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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[785] No. 50.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Heimath.
Eine Novelle in Briefen von Adolf Wilbrandt.
Briefe Friedrich’s an seine Schwester.


Erster Brief.

Meine liebe Julie, in der Heimath wär’ ich nun also wieder, und das ist es, was ich Dir heute, nach so langen, stummen Zeiten, sagen will; aber – laß mich Dir im Vertrauen sagen: jene stummen Zeiten waren besser! Ich war zum Schreiben zu glücklich, darum schwieg ich. Jetzt, scheint mir, schreib’ ich, weil kein Mensch mir sagen kann, was ich Besseres thun sollte. Ich könnte zwar spazieren gehen, denn wie meine kleine, aufgeregte Madame Winter sagt, das Wetter ist „göttlich schön“, der Himmel blau wie ihr Halstuch, Flieder und Goldregen sehen mir in’s Fenster, die Morgensonne scheint in hundert singende Amsel- und Finkenkehlen hinein; es fehlt nichts als – – Ja, kurz, ich könnte im Morgensonnenschein spazieren gehen. Nur – wohin? Ich weiß hier Alles auswendig. Daß der Weizen und Roggen gut stehen – zehn Meilen in die Runde, auf dieser flachen Erdscheibe – hat mir mein Hauswirth heute früh erzählt. Um die alte Stadtmauer bin ich erst gestern gegangen. Des Nachbars Kohl wird sich seit dem letzten Sonntag wenig verändert haben. Und so sitz’ ich hier und denke einstweilen an Italien, das dort hinüber liegt, jenseits aller Berge. – Ach, mein Italien! Ich hab’ es ungern verlassen.

Julie, wie ich es verließ, das erzähl’ ich Dir ein ander Mal. Mir waren die blauen Meere, die ernsten Flächen, die stillen, vornehmen Berge, die lichten Lüfte lieb wie Menschen geworden. Nun erwach’ ich hier von meinem Traum, im nordischen „Idyll“, im guten Kleinstädternest, und fühle mich ohne Menschen, ohne Luft und Licht, einsam, einsam. Mir ist, wenn ich dieses mein Vaterstädtchen betrachte, wie wenn ich in die Rumpelkammer gerathen wäre und meine alte, wurmstichige, schwerbeinige Wiege wiedersähe. Man hat mich einst sanft und lieblich drin geschaukelt, aber wer wird mit ausgewachsenen Beinen in seine Wiege zurückkriechen? – „Undankbarer!“ sagt meine gute Schwester Julie. Ach, wenn ich Dir’s erklären könnte, was mich in Deinen Augen undankbar macht! wie Einem da unten im „gelobten Land“ die Augen aufgerissen, gefüllt, verwöhnt werden! Wenn ich nun hier umherschlendere und die grell grünen Wiesen anstarre, die hellen Häuser, die philisterhafte Reinlichkeit, die Pappelalleen, – und hinter den kleinen Mauern die kleinen Menschen, die rothen Gesichter und Hände, die – – doch ich will Dich nicht beleidigen; besser, den Mund halten, als die Weisheit fliegen lassen! Ja, ich sollte lieber spazieren gehen oder zu meinen Folianten zurückkehren, als eine mißmuthige Epistel schreiben. Ich sollte –

Meine kleine Madame Winter unterbricht mich eben, die Haushälterin – Du mußt sie kennen, sie hat Dich auf Deinen ersten Schulgängen mit der Schiefertafel am Arm begleitet, wie sie mir erzählt hat. Ich soll Dich von ihr grüßen, bittet sie mit ihrer fettweichen Stimme, wobei sie an der Wand hinfährt und meine Kupferstiche und Photographien zum sechsten Mal abstäubt. Meine einzige gute Gesellschaft, diese Bilder: lauter italienische Erinnerungen, Rom, Neapel, Venedig, und weil ich so oft davor stehe und voll Sehnsucht auf ihnen herumwandere, so denkt Madame, daß sie alle drei Stunden einmal abgestäubt werden müssen. Denn „Reinlichkeit ist ja das halbe Menschenleben“. Als ich hier einzog, lag der frische Sand auf den Fußboden gestreut, noch wie in meinen ersten Jugendzeiten. Ich, ohne Pietät für alte Sitten, hatte nichts Eiligeres, als mir diesen knisternden Teppich für immer zu verbitten. Das war der erste Schmerz, den ich der guten Wittib anthat. Der zweite war, noch ehe sie den ersten verwunden hatte, daß ich ihr die chinesischen Porcellanfiguren mit den wackelnden Köpfen, mit denen sie mir Commode und Schrank geschmückt hatte, in die runden, eingestemmten Arme drückte und sie lachend damit hinausschob. Ich Herzloser lachte, – aber ihr hat ohne Zweifel das rundliche Herz dabei geblutet. Denn was muß sie von einem Menschen denken, der die kleinen, langweiligen, dunklen, angelaufenen Bronzen, die ich mir aus Italien mitgebracht, diesen heiteren, buntbemalten Ungeheuern vorzieht?

– Liebe Julie, verzeihe mir: ich werde dieses unser Wiegennest, dieses Land meiner Jugend, bald wieder verlassen! Hier gedeih’ ich nicht mehr. Unsere Eltern liegen da drunten, und alles Andere, Schwester, ist mir entfremdet. Die Flügel der Empfindsamkeit, die bunten Federn der Knabenträume sind mir ausgerupft. Mich wieder in die alten Gäßchen und Kellerlöcher verlieben, weil mir einst wohl darin war, – dazu fehlt mir das Herz. Wie fühlt’ ich es gestern wieder, als ich auf unseren ersten Spielplatz, den alten Markt, in unser Geburtshaus trat und neben meinem werthen „Gastfreund“, dem Bierbrauers-Eduard, durch das lange Gebäude auf und nieder ging. Es ist Alles noch da: die halbdunkle, hochgewölbte Diele, der mit Brettern gepflasterte Thorweg, die Keller, in denen wir Burgen bauten und Ritter und Mädchenraub spielten, der Boden unter dem Dach, durch dessen Luken wir in die Rinne hinauskletterten und keck zwischen Himmel und Erde spazieren gingen, der große Kaninchenstall und der schmutzige sogenannte „Brunnen“, in den ich mit meinen ersten weißen Frühlingshosen hineinfiel: Alles ist noch da, aber ich fragte mich: wo bist Du geblieben? Mir wurde in den nüchternen Räumen übel zu Muth; ich war wie erquickt, als ich wieder draußen war. Mein [786] eigensinniger Kopf dachte an Marino, an Ariccia, an jeden Ort in Italien, an dem ich die spielenden Kinder beneidet und mir gewünscht hatte: hättest du hier zwischen Felsen und Schluchten, Höhlen und Hügeln, in diesem goldenen Märchen aufwachsen können! Nun sah ich mich wieder in dem backsteinernen Nichts, aus dem ich mir einst ein kümmerliches Etwas gemacht hatte.

Ich ging dann einsam weiter durch die Stadt und an der Stadtmauer hin; die alten Spielplätze! Aus dieser ganzen kleinen Welt war nun das Seelchen entflohen, Alles todt und still. Ich dachte an die Menschen, die sich oft so empfindsam ihre Kindheit zurückwünschen. Wohl mir, dacht’ ich, daß die meine weit, weit hinter mir liegt! und mit ihr alle jene Jugendsentimentalitäten, jene Nebelphantasien, jene Stadtgrabengefühle!

Ja, meine liebe Julie –

Ich habe – um Dich nicht länger auf die Folter zu spannen, liebe Neugier – ich habe auch jene Jugendfreundin wiedergesehen. Auch das war eins der alten Stadtgrabengefühle… Als ich zu ihr ging, hatte ich eben wieder Deinen letzten Brief gelesen, der, wie so viele frühere seinesgleichen, Dein beliebtes Thema variirte: „Ihr werdet doch noch ein Paar!“ Ja, so seid Ihr Frauen: jeden abgerissenen Faden haltet Ihr noch werth und wollt ihn wieder anknüpfen. Und unterwegs war ich in großer Heiterkeit geschäftig, über dieses Thema nachzudenken. Eine so kluge Schwester, dachte ich, der ein allzu leicht aufzuregender Bruder als Student von einem Mädchen zu erzählen liebte, das diese Schwester nie mit Augen gesehen hat; eine rechte Kindergeschichte, in den Jahren erlebt, in denen man sich jedes Nachbarkind zur Dulcinea verzaubert, und diese Heldin eines Kindermärchens soll nun – so will es meine kluge Schwester – ein für allemal mein Verhängniß sein! Dann malte ich mir aus, wie wir uns als Mann und Frau nebeneinander ausnehmen würden, und unwillkürlich sah ich uns in meinem sandbestreuten Zimmer, sie am Fenster in ihren Strickstrumpf vertieft, ich auf meine römischen Kupferstiche starrend, und Beide von Herzen seufzend; die chinesischen Ungeheuer aber nickten ironisch mit den Köpfen, und Madame Winter stand in der offenen Thür und lächelte fett und triumphirend über uns hin… So kam ich vor das Thor hinaus, ohne daß ich es merkte. Ging den alten, wohlbekannten Weg, am Fluß entlang, neben den Mühlen und Schleußen; – denn sie wohnen noch in der alten Wohnung vor dem Mühlenthor. Du kennst das Haus: es ist dasselbe, in dem ich meine ersten Schuljahre versessen habe. Als ich eintrat, erkannte ich sogleich die Treppe wieder, die ich früher – die Hand am Geländer – mit einem prahlerischen Satz heruntersprang. Durch die offene Hofthür sah ich auch den neugeflickten Schuppen, auf dessen Dach ich mit Anna und ihren Freundinnen in guten Zeiten gesessen und ihnen, während der Tag verdämmerte, Märchen erzählt hatte; damals war man verliebt! – Ich stand einen Augenblick draußen still, als eben die alte Tante durch ihr Küchenfenster sah und sogleich leidenschaftlich an die Scheiben klopfte. Ich blickte hinauf, erkannte die grauen Augen und die goldene Brille, – und mir war doch, Julie, als wäre ich in ein verwunschenes Märchenhaus getreten. Indessen, ich sprang beherzt (wie Du nun lachst!) die schmale Treppe hinauf. Oben stand sie schon und wartete – ich meine die Tante. Ich fühlte die herzlich drückende, kleine, magere Hand; „willkommen aus Italien!“ sagte sie nicht ohne Pathos, und ich glaube, wir waren nahe daran, uns in die Arme zu schließen.

Drinnen im Wohnzimmer hörte ich die jungen, hellen Mädchenstimmen durcheinander plätschern. Also sie ist nicht allein, dachte ich; wieder die Cousinen. Richtig, ich fand die ganze Gesellschaft aus jenen Zeiten beisammen: die kleine schnippische Schulcameradin von ehedem, an die sich damals auf Schritt und Tritt Anna’s Arm und Anna’s Herz gehängt hatten, und die beiden mittelalterlichen Cousinen, – damals noch einen Johannistrieb im Busen, aber nun vollends abgesommert. Wir hatten uns nie geliebt und ich es nie verhehlt; so machten wir auch diesmal die Begrüßung kurz und kühl, und am liebsten wäre ich gleich wieder hinausgegangen. Anna sah ohne Ueberraschung von ihrer Arbeit auf – ganz das alte, stille, ruhige Gesicht – und sagte mit einem gewöhnlichen Lächeln: „Bist Du wieder da? Ich dachte, Du wolltest erst zu Johannis kommen.“ Damit trat sie mir entgegen und gab mir die Hand; mit einer so sanften, gelassenen Freundlichkeit, wie wenn ich acht Tage über Land gewesen wäre. Ich gewann es kaum über mich, ihre Hand zu drücken. Ja, Julie, – ungern, mit einem widrigen Gefühl, setzte ich mich auf den Stuhl, den die Tante mir in aller Eile zugeschoben hatte. Die Vogelstimme der guten Alten schmetterte geschäftig um mich herum, mit tausend Fragen nach römischem Wetter und dem Papst und einem vor zwanzig Jahren verstorbenen berühmten Banditen. Die kleine Schulfreundin nahm Hut und Jacke, ging, blieb stehen, hatte noch eine Stadtgeschichte zu erzählen. Unterdessen sah Anna still auf ihre Stickerei, lächelte, wenn die Andern lachten, sah zuweilen auf und sah mich an, mit den beziehungslosen, monologischen Augen, die mich auch früher in blinderen Zeiten so oft in Verzweiflung brachten. Ich fragte, wie es ihr ergehe, sie gab die gebräuchlichen Antworten. Ich wurde endlich stumm und dachte: Und es gab eine Zeit, wo du zum Sterben verliebt warst! Nichts erinnerte mich mehr an meine alten Gefühle – nichts, als daß sie noch die einfachen, tiefen Farben trug, die ich immer so gern an ihr gesehen hatte. Ich mußte sie mit einem schnellen Blick mit den Andern vergleichen, und das ist wahr, zwischen diesen frühlingsbunten Vogelscheuchen saß sie da, wie wenn ein Künstler sie für ein Bild gekleidet hätte. Das warmbraune Kleid, der reizende Halskragen, das glühendrothe Band im dunklen Haar – die ganze Gestalt erinnerte mich an jene glücklichen Tage. Aber ich war nahe daran, wie in lautem Danke aufzuseufzen. Hier hat sich so wenig verändert, dachte ich, und du so ganz –

Eine Viertelstunde hielt ich es noch aus, dann stahl ich mich hastig davon. Die Tante hielt mich am Arm, daß sie ihn mir beinahe ausgerissen hätte: ich müsse auf jeden Fall zum Abend wiederkommen. Ich versprach Alles, um nur zu entrinnen. Diese Luft und der Anblick der Cousinen, das Geschnatter, die alten bekannten Familienköpfe an der Wand, – Alles that mir weh. Nur beim Abschied sah ich Anna noch einmal an und sah zum ersten Mal wieder ihre großen, ihre liebenswürdigen Augen – ich meine den Blick, der einst mit mir machen konnte, was er wollte. Es lag wieder der feuchte Glanz über den beiden Sternen. Mir war, als wenn ich ihr dafür danken müßte, ich drückte ihre Hand so warm, wie jener erste Druck kühl gewesen war; wir gutherzigen Menschen! – Draußen stand ich dann doch mich segnend still, athmete wieder auf, wie einer Höhle entstiegen; ich sah diese Augen nicht mehr, sah nur die Gitterfenster, die Riegel, die schwarzfeuchten Mauern, in die mir ihr Zimmer eingeschlossen schien – ihr Haus, die Straße, die Stadt – Alles, Alles.

Nein, meine liebe Julie, nicht wieder in dieses Gefängniß! Diesen Mauern, diesen Menschen, diesen Zuständen bin ich ganz entwachsen; glaube mir das. Gieb es auf, für mich zu sorgen, Dir mein Glück, meine Zukunft auszurechnen. Wer dankt Dir Deine Mühe, wenn die Rechnung nicht stimmen will? Laß mich als den Schmetterling gelten, der ich bin: an diesem Fliederbusch find’ ich nun nichts mehr zu saugen und flattere weiter.

