmann in Leipzig.
(Schluß.)


Der Stein der Weisen und die Leipziger Juristenfacultät. – Flamel’s Recept zum Stein der Weisen. – Die Lebenspanacee. – Fürstliche Alchemisten. – Die Rosenkreuzer und die alchemistische Gesellschaft zu Nürnberg. – Leibnitz, ein Mitglied derselben. – Die fürstlichen Hof- und Leibalchemisten. – Böttger in Dresden. – Semler und das Luftsalz. – Die hermetische Gesellschaft und der Verfasser der Jobsiade.

Ein österreichischer Jurist, v. Rain, deducirte 1680, daß die Zweifler an der Existenz des Steins der Weisen sich des Verbrechens der Majestätsbeleidigung schuldig machen, weil nämlich mehrere Kaiser selbst eifrige Alchemisten gewesen. Die Leipziger Juristenfacultät hat mehrmals in alchemistischen Angelegenheiten Recht gesprochen, und zwar mit voller Ueberzeugung von der Existenz des Steins der Weisen. Im Jahre 1580 fällte sie ein Urtheil gegen den Leibalchemisten des Kurfürsten August von Sachsen, Namens Beuther. Dieser sollte in Besitz von Beschreibungen gekommen sein, wie gewisse Particulartransmutationen, d. h. Verwandlungen nur eines gewissen Metalls in Gold, auszuführen wären, auch einigen Personen eidlich versprochen haben, ihnen das Geheimniß mitzutheilen. Er habe aber nicht Wort gehalten und seines Dienstes beim Kurfürsten nur nachlässig gewartet. Das Leipziger Urtheil besagte, Beuther sei der Kenntniß des Steins der Weisen für überwiesen zu erachten, er solle darum peinlich befragt werden; wegen seiner Untreue gegen den Kurfürsten sei er zur Staupe zu schlagen, wegen seines Meineides gegen seine Genossen habe er zwei Finger zu verlieren, und schließlich sei er zum Wohle des Landes, damit das Geheimniß nicht anderen Potentaten bekannt werde, gefangen zu halten.

Noch im Jahre 1725 gab die Leipziger Juristenfacultät ein Gutachten ab, bei welchem es sich um Silber, das in Gold verwandelt worden war, handelte. Eine Gräfin von Erbach hatte einem als Wilddieb verfolgten Flüchtlinge auf ihrem Schlosse Frankenstein Schutz gewährt. Zum Danke dafür verwandelte der Wilddieb, welcher ein Adept war, also die Wilddieberei wohl nur zum Vergnügen trieb, der Gräfin sämmtliches Silbergeschirr in Gold. Ihr Gemahl nahm die Hälfte davon in Anspruch, weil der Zuwachs des Werthes auf seinem Gebiete und in der Ehe erworben sei. Die Leipziger Rechtsgelehrten aber gaben ihm Unrecht: weil das streitige Object vor der Verwandlung als Eigenthum der Gräfin anerkannt worden sei, müsse es auch nach der Verwandlung ihr Eigenthum bleiben.

[503] Als Hauptbeweise für den Stein der Weisen und seine Wirkungen mußten natürlich bei den Alchemisten die ungeheuren Reichthümer gelten, über welche die Adepten nach glaubwürdigen oder auch nicht glaubwürdigen Erzählungen verfügten. Raymundus Lullus verfertigte im dreizehnten Jahrhundert dem Könige Eduard III. das Gold zu sechs Millionen Rosenobel. Ein armer Schreiber, Namens Flamel, lebte im vierzehnten Jahrhundert in Paris. Er erwarb eine alte Handschrift um geringen Preis, doch einundzwanzig Jahre lang bemühte er sich vergebens, sie zu entziffern. Endlich gelang ihm die Entzifferung mit Hülfe eines gelehrten spanischen Arztes. Es war der Text nichts Geringeres als das Recept zur Bereitung des Steins der Weisen. Welche Reichthümer Flamel nun gewonnen, ergiebt sich daraus, daß er vierzehn Hospitäler stiftete, drei Capellen erbauen und sieben Kirchen erneuern und reich dotiren konnte. Noch 1742 wurden von ihm gestiftete Almosen vertheilt.

Daß Kaiser Rudolph II. († 1512) fünfundachtzig Centner Gold und sechszig Centner Silber und Kurfürst August († 1586) siebenzehn Millionen Reichsthaler hinterließ, das wird von den Alchemisten ebenfalls der Beschäftigung der beiden hohen Herren mit der Alchemie zugeschrieben.

Der Stein der Weisen vermochte aber dem glücklichen Adepten auch höhere Güter als Gold und Silber zu gewähren. So wie der Stein der Weisen die unedlen Metalle veredelte, sie gewissermaßen heilte von ihren Unvollkommenheiten, so war er auch das wichtigste Heilmittel für kranke Menschen. Der Stein der Weisen heilte die hartnäckigsten Krankheiten, Gicht, Flechten etc. gründlich und in der kürzesten Zeit. Dies war eine ganz natürliche Anschauung in einer Zeit, in welcher gestoßene Perlen und Edelsteine, Bezoare und andere seltene Dinge als kostbare Arzneien galten. Hoch über allen diesen stand aber der Stein der Weisen, er war eine Panacee des Lebens. Raymundus Lullus im dreizehnten Jahrhundert versichert, er sei wieder ganz jung und munter geworden, als er sich im hohen Alter desselben bedient habe. Es scheint indessen diese Panacee nichts anderes als Weingeist gewesen zu sein, den man damals näher kennen lernte und von da an als aqua vitae bezeichnete, unser heutiges Aquavit!

Salomon Trismosin, von welchem Paracelsus 1520 in die Geheimnisse der hermetischen Kunst eingeweiht wurde, versichert, er habe sich im hohem Alter mit einem Gran des Steines plötzlich verjüngt, seine runzlige Haut sei wieder glatt und weiß, die Wange roth, das graue Haar wieder schwarz und der gekrümmte Rücken wieder gerade geworden. Frauen von siebenzig und neunzig Jahren habe er mittels des Steins der Weisen wieder jung und blühend gemacht, und es sei ihm ein Leichtes, sich mittels seiner Panacee so lange am Leben zu erhalten, um den jüngsten Tag mit ansehen zu können. Das hohe Alter der Patriachen wurde im siebenzehnten Jahrhundert sehr einfach dadurch erklärt, daß sie sich des Steins der Weisen bedient hätten. Es lagen aber auch historische Beweise aus viel näherer Zeit vor. Artephius, ein Alchemist des zwölften Jahrhunderts, legte sich ein Alter von tausend Jahren bei, und Niemand widersprach ihm. Alchemisten von einigen hundert Jahren waren im Abendlande wie im Morgenlande gar nicht selten.

Indessen der Glaube an die verjüngenden und an die heilverheißenden Mittel des Steins der Weisen nahm doch wohl früher ab als der an die Metallveredlung und verschwand endlich ganz, besonders durch den Einfluß der ausgezeichneten Aerzte Stahl und Hoffmann im Anfange des achtzehnten Jahrhunderts. –

Anfänglich waren es vorzüglich Geistliche, welche mit der Alchemie sich beschäftigten, insbesondere Klostergeistliche. Albertus Magnus, Roger Baco, Raym. Lullus waren sämmtlich Mönche verschiedener Orden. Die Beschäftigung mit der Alchemie galt ihnen als Gott wohlgefällig, und alle Alchemisten im dreizehnten bis zum fünfzehnten Jahrhunderte stimmen darin überein, daß die Bereitung der Tinctur auf göttlicher Beihülfe beruhe. Darum war es auch sündhaft, die Kunst Anderen zu lehren, welchen die göttliche Gnade mangelt und die des Besitzes unwürdig sind. Im vierzehnten Jahrhundert hatte sich das alchemistische Streben schon so verbreitet und verbanden sich damit schon so mannigfache Betrügereien, daß die geistliche und die weltliche Macht Bullen und Edicte gegen die Betreibung der Alchemie ergehen ließen. Aber vergebens! Im fünfzehnten Jahrhundert stieg die Zahl der Alchemisten aus allen Ständen, selbst Fürsten laborirten mit Eifer. Markgraf Johann von Brandenburg, dessen Residenz, die Plassenburg bei Culmbach, ein Sitz der Alchemie war, führt in der Geschichte seines Hauses den Namen des Alchemisten. Es gab um diese Zeit auch zahlreiche Abenteurer, die als „fahrende Alchemisten“ ihr Glück versuchten und sich für Adepten ausgaben, um auf Kosten Anderer eine Zeitlang zu laboriren. Sie beglaubigten sich bei den Gönnern der Kunst durch allerlei Experimente, meist durch Bereitung von etwas Gold, wobei natürlich Taschenspielerkünste das Beste thaten, durch welche die Betrüger goldhaltige Substanzen in den Tiegel zu bringen wußten.

Während früher die Alchemisten nur einsam arbeiteten, bildeten sich im siebenzehnten Jahrhundert sogar Gesellschaften zur Betreibung der Kunst, so die sogenannten Rosenkreuzer, unter deren Händen die Alchemie mit der Mystik sich verbündete, und die alchemistische Gesellschaft in Nürnberg, die noch 1700 bestand. Der berühmte Leibnitz gehörte ihr an und war sogar eine Zeitlang ihr Secretär!

Die Hindernisse, welche der Alchemie im vierzehnten Jahrhundert entgegentraten, wurden besonders dadurch überwunden, daß hohe Potentaten sie ihres Schutzes würdigten. Einer der merkwürdigsten Gönner der hermetischen Kunst war Heinrich VI. von England, welcher 1423 zur Regierung kam. In mehreren Decreten forderte er alle Edlen, Doctoren, Professoren und Geistlichen auf, die Alchemie ernstlich zu betreiben, damit man Mittel gewinne, die Staatsschulden zu bezahlen. Insbesondere, meinte der König, sollten sich die Geistlichen um die Erfindung des Steins der Weisen bemühen, und da sie ja Brod und Wein in Christi Leib und Blut verwandeln könnten, so werde es ihnen mit Gottes Hülfe wohl auch gelingen, eine Transsubstantiation der unedlen Metalle in Gold zu bewirken. Die Geistlichen, welche durch diese Aufforderung die Heiligkeit der Religion verletzt sehen mußten, folgten derselben jedoch nicht. Dagegen fanden sich andere industriöse Leute, welche Metall lieferten, das der König für Gold hielt – vielleicht auch nicht – das er aber prägen und als gute Münze verbreiten ließ. Er gab sogar einer Compagnie das Privilegium, Gold zu machen, und so wurde unter der Aegide der Majestät selbst die großartigste Falschmünzerei getrieben. Das falsche Gold suchte man vorzüglich in die Nachbarländer zu spielen; Schottland und Frankreich schützten ihre Grenzen gegen die Einführung desselben und arge Wirren im Verkehre waren die Folge. Um dieselbe Zeit finden wir auch eine Kaiserin, die übelberüchtigte Barbara, Gemahlin des Kaisers Sigismund, unter den Alchemisten. Ein Kunstgenosse lehrte ihr Silber aus Kupfer mit Arsenik zu bereiten und Gold durch Zusatz von Kupfer und Silber zu vermehren. Sie übte diese Künste fleißig, und die Producte ihrer Arbeit verkaufte die gute Landesmutter dem Volke als reines Gold und Silber.

Der größte unter den fürstlichen Alchemisten war Kaiser Rudolph II., welcher 1576 den deutschen Thron bestieg und meist in Prag residirte. Den deutschen Hermes Trismegistus nennen ihn die Adepten, deren Schutzherr er war. In den letzten Jahren seines Lebens beschäftigte er sich wesentlich nur mit Alchemie; seine Umgebung bestand aus Alchemisten, und sein Hofpoet besang die Alchemie und ihre Priester.

In Sachsen war besonders Kurfürst August ein Gönner der Alchemie. Er hatte in Dresden sein Laboratorium, vom Volke das Goldhaus genannt, und bekennt sich in noch erhaltenen Briefen selbst als Besitzer des großen Geheimnisses. Er sei bereits dahin gelangt, schreibt er an einen italienischen Alchemisten Namens Francisco Forense, daß er aus acht Unzen Silber drei Unzen reines Gold in Zeit von drei Tagen machen könne. Auch seine Gemahlin Anna hatte auf ihrem Schlosse in Annaburg ein schönes Laboratorium. August’s Nachfolger, Kurfürst Christian, war ebenfalls ein Beschützer der Alchemie.

Die Fürsten hielten um die Zeit des dreißigjährigen Krieges und nachher, zur Verbesserung ihrer Finanzen, häufig besondere Leibalchemisten; ihre Stellung war aber im Allgemeinen eine sehr schwierige, da man mehr von ihnen verlangte, als sie leisten konnten. Entweder waren sie, nach ihrer eigenen Versicherung, mit der Erfindung des Steins der Weisen noch nicht ganz fertig, dann jagte man sie gewöhnlich bald fort, oder sie machten Gold, dann liefen sie Gefahr, je nach den Umständen entweder gehängt oder – gefoltert, wenigstens lebenslänglich eingesperrt zu werden; ersteres, wenn sie es ungeschickt gemacht, zur Strafe für die Betrügerei, letzteres, wenn sie den Betrug [504] geschickt ausgeführt und getäuscht hatten, um ihnen ihr Geheimniß zu entreißen und dasselbe für den Hof zu benützen!

Die Geschichte der Alchemie ist voll von Abscheulichkeiten, welche getäuschter und unbefriedigter Golddurst der Mächtigen verübt hat und die wir in vielen Fällen kaum mit der Rohheit der Zeit entschuldigen können. So ließ ein Herzog von Braunschweig-Lüneburg im Jahr 1575 eine Alchemistin, Schlüter’s Ilse genannt, in einem eisernen Stuhle verbrennen, weil sie ihm Gold zu machen versprochen hatte, aber des Betrugs überwiesen wurde.

Sehr üblich war es, alchemistische Betrüger in einem mit Flittergold beklebten Kleide an einem gleicherweise vergoldeten Galgen aufzuhängen. Einer, Wilhelm v. Krohnemann, der darin excellirte, daß er Quecksilber fest zu machen oder zu fixiren wußte, wurde zu Culmbach gehängt, und an den Galgen war mit einem dieses Instituts würdigen Humor folgende Inschrift angebracht:

Ich war zwar, wie Mercur wird fix gemacht, bedacht,
Doch hat sich’s umgekehrt und ich bin fix gemacht.

Sehr übel erging es in Sachsen einem gewissen Setonius Scotus, der als Besitzer des Steins der Weisen galt, denn er hatte auf seinen Reisen mehrfach Gold in Gegenwart von Zeugen gemacht, und als er nach Sachsen kam, ließ er durch seinen Diener vor Kurfürst Christian zu Crossen Blei in Gold verwandeln. Das war sein Unglück. Der Kurfürst ließ Seton verhaften und nach Dresden bringen. Hier wurde er gefoltert durch alle Grade, um ihm sein Geheimniß zu entreißen, bis man sich überzeugte, daß weiteres Foltern ihn tödten würde. Da aber Alles vergebens gewesen war, wurde er zu lebenslänglicher Gefangenschaft verurtheilt und diese ihm möglichst qualvoll gemacht, damit man von ihm ein Geständniß erpressen könne. Es gelang ihm zwar, mit Hülfe eines andern Alchemisten sich durch die Flucht zu retten, er starb aber bald an den Folgen der erlittenen Mißhandlungen.

Glücklicher war der bekannte Böttger, der als Apothekerlehrling in Berlin in den Ruf gekommen war, ein Adept zu sein, denn er hatte angeblich von einem Griechen, Lascaris, etwas vom Stein der Weisen erhalten, auch Transmutationen ausgeführt und sich für den Erfinder der Tinctur ausgegeben. König Friedrich I. von Preußen gab Befehl, sich des Adepten zu versichern. Böttger floh aber noch zur rechten Zeit über die sächsische Grenze nach Wittenberg. Der König von Preußen verlangte seine Auslieferung, die sächsische Regierung – der König war gerade in Warschau – verweigerte sie und verstärkte die Besatzung von Wittenberg für den Fall einer Ueberrumpelung durch die Preußen. Der Generalgouverneur von Sachsen, Fürst von Fürstenberg, ließ aber zu noch mehrerer Sicherheit den wichtigen Mann nach Dresden bringen und überzeugte sich hier selbst, daß derselbe Gold machen könne! Böttger wurde in den Adelstand erhoben, vom König August II. auf das Gnädigste behandelt und mit eigenhändigen Schreiben, die im herablassendsten Tone abgefaßt sind, beehrt, dabei aber doch strenge überwacht, um ihm sein Geheimniß abzulauschen, zuletzt auch zu mehrerer Sicherheit auf den Königstein gesetzt. Um ihn aber williger zu machen, brachte man ihn bald wieder nach Dresden zurück. Freiheit und Belohnung wurden ihm versprochen, wenn er den Stein der Weisen machen lehre. Der leichtsinnige Mann schloß auch wirklich 1704 einen besondern Contract darüber mit dem Könige ab. Er wurde nunmehr als ein kostbares Besitzthum der Krone betrachtet und bei eintretender Kriegsgefahr, als Sachsen von einer feindlichen Invasion bedroht wurde, mit den Landesschätzen wieder auf den Königstein gebracht. 1707 aber war das Goldmachen noch immer nicht zu Stande gekommen, der König verlor die Geduld und drohte mit seinem Zorne. Böttger wäre dem Schicksale vieler seiner Vorgänger schwerlich entgangen, wenn er nicht so glücklich gewesen wäre, bei seinen Operationen die Porcellanbereitung zu erfinden, auf die er schon lange hingearbeitet hatte. Auf diese Erfindung hin wagte er es, dem Könige zu gestehen, daß er nie die Kunst, Gold zu machen, besessen habe. In Betracht des Werthes der Erfindung, die er gemacht, wurde ihm verziehen und er, obwohl fortwährend überwacht, bekanntlich mit der Einrichtung der hochberühmten sächsischen Porcellanmanufactur zuerst in Dresden, dann in Meißen betraut, als deren Director er 1719 starb.

Selbst die fromme Kaiserin Maria Theresia ließ einen angeblichen Adepten Namens Sehfeld verhaften und unbarmherzig geißeln, um ihm sein Geheimniß abzupressen, und da es nicht gelang, ihn auf die Festung Temesvar bringen.

Um die Mitte des vorigen Jahrhunderts hatte die Alchemie sich ausgelebt. Aus der Alchemie war im Laufe der Zeit die Chemie hervorgegangen und hatte sich selbständig zu entwickeln begonnen. Die natürliche Folge dieser Entwickelung war die Aufklärung der alchemistischen Irrthümer. Nur Dilettanten, unbekannt mit den Fortschritten der Chemie, arbeiteten noch als Alchemisten fort. Unter ihnen war der Professor der Theologie Dr. Semler in Halle, ein würdiger Mann und berühmter akademischer Lehrer. Was ihm bei seinen alchemistischen Bestrebungen begegnete, sei als die letzte Alchemistengeschichte kurz erzählt. Im Jahre 1786 beschäftigte sich Semler mit einem von dem Baron von Hirschen als Universalarznei empfohlenen sogenannten „Luftsalz“. Semler schrieb über dieses Luftsalz drei Abhandlungen „von hermetischer Arznei“ und ging noch weiter als der Erfinder, denn er erklärte, daß man vermöge des Luftsalzes auch Gold machen könne und zwar ohne Tiegel und Kohlen in warmgehaltenen Gläsern. Der Widerspruch der Chemiker, welche die Sache prüften, war vergebens und regte Semler nur zur Heftigkeit auf. Endlich gab er doch an den ausgezeichneten Chemiker Klaproth in Berlin eine Masse zur Prüfung, welche, wie er sagte, den Samen des Goldes enthalte. Die Untersuchung zeigte, daß diese Masse schon mit Blattgold gemengt sei, das sich durch Wasser auswaschen ließ. Der Rest gab kein Gold. Semler meinte, Klaproth müsse es mit der Behandlung versehen haben; bei ihm würde die Ausbeute immer größer. „Ich bin schon viel weiter,“ schrieb er. „Zwei Gläser tragen Gold. Alle fünf oder sechs Tage nehme ich es ab, immer zwölf bis fünfzehn Gran. Drei andere Gläser sind schon wieder auf dem Wege, das Gold blüht unten durch. Freilich kostet mich bis jetzt jeder Gran Gold drei bis vier Thaler, weil ich die Vortheile noch nicht weiß,“ Von diesem philosophischen Golde schickte Semler zur Probe Blätter von zwei bis drei Zoll Breite und Länge an Klaproth. Die Prüfung geschah in Gegenwart von Ministern und andern hochgestellten Personen, die auf den Ausgang gespannt waren. Es ergab sich, daß die Blätter jetzt aus unechtem Blattgold, aus Tombak bestanden! Man hatte Semler einen, freilich gutgemeinten, Betrug gespielt. Er hatte das Warmhalten der Gläser einer armen Soldatenfamilie übertragen, welcher er in dem Gartenhause, das ihm als Laboratorium diente, freie Wohnung gab. Als nun der Soldat bemerkte, wie sehr die kleinen Goldblättchen seinen Gönner erfreuten, so that er von Zeit zu Zeit Blattgold in die Gläser. Als er aber zur Revue abgehen mußte, instruirte er seine Frau, und diese kam auf den Gedanken, um die Sache wohlfeiler zu haben und dem Herrn durch größere Blätter noch mehr Freude zu machen, unechtes Blattgold zu kaufen und in die Gläser zu werfen!

Wie viele Verehrer die Alchemie noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts in Deutschland hatte, beweist die sogenannte hermetische Gesellschaft, welche 1796 öffentlich im Reichsanzeiger die Genossen der Kunst aufforderte, mit ihr in Correspondenz zu treten. Zahlreiche Briefe gingen an sie ein, von pensionirten Officieren, die sogleich besiegelte Ehrenwortscheine mitschickten, daß sie das Geheimniß des Steins der Weisen nicht verrathen wollten, von Schneidern und Schuhmachern, von Leibärzten deutscher Fürsten, Geheimen Räthen, Schullehrern, Apothekern, Uhrmachern, Organisten, kurz von Leuten jeglichen Standes. Alle hatten laborirt, aber Alle nichts herausgebracht und baten um Anleitung, wie man das große Elixir bereite. Natürlich glaubten Alle an eine große hermetische Gesellschaft von grundgelehrten Alchemisten. Seitdem ist das Archiv dieser Gesellschaft zugänglich geworden und es hat sich ergeben, daß sie nur zwei Mitglieder hatte, zwei Aerzte in Westphalen, und der eine von ihnen war – Dr. Kortüm, der Verfasser der Jobsiade! Auf den Briefen findet sich meist die Randbemerkung: „Palliativisch beantwortet.“

Wir sind am Schlusse der Geschichte der Alchemie. Unbefangene Prüfung derselben führt zu dem Resultat, daß niemals Gold gemacht worden ist. Das Goldmachen gelang nur so lange, als man an das Goldmachen glaubte. In den meisten Fällen täuschten sich die Gläubigen selbst, in vielen andern wurden sie getäuscht. Es sind uns zahlreiche Geschichten bekannt, wie das Gold von den Betrügern in hohlen Rührstäben, in Kohlen, die mit Goldlösung getränkt, durch abgerichtete Kinder, welche in Kisten des Laboratoriums versteckt waren u. s. w., in den Tiegel gebracht wurde.