Könnt’ ich nur, bis ich weiter flattere, hier wenigstens einsam sein! Aber die guten, aufdringlichen Leute! – Am liebsten geh’ ich noch, wenn ich mich über meinen Büchern müde gedacht habe, allein in den Tannenwald, der vor dem Mühlendamm neben der Landstraße ansteigt. Mein alter Freund, Julie: dort hab’ ich früher so oft auf der platten Erde zwischen Nadeln und Zapfen gelegen und den Himmel angeträumt oder den summenden Hummeln meine schwermüthigen Verse vorgetragen. Von dort sieht auch die Stadt recht freundlich aus, mit den hohen Thürmen, und wie sie ihrem alten See das Kinn streichelt, der ihr dafür die dachziegelrothen Füße bespült. Ich habe sie gestern gezeichnet, es war noch ein Blatt in meinem italienischen Skizzenbuche leer; – hernach mußte ich lachen, wie sich meine gute Vaterstadt neben den wilden, grauen Bergstädten, den hohen Klöstern, den buschigen Felsen ausnahm. Aber sowie ich dann ein paar Schritte weiter ging, war’s mit der Einsamkeit aus. Irgend ein verzweifelter Bankerotteur ist auf den Einfall gekommen, an der jungen Tannenschonung, ein paar Schritte von der Landstraße, eine „Einsiedelei“ anzulegen: hölzerne, mit Moos belegte Hütten, Tische und Bänke im Freien – kurz, eine Bier- und Kaffee-Wildniß für unsere gute Stadt. Da ziehen nun Bierbrüder, idyllische Sonntagsfamilien und Kindermädchen hinaus und verderben mir die Einsamkeit.

Doch dieser dritte Bogen ist auch schon wieder zu Ende; klappen wir zu, der Brief ist überlang! Du kennst meine alte Schwäche, entweder gar nicht zu schreiben, oder lang wie ein [787] Buch. Lebe wohl; hier bin ich am rechten Ort, die Zeit mit der Feder zu verplaudern; ob dieser erste Brief auch der längste sein wird?




Zweiter Brief.

Du machst mir Vorwürfe, liebste Julie; ich dachte es wohl: so ketzerische Ansichten über Deine vielgeliebte Vaterstadt! Daß Dein Herz sich dagegen empören würde, das konnte ich wissen. Aber ich muß mich vertheidigen; Herz gegen Herz! „Friedrich, Friedrich,“ schreibst Du, „Du hast die Heimath über dem Ausland verachten gelernt!“ Nein, meine liebe Julie, das ist es nicht. Die tausend Wurzeln und Würzelchen, mit denen mein Leben in diesen Mutterboden eingesenkt ist, die spür’ ich noch alle, die gedenk’ ich auch nicht auszureißen. Es wäre auch eine knabenhafte, vergebliche Bemühung. Hier hab’ ich mein Gesicht bekommen, mein bischen Sprache gelernt, Milch und Luft und Liebe eingesogen; wer stößt das wieder aus? Nein, ich verachte meine Heimath nicht; ich liebe die Fremde nicht mit bundbrüchiger Liebe. Aber das Kleine, Julie, das Dürftige, das Dürre und Nichtige, das fliehe ich, hier wie überall. In der ganzen Welt hab’ ich dem zu entrinnen gesucht; sollt’ ich es hier lieb haben, weil es dieselbe Scholle tritt, auf der ich gehen gelernt? Und so ist es auch mit jenem Mädchen, das Du mir an’s Herz gelegt, das Deine Schwesterphantasie mir angetraut hatte: warum bedachtest Du nicht, wie sehr uns das Leben und die Welt verändern?

„Sie kann sich auch verändern,“ schreibst Du mir. Deine liebe eigensinnige Seele hält den Traum noch fest, spinnt den Faden noch weiter. Indessen ich, Julie, der ich sie täglich sehe – täglich thut es mir leid, in ihr das Bessere durch die dürre, niedrige Umgebung erstickt zu sehen; und wie sie sich in dieser ihrer Verarmung mit Trotz, mit Schärfe und Bitterkeit gefällt, wie sie ihre kleinstädtische Dürftigkeit gegen mich herauskehrt, in jedem unschuldigen Wort den übermüthigen Fremdling wittert, dem sie ihren ganzen kleinen empfindlichen Stolz entgegenstellen muß – kurz, wie sie sich ärmer und elender macht, als sie war, als sie ist. So hat sie’s freilich längst geliebt, mit allen Menschen Komödie zu spielen, mit ihrem Herzen im Versteck zu stehen. Aber warum fühlt sie nicht, wie unliebenswürdig das macht? Warum in einer so jungen Seele diese Schärfe, diese Bitterkeit? Sie hatte es auch früher gern, dies Versteckenspielen, aber da war es übermüthiger, fröhlicher; da bezauberte es einen gewissen blinden, armen Jungen. Jetzt, wenn sie wieder einmal übermüthig wird, jetzt vermisse ich die wahre innere Heiterkeit; ihr Lachen explodirt, die Natur wirft es wie im Krampf heraus, – und was sie dann lustig macht, das sind gewiß die allernichtigsten Dinge.

Ich verklage sie schon wieder; wie rauh ihr das kleine, feine Ohr dabei klingen mag! Warum mußt Du mich auch herausfordern, Dir über junge Kleinstädterinnen meine Meinung zu sagen! – Wenn ich so dasitze, Julie, das sopranhelle Geklatsche meiner kleinen Landsmänninnen höre und im Stillen denke: es ist Sonntag Nachmittag, nun werden deine Freunde durch die römische Compagna streifen! – Die gute Tante hat mich in ihren Händen, sie giebt mich nicht wieder heraus; sie weiß die alten Zeiten trefflich aufzuwärmen. Ihr Herz hatte ich immer; dazu langweilt sie sich und hört über alle Begriffe gern von fremden Ländern erzählen oder lustige Erinnerungen auftischen. So erwartet sie mich täglich zum Nachmittagskaffee, zum Abendessen und läuft voll Unruhe hin und her, wenn ich einmal ausbleibe. Komm’ ich dann später noch, so reißt sie die Thür auf, ruft der Anna, daß sie leuchten soll (wenn ich auch längst die Treppe herauf bin), droht mir in komischer Zornfreude mit der kleinen Faust – denn sie hat eine ungewöhnlich kleine Hand, kleiner als Anna’s – und hat mich schon an’s Sopha geführt und niedergedrückt, eh’ ich so viel Athem schöpfen kann, ihr guten Abend zu sagen. Unterdessen steht Anna mit gekreuzten Armen am Clavier, lächelt auf uns Beide herunter, grüßt mit einem stillen, stillen Kopfnicken, setzt sich endlich geräuschlos auf ihren Claviersessel nieder, am liebsten halb abgewandt, wie wenn ich durchaus nur ihr Profil studiren sollte; zuweilen mit einem schwebenden Blick über uns hin, sonst in den Winkel hinein, daß man nicht weiß, ob sie hört oder ob sie träumt. Und so sitzt das Mädchen stundenlang, indessen die Alte mich fort und fort zum Erzählen ermuntert, unverwandt durch die große goldene Brille mich anstarrt, oder zehnmal hinter einander mit dem Kopfe nickt, oder einen plötzlichen Ruf der Verwunderung ausstößt, daß ihr die Haubenbänder locker werden.

Ein eigenes Publicum, Julie! Und doch bin ich lieber noch zu Dreien, als mit Anna allein. Wenn ich bei Tage hinüberkomme und die Tante zur Nachbarin gegangen oder im Nebenzimmer in ihrem Lehnstuhl eingeschlafen ist (was ihr oft begegnet), und das Mädchen am Clavier klimpert oder sich in den neuesten Leihbibliothekroman vertieft hat, so will sich mir der Hacken drehen, auf der Stelle wieder umzukehren. Aber die Höflichkeit – und die alte Gewohnheit – und ihre Stimme, die noch den alten närrischen Zauber hat (ich sage immer, ihre Freundinnen haben blonde, sie hat eine brünette Stimme) – kurz, sie winkt mir mit irgend einem freundlichen Wort auf meinen alten Platz neben dem Nähtisch, am Fenster, unter dem Epheu – und da sitz’ ich und lache über mich selber, – um nach einer Viertelstunde verstimmt und verdrossen wieder aufzustehen. Denn es ist kein vernünftig Wort mit ihr zu reden. Wenn ich von fremden Menschen und Dingen und Schicksalen erzähle, so fängt ihre Unterlippe an zu spielen, ihre Augen schlafen halb ein, und auf einmal kommt irgend ein trockenes Wort heraus, ein kleinbürgerliches Urtheil, eine Nichtigkeit – und ich verstumme. Wenn das Herz mir aufgeht und ich von Italien rede, von großen Landschaften, wundersamen Menschen, von Meer, Licht und Luft, so tritt sie an’s Fenster, um auf die Wiesen und den blanken See hinauszusehen, an die Scheiben zu trommeln und zu sagen: „Mein Gott, es ist überall schön!“ Es ist, wie wenn sie nichts davon wissen will, daß die Welt so groß und ihr Leben so klein ist. Neulich entfuhren mir ein paar Worte über Kleinstädterei, über die kleinen Mauern und die kleinen Menschen; da sah sie mich so feindselig an, wie ich sie nie gesehen, stand auf, ging stumm im Zimmer hin und her und endlich zur Thür hinaus. In einer jähen Verstimmung erhob ich mich auch, griff nach meinem Hut und ging davon… „Und so benehmt ihr euch freilich noch wie rechte Kinder,“ wirst Du sagen.

Ach, meine gute Julie! was soll ich in dieser Luft! Sie könnte nur anstecken; soll ich mich anstecken lassen?

– Sie ist nicht erzogen worden, das ist ihr Unglück. Von ihrer Tante konnte sie wohl verhätschelt, verstört, verengert, verkümmert werden, aber nicht erzogen. Doch da fällt mir ein, daß sich ein Erzieher für sie angefunden hat – nur daß das Kind sich noch weigert, sich erziehen zu lassen. Als ich gestern wieder in den Tannen mein stilles Plätzchen gesucht und mich mit dem alten Homer niedergesetzt hatte, kam unser Jugendfreund, der rosige „kleine Heinrich“, tiefsinnig über die Felder herangeschwebt, erkannte mich, fuhr auf mich zu, und ich mußte ein herzliches Wiedersehen feiern. Du kennst seine Art: in einer halben Viertelstunde hatte er mir anvertraut, daß er sich nun zu „setzen“ denke, daß er heirathen wolle und daß er sich – hier stockte er und sah mich erwartungsvoll an – daß er sich unsere gemeinsame Freundin Anna ausersehen habe. „Oder hast Du auch Absichten?“ fragte er und drehte an meinen Knopflöchern. Ich lachte und gab ihm die Versicherung, wenn ihm Niemand mehr im Wege stehe als ich, so könn’ er sie morgen heimführen. „Das hätte er sich auch gedacht,“ meinte er, „ich würde mir gewiß so eine Ausländische nehmen. Ich hätte auch wohl noch Zeit, aber er“ – – Und dabei sah er unwillkürlich auf sein Herz, und ich auf seinen Rock: denn wirklich, in diesem nie gebürsteten schwarzen Röcklein, das statt seiner im Bett gelegen zu haben schien, und mit den baumelnden Knöpfen und den aufgelösten Hosensäumen sah er recht hausfrauenbedürftig aus. Aber es wird ihm dennoch wohl gehen in der Welt: er hat die großen Ohren und die prädestinirte Stimme eines Bürgermeisters, fett und stark.

Als ich mich seiner annestelnden Gesellschaft entwunden hatte und heimschlenderte, fiel mir erst ein: dies war der Bräutigam, aber was sagt die Braut? – Ich kam ohnehin an ihrem Hause vorbei; die Tante sah aus dem Fenster und rief mich an. Da sprang ich denn hinauf, und da auch das Mädchen im Zimmer war, fragte ich, ob sie schon wisse, daß man sie heirathen wolle? „Zu viel Ehre,“ antwortete sie trocken, während die Alte mich neugierig aufgeregt bei der Schulter packte. Ich hielt ihr still und erzählte meine Geschichte; kaum hatte ich aber den „kleinen Heinrich“ genannt, so warf sich Anna in’s Sopha und wollte sich [788] todtlachen, mit einer so seltsam heftigen Heiterkeit, daß ich nicht begriff, was ich mir dabei denken sollte. Die Tante schien es zu verdrießen, sie sah das Mädchen unwillig an, wagte aber doch kein Wort des Vorwurfs zu sagen. Ich stand und wunderte mich; endlich setzte das Mädchen sich wieder aufrecht, trocknete sich die gelachten Thränen und sagte zur Erklärung: sie wolle lieber am Lachen sterben, als einen Menschen mit so rothen Ohren heirathen. Unwillkürlich sah ich in den gegenüberhängenden Spiegel und sah meine Ohren an; sie waren weiß und bescheiden. Darüber brach sie nun wieder in ein kindisches Gelächter aus. „Sie ist eine rechte Trine, Friedrich,“ sagte die Tante verdrießlich und schrammte auf ihren Hausschuhen in das andere Zimmer. Mir aber fiel unsere alte Verabredung aus den verliebten Halbekinder-Jahren ein, mit der sich Anna und ich damals auf’s Beste unterhalten hatten: daß ich sie heirathen solle, wenn sie mit dreißig Jahren noch unvermählt sei. Gott sei Dank, dachte ich, indem ich wieder hinausging, sie ist erst einundzwanzig!

Aber nun endlich genug von diesen Kindergeschichten! Ich will den guten Homer wieder zur Hand nehmen, will wieder im Baum der Menschheit etwas höher hinaufklettern. Es wird auch Zeit! Lebe wohl!




Dritter Brief.

Dem Himmel sei Dank, liebste Julie, ich athme wieder auf; nun fühl’ ich erst, wie ich mich nach dieser Befreiung gesehnt hatte! – Ja, Schwesterherz, ich habe Aussicht, in meine geliebte wärmere Welt zurückzugehen. Frau Amanda, unsere vortreffliche Freundin, die Dir diesen Brief überbringt und mit der ich hier einen viel zu kurzen, herzerquickenden Tag verlebt habe, wird Dir mehr davon erzählen. Genug, ich werde die Bibliotheken durchwühlen, die alten Geschichten ausgraben und darüber die Gegenwart und ihr Vorrecht nicht vergessen; ich werde wieder am Arno lustwandeln, vom Capitol auf die Erde heruntersehen – und dann wird diese vaterstädtische Idylle wie ein kurzer närrischer Traum in meiner Seele entschlafen. Ich übernehme zwar Verpflichtungen auf längere Zeit, aber sie sind ein gern gebrachtes Opfer, das ich den alten Heidengöttern und den südlichen Lüften bringe. Hier hielt’ ich es doch nicht aus; ich sehe es täglich. Nur der alte Gewohnheitsteufel ist es, der mich immer wieder unter die Stadtmauerlinden, vor’s Mühlenthor hinaus, – in Anna’s Haus führt. Und nichts unwürdiger, als sich von einer Gewohnheit schleppen lassen, die keine Frucht trägt, die nie eine tragen kann, noch tragen konnte.

Ach, Schwester, und wie ich sie bei alledem von Herzen bedaure! Wenn ich Anna’s Leben überdenke, so wird mir Alles begreiflich und verzeihlich, was den flüchtigen Zuschauer nicht anders als ungeduldig machen kann. Du hättest sie in jenen ersten Zeiten kennen sollen, als sie nach ihrer Mutter Tode zu uns in’s Haus kam, so eine kleine blasse, verschüchterte Waise; aber unter den Fittichen unserer guten Mutter lebte sie auf, der kleinen Seele wuchsen ein paar goldene Flügel. Man nannte sie damals im Hause die „Schwärmerin“, und es mag auch etwas daran gewesen sein: für mich, ihren Spielgenossen, war sie ein rechtes Märchenkind, das frei und offen und liebenswürdig in die Welt hineinwuchs, wie wenn ihr Alles gehörte. Gott, wir waren noch jung; ich weiß, mit welcher Achtung ich zu Dir hinaufsah, die damals in der Residenz, in der Pension, ihre französischen Zopfstyl-Poeten absolvirte. Wir lernten unterdessen unser gewöhnliches Deutsch, träumten den Himmel an, ließen unsern Theaterpuppen Tugend und Edelmuth ausströmen und sogen aus den „Räubern“ und „Wilhelm Tell“ die Nahrung hoher Gefühle. Das war die Anna von damals! Die schöne Saatzeit ihrer guten Seele war zu kurz: denn nun kam die Tante angezogen, forderte sich ihr geliebtes Nichtchen, steifte sich auf die „heiligen Bande des Bluts“ und versetzte die zarte Pflanze in den gröberen Boden, in die trocknere Luft. Die alte Trompete, mit all’ ihrer gutherzigen Zärtlichkeit, verstand von Erziehung so viel wie ich vom Corsettschneidern, und sie ließ sich nicht dreinreden, sie hätte sich am liebsten mit ihrem Nichtchen unter eine große Glocke gesetzt. So wuchs das Kind zwischen Gehorchen und Befehlen ziellos heran und suchte nur in dieser rauheren Umgebung ihre feineren Fühlfäden einzuziehen. Es gab auch allerlei Unsauberes um sie her, kleine gemeine Zustände, kleine gemeine Menschen; davon erschreckt, begann sie ihr seltsames, starres, zur Gewohnheit werdendes Versteckenspielen, um ihren inneren Funken nicht zu verrathen, um nicht verhöhnt, um nicht getreten zu werden. Denn in enger Luft, unter unedlen Menschen giebt es wohl keinen stärkeren Trieb, als die Scheu vor Lächerlichkeit. Um der hundertäugigen Spottsucht zu entgehen, umhärtet man sich lieber wie ein Schalthier, geht mit Krebsen den Krebsgang oder vergräbt sein Pfund wie jener unweise Knecht. Und so, denk’ ich mir, entstand in ihrer offenen Seele diese schauspielende Verschlossenheit. Ich sehe, sie hat kein reines, aufrichtiges Verhältniß zu keinem Menschen. Sie will nicht besser sein als die Andern um sie her und ist es doch und sucht’s vom Morgen bis zum Abend zu verbergen. Ja, ich beobachte sie, Julie, und täglich find’ ich von Neuem, daß ihre alten goldenen Flügel sich regen, aber der harte Selbstzwang drückt sie nieder, oder läßt sie nur hinter Gittern und Mauern flattern, verstohlen, ganz verstohlen. Zuweilen verräth mir plötzlich ein verlorenes Wort, daß sie irgend ein gutes Buch mit Eifer gelesen, von dem sie beharrlich geschwiegen, über das sie unter den Menschen nie ein Wörtchen mitgeklatscht hatte. Sie hatte dann stumm und träumend dagesessen und gedacht an – wer weiß es?

In diesen letzten Wochen ärgerte sie mich oft damit, daß sie nicht singen wollte, daß sie gegen alle die alten guten melancholischen Lieder lästerte und, so oft ich sie um irgend ein innigeres Musikstück bat, ihr eigensinniges Nein sagte. Sie spielte nur, was ihre Freundinnen spielten, das Neueste vom Leihinstitut, die fabrikmäßigen Salonstücke mit den französischen Titeln. Doch wie ich gestern Abends zu ihr komme – die Tante war nicht daheim, es war schon dunkel geworden, und sie glaubte sich unbelauscht – da höre ich sie die Lieder singen, die holden, herzlichen, rührenden Lieder, nach denen ich mich in Italien so oft gesehnt hatte, darunter auch dies – liebes Herz, Du kennst es:

Es steht ein Baum im Odenwald,
     Der hat viel grüne Aest,
Da bin ich schon viel tausend Mal
     Bei meinem Schatz gewest.

Der Vogel sitzt in seinem Nest
     Wohl auf dem grünen Baum.
Ach, Schätzel, bin ich bei Dir gewest
     Oder ist es nur ein Traum?

Und als ich wieder kam zu Dir,
     Gehauen war der Baum – –

Liebe Julie, mir lief das Herz davon und die Augen über; ich stand noch immer draußen auf dem Gang, ich hatte den Muth verloren, einzutreten. Mit meinen kindlichen Thränen auf der Backe schlich ich mich davon. Draußen schienen die Sterne, der Mond wanderte neben mir an dem blinkenden Fluß, meinem ältesten Freund, entlang. Mir ging so viel Altes und Neues durch die Seele, köstlich-unsterbliche Erinnerungen; ich hätte sie um nichts dahingegeben.

Ich wollte so nicht heimgehen, es zog mich noch zu der guten heimlichen Sängerin zurück, gerührt, wie ich war. Als ich wieder hinauf komme und vor der Zimmerthür horche, ist Alles still. Ich klopfe leise, Niemand ruft Herein; endlich öffne ich – und da saß sie beim Mondlichte auf ihrem Stuhl am Fenster, in die Ecke gedrückt, und war eingeschlafen. Der Kopf lag so friedlich auf der Schulter; ich schlich näher heran, aber nun sah ich die ernsten, großen, schweren Züge, ein Gesicht wie aus dem Traum, die Lippen schmerzlich verzogen; – so hatt’ ich sie nie gesehen. Mir ward ganz beklommen zu Muth; die Hyacinthen am Fenster wirkten mit ihrem starken Duft wie Wein auf meine Sinne; dazu ihr luftiges gelbes Kleid, von der gleichen Farbe wie damals, als ich ihr Kleid auf halbe Meilen erkannte, – und darüber diese melancholisch gereiften Züge – liebe Julie, ich fühlte mich seltsam erschüttert. Auf einmal erwachte sie, wie von meinen Blicken aufgestört, starrte erschreckt zu mir auf, – und wie ein Bild des Gehirns verweht, war ihre ernste Schwermuth ausgelöscht, das Gesicht wieder still und kalt, sie hatte die alte Maske vorgebunden.

Dies war mir endlich zu viel. Als sie sich aufrichtete und mich mit einer ihrer nüchternen Fragen scheinbar ganz gelassen anredete, schüttelte ich mich, wie mit kaltem Wasser übergossen, trat an’s andere Fenster und sah, auf’s Widrigste verstimmt, hinaus, ohne ihr Antwort zu geben. Sie schien nun selbst zu fühlen, was in mir vorging. Auf ihren leisen Füßen kam sie mir nach. Sie rührte meine Schulter an, zog aber hastig die

[789]

Zum Gedächtniß eines Heimgegangenen.
Originalzeichnung von Herbert König.

[790] Hand wieder zurück und fragte ernster und weicher: „Was hast Du? Warum antwortest Du mir nicht?“ – Ich wandte mich herum, nahm sie bei der Hand und sagte: „Wem soll ich antworten, Anna? Ich weiß nicht, wer Du bist: die Anna von vorhin, die singen und herzlich sein und ihre wahre Seele zeigen kann, oder die Andere, die nur mit uns spielt?“ – Sie erröthete heftig. „Wie verstehst Du das?“ fragte sie und wollte mir ihre Hand entziehen, aber ich hielt sie fest und fuhr fort: „Wenn ich wüßte, Anna, warum Du stets so verschlossen, so seltsam versteckt, so ein täuschendes Irrlicht bist!“

Bei diesem Wort riß sie sich hastig los. Sie trat zurück, und stumm und blaß, halb von mir abgewandt, den Mund bitter geschlossen, starrte sie in die Nacht hinaus. Endlich sagte sie, ihre Gedanken mit schwerer Zunge einzeln hervorstoßend: „Wen geht es an, wie ich bin? Kann ich mich anders machen? – Wer zwingt Dich auch, daß meine Art Dir gefallen soll? Mögen Dir Deine Italienerinnen, Deine Großstädterinnen lieber sein, ich wehre Dir’s ja nicht; willst Du mir wehren, so zu sein, wie ich bin?“

Ihre Stimme zitterte, sie athmete schwer; ich war bestürzt, Julie, und dachte nur, wie ich sie wieder beruhigen könnte. „Anna,“ sagte ich, „willst Du mich mißverstehen? An Italienerinnen, an Großstädterinnen hab’ ich nicht gedacht. Aber bist Du selbst nicht etwas Besseres, als Du sein willst? Warum zerdrückst Du Dich, Anna? Warum machst Du Dich so klein wie die Andern? Warum versteckst Du Deinen innern Werth? Liebe Anna, warum willst Du Deine Seele nicht mehr fliegen lassen, wie sie einst geflogen ist und noch fliegen könnte?“

Ich weiß nicht Alles mehr, was ich ihr sagte, aber sie sah still vor sich hin und hörte mich schweigend an. Und, Julie, da kam mir auf einmal Dein Name und Dein Bild in die Sinne; mein ganzes Herz trat mir auf die Lippen, und ich sagte mit meiner sanftesten Stimme: „Verzeih’ mir, Anna, – daß ich an meine Schwester denken muß, die auch in einer kleinen, stillen Welt aufgegangen ist, die auch nicht in die Weite und Breite wandern konnte – aber sich die freie Seele bewahrt hat – und eine offene, unverstellte Seele und ein empfängliches Herz.“ – Und nun schüttete ich meine übereinander gedrängten Gedanken aus und Alles, was ich von Dir zu sagen wußte; – ich will es meiner geliebten Leserin nicht wiederholen. Das Mädchen hörte noch immer halb abgewandt zu. Auf einmal sah ich eine Thräne über ihre Wangen rollen; sie fühlte es, sah sich im hellen Mondschein stehen und wandte sich vollends ab und ging in’s andere Zimmer. „Morgen!“ war Alles, was sie mit halber Stimme noch zu mir zurück sprach. Ihre Thränen schienen unaufhaltsam hervorzubrechen. Ich erwiderte nichts, sie that mir in der Seele leid; ich wünschte ihr herzlich „Gute Nacht“ und ging hinaus.

(Fortsetzung, am andern Tage.) Dies Alles im Vertrauen, liebe Schwester, und nun nichts mehr von diesen drückenden Dingen – nun wieder von Italien, von der Welt, vom Leben! – Ich wollte nur noch hinzusetzen (weil Du doch einmal Alles wissen willst): ich habe sie wiedergesehen, ich ging noch gestern zu ihr. Denn ihr „Morgen“ hatte mir, während ich an Dich schrieb, immer im Ohr gesummt. Als ich eben an die Thür klopfen wollte, trat mein „kleiner Heinrich“ heraus, im Frack, feuerroth, das ganze Gesicht eine Kupferplatte; der Aermste! Er schob sich hastig an mir vorbei, mit einem Blick, der drei Mal „Schlange!“ auszurufen schien, wie wenn ich ihn aus dem Paradies vertrieben hätte. Mir stieg das Mitleid auf, da ich ihm sein Schicksal aus dem Giftblick ablas, aber als er dann die Treppe hinunterhüpfte, sein zitternder Frackzipfel verschwand und der verunglückte Ehemann in der Hast ausglitt, ein paar Stufen weiterstürzte und sich erst unten mit einem drolligen Fluch seiner fetten Stimme wieder zusammenfand, mußte ich doch das Lachen mühsam verbeißen. Endlich war sein letzter Schritt verhallt, und ich trat ein. Anna saß am Fenster neben ihren verblühenden Hyacinthen, in dem ernsthaften braunen Kleid vom ersten Tag, das blasse Gesicht nachdenklich aufgestützt. Als sie mich erblickte, erröthete sie wie über ihre eigenen Gedanken.

Ich hatte diesmal Scheu vor ihrer ernsten Miene; mit einem leichten Scherzwort fragte ich nach dem Schicksal des armen Werbers. „Was soll ich mit dem Menschen?“ antwortete sie kurz, ohne Lächeln, und stand auf. Mich überraschte ihre hohe, schlanke Gestalt; sie war mir noch nie so groß erschienen. Es lag in den Augen, glaub’ ich: sie waren so groß, so ernst, mit Gedanken angefüllt; ihre Seele schien noch immer mit sich allein zu sein. Plötzlich besann sie sich, ging an den Tisch, auf dem das Schachbrett stand (das Lieblingsspiel ihrer Tante), und indem sie sich niedersetzte, sagte sie: „Friedrich, Du bist mir noch Revanche schuldig!“ – Ich glaubte in diesen Worten einen geheimen Sinn zu hören. Ich saß, wir spielten, aber Beide zerstreut. Endlich trat die Tante herein; die Freundinnen kamen dazu. Anna empfing sie einsilbig, mir war der Anblick dieser Geschöpfe widerwärtig, ihre zweideutigen Blicke desgleichen, und ehe noch das Räderwerk des Geplauders wieder im Schwunge war, macht’ ich mich auf und davon.

Dies wird nun wohl mein letzter Brief aus diesem „verwunschenen“ Ort gewesen sein; wohl ihm – und mir! Den nächsten, Liebste, schreib’ ich Dir wieder als Wandervogel, mit einer Feder aus der frischgelüfteten Schwinge, auf dem Fluge in’s „gelobte Land“. Lebe wohl, lebe wohl!

(Fortsetzung folgt.)




Erinnerung an Julius Mosen.


Der Dichter, den sie jüngst begraben, war eine Erscheinung, die nicht erst der Verklärung des Todes bedurfte. Sie leuchtete schon im Leben wie ein schöner, heller Stern und wird leuchten im Gedächtniß derer, die ein Herz für deutsches Lied haben, die ihn kannten, die ihm näher standen. Wer den Mann vor dreißig Jahren sah, als seine begeisterten Polenlieder, vor Allem seine „Letzten Zehn vom vierten Regiment“, die Gemüther entflammten, als sein „Andreas Hofer“ entstand, den er, wie er einst selbst sagte, mit den besten Tropfen seines Herzblutes geschrieben – wer ihn damals sah – wie er fest und energisch einherschritt, das Haupt umwallt von tiefschwarzen Locken, von südlich gebräunter Gesichtsfarbe und einem Auge, so tief und gluthvoll blickend und von den dichtesten, hochgeschwungenen Brauen überschattet, daß man glaubte, einen Sohn der heißen Zone vor sich zu sehen – wie hätte der es für möglich gehalten, daß diese so glänzende, von der Natur verschwenderisch ausgestattete Erscheinung schon nach wenigen Jahren den Keim jener geheimnißvollen Krankheit in sich tragen würde, welche ihn auf ein Leidenslager streckte, wie dauernder und schmerzensreicher es das Geschick für einen armen Sterblichen nicht ersinnen kann!