[505] Ob man je dahin gelangen wird, Gold zu machen? Niemand vermag die Frage zu beantworten. Da aber der Zweifel allezeit in der Entwickelung der Wissenschaften sich als der beste Freund der Wahrheit bewährt hat, so möge man es den Chemikern nicht verargen, wenn sie so lange wie möglich daran zweifeln werden.

Sollte aber die Zeit kommen, wo man das Gold beliebig zu machen im Stande wäre, so wäre mit einem solchen goldenen Zeitalter den Menschen wenig genutzt, denn das Gold würde gar bald aufhören, Gegenstand der Wünsche zu sein. Immer aber würde der Menschheit die Sehnsucht bleiben nach dem goldenen Zeitalter des Friedens und der Humanität. – Möchte lieber dieses der Welt erscheinen!




Der letzte Dictator Venedigs.
Von Adolf Stahr.
(Schluß.)


Ich muß es mir, wenn auch ungern, versagen, hier ausführlicher einzugehen auf die Darstellung des Heldenkampfes der endlich unterliegenden Republik von San Marco wider den immer übermächtiger herandringenden Gegner. Wer sich darüber näher unterrichten will, der möge die Geschichtswerke von De la Forge und Le Masson, die Biographie Manin’s von Martin nachlesen, und vor Allein das Tagebuch des wackern Schweizerhauptmanns Joseph Debrunner, der an der Spitze einer selbstgeworbenen Compagnie den ganzen Freiheitskampf Venedigs vom Anfange bis zum Ende durchgemacht hat.

Was von vornherein Venedig eines Hauptmittels zum Erfolge beraubte, war der Umstand, daß es den Oesterreichern gelang, durch Benutzung eines ohne Wissen Manin’s in der Capitulation gemachten Fehlers zu verhindern, daß die bei Pola in Istrien liegende venetianisch-italienische Kriegsflotte nach Venedig geführt wurde. Hierdurch wurde Venedig gleich anfangs flügellahm zur See. Dazu kamen bald, wie bekannt, noch eine Reihe anderer Unglücksfälle: das Scheitern der Erhebungen in Verona und Mantua, die zweideutige, unentschlossene Haltung der französischen Republik, die Spaltungen in Italien selbst durch die Mazzini’sche Partei, die weder von französischer noch selbst von piemontesischer Hülfe etwas wissen wollte, das Unglück Carl Albert’s und endlich der Abfall Neapels und des Papstes von der Sache der nationalen Erhebung Italiens.

Siebenzehn Monate lang war Manin während aller dieser verschiedenen Phasen fast alleiniger Regent Venedigs mit einer nahezu dictatorischen Gewalt, ohne dabei auch nur einen Augenblick aus der schlichten bürgerlichen Einfachheit seines Wesens und seiner äußeren Lebensführung herauszutreten. An Muth und aufopfernder Gesinnung den großen Bürgern altrömischer Zeit vergleichbar, war seine Tugend größer, weil sie menschlich edler und von ungleich größeren Ideen getragen war. Feind aller Anarchie, hielt er die Ordnung aufrecht durch alle Stürme und Schrecknisse dieser Zeit, ohne Blutvergießen allein durch sein Ansehen und durch das Vertrauen des Volkes zu ihm. Keine Racheopfer fielen, kein einziges Todesurtheil – außer das eines meuternden Soldaten – ward unter dem Regimente dieses großen Volksführers gefällt, dessen Größe – neben einer unerschütterlichen Energie – eben hauptsächlich in seiner Mäßigung bestand. Viele seiner Freunde hatten an dem Opfermuthe und der Bereitwilligkeit des Volkes von Venedig gezweifelt. Er nicht. „Ich kenne es besser,“ sprach er am Vorabende seines kühnen Handstreiches gegen das Arsenal zu den Zweifelnden, „und mein ganzes Verdienst besteht darin, daß ich es kenne!“ Und sein Vertrauen täuschte ihn nicht. Denn dieses Volk, über das die von ihm ausgegangene Erhebung alle Schrecknisse und alles Elend des Krieges und der Belagerung, der Seuche und des Hungers brachte, von dem die Noth der Zeit unaufhörliche Opfer forderte – entzog ihm bis zur letzten Stunde niemals sein Vertrauen und seine Liebe, begrüßte ihn, der alle Opfer und Entbehrungen theilte bis zum letzten Augenblicke, mit dem Namen „il padre“, und beging mitten unter den Schrecken der Belagerung den Jahrestag der Befreiung des „Vaters des Vaterlandes“ aus dem Kerker mit einem Feste.

Und dieser Mann, der im Innern die größten gesetzgeberischen Reformen in’s Leben rief, während er die auswärtigen Verhandlungen zu leiten und Tag und Nacht daran zu arbeiten hatte, um die Vertheidigungsmittel gegen den äußeren Feind und das für sie nöthige Geld zu beschaffen, er, auf dem siebenzehn Monate lang fast alle Last der Geschäfte lag – er litt zu derselben Zeit an einem schmerzhaften und gefährlichen körperlichen Leiden und sah sein geliebtes Kind, seine Tochter Camilla, an unheilbarem Siechthum dem Tode entgegen kranken! Aber das Bewußtsein seiner großen Aufgabe hielt ihn aufrecht und gab ihm immer neue Spannkraft. Als dreißigtausend Oesterreicher am Rande der Lagunen standen, bereit, die vernichtenden Feuergeschosse ihrer Kanonen auf die Stadt zu schleudern, wenn sie sich nicht, der an sie ergangenen Aufforderung gemäß, unterwerfe, antwortete die Versammlung der Volksvertreter mit dein einstimmig gefaßten Beschlusse des Widerstandes auf jegliche Gefahr, den alsbald der Dictator Manin seinem auf dem Marcusplatze harrenden Volke mit den Worten verkündete: „Venezia resistera ad ogni costo![2] Wie es sein Wort gehalten, das bezeugt am besten die Anerkennung, welche selbst Gegner, wie der österreichische General Schönhals, dem Heldenmuthe der Vertheidiger Venedigs gezollt haben.

Am 24. August 1849 capitulirte Venedig. Der Dictator Manin war in den letzten Tagen wieder Nationalgardist geworden. Mit seinen Compagnien hatte er persönlich in der Stadt Emeuten unterdrückt, das Leben des Patriarchen, den das Volk des Einverständnisses mit den Oesterreichern bezichtigte, geschützt und überall in der durch Hunger, Feuersnoth und Cholera bedrängten, von einzelnen Desperados aufgehetzten Bevölkerung die Ordnung aufrecht erhalten. Dann, als die Regierung zur Einleitung der Capitulation ihre Gewalt in die Hände der Municipalität niederlegte, zog er sich in seine Wohnung zurück, um sich und die Seinen zur Abreise zu rüsten. Die ganze Nacht hindurch hörte er die Stimmen aus den Volkshaufen unter seinen Fenstern, die ihm zuriefen: „Povero nostro padre! hai tanto sofferto per noi![3] Es war sein schönster Lohn und – sein einziger. Arm, wie er seine Dictatur übernommen, hatte er sie niedergelegt, so arm, daß er – der über Millionen während seines Regimentes verfügt und der niemals eine Besoldung genommen hatte – jetzt genöthigt war, eine Summe von viertausend Scudi (etwas über fünftausend Thaler) anzunehmen, welche ihm die Municipalität im letzten Augenblick als nächste Aushülfe für Flucht und Exil aufdrang. Denn Manin und mit ihm noch vierzig andere Patrioten waren auf Verlangen Oesterreichs von der Capitulation ausgeschlossen worden.

Das Exil! das war das Härteste, was Manin treffen konnte. Zum Tode erschöpft, mit zerrissenem Herzen, bestieg er – während Patriarch und Geistlichkeit, wie immer dem Sieger gewärtig, zu Ehren der wiedergekehrten Fremdherrschaft in demselben Dome das feierliche Tedeum anstimmten, in welchem sie siebenzehn Monate zuvor die Sache der Freiheit gesegnet hatten – mit seinem Weibe und seinen beiden Kindern das Schiff, das ihn auf Nimmerwiedersehen von der Heimath fort nach Frankreich in’s Exil tragen sollte.

Das Schicksal liebt es, dem Starken viel aufzuerlegen. Wenige Stunden, ehe er aus der Heimath schied, starb ihm sein treuester Freund, sein ihm ganz ergebener Secretär Pezzato, an gebrochenem Herzen. Kaum in Marseille angelangt, verlor er die Gattin; Teresa Manin, die ihrem Gatten in allen seinen Kämpfen, Mühen und Leiden mit heroischem Muthe zur Seite gestanden hatte, erlag, von Kummer und Heimweh erschöpft, einem Choleraanfalle. Allein mit seinen beiden Kindern, seinem siebenzehnjährigen Sohne und seiner unheilbar kranken Tochter, erreichte er endlich Ausgangs October die Hauptstadt Frankreichs, welches die Lagunenstadt in ihrem Todeskampfe so schmählich verlassen hatte.

Seine geringen Mittel waren bald erschöpft. Aber vergebens boten ihm Verehrer seines Heldenmuthes, bot ihm selbst das Gouvernement

[506] Unterstützungen an. Der Dictator Venedigs, der Nachfolger der Dogen, schlug alle solche Anerbietungen aus. Er zog es vor, sein karges Brod durch seine Arbeit zu verdienen. Er ward Sprachlehrer und ertheilte als solcher Unterricht nicht nur in seiner Wohnung, sondern auch außerhalb derselben in bekannten Privathäusern. Als ihm in einem solchen die Tochter des Hauses zum ersten Male, mit verlegener Scham, die wenigen Goldstücke zu überreichen zauderte, sagte er freundlich (wir haben diesen Zug aus dem eigenen Munde der Dame): „Warum scheuen Sie sich, mir zu reichen, was ich durch Arbeit verdient habe und verdient zu haben stolz bin?“

Als ich im Jahre 1855 bei Gelegenheit der Weltausstellung mehrere Monate in Paris verweilt, ward mir das Glück zu Theil, Daniele Manin persönlich kennen zu lernen. Ich hatte diesen Wunsch gegen eine uns befreundete Dame, die Gräfin Marie d’Agoult – rühmlich bekannt unter dem Schriftstellernamen Daniel Stern – ausgesprochen. Manin besuchte damals kaum noch eine Gesellschaft. Seine Gesundheit war bereits untergraben, Leiden aller Art und hauptsächlich der Kummer über das mitleidwerthe Schicksal seiner siechen Tochter hatte sein Herzübel zu einer gefahrdrohenden Höhe gesteigert. Dennoch folgte er der Einladung der Gräfin, die zu seinen nächsten Befreundeten gehörte, an einem bestimmten Abende ihren Salon zu besuchen, wo ich ihm alsbald vorgestellt wurde. Ich erlaube mir, den Eindruck, den ich von ihm empfing, mit den Worten meines Tagebuches zu schildern. Manin’s äußere Erscheinung hatte auf den ersten Blick nichts Frappirendes. Eine gedrungene, breitbrustige, untersetzte Gestalt von Mittelgröße in einfacher schwarzer Kleidung, in Haltung und Behaben durchaus einfach, schlicht und scheinlos. Nur der Kopf mit der hohen, breiten Denkerstirn, der, von langem, schwarzem Haar umwallt, fest und stolz auf dem starken Halse und den mächtigen Schultern saß, hatte, verbunden mit dem leuchtenden Blitze des Auges, wenn er sprach, etwas löwenartig Majestätisches, was den zum Herrschen geborenen Mann zu verkünden schien. Aber seine Stimme klang sanft; seine Rede floß ruhig und einfach dahin, und der Gesammtausdruck des kräftigen, von einem bereits stark ergrauenden Barte eingefaßten Antlitzes war überwiegend der der Gutmüthigkeit und Biederkeit. Man hätte ihn statt für einen Italiener vielmehr für einen Deutschen, etwa für einen Gelehrten, halten können, so ganz war das Einnehmende seines Wesens auf Schlichtheit und Natürlichkeit gestellt. Er sprach das Französische äußerst fließend und gewandt, wenn auch mit etwas italienischem Accente, Stimmton und Ausdrucksweise waren jedoch von edelster Simplicität und ohne jede Spur von französischem Pathos, ruhig vortragend mit geringer Handbewegung, wie Einer, der leicht und gern docirt. Man mochte ihm gesagt haben, daß ich Italien kenne und liebe und längere Zeit daselbst gelebt habe, denn er begann das Gespräch mit italienischen Dingen.