Doch wir wollen heute nicht des unglücklichen, nur des glücklichen Dichters gedenken, wie er stand in der Vollkraft seines Schaffens, „tief in seinem Volke wurzelnd“, so recht ein Mann, dessen Gegenwart gleich anregend wie wohlthuend wirkte, den man hätte beneiden können, hätte man ihn nicht lieben müssen, denn kein Flecken trübte den reinen Spiegel dieser Seele; was er schien, war er, ein edler, ganzer Mann, still und erhaben in seinem innersten Gemüth – aufbrausend wie eine Wetterwolke, wenn es galt, ein Vertreter für heilige Menschen- und Volksrechte.

Es mag wohl im Sommer des Jahres 1839 gewesen sein, als Mosen ein kleines Landhaus im Dorfe Strehlen, eine Viertelstunde von Dresden entfernt, bewohnte. Unsere Wohnung lag daneben. Es hatte mich schon lange gedrängt, den Nachbar kennen zu lernen, aber wie es anfangen, ohne aufdringlich, ohne unbescheiden zu scheinen, war wohl ein berechtigtes Bedenken für einen unbedeutenden, jungen Menschen einem Manne gegenüber, der einen gefeierten Namen trug. Da, eines Sonntags früh – das rothe Fez, welches der Dichter gewöhnlich im Hause trug und von dem er wohl wissen mochte, daß es seinem tiefschwarzen Haar besonders gut kleidete, schimmerte eben recht verführerisch durch die herabhängenden Zweige der Obstbäume – konnte ich nicht länger widerstehen. Eben Ball schlagend, ward ich von dem Gedanken durchzuckt: wie wenn ich unversehens den Ball in den Nachbargarten schleuderte, hinüber spränge und mich entschuldigend die gewünschte Vorstellung [791] und Bekanntschaft herbeiführte? Gedacht, gethan, der Ball flog wundervoll hinüber, mitten in das Kaffeegeschirr; ein leichter Aufschrei seitens der Frau vom Hause, und ich stand alsbald röther und verlegener, als es wohl anfangs in meiner Absicht lag, vor dem Ziel meiner Wünsche. Lächelnd ward mir Verzeihung gewährt, und nach guter sächsischer Sitte mußte ich nochmals Kaffee nehmen, obgleich ich wiederholt versicherte, bereits gefrühstückt zu haben. „In diesen Tagen,“ verabschiedete mich Mosen, „wird Uhland kommen, und da Sie sich schon so lebhaft für einen Dichter dritter Classe interessiren,“ (dies sagte er leicht ironisch in Bezug auf eine kurz vorher erschienene hämische Kritik) „um wie viel mehr muß es Ihnen wichtig sein, einen erster Classe kennen zu lernen. Ich werde es Ihnen melden lassen; sobald er da ist, schicke ich herum.“

Uhland kam, und mit ihm als Cicerone Hoffmann von oder besser „aus“ Fallersleben, denn sein usurpirtes „von“ führte eine komische Verwechselung herbei, indem eine mit anwesende Dame Hoffmann kurzweg „Herr von Fallersleben“ titulirte, was er sich nachdrücklichst verbat, indem er zugleich, um weiterem Irrthum vorzubeugen, die Gesellschaft ersuchte, ihn für heute „aus“ Fallersleben zu nennen.

Uhland war auf einer Rundreise begriffen, um seine hoch- und niederdeutschen Volkslieder zu sammeln. Er schien so von seinem Reisezweck erfüllt, daß ich mich kaum entsinne, je einen schweigsameren Menschen gesehen zu haben. Hätte nicht schon der Name Uhland das Auge bewundernd und ehrfurchtsvoll auf den Dichter blicken lassen, der schärfste Physiognomiker hätte in dem kleinen, wortkargen und mehr als unscheinbaren Männchen nimmer den letzten großen Dichter Deutschlands gesucht. Mosen wie Hoffmann und nach Maß und Kräften die übrige Gesellschaft versuchten Alles, versäumten keine jener kleinen Aufmerksamkeiten, mit denen man einem verehrten Gaste den Kreis angenehm und heimisch zu machen strebt – umsonst! Der große Schwabe blieb ernst und in sich gekehrt und beantwortete die meisten Fragen mit sichtlicher Zerstreutheit. Die fühlenden Menschen, unter denen er sich befand, ehrten sein schweigsames Wesen, indem sie ihn ferner seinen stillen Träumen überließen. Nur als die liebenswürdige Wirthin dem Dichter die wohlgestopfte Thonpfeife reichte, glitt ein sanftes Dankeslächeln über seine trockenen Züge, denn er, von dem man wußte, daß er die altgewohnte „lange“ Pfeife liebte, verstand gar wohl die zarte Aufmerksamkeit, und blies dann behaglich die dünnen, blauen Wölkchen vor sich hin.

Mosen’s schöne Augen ruhten indessen mit wahrer Kindesliebe auf Uhland’s Gestalt, die Augen der Andern mit zwiefachem Genuß auf Beiden. Hier ein Poet, fast noch als „Jüngling-Mann“ – dort ein Dichter an der Grenze männlichen Strebens und mit einem Wesen, als wiederholten seine Lippen immer und immer wieder nur „Greisenworte“. Die weihevollsten Stunden schwinden nur zu bald – und so auch diese. Beim Abschied ergriff Mosen das Glas, und in seinem Innern arbeitete es gewaltig; er versuchte zu sprechen, setzte zwei Mal an, kämpfte die Thränen nur mühsam hinunter und umarmte zuletzt den kleinen, schwächlichen Mann. Wie Uhland mit Hoffmann aus dem Garten gekommen, wußten wir Alle wohl nicht recht, nur die Stelle, wo er gesessen, war plötzlich leer – und sie schien uns geweiht. Mosen zog sich früher zurück als sonst, und noch lange sah man den Schatten seiner Gestalt durch den Vorhang seines Arbeitszimmers auf und nieder gehen und hörte noch lange seine Schritte durch das leichte bretterne Häuschen.

1842 verschlug mich das Schicksal nach Oldenburg, der kleinen Residenz des Großherzogthums gleichen Namens. Der noch mehr im persönlichen Umgang als in seinen Schriften geistvolle Theodor v. Kobbe (gestand er doch einmal selbst, daß er zuviel „Honorar“ spreche) schrieb damals in seinen „Humoristischen Blättern“ unter die Oldenburger Fremdenliste: „todte Stinte“, ein Beleg, daß der Fremdenandrang in der Oldenburgischen Metropole eben nicht groß war. Was indessen an der Ausdehnung dieses Verkehrs mangelte, ersetzte hinreichend ein Kreis hochgebildeter Männer, der schlechtes Klima und Kleinheit der Verhältnisse leicht übersehen ließ, und unter dem milden Regiment des guten alten Großherzogs, dem treu zur Seite seine Gemahlin Cäcilie (Tochter des unter dem Namen „Oberst Gustavson“ bekannten Exkönigs von Schweden), eine seltene fürstliche Erscheinung stand, und mit einem kunstsinnig geleiteten Theater ließ es sich schon in der so nordisch abgelegenen Stadt von neuntausend Einwohnern leben.

Der Vorstand gedachter Bühne, Baron von Gall, einer jener ehrenwerthen Männer, welche ausnahmsweise das Theater nicht als Steckenpferd des Vergnügens oder der Langeweile, vielmehr als Kunstinstitut betrachtet wissen wollen, suchte im Stillen wohl schon lange nach einem Manne, welcher ihm mit gleichen Gesinnungen rathend und helfend zur Seite stehen möchte. Seine Intentionen nach dieser Richtung errathend, sagte ich ihm einst, auf Mosen’s Portrait, das in meinem Zimmer hing, deutend: „Einen solchen Mann wie Mosen könnten Sie wohl hier brauchen, Herr Baron.“ – „Wirklich?“ – Und nun erzählte und berichtete ich mit solchem Feuereifer von Mosen, daß zuletzt Herr von Gall mit den Worten schied: „Nun, wenn ich nächste Ferien nach Dresden komme, wird es mich freuen, den Mann, den auch ich hochschätze, persönlich kennen zu lernen; Sie führen mich dann wohl zu ihm.“ Und so geschah’s. Beide Männer fanden sich, wie es schien, schon im ersten Augenblick, und ich, als überflüssiger Dritter, verschwand pflichtschuldigst. Im nächsten Jahre ward Julius Mosen als Dramaturg des Oldenburger Hoftheaters mit Hofraths-Charakter installirt und bezog, wenn ich nicht irre, eintausend Thaler in Gold als Jahresgehalt, welche Summe ihm auch bis an seinen Tod verblieb. Ich erwähne dies ausdrücklich, entgegen gewissen dem widersprechenden Gerüchten, die sich gar zu gern darin gefallen, den deutschen Dichter ohne Ausnahme als darbend hinzustellen.

So traf ich eines Tages zu meiner nicht geringen Freude Mosen bequem auf dem Sopha sitzend bei Baron Gall in Oldenburg. Der neue Hofrath (ich hatte ihn doch kaum erst ein Jahr nicht gesehen) schien mir beleibter geworden als früher, in seinem Wesen lag etwas Passives, das sonst seiner Natur nicht eigen war. Und dem entsprechend entgegnete er mir, wohl nicht ohne Seitenhieb auf mein zu jener Zeit etwas excentrisches Wesen, als ich nicht umhin konnte, ihn lächelnd zu begrüßen: „Aber Sie haben ja eine wahrhaft Goethe’sche Ruhe bekommen, Herr Hofrath.“ – „Ja, wir wollen auch mit Goethe’scher Ruhe an’s Werk gehen und nicht mit der Wildheit eines jungen flüchtigen Rosses.“ – Ich bekenne, das verschnupfte mich, denn solche Sprache erinnerte ich mich in früherer Zeit nie von ihm gehört zu haben.

Dennoch gewann er auch in seiner neuen Stellung durch das Ehrenfeste und die Milde seines Charakters bald die aufrichtigsten Sympathien; wie er sonst in seiner Sphäre als Dramaturg wirkte, kann ich um so weniger beurtheilen, als ich kurze Zeit darauf Oldenburg verließ – ohne den Mann wieder zu sehen, welchem diese Zeilen in pietätvoller Erinnerung gewidmet sind. Seine späteren Leiden erfüllten gewiß mit tiefster Theilnahme die Herzen der Besten des Vaterlandes und sein Tod ergriff uns Alle, – denn auch er war ein treuer Hofer, auch er lag in Banden. Er starb aber tausend Mal furchtbarer noch als Hofer, und mit bebenden Herzen hören wir eins seiner letzten Worte: „Nicht einmal meine eigenen Thränen kann ich mir selbst trocknen!“
H. Kg.




Der Arbeiterinnen Heim in New-York.


Am Nachmittag des 25. September 1867 wurde in New-York das zur Heimath für Arbeiterinnen bestimmte, durch Privatwohlthätigkeit beschaffte Gebäude in Gegenwart einer großen Anzahl von Damen und Herren aller Stände, Berufsclassen und Glaubensbekenntnisse feierlich eröffnet. Ob eine derartige Anstalt in Europa bereits existirt, ist mir unbekannt; auf unserm Continente ist sie neu und dürfte wohl um so mehr eine nähere Besprechung verdienen, als es die Absicht der edlen Unternehmer ist, ihre Zahl hier zu vermehren, und als durch diese Veröffentlichung in der Gartenlaube auch manches brave deutsche Mädchen, welches der stets schwellende Strom der Einwanderung auf diesen Menschenstrudel wirft, oder das durch unglückliche Verhältnisse hier seiner natürlichen [792] Beschützer beraubt wird, vor dem Verderben gerettet werden mag.

Wer sich das Studium der menschlichen Leiden, besonders in großen Städten, zur Aufgabe macht, wird bald zu der erschreckenden Beobachtung kommen, daß die bei Weitem meisten unserer öffentlichen Anstalten, die des Staates sowohl wie die von Gemeinden und die von Privatpersonen unterhaltenen, stets nur dahin zielen, den Gefallenen zu Hülfe zu kommen und sie wieder in ihrer eigenen Schätzung, wie in den Augen der Gesellschaft aufzurichten. Die, wie mir scheint, viel verdienstlichere Untersuchung, wie das Fallen zu verhüten, wie die Fallgruben zu beseitigen, ist leider auch von unsern edelsten und eifrigsten Menschenfreunden nicht genügend in Angriff genommen. Gerade in dieser Beziehung ist „der Arbeiterinnen Heim“ eine freudig zu begrüßende Erscheinung.

Die Ideen, welche die edlen Menschenfreunde (unter denen, wie immer, die Namen Peter Cooper und Aspinwall voranstehen) nach den bei der Eröffnung gehaltenen Reden bewegten, sind im Wesentlichen folgende: Um wirksam und hülfreich in das uns umgebende Elend und Laster einzugreifen, ist es unerläßlich, daß die beiden Classen der Gesellschaft, welche durch den Mangel an Subsistenzmitteln einerseits und durch deren Ueberfluß andererseits von einander geschieden sind, sich wechselseitig annähern. Dies kann nur dadurch geschehen, daß einestheils die erstere, die zugleich im großen Ganzen die arbeitende ist, gehoben, daß ihre Lebensweise verbessert, ihre geistige und sittliche Ausbildung befördert wird, und anderntheils, daß die begünstigte Classe – die Talentvollen, Wohlerzogenen und Reichen – es sich zur Aufgabe machen, die Mitglieder der anderen Classe in jedem Versuche, sich aus der ungünstigen Lage aufzurichten, in welche sie durch nicht abwendbare Verhältnisse gekommen, kräftig zu unterstützen. Wer einen Blick in das Elend und die Geheimnisse unserer großen Städte geworfen, dem sind die bedeutenden Schwierigkeiten, die dem Bestreben des redlichen Armen, sich aufzuschwingen, entgegentreten, und die fast unüberwindlichen Hindernisse wohl bekannt, welche in seinem Wege zu einer gesicherteren Existenz liegen. Wer aber das Studium des täglichen Lebens der Armen sich zur philanthropischen Lebensaufgabe gemacht, dem wird die betrübende Thatsache sich aufdrängen, daß in der Hast, dem Lärm, der Einseitigkeit des Geschäftslebens unserer großen Städte wenig Zeit und Mittel darauf verwendet werden, gerade da wohl zu thun, wo das dringendste Bedürfniß für Hülfe und Aufmunterung besteht. Die Arbeit der Armen ist nicht erleichtert, ihre Ruhestunden sind nicht vermehrt, ihr Hauswesen ist nicht bequemer und anmuthiger gemacht worden. Ganz besonders gilt dies von den Arbeiterinnen, von denen viele, fremd in den Städten und an die wenn auch geringen Bequemlichkeiten des Landes oder die verschiedene Lebensweise fremder Länder gewöhnt, keine Ahnung von den Gefahren haben, denen sie ausgesetzt sind.