„Wir sind unterlegen in dem ersten Versuche,“ sagte er, „aber dieser erste wird nicht der letzte sein, wenn ich die Erneuerung auch schwerlich erleben werde.“ Er hielt dabei die rechte Hand unter dem Rocke fest auf das Herz gedrückt, während ein leises Zucken über seine bleichen Züge flog. „Was man auch sagen möge, Eins ist trotz aller Niederlagen erreicht worden. Italien hat der Welt gezeigt, daß es für seine Unabhängigkeit zu kämpfen weiß. Europa hat fortan kein Recht mehr zu sagen, daß Rom und Venedig nichts Besseres werth seien, als das Joch der Fremdherrschaft zu tragen. Italien hat seine Sache mit der Sache aller nach Freiheit und Recht strebenden Nationen Europas verbunden, und diese Verbindung wird ihre Frucht tragen.“

Es war unmöglich, selbst nach kurzem Gespräche den bedeutenden Menschen, den zum Regieren und zum Beherrschen der Geister geschaffenen Volksführer und Staatsmann zu verkennen, der alle diejenigen, welche ihm nahten, gleichsam mit magnetischer Gewalt an sich zog und fesselte. Ich fragte, ob ich mir gestatten dürfe, ihn vor meiner nahen Abreise noch einmal in seiner eigenen Wohnung zu besuchen. Er gab die Erlaubniß auf das Freundlichste und nannte mir nach einigem Ueberlegen Tag und Stunde, wo er sicher zu sein hoffe, meinen Besuch nicht zu verfehlen. „Ganz sicher bin ich freilich nie,“ setzte er Italienisch redend mit einem leisen Seufzer hinzu, „denn meine Tochter ist sehr krank!“

Die Stunde, die ich mit ihm in seiner bescheidenen Wohnung in der Rue blanche verlebte, wo er in einem der höchsten Stockwerke einige kleine, sehr niedrige Zimmer bewohnte, wird mir unvergeßlich sein. Sie ward ausgefüllt durch Mittheilungen und Gedanken seinerseits, welche sich mir tief in’s Innerste einprägten. In allen seinen Aeußerungen und Ansichten lag eine Ehrlichkeit und Güte des Herzens, verbunden mit einer antiken Klarheit, Einfachheit und Folgerichtigkeit, die etwas unwiderstehlich Ueberzeugendes hatten. In dieser absoluten Scheinlosigkeit beruhte die Großheit seines Wesens, wie in seiner Selbstlosigkeit das Geheimniß seiner Macht lag. Aus meine Frage: ob er nicht die Geschichte seiner Wirksamkeit schreiben werde? antwortete er: „Ich habe mich nicht dazu vorbereitet. Mögen das Andere thun; ich für meinen Theil habe nie daran gedacht, was man von mir sagen werde. Mögen das Andere thun,“ wiederholte er, „wenn ich nicht mehr bin, und das wird nicht lange mehr sein!“ Seine Resignation war die eines guten Gewissens und des festen Glaubens an die Zukunft seines Vaterlandes und seiner Nation. „Dazu könnt auch Ihr Deutschen, und Ihr vor Allen, etwas thun,“ sagte er, „wenn Ihr die Vorurtheile beseitigen helfet, die sich gegen unser Volk aus trauriger Vergangenheit noch immer forterben. Gerechtigkeit üben gegen eine unterdrückte Nation kann und soll ein Schriftsteller immer.“ Ich wies hin auf unsere traurigen deutschen Preßverhältnisse, – das Manteuffel-Hinckeldey’sche Regiment stand damals noch in voller Sündenblüthe. „Ich will Ihnen etwas sagen,“ versetzte er, „auch unter der schwersten heimischen Reaction, von der Sie klagen, läßt sich immer etwas thun. Es giebt eine Wahrheit, die man auch bei Ihnen ohne Gefahr verfechten kann und die zu wiederholen man nie meiden soll, und diese Wahrheit, in welcher die ganze Zukunft Italiens enthalten ist, lautet für Deutschland: Was Du nicht willst, daß man Dir thue, das thue Du selbst auch keinem Andern. Sie wollen eine unabhängige geeinte Nation werden. Wir wollen das auch! Nationen aber sind Individuen so gut wie wir Einzelmenschen. Das Wohlergehen und die Unabhängigkeit, Bildung und Selbstherrlichkeit der einen können daher nie ein Hinderniß, sondern nur eine Förderung des Wohlergehens, der Bildung und Unabhängigkeit der andern sein. Predigen Sie und Ihre Freunde diese Wahrheit! Sie ist das Fundament der neuen glücklichen Zukunft für alle Völker Europas. Sie ist zugleich die allein wahre Erfüllung der christlichen Religion, die man jetzt heuchlerisch mit den Lippen bekennt, während man sie mit der sogenannten politischen Praxis schändet und verleugnet!“

Seine schönen hellen Augen leuchteten in unbeschreiblichem Glanze, als er mir mit diesen Worten die Hand, welche er in der seinigen hielt, zum Abschiede drückte. Es waren die letzten, welche ich von seinen beredten Lippen vernommen. Ich habe ihn nicht wiedergesehen.

Vor mir liegt sein Bild in einer Zeichnung nach dem Originale von der Meisterhand seines Freundes, des auch schon dahingegangenen berühmten Malers Ary Scheffer, das uns in der verklärten Todesruhe des Sterbelagers den hohen Frieden eines guten Gewissen in den edlen Zügen des entschlafenen Menschheitshelden zeigt. Kaum acht Jahre sind verflossen, seit ich von diesem Bilde die Worte niederschrieb: „Dies Bild wird einst, in nicht allzuferner Zukunft, den Anfang einer neuen Reihe ruhmreicher historischer Portraitbilder des erneuten Venedigs beginnen, wenn die Saat aufgegangen sein wird, die er gesäet hat!“

Fürwahr! „die Todten reiten schnell“ in unserer Zeit.




Drei Begegnungen.

Mit Abbildung.


Durch alle Gebiete der Kunst geht wie ein schwerer Seufzer die Klage, daß dieselbe im Sinken sei, daß das Höhere, Edlere, das Ideale vom Niedrigen, Gemeinen, vom baaren Realen überwuchert werde; daß das Geleistete nicht mehr den hehren Standpunkt früherer Perioden erreiche, weil das nachfragende Publicum, in seinen Forderungen gesunken, sich mit Tand, Schein und leerer Unterhaltung begnüge; daß endlich in unmittelbarer Folge davon der begabten Köpfe und Herzen immer weniger werden, die sich [507] einem Kunstzweige aus innerem Antriebe, aus reiner Begeisterung zuwenden. Im Bereiche der Schauspielkunst ist es nicht anders – ist es wohl gar noch schlimmer, wenn man auch beim Lesen der meisten Fachblätter das Gegentheil glauben und auf den Gedanken geführt werden könnte, die Bühnentalente kämen wie die Pilze über Nacht aus dem Boden geschossen und jedes noch so kleine Theaterchen besitze mindestens einen zweiten Seydelmann oder eine neue Sophie Schröder.

Wenn man aber auch im Hinblick auf unsere Zustände, in welchen die Zersplitterung vorherrscht, während die Kunst der Sammlung bedarf, um ans dem Ganzen und Vollen zu schaffen, die Seltenheit von wirklich bedeutenden neuen Talenten zugestehen muß, so ist es ein desto freudigerer Anblick, einem solchen, wo es erscheint, zu begegnen, und es ist Pflicht und Lust, davon zu erzählen, wie die Astronomen es verkünden, wenn sie einen neuen Asteroiden entdeckt, oder die Botaniker, wenn sie eine neue Pflanze zur Blüthe gebracht haben.

Wir wollen den Lesern der Gartenlaube von drei Abenden erzählen, an welchen der Erzähler die Begegnung mit einer Künstlerin erlebte, welche im Laufe weniger Jahre im Fache der tragischen Schauspielkunst sich mit Erfolg und Beruf an die Seite der ersten Künstlerinnen dieses Faches geschwungen hat und durch ihre Eigenart-Leistungen auch ohne Zweifel zu immer größerer, künstlerischer Bedeutsamkeit emporsteigen wird.

Es war vor etwa sieben Jahren, als die Aufführung der Schiller’schen Jungfrau von Orleans dem Münchner Hoftheater eine ungewöhnliche Menge von Zuschauern zuführte – eine Münchnerin sollte ihren ersten schauspielerischen Versuch als Johanna machen, und die Kreise, welche sich am Isarstrande für Bühnenkünste interessiren, waren in Bewegung und in lebhafte Parteiung gerathen. Die Einen, die Kunstfreundlichen und Enthusiasten, verkündeten das unerwartete Aufgehen eines Gestirns erster Größe und erregten die schönsten Hoffnungen, indem sie betonten, daß die junge Novizin den Unterricht des Hofschauspielers Adolph Christen empfangen habe, eines Künstlers, welchem in geistig frischer Auffassung seiner Kunst und gleichzeitig praktischer Durchdringung derselben nicht Viele an die Seite gestellt werden könnten. Anders sprachen die minder Günstigen, die bloßen Theatergänger, welche ihre Unterhaltung haben wollen und nicht verschmähen, sie durch ein Körnchen Klatsch noch würzreicher zu machen. Da zuckte man lächelnd die Achseln und meinte, man habe das unscheinbare hoch aufgeschossene Mädchen, das Färber-Töchterlein, noch kurz vorher und geraume Zeit hindurch wie andere Kinder mit Tasche und Tafel zur Schule wandern sehen und habe nicht das mindeste Besondere an ihm bemerken können. Wo solle da nun auf einmal das Talent herkommen! Wieder Andere waren noch bedenklicher und erinnerten gar daran, wie ihr Vater, der vor Jahren aus Berlin gekommen sei und so zu sagen die Schönfärberei erst in die bairische Hauptstadt eingeführt habe, ein heftiger, unruhiger Mann gewesen, der in den Jahren der Bewegung überall vorne dran gestanden und in politischen, zumal aber in religiösen Dingen zu denen gehörte, welche an dem lieben Alten kein gutes Haar gelassen! Was könne davon – was könne überhaupt von Nazareth Gutes kommen!

Und der Vorhang ging auf, die Debütantin stand vor dem dichtgedrängten Hause – eine jugendlich hagere, fast überschlanke Gestalt mit unvermeidlich eckigen Bewegungen und zum Theil noch unentwickelten Gesichtszügen, aber aus denselben sprach bereits ein Paar dunkler ausdrucksfähiger Augen, und in dem zumal bei so großer Jugend überraschend vollen, kräftigen und schönen Organ fühlte man den Anhauch einer selbst empfindenden eigenen Seele. Schon das Vorspiel reichte aus, um über den Erfolg zu entscheiden: nach dem ersten Monologe war es auch den Widerstrebenden klar, daß man einem vielverheißenden bedeutenden Talente gegenüber stand; die Rolle der heldenmüthigen gottbegeisterten Hirtin wurde mit seltenem Glanze durchgeführt, und mochte auch Vieles davon dem trefflichen Lehrer gehören, in manchen Zügen war das eigenartige Schaffen nicht zu verkennen.