Wir brüsten uns, daß wir mehr, als andere Nationen, Zeit auf humanitäre Studien verwenden; daß wir den unschätzbaren Werth menschlicher Geisteskräfte besser zu würdigen wissen; daß wir zu Schulzwecken mehr verwenden, als irgend eine andere Nation; daß wir in Staat und Gesellschaft unausgesetzt mit der Fortentwickelung demokratischer Ideen beschäftigt sind. Wir nehmen den theilweisen Sieg der Reformidee in England, das kräftige Auftreten unterdrückter und zersplitterter Nationen auf dem europäischen Continente theilweise als Reflexe unseres großen nationalen Sieges über die Zwietrachtselemente des Nordens und die Sclavenhalter-Aristokratie des Südens in Anspruch, und wir sollten Wahrheiten übersehen, die uns jede Straße, jedes Haus eines Armen, jede Unterhaltung mit einem solchen vor Augen führt? Wahrheiten wie diese: daß dem Arbeiter, damit er ein guter Bürger werde, die möglichst beste Erziehung geboten werden muß; daß Reinlichkeit eines der unentbehrlichsten Lebenselemente, ebenso sehr wie Kleidung und Speise ist, und vor Allem, daß die Arbeiterinnen, die künftigen Mütter von Tausenden von Bürgern, ein angenehmes Hauswesen besitzen und von Verhältnissen umgeben sein sollten, danach eingerichtet, sie außerhalb des Bereiches unlauterer Einwirkungen zu stellen. Die Verworfenheit, das Elend, die absolute Herabwürdigung, die so lange sich vereinigte, die Arbeiterinnen des Lebens und der Ehre zu berauben, sie müssen besseren Zuständen Raum geben. Die Bewegung, ihre Lage zu verbessern, ihnen Aufmunterung zu gewähren, sie über die Leiden zu erheben, welche stets im Gefolge von Sorge, Noth und Mangel sich einstellen, muß eine bestimmte Form annehmen.

Wie dies in’s Werk zu setzen, war bereits seit mehreren Jahren ein Gegenstand eingehendster Berathung seitens des Vorstandes des Arbeitshauses der Five-Points. Vor etwa neun Monaten beschlossen sie, den Versuch in der jetzt ausgeführten Weise zu machen. Bei den enormen Preisen des Eigenthums und der Rücksicht, daß die Heimath für Arbeiterinnen möglichst nahe dem unteren (Geschäfts-) Theile der Stadt gewählt werden mußte, war es schwierig, eine passende Lage und Localität zu finden. Zuletzt gelang es, zu dem Preise von 100,000 Dollars das gegenwärtige Gebäude zu erwerben, das mit einem weiteren Aufwande von nahezu 50,000 Dollars zu seiner jetzigen Bestimmung eingerichtet wurde.

Der wesentlichste Grundsatz bei der Einrichtung des „Heim“ ist, daß es nicht unentgeltlich, als ein Almosen gewährt wird, was dem Zwecke, welchen die Gründer beabsichtigen, gerade entgegen arbeiten würde. Die Anstalt soll sich selbst erhalten, zu welchem Ende jedes Frauenzimmer (die Matrone nannte sie bei meinem Besuche nie anders als the young ladies), das eintritt, drei Dollars fünfundzwanzig Cents (vier Thaler sechszehn und einen halben Silbergroschen; nach deutschen Verhältnissen etwa ein Thaler zehn bis fünfzehn Silbergroschen) die Woche im Voraus bezahlt; bei der großen Kostspieligkeit des Lebens in New-York äußerst wenig. Für diesen Betrag erhält sie Kost, Wohnung mit Bett und Wäsche. Findet sich am Ende vom Jahre ein Ueberschuß, so soll dieser auf den Namen derjenigen, welche am längsten im Heim gewohnt haben, bei einer Sparbank niedergelegt werden. Auf diese Weise hat jede Bewohnerin das Bewußtsein, daß sie selbst ihren Antheil zur Erhaltung der Anstalt zahlt, in welcher sie völlig so unabhängig ist wie in ihrem eigenen Hause.

„Ich weiß,“ sagte der ehrwürdige Vorstand, der Herr Halliday, „aus einer fünfunddreißigjährigen Erfahrung als Missionär etwas von den Versuchungen, denen junge, arbeitende Mädchen ausgesetzt sind, und wie schwierig es für sie ist, anständige und bequeme Wohnungen sich zu verschaffen. Privatfamilien sind stets abgeneigt, Kostgängerinnen aufzunehmen, die großen Kosthäuser sind ihnen thatsächlich verschlossen, und sie sind gezwungen, höchst unbequem, ja elend zu leben, weil sie außer Stande sind, die hohen Preise anständiger Logirhäuser zu zahlen. Ein hübsches, reinliches Mädchen kam gestern hierher, um sich anzumelden. Sie war überrascht und entzückt von dem Comfort der Anstalt. ‚Ach‘, sagte sie, ‚der Mangel eines Heim, wie dies, bringt die armen, braven Mädchen um.‘“

Und nun wird es Zeit, das Heim selbst zu beschreiben. Das Gebäude steht in der Elisabethstraße, nahe bei der Canalstraße. Wie der Holzschnitt zeigt, ist es sechsstöckig und hat außerdem ein Erdgeschoß. In letzterem befinden sich:

Der Waschraum, zweiundzwanzig und sechsunddreißig Fuß, mit zwei Nonpareil-Waschmaschinen und Patent-Ausringern, durch Dampf bewegt, der auch dazu verwendet wird, dem Wasser die gewünschte Temperatur zu geben, sowohl in den Waschmaschinen, wie in den fünf gegenüber befindlichen großen Waschkufen. Ueberall sind Krahnen für heißes und kaltes Wasser. Zweihundert Stücke können in der Stunde gewaschen werden.

Der Maschinen- und Kesselraum, zwanzig und vierundzwanzig Fuß. Er enthält zwei horizontale Kessel, sechsunddreißig und einhundertundacht Zoll, mit Wasser- und Dampfmesser, selbst arbeitendem Dämpfer u. s. w. In drei getrennten Röhrenleitungen geht der Dampf aus diesen Kesseln nach der sechspferdestarken Dampfmaschine, dem Dampftische in dem Speisesaale, nach den großen Kesseln in der Küche, nach den getrennten immensen Thee- und Kaffeekesseln, nach den Heißwasserbehältern auf den Gängen und nach den zur Erwärmung aller Räume und Hausfluren angebrachten Röhrenleitungen. Da das Wasser aus dem städtischen Reservoir in der Regel nur bis zum zweiten Stockwerke aufsteigt, so pumpt die Dampfmaschine große gußeiserne Wasserbehälter auf der obersten Hausflur voll, deren Inhalt zur Reinlichkeit, Bequemlichkeit und Sicherheit gegen Feuersgefahr ausreicht.

Der Trockenraum, über dem Maschinenraum und von gleicher Größe und durch eine Hebemaschine mit dem Waschraume in Verbindung. Er enthält sechszehn leichtrollende Staffeln, mit dreihundertsechszig Fuß Leine über flachen Dampfröhren und mit einem starken Zug, und eine durch Dampf getriebene Mangel, [793] fähig, dreihundert Stücke in der Stunde zu mangeln. Die Trockenröhren trocknen Gegenstände eben vom Ringen in achtzehn Minuten, geeignet, um auf die Mangel oder den Plätttisch gebracht zu werden, nach dem Verhältniß von sieben- bis achthundert Stück in der Stunde.

Der Plättraum über dem Trockenraume, dreiundzwanzig und zwanzig Fuß, mit Tischen, Eisenheizern, Dampfstärke, Kessel etc.

Die Küche, zweiundzwanzig und sechsunddreißig Fuß, enthält vier Dampfkessel für Fleisch und für Gemüse, zwei zu fünfundzwanzig Gallonen und zwei zu fünfundvierzig, einen Ofen, und einen tragbaren Backofen, der im Stande ist, fünfhundert Pfund zugleich zu braten. Eine Hebemaschine (dumbwaiter) steht in Verbindung mit dem Speisesaale.

Die Bäckerei, zweiundzwanzig und sechsunddreißig Fuß, mit einem Ofen wie der in der Küche; er hält zweihundert Laib Brod. Mulden etc. sind in genügender Zahl vorhanden, außerdem eine sehr bequeme und ingeniöse Maschine zum Brodschneiden.

Arbeiterinnen Heim in New-York.

Der Baderaum enthält zwölf Abtheilungen, jede mit einer eisernen verglasten Badewanne, heißem und kaltem Wasser, Kleiderhaken und Stühlen. Das heiße Wasser liefert ein großer eiserner in der Mitte des Raumes befindlicher aufrechtstehender Kessel, der vierhundertfünfzig Gallonen hält und, durch hundertsechszig Fuß Dampfröhren geheizt, im Stande ist, bei mäßigem Drucke dreißig Gallonen Wasser in der Minute zu heizen.

Die Keller, acht an Zahl, jeder acht und sechsunddreißig Fuß groß. Zum Aufbewahren von Lebensmitteln, Gemüsen etc., alle gut ventilirt, erleuchtet und kühl.

Mehrere Gewölbe unter dem Bürgersteg zur Aufnahme von Steinkohlen, Holz u. dergl. Alle Erdgeschoßräume sind mit Fließen belegt, die nach der Mitte zu in eine Abzugsröhre ablaufen, ausgenommen der Waschraum, der mit georgischer Fichte gedielt ist. – Ein sechs Fuß weiter Flur läuft auf der Nordseite von einem Ende des Gebäudes zum andern, mit den nöthigen Quergängen zur Verbindung aller Theile.

Längs der Südseite des Gebäudes befindet sich ein hundertfünfundsiebenzig Fuß langer und einundzwanzig Fuß breiter Hof, zur Hälfte mit Platten belegt zum Spazieren und die andere Hälfte für Blumen und Gewächse.

Bei meinem Eintritt empfing mich im ersten Stocke die Matrone des Hauses, Mrs. Porter, auf die freundlichste Weise und erklärte sich auf mein Ersuchen sofort bereit, mich durch die Anstalt zu begleiten. Das Zimmer, in dem wir uns befanden, diente zum Empfange. Sie selbst mit zwei jungen Damen besorgte hier und in dem daneben gelegenen Raume, dem Bureau, die Verwaltungsangelegenheiten, als Buchführung, Inventarisation, Casse etc. Beide Zimmer sind nett möblirt, mit Teppichen belegt und jedes von zwei dreiarmigen Gascandelabern beleuchtet.

Es folgen demnächst, direct mit dem Empfangszimmer und mit der Halle vereinigt, drei durch sehr breite Rollthüren verbundene Parlors, jedes etwa vierundzwanzig und sechsunddreißig Fuß groß. Das erste ist zur mündlichen und musikalischen Unterhaltung und zur Gesellschaft bestimmt, zu welchem Ende ein gutes Piano und eine kleine Salonorgel beschafft sind. Das zweite dient zum Lesen und Studiren; es finden sich da Zeitungen, Monatsschriften und der Anfang einer Bibliothek von populären Werken. Ich erbot mich im Namen der Gartenlaube, ein Exemplar derselben zu senden, und bitte mich nicht zu desavouiren. Das dritte Parlor dient für die mit weiblichen Handarbeiten u. dgl. beschäftigten Mädchen, in welch’ nützlicher Beschäftigung auch Unterricht ertheilt wird. Willcox und Gibbs haben dieser Abtheilung drei ihrer geräuschlosen Nähmaschinen (noiseless sewing machines) zum Geschenke gemacht. Die Bewohnerinnen arbeiten nur für sich, nie für die Anstalt. Diese drei Parlors sind freundlich tapezirt, mit hübschen Teppichen belegt und von zehn dreiarmigen Gascandelabern erleuchtet.

Der Speisesaal zerfällt in vier Abtheilungen, welche ganz in derselben Weise wie die der Parlors unter einander verbunden werden können. Er ist mit drei Zwanzig-Gallonen-Kesseln für Thee, Kaffee und heißes Wasser, einem Dampftisch, um die Speisen warm zu halten, zweckmäßig eingerichteten Ablaufständern zum Spülen und Trocknen des Porcellans, Hebemaschine von der Küche und über achtzig Tischen, jeder für die sechs Bewohner eines Schlafraumes bestimmt, versehen. Vierzehn zweiarmige Gasleuchter erhellen diese Räume.

Das Eishaus versorgt Empfangszimmer, Bureau, Parlors, Speisesäle und eine Fontaine in der Mitte des Corridors auf jedem Stockwerke mit der köstlichen Labung des Eiswassers. Die übrigen fünf Stockwerke sind unter sich ganz gleichmäßig eingerichtet. Sie sind mit Krahnen für kaltes und heißes Wasser und deren Ableitung ausgestattet, an den Enden jedes Corridors mit Gasreflectoren, welche auch während der Nacht brennen, erleuchtet und mit acht Abtritten an jedem Ende jedes Corridors versehen. Die Corridore sind so weit, hoch, luftig und mit allen Bequemlichkeiten versorgt, daß sie in ihrer Länge von je zweihundert Fuß und sechs und ein halb Fuß Breite bei jedem Wetter und in jeder Jahreszeit eine angenehme Promenade gewähren.

Für die Beamten, deren Gehülfen und die Dienstboten, im Ganzen ungefähr dreißig, sind auf jedem Stockwerke an beiden Enden des Gebäudes ein Wohnzimmer, zwei Schlafräume und ein Gang vorbehalten. Auch der Ingenieur wohnt daselbst.

Für die aufgenommenen Frauenzimmer sind auf jedem Stockwerke zwölf Schlafräume bestimmt, von welchen jeder durch je zwei gegenüber liegende Fenster leicht zu lüften ist. Jeder Schlafraum enthält sechs Bettstellen, theils von Eisen, theils von Holz, mit sechs auf Springfedern ruhenden Latten als Auflage für die gut gestopften Matratzen, schwere leinene Laken mit blendend weiß überzogenen Kissen, Wolldecken und Bettdecken, sechs nette und starke Stühle, einen runden Tisch, zwei schön angestrichene Waschtische, sechs größere Geschirre zum Wasserabschütten, sechs Waschbecken, Eimer, Handtücher, Spiegel u. s. w. bis zur Seife, fünfzig Kleiderhaken und darüber fünfundzwanzig Fuß Bretter zum Auflegen, Kamin und Gaslicht. Letzteres findet sich sogar in [794] den Baderäumen, um den Arbeiterinnen, die den ganzen Tag aus sind, den Luxus eines Bades noch am Abende oder Morgens frühe zu gewähren.

Die Gesammtzahl der Schlafräume beträgt achtzig, welche also vierhundertundachtzig Frauen aufnehmen können; öffentliche oder gemeinschaftliche Räume sind neun vorhanden, die einen Flächenraum von sechstausend sechshundert Quadratfuß besitzen. Der Industrie und dem Geschäfte sind elf Räume gewidmet; Aborte giebt es sechsundneunzig. Die Corridore, ausschließlich der Treppen, haben einen Flächeninhalt von mehr als zwölftausend Quadratfuß, der Hofraum von mehr als viertausend.

Die einzige Arbeit, welche von den Kostgängerinnen verlangt wird, ist, daß sie am Morgen ihr Zimmer aufräumen und ihr Bett machen. Selbst das Fegen und Reinigen thun die Dienstboten und schütten den Kehricht in ein auf jedem Corridor dazu bestimmtes, mit einem Deckel versehenes großes Gefäß von Eisenblech.

Einen höchst angenehmen Eindruck macht die überall sichtbare scrupulöseste Reinlichkeit, über die ich mich nicht enthalten konnte, Mrs. Porter meine Anerkennung auszusprechen, und besonders dankbar und rühmend muß es, bei dem sich sonst stets in derartigen Angelegenheiten dick thuenden Sectarianismus, anerkannt werden, daß keine Einwohnerin nach ihrem Glaubensbekenntnisse auch nur befragt werden darf und daß auch in religiöser Beziehung ihnen eine gleiche Freiheit zusteht, als lebten sie im eigenen Hause. Die Hausordnung ist folgendermaßen regulirt. Um halb sechs Uhr des Morgens wird das Zeichen zum Aufstehen gegeben, und um halb sieben Uhr das aus Kaffee, Weißbrod, Butter und einer Fleischspeise, Beefsteak oder Haché, Fricandellen und dergleichen bestehende Frühstück eingenommen. Um sieben Uhr gehen die Mädchen aus und nehmen ihren Lunch (Butterbrod mit einem feinen Gebäcke, wie Ingwerkuchen, Teignüsse und dergleichen) mit sich. Gewöhnlich kommen sie gegen fünf Uhr Abends nach Hause. Um halb sechs Uhr wird das Diner genommen. Es besteht aus zwei Fleischspeisen, worunter immer Roastbeef, zwei Gemüsen neben Kartoffeln, Butterbrod und Thee. Nach dem Diner begeben sich die meisten der Bewohnerinnen nach den glänzend erleuchteten Parlors, wo jede thut und treibt, wozu sie eben Lust hat. Um neun Uhr wird eine Hymne oder sonst ein religiöses Lied gesungen. Um elf Uhr müssen alle zu Bette sein, und die Gasflammen in den Zimmern werden gelöscht.

Ob dieser Versuch gelingen mag, ob die edlen Absichten der menschenfreundlichen Begründer sich verwirklichen werden? Wer kann es voraussagen? Falsche Scham, unrichtige Auffassung, jene entsetzliche Gleichgültigkeit, die so oft Folge von harten Schicksalsschlägen ist, der Egoismus der Lasterhaften unter dem stärkeren Geschlechte und aller Derjenigen, die aus dem Beköstigen derer, für welche die Anstalt berechnet ist, ein Geschäft machen, werden ohne Zweifel Schwierigkeiten und Hindernisse aller Art heraufbeschwören, allein ich habe das feste Vertrauen, daß dennoch viel Gutes durch der Arbeiterinnen Heim bewirkt, manche halb Verlorene aufgerichtet werden wird.
C. R.




Wie werden Moden gemacht?
Von Eugen Laur in Paris.
Die Arbeiterin-Modellistin. – Zündnadelgewehr als Tuchnadel. – Der Preuße und der deutsche Michel. – Schicksal einer Modedame auf dem Maskenball. – Die öffentlichen Bibliotheken als Modejournale. – Die Musterbureaux. – Die Ausstattungsstücke der Theater. – Die Kaiserin und die Lyoner Seidenfabrikanten. – Die Anilinfarbe. – Couleur Bismarck und Vert Metternich. – Die „sterbende Kröte“ und der „ohnmächtige Floh“. – Die Reclame.


Wer in Paris die großen und die kleinen Boulevards auf- und niederwandelt oder selbst in die Querstraßen derselben einbiegt, gewahrt überall Laden an Laden, Schaufenster an Schaufenster, und darinnen zahllose Waaren der verschiedensten Gattungen und Formen aufgestapelt. Dem aufmerkenden Beobachter entgeht nicht, daß die ausgestellten Gegenstände fast täglich wechseln und immer, freilich manchmal nur geringe, Veränderungen oder Verbesserungen zeigen. Wo bedeutendere Fabriken ihre Producte durch Detailverkäufer dem Publicum vor Augen führen, ist das Räthsel nach dem Ursprung der stetigen Abwechselung leicht gelöst. Jede Fabrik besitzt ihre Musterzeichner, die Jahr aus Jahr ein keine andere Beschäftigung haben, als neue Combinationen zusammenzustellen; ein Muster, das dem allgemeinen Geschmack entspricht und „Mode“ wird, vermag einen Fabrikanten zum reichen Manne zu machen. Denn natürlich, wie eine Melodie in den verschiedenen Tonarten sich wiederholen läßt, kann eine Zeichnung in den verschiedensten Farben und Größen gegeben werden, so daß das Probensortiment eines Musters oft mehr als einhundert Nummern umfaßt. Aber das Pulver ist nicht von den Soldaten, das Teleskop nicht von den Astronomen erfunden worden; so geschieht es, daß die glücklichsten Muster oder Modelle nicht immer von denen erdacht werden, die aus der Erfindung ihre Specialität gemacht haben. Ueberdies sind viele Händler nicht im Stande, eigene Musterzeichner zu unterhalten oder deren eine genügende Anzahl zu beschäftigen. Man ist deshalb auf eine „Theilung der Arbeit“ verfallen. In einem sogenannten Confectionsgeschäft, Wäschemagazin, in Putzhandlungen u. dgl. meldet sich eine Arbeiterin, um „Beschäftigung im Hause“ zu verlangen. „Wir sind bereit, Ihnen Aufträge zu geben,“ heißt es gewöhnlich, „aber – bringen Sie uns ein Modell, das uns gefällt.“ Gelingt es der Arbeiterin, z. B. ein Modell für einen Damenmantel zu finden, welches den Beifall des Patrons gewinnt, so hat sie Beschäftigung auf längere Zeit, denn nur sie allein ist Eigenthümerin des Modells, sämmtliche Copien dürfen nur bei ihr bestellt werden und es ist selten, daß der Auftrag auf weniger als ein paar Dutzend lautet. Das begreift sich, da der Engroshändler jedem seiner Detaillisten mindestens ein Exemplar oder zwei als Probe zusenden muß, um weitere Bestellungen aufzunehmen.

Doch was ist ein Muster! Jeder Tag sieht in jedem Zweige hundert neue auftauchen, es gilt, den Concurrenten zuvorzukommen, sie zu übertreffen, den Augenblick zu erhaschen und dabei mit einem neuen Modell hervorzutreten nicht eher, als nach Anfertigung einer größeren Collection, die dem Andrange von Aufträgen sofort zu genügen im Stande ist. Hat das Modell einmal Verbreitung und Anerkennung gefunden, flugs macht der Concurrent es nach, indem er kleine Modificationen anbringt, schlechteres und deshalb wohlfeileres Material verwendet, also zu geringerem Preise liefern kann. Nicht nur doppelt giebt, wer schnell giebt, sondern zehnmal mehr verkauft, wer schnell liefert. Nach der Schlacht von Sadowa wurden Tuchnadeln in Form von Zündnadelgewehren auf den Markt gebracht und gingen zu Hunderttausenden ab. Vier Wochen später, als man in Frankreich aufgehört hatte zu bewundern und anfing zu beneiden, wollte kein Mensch mehr eine solche Nadel tragen. Vor Beginn des Krieges hielt man an allen Straßenecken für ein paar Sous einen „deutschen Michel“ feil, der einen Preußen an den Ohren gefaßt hatte und mit Hülfe eines Gummifadens Sprünge machen ließ. Vier Wochen später tanzte der deutsche Michel und der Preuße hielt ihm die Ohren. Bei solchen Spielereien, an denen viel Geld verdient wird, wie wenig sie auch kosten mögen, zeigt sich am schnellsten die dem Verkauf nachtheilige Wirkung des Anachronismus und die tiefe Wahrheit des englischen Sprüchworts: Zeit ist Geld.

Indessen fragt sich, woher die Arbeiterin – es mag bei dem Beispiele einer „Confection“ bewenden – das neue Muster nimmt, das natürlich zuerst von weißem Mousselin (mousseline raide) gefertigt wird und dessen Aufputz und Nähte nur durch Stiche von dunkler Farbe angedeutet sind. Viele Quellen bieten sich dar, aus denen eine intelligente Näherin zu schöpfen vermag. Zunächst der eigene Kopf, aber das ist alsdann keine Besonderheit dieser Art von Arbeiterinnen, sondern allen Erfindern gemeinsam. Ferner die Kundschaft von Frauen, welche vorziehen, den selbst ausgedachten Gedanken durch eine wenig bekannte Schneiderin ausführen zu lassen, statt einem Meister sich anzuvertrauen, der nicht verabsäumen würde, das Geschmackvolle als seine Idee noch anderen Damen zu empfehlen und dadurch der Erfinderin ihr Hauptvergnügen – alleinigen Besitz – zu rauben. So hatte eine durch die hohe diplomatische Stellung ihres Gemahls wie die eigenen [795] Excentricitäten ausgezeichnete Dame für den im Januar d. J. beim Marineminister gegebenen Maskenball ein Costüm zusammengestellt, von dessen Wirkung auf Männer und Frauen sie sich Außerordentliches versprach. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß dem Schneider die tiefste Verschwiegenheit zur Pflicht gemacht worden. Die Leistung des Costumiers entsprach vollkommen den Wünschen der Auftraggeberin. Ein siegesgewisses Lächeln umspielte den stets schlagfertigen Mund, als die Dame von ihren Kammerfrauen sich ankleiden ließ; sie zögerte und zögerte jedoch mit der Abfahrt zum Balle, um erst zu erscheinen, wenn der Saal bereits gefüllt wäre, und möglichst allein einzutreten, damit die bewundernden Blicke ihr ungetheilt zufielen. Wie erstaunte sie, beim Eintreten nur mit einem heiteren Lächeln begrüßt zu werden! Anfangs schrieb sie die Zweifelhaftigkeit dieser Huldigung dem Gefühle des Neides ihrer Rivalinnen zu, bald aber sah sie – vier dem ihrigen vollkommen gleiche Costüme und zwar von jungen Männern getragen. Die Sache verhielt sich einfach so: eine Nebenbuhlerin um die Krone der ersten Modedame hatte einen Gesellen des Schneiders zu bestechen gewußt, mit Hülfe des Verrathes vier jungen Männern die Copien anfertigen lassen und, der Himmel weiß durch welche Versprechungen, die Mitglieder des starken Geschlechts zu jener Vermummung bewogen.

Sodann benutzen Arbeiterinnen die Schätze der öffentlichen Bibliotheken. Es ist durchaus nichts Seltenes in dem weiten Saale der Richelieustraße, neben alten pedantischen Gelehrten, die in einem schweren Folianten vergraben sind, junge Mädchenköpfe zu sehen, welche in alten Modejournalen oder Costümsammlungen blättern und mit flinker Hand hier einen Ausputz, dort die Form eines Gewandes abzeichnen und, was sie Schwarz auf Weiß besitzen, getrost nach Hause tragen, um es in vergrößertem Maßstabe den Patronen vorzulegen. Diese geben dann wohl Rath zu kleinen Veränderungen und Combinationen, wobei wieder ein Unterschied in der Beurtheilung sich geltend macht; die einen suchen möglichst wenig, die andern möglichst viel Stoff für das Kleidungsstück zu verwenden, denn Manches findet nur Anklang, weil es kostspielig ist, Manches wird nur angenommen, weil es wohlfeil sich herstellen läßt.

In Ermangelung selbst eines geringen Grades von Vorkenntnissen – die Mehrzahl der Arbeiterinnen verstehen weder zu schreiben noch zu lesen, geschweige denn zu zeichnen – nehmen die Arbeitsuchenden ihre Zuflucht zu den Musterbureaux d. h. Anstalten, welche einzig und allein mit der Anfertigung von Modellen in weißer Steifleinwand sich beschäftigen, zu verhältnißmäßig geringem Preise – fünf bis zehn Franken – das Stück verkaufen und streng darauf achten, niemals zwei durchaus gleiche Muster zu liefern. Die Frage liegt nahe, warum die Fabrikanten sich nicht direct an diese Bureaux wenden, statt auf die Auswahl der Arbeiterin sich zu beschränken und zu verlassen. Der Grund ist einfach – Kostenersparniß. Ein einigermaßen ausgedehntes Geschäft bringt jährlich mehre tausend „Nummern“. Die hierfür zu zahlende Summe wäre beträchtlich und wird geradezu erspart, denn der Fabrikant müßte doch eine Arbeiterin suchen, welche die Ausführung übernähme, und einmal gefunden, hätte sie bei der Anfertigung nicht dasselbe Interesse wie für das ihr zugehörige Modell. Natürlich ist nicht gesagt, daß die Fabrikanten niemals den von ihren Arbeiterinnen gewöhnlich eingeschlagenen Weg betreten, nur ist es meistentheils nicht der Fall.

Große Hülfe gewähren ferner die sogenannten Ausstattungsstücke in den Theatern, z. B. Variétés, Gymnase, Porte St. Martin, Gaîté, Châtelet und sogar Comédie française. Ueber das Glück vieler Piècen entscheidet einzig das weibliche Publicum und bei Kritikern dieser Gattung thun die Costüme außerordentlich viel. Was wäre z. B. die „Familie Benoiton“ gewesen ohne die excentrischen Costüme? Oder hätte das Gymnase den „Don Quixote“ des Moniteur-Geranten Paul Dalloz angenommen, wäre nicht bei der Aufführung ein gewisser Luxus zu entfalten gewesen? Schauspieldirectoren in Paris müssen ihr Metier und die schwachen Seiten der Menge gründlich verstehen, um bei den ungeheuern Kosten noch reichen Ueberschuß erzielen zu können. Deshalb wird von ihnen „für die würdige Ausstattung nichts gescheut“. Sie wenden sich an die talentvollsten Maler und lassen von diesen die Muster der Costüme zeichnen, die Zusammenstellung der Farben und – des Faltenwurfs wegen – die zu verwendenden Stoffe bestimmen. Ein Gustav Roux, Gustav Doré, Beaucé, Godefroy Durand weigern sich keinen Augenblick, ihren Crayon irgend welchem Theater zur Verfügung zu stellen, und die ersten Schneider beeifern sich, die Costüme für ein paar Hauptpersonen unentgeltlich herzustellen. Denn mit vollkommener Sicherheit ist darauf zu rechnen, daß, wenn das Stück Beifall findet, die in demselben vorkommenden Toiletten Mode werden und dem Schneider Kundschaft eintragen, die ihn für den Verlust zehnfach schadlos hält. Aufmerksame Arbeiterinnen versäumen daher nicht, die zu Ruf gelangten Piècen – ganz abgesehen von der allen Französinnen innewohnenden leidenschaftlichen Neigung für das Theater – sobald wie möglich zu sehen.