Der Name Clara Ziegler war gültig eingetragen in das goldene Buch des Genius.

Wieder vergingen einige Jahre, bis ein zweiter Abend sie dem Erzähler ein anderes Mal in bedeutsamer Weise begegnen ließ: es war der Abend des 4. November 1865, das neue Volkstheater in München wurde an ihm eröffnet, eine nicht blos örtlich, sondern fast überall in deutschen Landen mit den schönsten Hoffnungen erwartete Anstalt, von welcher man sich die Verwirklichung eines echten künstlerisch geleiteten und doch volksthümlich gehaltenen Theaters und mit ihm die Wiederbelebung einer echten Volksdichtung versprach. Leider ist der Reif auf diese Blüthe gefallen und das auf unrichtigen wirthschaftlichen Voraussetzungen begründete Unternehmen ist zu einer positiven Verneinung der ursprünglichen Absicht heruntergesunken, aber das war damals nicht vorauszusehen, und jene Eröffnung war ein Fest, wie in der Geschichte der deutschen Bühnen nicht viele verzeichnet sind. Die Eröffnung geschah mit einem von Herman Schmid gedichteten Festspiele: „Was wir wollen!“ Das Münchner Kindlein, die Personification des im Stadtwappen befindlichen Mönchs, machte in dem Stück aus langer Weile eine nächtliche Promenade am Ufer des Flusses und kam in ein vertrauliches Zwiegespräch mit der einsam wachenden Isarnixe, welche dem klagenden Mönchlein als bestes Gegenmittel wider den beklagten Zustand die Aufnahme der vertriebenen flüchtig umherirrenden Volksdichtung empfahl, die dann auch mit allen ihren Angehörigen, vom duftigen Märchen an bis herab zum derben Schalksnarren, in München und dem neuerbauten Hause ihren festlichen Einzug hielt. Als die Bühne zum ersten Male sich öffnete, lag vor den Beschauern das wundervolle obere Isarthal mit Burg Schwaneck und der fern abschließenden Zugspitze, das wohl Jeder bewundert hat, der einmal einen Fuß nach München gesetzt, vom Monde beschienen, in seiner ganzen romantischen Schönheit da – im Vordergründe, an ein Felsstück gelehnt, stand eine hohe Frauengestalt im grünen schleierhaften Nixengewand, einen Kranz von Tannenzweigen im reichen dunklen Haar, das sie wie ein natürlicher Mantel umwallte. Clara Ziegler als Isarnixe war es, welche die ersten einweihenden Worte sprach, und als zum Schlüsse mit dem ganzen Voll- und Wohlklang ihres inzwischen vollständig ausgebildeten Organs und dem darin wehenden Hauche, der „zum Herzen geht, weil er vom Herzen kommt“, die Zauberformel erschollen war, unter welcher die ganze Bühne sich zu erheben begann und in ein ideales Reich der Freude verwandelte, da stand in Aller Herzen neben der Freude über das schön begonnene Werk auch die frohe Gewißheit fest, daß die junge Künstlerin auf dem schönsten Wege war, die von ihr gehegten Erwartungen im reichsten Maße zu erfüllen – die Blüthe begann aus der Knospe zu brechen.

Die unermüdet strebende Künstlerin hatte die dazwischen liegende Zeit bei verschiedenen kleinern Bühnen zugebracht, vielfach gewürdigt, aber doch im Ganzen unvermögend, sich als das geltend zu machen, was sie in sich trug. Die ernste Muse ist an den meisten Theatern dieser Art nur eine Art von mißliebiger und nur aus einem Ueberrest von Scheu geduldeter Respectsperson; ein Talent wie dieses bedurfte zu seiner Entfaltung größerer Maße und Verhältnisse, den Directoren jener kleinen Bühnen aber war nicht selten schon das Organ der Kunstnovizin zu mächtig, denn es stand außer Verhältniß zu Soffiten, Coulissen und Schauplatz, Ihre Erscheinung war zu bedeutsam, es hätte Noth gethan, in dem Pygmäengeschlecht Derer, welche meist die Liebhaber und Helden spielen, förmliche Musterung nach einer Männergestalt zu halten, die neben der Heroine nicht kleinlich und kindisch erschien. Das Verdienst, sie eigentlich erkannt und eingeführt zu haben, gebührt dem ersten Leiter des Münchener Volkstheaters, dem tüchtigen Director Engelken, von welchem Clara Ziegler für die damals von ihm geführte Bühne in Ulm gewonnen und, von ihm geschult und geleitet, an das neue Volkstheater gestellt worden war.

Von diesem Augenblick an gehörte sie zu den entschiedenen Lieblingen des Publicums, in dessen Achtung und Gunst sie sich immer mehr befestigte, je mehr ihr Gelegenheit gegeben war, sich in neuen ihr angemessenen Rollen zu vervollkommnen und zu bewähren. Dahin zählten vor allen Griseldis, Pietra, Bertha (in der Ahnfrau), im bürgerlichen Drama die Marianne (im Weib aus dem Volke), die Camelliendame u. a. Ihre Vielseitigkeit, so wie die Geschmeidigkeit und Verwendbarkeit ihrer Mittel bewährte sie nicht minder durch ihre Leistungen im Lustspiel (Donna Diana oder Katharina von Rosen oder Baronin Palmer im Gesandtschafts-Attaché) als durch jene auf dem Gebiete des eigentlichen Volks- oder Localstücks, und wer eines der kernhaften, echt naturgetreuen Bauernmädchen von ihr dargestellt sah, welche sie in den oberbairischen Volksdramen, wie „Almenrausch und Edelweiß“, oder [508] „Der Tatzelwurm“, oder „Das Wichtel“ zu schaffen wußte, der mußte schwankend werden, ob der Vorzug den ernsten oder den heitern oder den gemüthvollen Gebilden einzuräumen sei.

Als in dem Leben des Münchner Actien-Volkstheaters der Wendepunkt eingetreten war, in welchem, um es vielleicht financiell zu retten, der Versuch gemacht werden wollte, es artistisch preiszugeben, in der nackt ausgesprochenen Absicht, lediglich Geld zu machen, das Wort „Volk“ auszustreichen und nur die „Actie“ stehen zu lassen; als das bisher gepflegte Schau- und Lustspiel vor den Offenbachiaden verschwinden mußte: da war für Clara Ziegler weder Raum noch Beschäftigung weiter gegeben und unter mehreren vortheilhaften Anerbietungen entschied sie sich für eine Stellung in Leipzig, wo der Geschmack und die rege Theilnahme eines gebildeten Publicums eifrig bestrebt sind, die Kunst nicht verwildern und zur bloßen Speculation werden zu lassen, sondern in einer Weise zu hegen, welche des neuerbauten prachtvollen Theaters – unstreitig eines der schönsten und zweckmäßigsten Deutschlands – würdig ist. Der Erfolg für Clara Ziegler war ebenso rasch wie entschieden, und hatte man vielleicht noch denken wollen, es möchte in den Münchner Beifall sich etwas von landsmannschaftlicher Vorliebe eingeschlichen haben, so war jeder Zweifel beseitigt, als sie schon in ihren Gastrollen und noch mehr bei Eröffnung des neuen Hauses als Iphigenia von dem kunstsinnigen Publicum in einer Weise begrüßt und gewürdigt wurde, welche sie ebenbürtig neben eine Janauschek und jede andere Tragödin stellte, die auf den in der deutschen Theatergeschichte von jeher so bedeutsamen Brettern von Leipzig geglänzt haben. So sehr sie sich aber mit jeder Leistung (namentlich auch als Frau von Straß in Laube’s „Böse Zungen“ und neuerdings durch den allerdings gewagten Versuch, den Romeo in Shakespeares Tragödie zu geben) in der Gunst des Publicums befestigte, so daß sie unbedingt auch in Leipzig der allgemeine Liebling geworden ist, ward doch immer klarer, daß ihre eigentliche Stellung an einem großen Hoftheater sei, wo das höhere Drama den Gegenstand einer besonderen Kunstpflege bildet. Solche boten sich ihr in Berlin und München; sie entschied für letzteres, wohl aus heimischer Anhänglichkeit, wohl aber auch, weil es zu den Lieblingsplänen des jungen, kunstbegeisterten Königs gehört, das Schauspiel auf die möglichste Kunsthöhe gebracht zu wissen.

Eine ihrer glänzendsten Leistungen ist die Rolle der Brunhilde im ersten Theile von Hebbel’s „Nibelungen“-Tragödie; in ihr ist sie dem Leser bildlich vorgeführt.

Es war der dritte Abend bedeutsamer Begegnung, als der Erzähler auf der Reise das neue Leipziger Theater besuchte, die Künstlerin nach längerem Zwischenraum als Brunhilde wieder spielen sah und sich überzeugte, wie sehr und glänzend sie fortgeschritten ist. Die äußere Mittelerscheinung und das Organ scheinen sich vervollkommnet, Auffassung und Wiedergabe vertieft zu haben; – hält der Feuereifer der Begeisterung, welcher eine so rasche Entwickelung allein erklärt, auch fürder nach, so mögen die deutschen Tragöden immerhin nach den höchsten Entwürfen greifen: an einer würdigen Darstellerin dafür fehlt es nicht mehr.

N. D.



Der Teufel.
(Fortsetzung.)


„Stehen wir auf, Freund Römer, und gehen wir zu Deiner Frau,“ sagte der kleine Buckelige, nachdem sie eine Zeit lang auf dem umgehauenen Baumstamms ausgeruht hatten.

„Zu meiner Frau willst Du mich führen?“ rief der Herr von Römer.

„Ja.“

„Du sprachst von einer Leiche!“

„Auch davon.“

Sie erhoben sich und schritten auf das Licht zu, das noch immer seinen trüben Schein durch die Zweige und Blätter der Bäume und Sträuche der Schlucht warf. Sie gingen schweigend neben einander, langsam, vorsichtig, mit leisem Schritt. Der Buckelige hatte es so von dem Präsidenten verlangt, damit sie keine vorzeitige Störung verursachten, dem Herrn von Römer aber schien hieran noch mehr gelegen zu sein, als seinem Führer; er sollte ja seine Frau finden. Sie waren noch wenige Schritte von dem Lichte entfernt und standen vor einem kleinen niedrigen Hause. Soviel man in der Dunkelheit erkennen konnte, schien es leicht und freundlich wie ein Schweizerhäuschen gebaut zu sein; an den Mauern rankten Weinreben hinauf, und die Fenster waren mit Jalousieen verschlossen, die man an einem der ersteren, an dem, durch welches der Lichtschein drang, zurückgelegt hatte. Man vernahm in dem ganzen Hause keinen Laut; auch in dem Gemache, in dem das Licht war, schien sich nichts zu bewegen.

„Treten wir näher hin,“ flüsterte der Buckelige dem Präsidenten zu. „Aber verräthst Du durch irgend einen Ton unsere Anwesenheit, es wäre ein Verrath, den jene Strafe treffen würde, die Du kennst.“

Auch diese Mahnung des Buckeligen war unnöthig. Sie schlichen auf den Fußspitzen an das zu ebener Erde gelegene, erleuchtete niedrige Fenster.