Daß nicht selten durchaus äußerliche Veranlassungen Annahme irgend einer Kleidungsform bewirken, darf als bekannt vorausgesetzt werden, denn die Geschichte der Crinoline, der Allongenperrücke etc. ist in Aller Gedächtniß. Die Mode beschränkt sich aber nicht allein auf den Schnitt des Kleidungsstückes, sondern sie beherrscht in gleichem Grade den Stoff und die Farbe. „Sonst war unschwer,“ schreibt ein gründlicher Beurtheiler der Universalausstellung von 1867, „die Bekleidungsgegenstände einzutheilen je nach dem Stoffe, aus dem sie hergestellt waren: Wolle, Leinen, Seide, Baumwolle. Schon seit geraumer Zeit sind die verschiedenen Mischungen (Verzeihung dem ungenauen Ausdrucke!) von Wolle und Seide, Seide und Baumwolle, Seide und Leinen etc. als gleichberechtigt aufgetreten. Die letzten Jahrzehnte sahen noch andere Fasern reichlich verwenden: die Ziegenhaare, den Manillahanf u. dgl. m., die wieder neue Verbindungen mit den älteren eingehen und so ihre Multiplication weit über die pythagoräische Tafel hinaus steigern.“ Hier tritt nun als wesentliches Moment für die Möglichkeit, einen Stoff in die Mode zu bringen, der Kostenpunkt mit ein. Spitzenkleider, wie das Marsfeld dergleichen gesehen, deren jedes zweihundert Arbeiterinnen drei Jahre lang in Anspruch nimmt, werden nie dem Mohair oder Alpacca an Absatz gleichkommen, die Foulards und Marcellines haben von den Lyoner façonnirten Lizerés Concurrenz nicht zu befürchten, denn die Mode ist durchaus demokratischer Natur, sie basirt sich auf Betheiligung der großen Masse und hierdurch wird erklärt, daß bei ihr mit Gewalt und Zwang sich nichts ausrichten läßt. Als vor Jahresfrist die schlimme Lage der arbeitenden Classen in der zweiten Hauptstadt Frankreichs zu bedrohlicher Höhe gelangt war, verkündete der Staatschef, man werde von oben herab dem Handel und Verkehr neue Impulse geben. Kaiserin Eugenie bestellte mit einem Male vierundzwanzig façonnirte Seidenkleider in Lyon und sprach ihren Hofdamen den Wunsch aus, sie künftig nicht zu selten in denselben Stoff gekleidet zu sehen. Die Frauen einiger Gesandten und den Tuilerien nahe stehenden Beamten folgten schleunigst diesem Beispiel, aber es war wie ein Tropfen Wasser auf glühendem Stein im Augenblick verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen. Aehnliches war schon 1852 geschehen. Das Kaiserreich begünstigte das Börsenspiel, reizte zu großartigen, aber ungesunden Handelsunternehmungen, schuf Eisenbahnen, die durch kein Bedürfniß gefordert waren, und spitzte den Stachel, der ohnedies in jedem Franzosen steckt, nämlich die Sucht schnell reich zu werden und den Reichthum durch äußeren Glanz zu zeigen. Der Luxus stieg mit jedem Tage. Bei der Wahl der Toilette, namentlich in gewissen Kreisen, wurde nicht mehr auf Geschmack, sondern auf Kostbarkeit gesehen, und die Ausstellung von 1855 erwies bereits, daß die Fabrikanten diesem unsinnigen Streben zu Hülfe kamen; sie überboten einander in Reichhaltigkeit und Größe der Dessins und in der Höhe der Preise. Aber das Gesetz der Pendelbewegung ist ein ewiges, der Rückschlag konnte nicht ausbleiben.

Der Schwindel war entlarvt, die plötzlich erworbenen Vermögen schmolzen ebenso rasch zusammen, die sogenannte grand monde wollte von der demi-mondedurch Einfachheit sich unterscheiden und überließ die auffallenden Costüme denjenigen, welche davon leben, die Augen der Menge zu reizen. Vergebens alle Anstrengungen der Fabrikanten Lyons, die öffentliche Gunst zu bewahren! England, Preußen, die Schweiz machten sich selbständig in der Seidenindustrie, lieferten wohlfeile, einfache Waaren; Nordamerikas excentrische Neigungen waren durch den Bürgerkrieg abgekühlt: so stehen die Webstühle an der Rhone still, bis ihre Inhaber sich werden entschlossen haben, dem Geschmack der Menge Gehorsam zu zeigen. Unterwirft die Mode sich nicht dem Befehl von oben, so ist ihr Verspottung und Verhöhnung gewiß gleichgültig. Beweis die aus England herübergekommene Art, die langen [796] Enden des um den Hals geschlungenen Bands auf den Rücken hinabflattern zu lassen. Die Franzosen bezeichneten bekanntlich diese Wimpel der heirathssüchtigen Canalnachbarinnen mit dem Namen „Suivez-moi, jeune homme“, doch das that der Verbreitung ebensowenig Eintrag, wie vor einigen Jahren der „letzte Versuch“ den runden Strohhüten Abbruch verursachte.

Daß auch die Farbe Modesache ist, bedarf nicht des Beweises, es genügt zu erinnern, daß selbst die Farbe des Trauergewandes, der Sargbekleidung bei verschiedenen Völkern und sogar bei dem nämlichen wechselt. Im Allgemeinen ist bei den gebildeten Völkern der Farbensinn erloschen, besonders in der Kleidung der Männer wird jede volle Farbe verachtet und nur die schmutzige gefällt. In Bezug auf den Anzug der Frauen schien Aehnliches Platz zu greifen, aus den Collectionen der Fabrikanten verschwanden mehr und mehr das Jugend athmende Rosa, das leuchtende Himmelblau, die sogenannten unbestimmten Farben bildeten den Hauptartikel für den Absatz. Da trat durch die schöne Erfindung Nicholson’s und Perkins’ mit einem Male vollkommener Umschlag ein. Die Anilinfarbe erweckte die Lust am Farbenschmucke, Rosa, Himmelblau, Violett fanden wieder lebhaften Anklang. Das Roth der „brennenden Liebe“ brach sich Bahn für Ober- und Untergewänder, ja, es erstreckte sich in Paris sogar bis auf die Haare. Jeder Tag bringt eine neue prächtige Nüance und ihrer Einbürgerung schadet nicht die Gewißheit geringer Dauerhaftigkeit: schmeckt die Pfirsich weniger, weil man in einer Minute sie verzehrt hat?

Besonders Violett errang großen und dauernden Beifall, wenn auch die Aesthetiker es zu den beunruhigenden Farben zählen; zunächst verdankt es die Gunst dem Umstande, daß es die Farbe der napoleonischen Blume ist, sodann – und das ist durchschlagend – weil es zu den kleidsamsten gehört und deshalb von Madame Eugenie bevorzugt wird. Nicht ohne Einfluß auf die Wahl bleiben Ereignisse, mögen sie nun tiefere oder nur oberflächliche Bedeutung haben. Es ist noch nicht allzulange her, daß in gewissen Ländern die grauen Calabreser verboten waren, in Rußland und Polen auf Roth, Schwarz und Grün (vergossenes Blut, Trauer, Hoffnung auf Wiederherstellung Polens) gefahndet wurde, und gegenwärtig sollen die rothen Flanellhemden an der Tiber nicht gerade wohlgelitten sein.

Andererseits pflegten auf den französischen Rennbahnen die Damen der Mitglieder des Jockey-Clubs in den Farben des Grafen von Lagrange zu erscheinen, weil man dessen Pferden Sympathien bezeigen wollte. Während des italienischen Krieges von 1859 trugen die Pariserinnen am liebsten Weiß-Grün-Roth. Augenblicklich gefallen sie sich in dunkelblauen Tuchkleidern mit gelben Knöpfen, vielleicht – wie man scherzend sagte – um die Franzosen an den Anblick der preußischen Uniformen zu gewöhnen. Und daß selbst die Bezeichnung der Farbe nichts Gleichgültiges hat, ergiebt sich aus dem Eifer, mit welchem die verschiedenen „Bismarck“ und jetzt das „Vert Metternich“ aufgenommen werden. Shakespeare meint freilich, die Rose, wie sie auch hieße, würde lieblich duften, die Farbenerfinder und Färbereibesitzer sind aber anderer Ansicht und wissen, was der Name bei der großen Menge zu bedeuten hat. Und diese Erfahrung datirt nicht von heute. In einem 1819 zu Paris erschienenen „Essai sur l’Esprit de Conversation et sur quelques moyens de l’acquérir“ (Versuch über den Geist der Conversation und über einige Mittel, ihn zu erlangen) wird ausdrücklich angerathen, die Lieblingsfarben der Damen gesprächsweise zu loben, und als diese Favoriten werden genannt: „crapaud expirant“ (sterbende Kröte) und „puce évanoui“ (ohnmächtige Floh). Räthselhaft bleibt aber in den meisten Fällen der Grund für den plötzlich allgemeinen Beifall, dessen eine Farbe oder Nüance sich erfreut; jahrelang ist sie dem Publicum vorgelegt worden, ohne Beachtung zu finden (dasselbe gilt von Stoffen); mit einem Male wirft sich der Geschmack auf das lange Unbeachtete oder gar Verachtete und kauft zu erhöhten Preisen, was als „Ladenhüter“ schon werthlos erschienen war. Vermuthlich hängt viel davon ab, mit welchem Geschick die Reclame in’s Werk gesetzt wird. Denn wenn die Mode eine Göttin, so ist die Reclame, der Iris gleich, ihre Botin, die windesschnell dahinfährt,

„Wie wenn der Schnee aus Wolken daherfliegt, oder der Hagel
Kalt und geschnellt vom Stoße des hellanwehenden Nordwinds.“

Und wie Iris speciell der Here angehört, so ist die Reclame recht eigentlich im Besitze der Pariser. Sie kennen dies Geheimniß, als ob sie alle von Vater Barnum abstammten, jedes Mittel wird durch den Zweck geheiligt, jeder Weg ist ihnen recht, wenn er nur zum Ziele – des Bekanntwerdens – führt. In ihrem Dienste stehen die Zeitungen, die Hauswände, die Bretterverschläge, die Eisenbahnhöfe, Bühnenvorhänge, Kammerfrauen, Omnibusdecken, Frachtwagen. Nur auffallen! heißt die Parole sämmtlicher Regimenter, welche im Dienste der Reclame stehen. Und wenn irgendwo das Feld günstig für ihren Sieg, so ist es wiederum Paris und Frankreich, das sogar um eines Namens willen die jetzige Regierung sich gab und – erträgt.




Der Habermeister.
Ein Volksbild aus den bairischen Bergen.
Von Herman Schmid.
(Schluß.)


„Ja, ich will!“ sagte Franzi fest und innig. „Ich will den Großvater bereden, daß er mit mir auf’s Land geht, es wird ihm gut thun; bei der alten Bas’ auf dem Oedhof will ich mich einquartieren und will warten, bis das Frühjahr da ist, und wenn Deine Lieb’ nit vergangen ist mit dem Schnee – ob Du wirklich kommst und holst mich ab als Deine Braut…“

Die erste Umarmung, die Wonne des ersten Kusses überströmte das selige Paar. Der biedere Lehrer, der in stiller beobachtender Freude bei Seite gestanden, trat herzu, von Franzi auf’s Freudigste begrüßt, und schüttelte den Freunden glückwünschend die Hand; sagen konnte er nichts, weil Rührung ihm die Stimme erstickte. Susi mit den Ordensschwestern war verschwunden; sie wollten nicht Zeugen eines Glückes sein, das ihren Bahnen so ferne lag, und wollten nicht stören, was selten so schön und wohl kaum jemals an solchem Orte erblühen mochte. Es dauerte lange, bis Alles beiderseits erzählt und durchgesprochen war; gewährte es doch einen eigenen unsäglichen Genuß, all’ das nun süß gewordene Leid der Vergangenheit noch einmal durchzuleben und gemeinsam noch einmal zu ertragen. Jede geknickte Blüthe wurde betrauert, jeder zertrümmerte Augenblick beklagt und dann der Triumphzug begonnen in das offen und schrankenlos ausgebreitete Bereich der Zukunft und im Voraus schon jede Stätte bezeichnet für ein Haus des Glücks, einen Tempel des Friedens oder eine Laube der Liebe.

Als sie schieden und Sixt mit dem Lehrer im Gasthofe angelangt war, wollte kein Schlaf in seine Augen kommen; mit vollem Herzen schritt’ er noch lange unstät und ruhelos hin und wieder und doch hatte er noch nie so selig gewacht. Er trat an’s Fenster, öffnete es und ließ einige Augenblicke den frisch kühlenden Odem der Winternacht um sein glühendes Antlitz wehen – da klangen auf allen Thürmen gewaltig und feierlich die mitternächtigen Glocken zusammen, welche die Geburt des Weltheilands verkündeten; sein Herz erglomm im Gefühle andächtigen Dankes und über den schneebedeckten Giebeln aus dem tiefblauen Nachthimmel grüßte ihn, wie damals vor der Waldcapelle, das Sternenauge der Liebe, diesmal aber schimmernd in Thränen der Freude!


Und der Frühling kam! Schöner kam er und früher als manch’ anderes Jahr; die Sonne schmelzte frühzeitig den Schnee auf den Bergen, daß die vollen Bäche freudebrausend hernieder stürmten, wie Boten, die von der Hochwacht aus den Einzug eines nahenden geliebten Fürsten gesehen und nun in die Niederungen eilen, die fröhliche Kunde hinab zu tragen in die Thäler und hinaus in das flache Gefild. Die Sträucher und Bäume am Weg hörten die lustige Botschaft zuerst und zogen ringsum die weißen und rothen Blüthenfahnen auf und begannen sich mit grünen Blattgewinden zu kränzen. Die Sänger in den Büschen

[797]

Das Tabakscollegium in der Dorfschule.
Nach dem Originalgemälde von Karl Schlösser.

[798] waren auch nicht lässig mit Schlagen und Pfeifen und Trompeten, wie es geziemender Brauch ist bei einem rechten Fest, und am Aichhof trafen die Schwalben ein und rüsteten sich zum Bau, wo sie noch jedes Jahr genistet. Sie kündeten dem Herrn des Hofes, daß er sich jetzt aufmache die Braut zu holen, hätt’ er dazu eines andern Mahners bedurft, als den Weckruf in seinem Herzen.