„Blicken wir hindurch, doch vorsichtig, damit wir nicht gesehen werden können.“

Sie blickten durch die Scheiben und sahen in ein freundliches Stübchen. Eine helle Tapete bedeckte die Wände, auf Consolen standen weiße Büsten, und in der Mitte befand sich ein runder Mahagonytisch. An der inneren Wand stand ein Sopha, nur vor dem einen Ende des Sopha ein Fauteuil, neben welchem eine Frau an der Erde kniete. Auf dem Sopha lag ein Mann in der Uniform der Officiere der braunen Husaren, und vor diesem lag die Frau auf ihren Knieen. Sie hielt seine beiden Hände in den ihrigen. Ihr Gesicht ruhte auf seinem Gesichte. Das Alles beschien eine Lampe, die auf dem runden Tische stand, aber die Lampe beschien keine Bewegung. Der Officier auf dem Sopha lag regungslos da, wie ein Todter; die knieende Frau vor ihm schien völlig leblos zu sein.

„Sind sie Beide todt?“ fragten die Augen des Herrn von Römer seinen Begleiter.

Der Buckelige hatte von einer Leiche gesprochen. Waren zwei da? Sebastian Brand antwortete auf die Frage nicht, sondern fragte seinerseits:

„Kennst Du die Frau?“

Auch der Präsident antwortete nicht.

„Es ist die Deinige,“ sagte der Buckelige. „Auch über den Officier kannst Du nicht in Zweifel sein.“

„Sind sie todt?“ fragten jetzt die Lippen des Herrn von Römer.

„Hm,“ erwiderte der kleine Buckelige, „eine gemeinschaftliche Vergiftung? Aber still, es regt sich etwas.“

Es regte sich in der That etwas, aber nicht in dem Gemach, es schien vielmehr an eine Thür geklopft zu werden. Man mußte es auch in dem Gemache hören, wenn dort Jemand war, der hören konnte. Der Officier und die Frau rührten sich nicht; da wurde noch einmal geklopft, und jetzt an die Thür des Gemachs. Die Frau bewegte sich; sie erhob das Haupt, das auf dem des Officiers geruht hatte. Das Gesicht des Officiers wurde frei, es war das bleiche Gesicht eines Todten. Die Augen waren ihm geschlossen. Die Frau beugte sich noch einmal darüber hin und drückte Küsse auf die Lippen des Todten. Dann erhob sie ihre ganze hohe, edle Gestalt, und, wie sie sich wandte, sah man in ihr schönes, edles Gesicht, das bleich war, wie das des Todten. Zu diesem mußte sie sich noch einmal wenden, noch einmal mußte sie sich zu ihm niederbeugen, ihre Lippen auf die seinigen pressen. Eine Thür in dem Gemache öffnete sich, und eine verschleierte Dame erschien darin.

„Franziska!“ sprach sie bittend.

Die edle Frauengestalt erhob sich noch ein Mal von dem Todten und schwankte zu der verschleierten Dame. Diese zog sie sachte aus dem Gemache. Der Todte war jetzt allein.

„Hast Du ein Messer bei Dir?“ fragte Sebastian Brand Herrn von Römer.

„Wozu die Frage?“

„Teufel, Mensch! Sie war treu bis in den Tod. Aber

[509]

Clara Ziegler als Brunhilde.
Nach einer Photographie der Frau Bertha Beckmann-Wehnert in Leipzig.

[510] ihm, dem Geliebten, nicht ihrem Manne. Hast Du kein Messer bei Dir?“

„Nein.“

„So habe ich einen Dolch. Ich steckte ihn aus Vorsorge zu mir, für Dich, wenn Du kein Messer hättest. Ein Dolch ist zudem poetischer, romantischer. Hier, nimm!“

Der Buckelige zog in der That einen Dolch hervor, den er Herrn von Römer hinhielt, welcher ihn jedoch nicht nahm.

„Ah, hast Du keine Ehre, keine Galle, keinen Muth mehr? Sie soll leben? Zum Teufel, Du verdirbst mir eine große Freude. Ich bin eine poetische Natur. Wir hätten die Beiden zusammen begraben, die beiden Särge in Ein Grab gelegt, die beiden treuen Herzen – Da kommen sie, Du willst also nicht? Noch ist es Zeit. Die Welt meint, sie habe sich selbst den Todesstoß gegeben, um den Geliebten nicht zu überleben. Auf Dich fiele kein Verdacht. Nun?“

„Satan!“ knirschte Herr von Römer.

„Treten wir zurück,“ sagte der Buckelige.

Mau hörte vom Hause ein Geräusch. Sebastian Brand und sein Begleiter traten zurück, hinter Bäume, die zur Seite standen. Die Thür des kleinen Hauses öffnete sich, und ein alter Diener mit einer Laterne schritt heraus; ihm folgten zwei tief verschleierte Damen. Alle drei gingen in die Schlucht hinein, der Stadt zu.

„Gute Nacht, Freund Römer,“ sagte der Buckelige zu seinem Begleiter. „Ich halte Wache bei dem armen Todten, der seliger entschlafen ist, als er es sich in seinem Leben wohl hätte träumen lassen.“


2.

Das Leichenbegängniß war vorüber. Es war ein doppeltes gewesen, freilich nicht ganz so, wie der buckelige Advocat Sebastian Brand es sich gedacht, oder wie er doch davon zu seinem Freunde, dem Consistorialpräsidenten von Römer, gesprochen hatte. Wohl waren zwei Särge zu gleicher Zeit zum Kirchhofe gebracht, auch zu dem nämlichen Kirchhofe; sie waren zwar nicht in das nämliche Grab gelegt, aber die armen müden Entschlafenen fanden doch ihre letzte Ruhestätte nahe beisammen.

Der Buckelige hatte für das Alles so gesorgt. Er war ein alter Freund des verstorbenen Lieutenants gewesen; sie hatten sich in der Garnisonsstadt des Lieutenants kennen gelernt, als der Buckelige dort bei einem Gericht gearbeitet hatte, und waren, wie verschieden in so Manchem ihre Naturen sein mochten, innige Freunde geworden. Als der Lieutenant später seinen Abschied nahm, lud der Advocat ihn ein, zu ihm in seine Vaterstadt zu kommen; der Buckelige hatte hier eine hübsche ländliche Besitzung, nahe bei der Stadt, es gehörte dazu jenes reizende kleine Schweizerhaus am Ende der schmalen Schlucht, an größere Gartenanlagen dort sich anschließend. Die Schlucht hieß die Sebastiansschlucht, schon seit alter Zeit, da ein Vorfahr des Advocaten, der gleichfalls den Vornamen Sebastian führte, die Anlagen am Ende der Schlucht geschaffen hatte.

Das Häuschen räumte der Buckelige dem Freunde ein, und sie verlebten darin und in den schönen Anlagen daneben manche stille, das Herz des so schwer geprüften Officiers tröstende Stunde, bis dieser darin starb. Der Advocat hatte für das Begräbniß seines Freundes schon die Vorbereitungen getroffen, als auch die Präsidentin von Römer starb. Jetzt hob er alle seine Veranstaltungen wieder auf.

Erst als das Begräbniß der Frau von Römer angeordnet war, nahm er die Sorge für das des Freundes wieder auf. Er kaufte mit theuerem Gelde eine Begräbnißstätte neben dem Grabe der Präsidentin und ließ den Leichenzug aus dem Sterbehause zu einer Stunde abgehen, daß beide Züge zu gleicher Zeit auf dem Kirchhofe eintreffen mußten. Sie trafen auch zu gleicher Zeit ein, der der Präsidentin, welcher aus einem glänzenden Gefolge bestand, wenige Minuten früher. Hinter dem hohen, reich und schwer mit weißen und grünen Kränzen geschmückten, von vier Pferden gezogenen Trauerwagen mit dem Sarge der Präsidentin gingen der Präsident von Römer und in seiner tiefen Trauer der greise, gebeugte Vater der Verstorbenen, der Geheimrath von Wangen; in ihrer Mitte führten sie den sechsjährigen Knaben der Verblichenen. Hinter ihnen kam, gleichfalls zu Fuße, Alles, was an höheren Beamten in der Stadt und an Adel in der Stadt und Umgegend war; auch die Generalität der Hauptstadt der Provinz und die höheren Officiere der darin garnisonirenden Regimenter fehlten nicht, und eine Anzahl von Trauerwagen schloß sich an.

So bewegte der lange Zug sich glänzend und stolz auf den Kirchhof, hinter dem Sarge einer unglücklichen Frau, die ein paar Jahre glücklicher, stiller Liebe genossen hatte, um dann das Leben an der Seite eines Elenden zu vertrauern, bis ein entsetzlicher Tod – Aber bleiben wir bei den Leichenbegängnissen.

Dem glänzenden und stolzen Zuge folgte ein einfacher, bescheidener; der schwarze Sarg war nur mit einem alten Husarensäbel geschmückt und wurde nicht gefahren, sondern sechs Männer trugen ihn; als erste Leidtragende folgte ihm eine Bäuerin an der Seite des kleinen, buckeligen Advocaten.

Es war wohl ein sonderbares Paar, aber wer die Beiden sah, dem wollte das Herz doch recht schwer werden. Die Bäuerin war eine so schöne stattliche Frau, und ihre schwarze, eng anliegende, einfache Trauerhaube umschloß einen so tiefen Schmerz, dem die Ehre, die dem verstorbenen Bruder erwiesen wurde, nur neue Thränen der Rührung verleihen konnte. Und das Gesicht des kleinen Advocaten blickte mit einem so finstern, fast wilden Schmerz drein, daß die, welche es sahen, ein Grausen überlaufen wollte.

Den Beiden folgte ein langer Zug, ein längerer, als der war, der zuerst den Kirchhof beschritten hatte. Es waren Alles einfach und meist altmodisch gekleidete Männer, wie auch jene Sechs, die den Sarg trugen. Alle zeigten den stillen, den ruhigen, aber desto innigeren Schmerz braver muthiger Cameraden, die den Bravsten und Muthigsten von ihnen zum Grabe geleiten. Drei alte Invaliden und drei junge Landwehrleute trugen den Sarg, Invaliden und Landwehrleute folgten ihm in unabsehbarer Reihe. Die Invaliden sämmtlich in ihren alten, abgeschabten und längst aus der Armeemode gekommenen Uniformen, die Landwehrleute in ihren einfachen, unscheinbaren Litewken. Wie stachen jene glänzenden Uniformen der Generäle und Obersten in dem andern Zuge dagegen ab! Aber jene alten, abgeschabten und einfachen Röcke waren in der Feldschlacht gewesen, im Pulverdampf, im Kugelregen, im wilden, heißen Schwerterkampfe; und die neuen glänzenden, mit Gold und Silber betreßten Uniformen hatten nur Paraden und andere Hoffeste und Bälle und Soiréen gesehen.

Der doppelte Leichenzug hatte Tausende von Neugierigen aus der großen Stadt zu dem Kirchhofe gezogen. Den Glanz und Stolz des ersten hatte die Menge mit einer Neugierde angestarrt, von welcher eben Glanz und Stolz jede Theilnahme zurückhielten. Dem Sarge und Gefolge des Lieutenants wandte sich eine mehr als gewöhnliche Theilnahme, vielmehr jene innige, herzliche, zahlreich anerkennende und bewundernde Trauer zu, die das Volk den Männern widmet, welche ihm durch ihr Leben, durch ihre Thaten angehören. Es gab sich diese Theilnahme namentlich auch in den Gesprächen der vielen Zuschauer kund, die wieder und immer wieder die Verdienste des braven Officiers hervorhoben. Hinsichtlich des anderen Leichenzuges war es dagegen hauptsächlich das Plötzliche des Todes selbst, worauf sich das allgemeine Interesse lenkte. Die Einen wollten wissen, die Präsidentin sei in Folge eines Schlaganfalles so jäh aus dem Leben gerufen worden, Andere sprachen gar von einem Selbstmorde, der hier vorliege. –

Das doppelte Leichenbegängniß war vorüber: die Invaliden und Landwehrmänner, die dem Lieutenant Hille das letzte Geleite gegeben hatten, verließen paarweise still den Kirchhof; die vornehmen Herren, welche der Leiche der Frau von Römer gefolgt waren, bestiegen die Trauerwagen, und der Advocat Sebastian Brand führte die Schwester des begrabenen Officiers zu seiner Wohnung in der Stadt.

„Sie bleiben bis morgen hier, liebe Frau Schulze Mersmann, ich führe Sie nachher in die Sebastiansschlucht und zeige Ihnen die Plätze, an denen unser verstorbener Freund in Liebe gelitten und in seinem Schmerze sich wieder erhoben hat. Ich zeige Ihnen auch einen anderen Platz, an dem jene andere Verstorbene, an deren Seite unser Freund ruht, von allen ihren Leiden erlöst wurde, und erzähle Ihnen dabei, wie Ihr Bruder um diese Frau und die Frau wieder um Ihren Bruder starb.“

Die Frau Schulze Mersmann sah ihn verwundert, fragend an, er aber hatte keine Antwort für sie. Die Trauerwagen fuhren an ihm und der Bäuerin vorüber, er hatte in einen von [511] ihnen hineingeblickt und es zuckte plötzlich heftig in ihm, dann wandte er sich zu seiner Begleiterin.

„Hören Sie einmal, Frau Schulze, wenn Ihr Vater Ihre Mutter ermordet hätte, möchten Sie es lieber wissen oder nicht wissen?“

„Um Gotteswillen, Herr Doctor!“ rief die Frau.

„Antworten Sie mir, liebe Frau Schulze.“

„Aber wie kommen Sie zu solch’ einer Frage?“

„Hm, sie lag mir nahe. Ihre Antwort?“

Die Frau sann lange nach. „Es wäre schrecklich!“ sprach sie für sich, dann war sie mit sich klar geworden. „Ich möchte es um Alles in der Welt nicht wissen.“

„Ja, ja, ich kann es mir denken,“ sagte der Advocat, „aber – Hören Sie weiter, Frau Schulze, ein Mord muß bestraft werden, nach göttlichen, wie nach weltlichen Gesetzen.“

„In der Bibel,“ bemerkte die Frau, „steht: ,wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll wieder vergossen werden!’“

„Hm, hm, Frau Schulze, Christus hat das wohl nicht gesagt, indeß lassen wir hier die Bibel. Wenn also der Mord, also der Mörder bestraft werden muß, so muß das die Welt erfahren und mithin auch die Kinder des Mörders, und Recht muß sein, Frau Schulze.“

„Der liebe Gott wird es am besten wissen, Herr Doctor.“

„Sie meinen, der Zufall!“ sagte der Advocat und schüttelte bei den Worten fast zornig den Kopf.

Die Frau verstand seine Worte und sein Kopfschütteln nicht. Sie gingen schweigend weiter.

In dem Wagen, in den der Advocat geblickt hatte, saßen der Präsident von Römer und sein Schwiegervater, der Geheimrath von Wangen. Sie saßen schweigend nebeneinander, doch dem Blick des Advocaten war der des Präsidenten begegnet, und Herr von Römer war plötzlich erblaßt. Der Geheimrath bemerkte es, sagte zwar nichts, aber er schien darüber nachzugrübeln. Nach einer Weile sprach er zu seinem Nachbar: „Herr Sohn, Sie schrieben mir in Ihrem ersten Schmerze sehr eilig. Sie konnten mir daher nur mit wenigen Worten den schnellen Tod Franziska’s melden. Meine Geschäfte erlaubten mir nur erst vor wenigen Stunden hier einzutreffen, und so weiß ich noch nichts über die näheren Umstände des schmerzlichen Ereignis. Dürfte ich Sie um deren Mittheilung bitten?“

„Es wird mein Herz zerreißen, dessen Wunden noch so heftig bluten,“ erwiderte der Präsident.

„Ich denke es mir. Aber würde es später weniger so sein?“

Der Präsident mußte erzählen:

„Ein unglücklicher Fall von einem Felsenstücke raubte ihr das Leben.“

„Das schrieben Sie mir. Aber die Umstände?“

„Am vorigen Dienstag machte sie einen Spaziergang. Ich hatte sie gebeten, nicht auszugehen, denn da ich zu arbeiten hatte, konnte ich sie nicht begleiten. Sie war jedoch in einer sonderbaren Aufregung, wie sie schon seit mehreren Tagen unruhig gewesen, ohne daß sie mir den Grund mittheilte, ohne daß ich ihn errathen konnte. Da trat sie am Dienstag gegen Abend in mein Zimmer, angekleidet zum Ausgehen, und sagte mir kurz, sie werde eine Promenade machen; wenn sie spät wiederkomme, so möge ich mich nicht ängstigen. Ich fragte sie, ob sie allein gehen werde, oder mit wem.

,Allein,‘ antwortete sie.

,Und wohin?’ fragte ich.

,Das wisse sie noch nicht.‘

Ich bat sie, nicht zu gehen, sie sei ja fast gar nicht bekannt in der Stadt, in der wir erst seit wenigen Wochen waren; der Abend werde dunkel, die Kinder und wir Alle würden uns ängstigen, wenn sie lange ausbleibe. Sie erwiderte mir nur, sie müsse gehen, es dulde sie im Hause nicht mehr. Es war wohl so. Ich entschloß mich deshalb, sie zu begleiten, und sagte es ihr. Darauf entgegnete sie mir, dann gehe sie nicht; sie müsse allein sein. Sie kennen, Herr Vater, das bestimmte Wesen, das sie hatte; ihren einmal gefaßten Entschluß brach nichts. Ich gab ihr nach, zumal da ich eine sehr dringende und wichtige Arbeit vor mir hatte.“

Der Geheimrath unterbrach seinen Schwiegersohn.

„Haben Sie Streit mit ihr gehabt, Herr Sohn?“

„Kein böses Wort war zwischen uns gefallen.“

„Und Sie haben keine Ahnung, was sie beunruhigte, aufregte?“

Der Präsident entfärbte sich ein wenig.

„Nein – Indeß, kommen wir nachher darauf zurück.“

Der Geheimerath schwieg.

(Fortsetzung folgt.)




Drei Geburtsstätten und zwei Grabmäler.

Tausende von frohen Menschen ziehen alljährlich vorüber nach den Höhen und Felsenthälern der sächsischen Schweiz, ohne die bescheidenen, aber poesieumrankten Erinnerungsstätten, die der Raum einer kleinen Stunde zwischen Berg, Wald und Weinreben, am freundlichen Elbufer umschließt, einer Beachtung für werth zu halten, da ihnen der andeutende Fingerzeig mangelt.

Wenn wir auf stattlichem Dampfer Dresden stromauf fahren, an sommergrünen Ufern, Rebenhügeln mit stolzen Schlössern und freundlichen Villen vorüber, so währt es nicht lange, je näher wir dem freundlich gelegenen wein- und baumreichen Loschwitz kommen, daß von dem Weingebirg zur Linken, in grünen Waldhintergrund gebettet, ein kleines Häuschen herabschaut, so verschwindend inmitten benachbarter Villen, daß es unser Blick leicht übersehen dürfte, falls er nicht besonders darauf aufmerksam gemacht wird. Es ist kein Wohnhaus und nur ein jedes Schmuckes entbehrendes Gartenhaus. Eine Flaggenstange erhebt sich daneben, auf welcher bei festlichen Gelegenheiten die schwarz-roth-goldenen Farben wehen.

Bescheidenes Gartenhaus dort auf der Höhe, wenn all’ die Bewohner der umliegenden prächtigen Schlösser und Villen zu Staub und Asche geworden sind, ihr Andenken längst verschollen ist, wird die dankbare Nachwelt noch deines einsamen Bewohners, bescheidenes Gartenhaus, gedenken, der vor nun bald hundert Jahren von deiner Höhe sein strahlendes Jünglings- und Dichterauge über das blühende Thal schweifen ließ und welcher die Worte seines großen dichterischen Zeitgenossen und Freundes abermals zur Wahrheit machte:

„Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,
Ist eingeweiht; nach hundert Jahren klingt
Sein Wort und seine That dem Enkel wieder.“

Friedrich Schiller war es, der drei Jahre lang, während der Frühlings- und Sommermonate, hier wohnte und in freier Bergluft, inmitten grünender Weinranken, in holder Einsamkeit, seinem deutschen Volke einen der schönsten Kränze seines unsterblichen Dichtergeistes niederlegte.

Dieses schmucklose Gartenhaus, dermalen zu der schönen Besitzung des Kaufmanns Prölß in Dresden gehörig und dem Besucher stets offen stehend, ist noch ganz in dem Zustande erhalten, in welchem es der Dichter einst bewohnte. Da ist freilich von keinem parketirten Fußboden, wie wir ihn in den benachbarten Schlössern und Villen antreffen, ja nicht einmal von einer einfachen Diele die Rede; kalte Sandsteinplatten bilden den Fußboden. Doch konnte die kleine Stube an naßkalten Sommertagen, die im hiesigen Elbthale nicht zu den Seltenheiten gehören, durch einen kleinen Kamin erwärmt werden. In der einen Ecke gewahrt man noch im Fußboden eine durch einen Deckel verschlossene Vertiefung, welche Schiller als Papierkorb benutzte. Mit Ausnahme eines hölzernen Tisches, auf dem das unvermeidliche Fremdenbuch und ein Schilleralbum liegen, entbehrt das Gemach jedes Meubels. Von der Wand im Hintergrunde schaut die Büste Schillers herab, während die eine Seitenwand mit einer Illustration des Liedes von der Glocke und die andere mit Schiller’s Portrait in Kupferstich geschmückt ist. Unter letzterem liest man als Facsimile die Worte des Dichters:

„Wie der Quell aus verborgenen Tiefen,
So des Sängers Lied aus dem Innern schallt,
Und weckt der dunklen Gefühle Gewalt,
Die im Herzen wunderbar schliefen.“

Die Aussicht vom Schillerhause ist eine der reizendsten. In der Ferne zur Rechten die Thürme Dresdens über dem Spiegel der Elbe, deren blaues Band man stundenweit verfolgen kann. Jenseit des Flusses die große fruchtbare und von Wald durchgrünte Thalebene bis zu den in Duft verlorenen böhmischen Gebirgen. Der nächste Vordergrund bietet ein lachendes Landschafts- und Weinbergsbild, wo auch der Trockenplatz nicht fehlt, auf welchem die einstige Körner’sche Waschdeputation den Dichter in seinem Ebolirausche so prosaisch störte.

Auf der einen Seite des Schillerhauses, nach der Berggasse hinaus, auf welche aus dem benachbarten Park die Statue Schiller’s herüber blickt, liest man die Worte:

Hier schrieb

Schiller bei seinem Freunde Körner

am

Don Carlos

1785.   1786.   1787.

Errichtet      im Mai 1853.

Dieses Schillerhäuschen wäre also die erste Geburtsstätte, die Geburtsstätte eines Gedichtes, das, in goldener Form nach weltbürgerlicher, kirchlicher und politischer Freiheit ringend, fort und fort unsere Jugend in

[512] edelster Begeisterung wach erhält und den ernsten Mann mit Ehrfurcht und Stolz für seinen gottgeweihten Dichter erfüllt.

Gegenüber dem Schillerhause, am jenseitigen Elbufer, liegt das Dörfchen Blasewitz. Auch hier hat die Pietät des Enkelgeschlechts dem Dichter, der oft unter den Linden des heutigen „Schillergartens“ ausruhte, ein „Gedenket Sein“ errichtet. Unter einer uralten Linde erhebt sich aus felsenartiger, epheuumgrünter Fußbekleidung eine Steinpyramide mit den Worten:

„Wanderer, hemme den Schritt, du stehst auf geheiligtem Boden,
0 Der hier gewandelt dereinst, ist ein Unsterblicher uns;
Keiner sang so mächtig als er zum Herzen des Volkes,
0 Seelenentzückend und hehr leuchtet sein Geist durch die Welt.“

Genanntes Dörfchen hat zugleich der Wallenstein’schen „Gustel von Blasewitz“ den Namen gegeben. Die heimathliche Volkssage erzählt darüber Folgendes: An einem heißen Sommertage, an welchem der Dichter stundenweit durch Berg und Thal geschweift, langt er ganz erschöpft und verdurstet bei dem genannten Dörfchen an. Heiß glüht der Sonnengott hernieder, da bietet eine kleine am Fuße eines tiefschattenden Nußbaumes angebrachte Bretterbank Ruhe und Kühlung. Schiller nimmt Platz, sich mit dem Taschentuch Luft zufächelnd. Im benachbarten Gärtchen begießt ein Mädchen, städtisch gekleidet, ihre Blumen. Der Dichter bittet um einen Trunk Wasser. Die Blumenbegießerin verschwindet, um gleich darauf mit einem Glase frischen Rahms zurückzukehren, den sie dem verschmachteten Wanderer freundlich darbietet. Mit bestem Danke empfängt der Dichter den erquickenden Labetrunk. Er fragt nach dem Namen der anmuthigen Hebe. „Ich heiße Auguste,“ ist die Antwort. Nachdem der Dichter sich ausgeruht und erquickt, nimmt er, nochmals dankend, Abschied. Zugleich steigt in seinem dankbaren Gemüthe der Gedanke auf, dieses Mädchens für die ihm gewahrte Erquickung einmal poetisch zu gedenken.

Indeß waren mehrere Jahre in’s Land gegangen, Schiller hatte längst die Loschwitzer Rebenhügel verlassen, als ihm die Wallenstein’sche Marketenderin Gelegenheit gab, obigen Gedanken zur That werden zu lassen. So entstand die „Gustel von Blasewitz“. Leider hat sich aber Fräulein Auguste, als sie später erfuhr, daß unter diesem Namen ihre Person gemeint, keineswegs davon erbaut gefühlt. Ja, wenn Schiller eine edlere weiblichere Gestalt zur Erinnerung mit ihrem Namen bezeichnet hätte, würde sie sich wohl angenehmer berührt gefühlt haben, aber eine Lagerdirne von ziemlich zweideutigem sittlichen Renommée konnte ihr nicht eben zu großer Genugthuung gereichen. Sie war daher stets ungehalten, wenn man glaubte, ihr mit der „Gustel von Blasewitz“ ein Compliment zu machen. Auguste heirathete später einen geachteten Beamten in Dresden, woselbst sie vor wenigen Jahren in hohem Alter verstarb. –

Aber lange, lange Jahre vorher, als noch von keinen „schönen Tagen in Aranjuez“, von keinem „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit“ und keiner „Gustel von Blasewitz“ die Rede war, saß an schönen Frühlings- und Sommerabenden ein Knabe, der Sohn eines armen Landmannes in Blasewitz, am Elbufer und lauschte sinnend dem leisen Rauschen der Wellen. Dabei ließ er wunderholde Töne erklingen, die er einer kleinen selbstverfertigten Hirtenflöte zu entlocken verstand, oder war bemüht, Glastäfelchen, welche er sich vom Blasewitzer Glaser hatte zurechtschneiden lassen, chromatisch zusammenzustellen.[4] Nach wenigen Lustren klang der Name dieses Knaben als der Name eines gefeierten Meisters im Reiche der Tonkunst durch die gesammte musikalische Welt. Es war Johann Amadeus Naumann, geboren zu Blasewitz den 17. April 1741 und gestorben als Oberhofcapellmeister in Dresden den 23. October 1801.

Auch seiner hat sein Vaterdorf dankbar und zugleich segensreich gedacht, indem es auf der Stelle, wo des Meisters Vaterhaus gestanden, ein stattliches im gothischen Style gehaltenes Schulhaus erbaut, welches am hundertjährigen Geburtstage des Componisten eingeweiht wurde. Am hohen Giebel desselben liest man in goldner Schrift:

Dem Andenken Naumann’s
errichtet am 17. April 1841.

Das ist die zweite Geburtsstätte.

Wir fahren, fortwährend begleitet von Wein- und Waldbergen, auf der Elbe weiter gen Morgen. Kein halb Stündchen, und der freundliche Marktflecken Laubegast wird am linken Elbufer sichtbar. Da grüßt gleich bei den ersten Häusern hart am Strande ein zweites von einer Linde übergrüntes Denkmal. Es gilt einer auf dem Gebiete des deutschen Theaters wohlbekannten Persönlichkeit, denn man liest auf der Mittagseite des Monuments folgende Worte:

Dem verdienten Andenken einer Frau voll männlichen Geistes,
der berühmtesten Schauspielerin ihrer Zeit, der Urheberin des guten
Geschmackes auf der deutschen Bühne
Caroline Frjederike Neuberin,
geb. Weißenborn aus Zwickau,
welche, nachdem sie dreißig Jahre hindurch sich und Deutschland Ehre gemacht, endlich zum Lohne ihrer Arbeiten zehn Jahre lang alle Beschwerlichkeiten des Alters und der Armuth, nur von wenigen Freunden unterstützt, mit christlicher Großmuth gelassen getragen hatte, aus dem durch Bomben eingeäscherten Dresden mit schon krankem Leibe flüchtend hier in Laubegast elend starb und in Leuben armselig begraben ward, widmeten

diesen Stein einige Kenner ihrer Verdienste und Liebhaber der Kunst

in Dresden, im Jahre 1776.

Das Grab selbst der Künstlerin befindet sich, da Laubegast keinen eigenen Friedhof besitzt, auf dem benachbarten Kirchdorfe Leuben. Wie erzählt wird, war die Armuth der gestorbenen Dulderin so groß, daß ihr Leichnam auf einem einfachen Schubkarren nach seiner Ruhestätte gebracht werden mußte. Dies Grab blieb lange Jahre ganz vergessen, bis es im Jahr 1852 einigen Kunstfreunden gelang, dasselbe wieder ausfindig zu machen und mit einem Denksteine zu ehren.

Und eine kleine Strecke stromaufwärts, auf dem idyllisch gelegenen Friedhof des Dörfleins Hosterwitz, ein zweites Grab. Nur wenige Frühlinge sind erst darüber gegangen, und die pietätvolle Pflege, in der es gehalten, und die kleine Bank neben dem Hügel verrathen, daß eine liebende Hand noch am Leben ist, welche die geweihte Stätte fort und fort in holdem, frischem Blumenschmuck erhält. Auf der einfachen weißen Marmorplatte lesen wir:

Julius Hammer,
geb. den 7. Juni 1810,
gest. den 23. August 1862.

 Was vergangen, kehrt nicht wieder,
 Aber ging es leuchtend nieder,
 Leuchtet’s lange noch zurück.

Es ist der Dichter des „Schau’ um Dich und schau’ in Dich“ und der Menschenfreund, welcher der Idee einer Schillerstiftung zuerst öffentlich Ausdruck verlieh, der hier auf ländlichem Friedhofe sein letztes Ruheplätzchen fand. Julius Hammer bewohnte während der Sommermonate sein kleines Tusculum, das er sich wenige Jahre zuvor, wie ein Vogel im Laubgrün, beim Dorfe Pillnitz erbaut hatte, als er vom Leben abberufen wurde. Da Pillnitz selbst ohne Gottesacker ist, nahm der Friedhof des benachbarten freundlichen Dorfes Hosterwitz die Asche des Dichters auf.

Doch hinweg aus dem Reiche des Todes und der Gräber und zur dritten Geburtsstätte. Hart an der Landstraße, am Ende des soeben genannten Dorfes, aber umgrünt von fruchtbaren Obstbäumen und mit fröhlicher Aussicht nach den Bergen und dem Strande der Elbe, steht ein einfaches Häuschen von nur einem Stockwerk.

Wenn hier vor länger denn vierzig Jahren der Landmann in heiliger Morgenstunde, wo der Thau von den Zweigen tropft und die Thränen in den Augen der Blumen stehen, vorüberging, wie oft blieb er da lauschend stehen ob der himmelvollen Töne eines Piano, die aus den offenstehenden Fenstern des Erdgeschosses erklangen. Es waren dieselben einem Engel abgelauschte Töne, welche bald darauf die ganze Welt entzückten – Carl Maria von Weber dichtete in diesem Parterrestübchen sein Lieblingskind, die Oper „Euryanthe“ und seine herrliche, in unversiechbarer Frische perlende „Aufforderung zum Tanze“.

Die dankbare Nachwelt konnte auch an diesem Häuschen nicht vorüber gehen, ohne dasselbe mit einem „Gedenket Sein“ zu kennzeichnen, und so schaut bereits seit einer Reihe von Jahren von demselben eine goldene Lyra herab mit der genugsagenden Umschrift:

Carl Maria von Weber.“

In dem Stübchen selbst erblickt man unter Glas und Rahmen eine von der Hand des Meisters geschriebene Composition und sein Portrait, nebst einem Album, in welchem zahlreiche Verehrer in gebundener Rede ihren Dank und ihre Huldigung ausgesprochen haben.

Das sind im Raume einer kleinen Stunde am Elbestrande die drei Geburtsstätten und zwei Grabmale, einfach und prunklos, aber von Poesie und Erinnerung umklungen für alle Zeiten.

F. Stolle.     



Noch einmal „sprachliche Mißverständnisse“. In Bezug auf die in Nummer 28 der Gartenlaube mitgetheilten sprachlichen Mißverständnisse erlaube ich mir, die geehrte Redaction noch auf zwei Fälle ähnlicher Art aufmerksam zu machen.

1. Mul bedeutet im Plattdeutschen sowohl Maul als Haufen. Aus Mißverständniß hat man daher aus einen: Haufenwerfer, dem Mulwurf, einen Maulwurf gemacht, während derselbe doch bekanntlich sein Maul zu dem Aufwerfen dieser Haufen gar nicht gebraucht;

2. Schepken heißt im Plattdeutschen Schäfchen und Schiffchen. Nur in der letzteren Bedeutung kann die Redensart einen Sinn haben: Sein Schepken in’s Trockene bringen. Durch den Gleichklang verführt, hat man das Wort aber im Hochdeutschen mit „Schäfchen“ übersetzt.

Dr. Rudolph Kleinpaul.     


Nothgedrungene Erklärung.

Aus Regensburg, Carlsruhe, Wiesbaden und Zürich sind von Hotelbesitzern, Redactionen etc. bei uns Erkundigungen nach einem Herrn Heribert Malten, – aus dem vorletzten der erwähnten Orte sogar ein Postnachnahmebrief an denselben – eingegangen, aus denen hervorgeht, daß der Genannte sich für einen Berichterstatter der Gartenlaube ausgiebt. Wir erklären in Folge dessen, daß wir einen Heribert Malten gar nicht kennen, noch viel weniger in irgend welcher Beziehung zu ihm stehen.

Leipzig, am 27. Juli 1868.Die Redaction. 



  1. In den Jahrgängen 1861, 1862, 1865 und 1867.
  2. „Venedig wird widerstehen, es koste, was es wolle!“
  3. Unser armer Vater! Du hast so viel für uns gelitten!
  4. In späteren Jahren ward er Meister auf der Glasharmonica und schrieb sechs Sonaten für dieselbe.