Schön und stattlich lag der Aichhof da, schier wie ein Herrenschlößlein mitten in einem breiten kurz bewachsenen Rasenstück, durch welches ein paar Wege sich zogen, so blank und fest wie der kunstreichste Parkgärtner sie nicht schöner zu schaffen vermag. In weitem Viereck, wie eine natürliche Grenze, waren Lindenbäume umher gereiht, wohl ihrer zwölf, deren einer mit dem andern in der Mächtigkeit des Stamms, in der Kraft des Astwerks und dem Reichthume der Laubkrone wetteiferte, deren jeder für sich allein als der schönste erschien. Hinter ihnen stieg seitwärts ein sanfter Hügel empor, reich bewachsen mit Hasel und Schlehe, Weinschärl und Pfaffenhut, behangen mit den Ranken und Schlingen der Ackerwinde und der Zaunwurz, gekrönt von drei mächtigen Eichbäumen, von denen schwer zu sagen war, ob sie mehr ihres Alters wegen Verehrung heischten oder Bewunderung ob ihrer Schönheit. Sie waren es, die, seit Jahrhunderten es überragend, dem Gehöfte am Fuße ihres Hügels den Namen gegeben. Ein kleines offenes Capellchen, aus Feldsteinen schlecht und recht aufgebaut, mit einem hölzernen Schutzdach davor und einem Betschemel, der zugleich als Ruhebank diente, war unter ihnen angebracht; von dort öffnete sich nach allen Seiten hin der Ausblick in’s Land, daß man den tüchtigen Sinn begreifen und verehren mußte, der schon vor grauen Jahren Capellchen und Bäume wie Merkzeichen gepflanzt und aufgestellt hatte, damit in alle Zeiten hinaus Niemand des Weges gehe, ohne stillstehend die vor ihm ausgebreitete Herrlichkeit zu genießen und einen erhebenden Gedanken mit sich fortzunehmen. In dreifacher Richtung, in einem riesigen Rundbogen lag das ganze Innere der nahen und ferneren Bergwelt aufgeschlossen und hingebreitet, mit Rücken und Stöcken, Wänden, Schrofen, Höhen und Zacken, mit Schneefeldern, Gletschern, Wald und Fels, ein im Sturme zu Stein gewordenes Urmeer. Davor zog sich der reizende Gürtel des hügelig anstrebenden Vorlandes in sanfter Umschlingung hin, aus Wiesengrün gewoben, schattirt mit Fruchtland und Waldesdunkel, mit weiß schimmernden Thürmen, Dörfern und Schloßgiebeln wie mit Juwelen gestickt. Nach der vierten Seite drang das Auge in das offene ebene Gefild, über Ortschaft und Landschaft, zwischen schimmernd hingeworfenen Flußbändern, fruchtbarem Gelände und darein gleich Spiegeln eingelassenen Seebecken bis an den fernen, im westlichen Sonnengolde verschwimmenden Horizont.

Es war ein Abend zu Ende des Mai.

An den Laubengängen des Aichhofs waren junge Birkenstämmchen aufgestellt, vor der Thür prangten ein paar größere, die Gräd’ vor demselben, die Stufen herunter und die Wege waren mit frisch gemähtem, duftigem Grase bestreut, damit die neue Aichbäuerin darüber ihren Einzug halte, denn heute war Sixt ausgezogen, die Erwählte vom Oedhofe abzuholen, zur Kirche zu geleiten und dann sie einzuführen in den mit so viel Leid verlassenen lieben Aichhof, in den sie nun wiederkehren sollte unter noch zehn Mal größerer Freude. Die Knechte und Mägde in ihrem besten Gewand, mit ihren weißesten Hemdärmeln und Schürzen angethan, standen und schlenderten erwartend umher, der Hütbube aber mit dem Baumeister war beschäftigt, droben unter den Eichen ein paar Böller zu laden und zu richten, damit ja nichts fehle an den landesüblich ländlichen Feierlichkeiten des Einzugs.

Es war auch lange her, daß in den Bergen keine so glänzende Hochzeit gefeiert worden war, als die des Aichers von Aich mit der Franzi von der Kreuzstraße; Beide waren bekannt und beliebt, von Beiden hatte es so viel und vielerlei zu reden gegeben; es hatte zuerst kein Mensch daran gedacht, daß diese Zwei ein Paar werden würden, und nun hatten sie sich doch gefunden, und kein Bauer und Gütler in der Umgegend, der es irgend vermochte, unterließ es, bei der Hochzeit und Trauung zu erscheinen, nur um so recht von Grund aus zu erfahren, wie sich denn Alles eigentlich zugetragen. Es war ein stattlicher Zug der schönsten ländlichen Gespanne, der von der Kirche hinweg zum Wirthshause an der Kreuzstraße fuhr, denn dort wurde das Hochzeitsmahl gehalten; der Wirth hatte nicht nachgelassen, die Brautleute zu bestürmen, hatte de- und wehmüthigst gebeten, ihm doch zu verzeihen, was er in seiner puren Dummheit begangen, und Franzi war seinem Bitten nicht abgeneigt gewesen. Sie hatte keine Falte mehr in ihrem Gemüthe, in welcher irgend ein Groll sich zu verbergen vermocht hätte; überdies bedäucht’ es ihr wohl schicklich und bedeutsam, das Fest ihrer schönsten Freude und vollsten Reinigung gerade da zu feiern, wo ihr die tiefste Demüthigung zu Theil geworden und die grimmigste Schmach.

Die Wagenreihe wollte nicht enden; ein kleiner Zwischenfall machte sie einen Augenblick anhalten, denn von der andern Seite der Kreuzung her kam ein höchst eleganter hochbepackter Reisewagen mit Postpferden herangesaust, und es währte eine gute Weile, bis er an all’ den geschmückten Wagen voll geputzter, fröhlicher Menschen ausweichend vorübergekommen war. Es gab völligen Stillstand an dem Wagen, in welchem die Braut mit ein paar Kranzeljungfern und mit der Ehrenmutter saß; das war Niemand Anderes, als die greise, halberblindete Base vom Oedhofe. So schwach sie war, sie hatte sich’s nicht wehren lassen, an dem Tage noch einmal in die Welt zu gehen und sich den Leuten zu zeigen, an welchem von dem Oedhof und Allen, die ihm nah und fern angehörten, der letzte Makel genommen war. An dem Wagen hielt hoch zu Rosse der Bräutigam, um ihn die ebenfalls berittene Schaar befreundeter, lediger Bursche, welche dem scheidenden Jugendgenossen das Ehrengeleite gab.

Die Wagen und Reiter mußten hart aneinander vorbei; in der Reisekalesche lehnte der Amtmann mit seiner Gemahlin. Die Regierung war mit seinem Auftreten und Verfahren in den Angelegenheiten wegen des Haberfeldtreibens, wegen des Waldstreites und in manch’ anderen Dingen nicht völlig einverstanden gewesen; man hatte gefunden, daß er in solcher Umgebung und unter solchen Leuten nicht ganz in seinem rechten Wirkungskreise sich befinde, und hatte ihn mit auszeichnender Beförderung abgerufen, um seine Talente – wie es hieß – bei einer Gesandtschaft besser verwerthen zu können.

„Ah, sieh da, Herr Aicher von Aich!“ rief er mit seinem süßesten Lächeln und machte eine Bewegung, als ob er im Sinne habe, die Reisemütze zu lüften. „Es ist mir eine angenehme Genugthuung, Ihnen so zu begegnen; es ist nun doch gekommen, wie ich es vorher gesagt!“

„Ja, Herr Baron von Lanzfelt,“ erwiderte Sixt, nahm den Hut ab und schloß die Hände über der Brust, „unser lieber Herrgott hat’s recht gemacht und besser, als wir’s verdient haben! Es ist am besten, wenn man gleich an’s Herz klopft und das eingesteht; es weiß Jeder, was ihn druckt, und hat Jedes sein Bündel zu tragen…“

Der Weg war frei geworden; der Amtmann that, als habe er die Rede nicht vernommen, und deutete, während die Pferde wieder zum scharfen Trabe anzogen, auf den Zug und das stattliche Brautgeleite. „Sehen Sie nur,“ sagte er zu seiner Frau, „welche Originalität, welche Fülle von Volksthum in diesem Aufzug! In diesen Gestalten und Trachten! Wahrhaftig, sie wären des Pinsels eines Teniers und Ostade würdig! Was sagen Sie dazu, ma mie?“

Fort flog die Kalesche; die Gäste zogen in das festlich geschmückte Wirthshaus, und über den Genüssen des Mahls und den Freuden des hochzeitlichen Tanzes war bald die ganze Begegnung vergessen. Der lauteste Frohsinn kreiste lachend um den Tisch und manch’ Einer stieß seinen Nachbar mit dem Ellbogen an und raunte ihm zu, eine so lustige Hochzeit sei noch nicht gefeiert worden, seit Menschengedenken. Der Finkenzeller hatte den Grubhofer, den alten Rebeller, zum Gegenüber, und Beide kamen fast nicht zum Essen und Trinken, so viel gab es zu erzählen und zu hören, zu lachen und zu verarbeiten. Die Fröhlichsten von Allen aber waren unstreitig der alte Staudinger und der wackere Lehrer von Osterbrunn. Den alten Mann hatte die unverhoffte Aenderung seiner Verhältnisse, der unerwartete Durchbruch in seinem Sinn und Gemüth auch körperlich umgestaltet; gegen Erwarten war ihm neue Kraft und Gesundheit schnell wiedergekehrt; es war, als würde ihm eine neue Jugend zu Theil, ein Spätherbst, der schöner zu werden verhieß, als es Frühling und Sommer seines Lebens gewesen. Er war überglücklich, zu sehen und zu fühlen, wie er allseits in der öffentlichen Meinung wieder hergestellt war, er ward nicht müde, zu erzählen, wie er Franzi gefunden, und sich selbst anzuklagen, nur um immer wieder sagen zu können, wie [799] sehr es ihn freue, nun nicht mehr allein in der Welt dazustehen, eine solche Tochter zu haben und einen solchen Schwiegersohn dazu.

Sixt saß in stiller Freudigkeit neben Franzi, welche ihre Rührung fast nicht zu bemeistern vermochte und mit schimmernden Augen um sich sah. Ihr sonst starkes Gemüth war erweicht; ihr Herz glich einem Becher, bis über den Rand mit dem edelsten Weine gefüllt, daß die leiseste Erschütterung, daß ein noch hinein gleitender Tropfen ihn überfließen macht. Bei einer der ausgebrachten vielen Gesundheiten flüsterte er ihr zu, während ihre Gläser harmonisch erklingend sich einander entgegenneigten: „Wir wollen auch derer gedenken, die nicht unter uns sein können und die doch beigetragen haben zu unserem Glück, ohne daß sie’s gewollt haben und gegen ihren Willen!“ Er dachte an Susi, die nach dem Tode ihres Kindes inzwischen wirklich das Ordenskleid genommen, und an Waldhauser’s einsam unheimliches Grab.

Der Lehrer aber erhob sein Kelchglas und rief mit lauter, freudebebender Stimme: „Für den Gärtner ist es die größte Lust, wenn er gedeihen sieht, was er gepflanzt oder gezogen; wenn er den Schaden abgewendet sieht, der seine lieben Schützlinge bedrohte! Da stehen ein paar tüchtige Stämme, schön gewachsen von außen und gesund von innen bis in’s Mark hinein… Auf daß sie so bleiben, wachsen und grünen mögen; auf daß ihnen die Blüthen und Früchte werden, die sie verheißen; auf daß der Ewige ihnen zu Heil und Gedeihen Regen und Sonnenschein sende zur rechten Zeit und im rechten Maß; daß er ihre Wurzeln befestige und ihre Rinde stähle im Sturm und daß sie prangend dastehen, sie und ihre Nachkommen bis in die späteste Zeit, dem himmlischen Gärtner zu Ehr’ und dem irdischen Garten zur Zier … auf das Alles, liebe Nachbarn und Freunde, stoßet mit mir an und rufet: ‚Die beiden Bäume, sie leben hoch!‘“

Jubelnd stimmte die ganze Hochzeitsgesellschaft ein, die Gläser klirrten an einander, als hätten sie auch ihre Lust dabei, in die Freude einzustimmen, und die Musikanten strichen und bliesen, als sollten die Instrumente in Stücke gehen. Es war schon spät, als das nun für’s Leben vereinte Paar, von einigen vertrauten Freunden geleitet, durch die laue Mainacht der neuen gemeinsamen Heimath entgegen fuhr. Als sie an den Aichhof kamen, standen die Ehhalten zu beiden Seiten aufgestellt, mit Sensen in der Hand, die sie strichen, daß es klang wie ein feierliches Läuten; von den Eichen herunter aber krachten die Böller Schlag auf Schlag, und das vom Schlaf aufgestörte Gebirge rollte den Widerhall majestätisch dahin.

Vor dem Hause stand ein schöner Leiterwagen, weiß im Holz, wie er aus der Hand des Wagners kam, mit Beschlägen, so blank, daß sie wie Silber schimmerten in der halblichten Nacht. Er war mit allerlei tüchtigem und zierlichem Hausrath beladen, mit einem stattlichen bunt bemalten Kleiderkasten, einem schönen vollständigen Bette und ein paar Truhen voll der feinsten weißesten Leinwandstücke. Auch ein Spinnrad mit roth bebändertem Rocken und die zierlich aufgeputzte Wiege fehlten nicht; hinten aber war eine Kuh angebunden, mit an den Spitzen vergoldeten Hörnern und einem mächtigen Kranz um den Hals, ein so schönes Thier, daß die Mägde einstimmig behaupteten, ein schöneres sei nicht zu finden und wenn man den ganzen Gau abgehen wollte.

Es war ein Kammerwagen, wie die Braut ihn als Ausstattung mitzubringen pflegt, – unbekannte Bursche hatten ihn bei einbrechender Dunkelheit herbeigefahren, hatten schnell die Pferde ausgespannt und waren davon geritten, ehe Jemand sie anzuhalten und zu befragen vermocht.

Ein mächtiger Zettel, vorn am Wagen angebracht, ließ die unbekannten Sender und Spender errathen. Es hieß darauf:

„Der beste Schütz diemal’ (manchmal)
     Hat’ d’ Scheiben scho’ g’feit (gefehlt),
Und das Haberfeld-Treiben,
     Dös is dennerst (dennoch) mei’ Freud’!“




Rasch flogen die Tage auf dem Aichhofe dahin, denn dort waren Arbeit und stete Thätigkeit zu Hause, Liebe und Zufriedenheit streuten ihre Samen in den von diesen gelockerten Boden; es war nur natürlich, wenn daraus der Segen entkeimte und volle häusliche Glückseligkeit. Jeder Tag, obgleich dem andern ähnlich, war ein neues Fest, und wenn die Nachbarn von den umliegenden Höfen und Weilern der Sitte gemäß einsprachen und in den „Heimgarten“ kamen, da war nur eine Stimme, daß es sich nirgends so traulich und behaglich sitze als unter den Eichen vor der alten Capelle oder am Lindenhag, wenn die schöne Bäuerin eine Schüssel Milch und Brod zum Imbiß aufsetzte und wenn der Sixt als Gemeindevorsteher mit den Andern die Angelegenheiten der Dorfschaften besprach und berieth, oder aus den Zeitungen, die er sich hielt, von all’ den Begebenheiten erzählte, welche draußen die Welt in Sturm und Brand setzten, von den neuen Erfindungen, die hier und dort gemacht wurden, und von dem neuen Geiste der Freiheit, der überall zu wehen beginne und, ohne den Andern zu berauben, einem Jeden, hoch oder niedrig, gering oder vornehm, das verschaffe, was ihm gehöre von Gottes und Rechts wegen.

So kam der Sommer heran und hatte rasch die Höhe erstiegen, von welcher die Sonne sich den herbstlichen Kreisen zuneigt, und am Abend Sanct Johannis loderte das Sonnwendfeuer vor dem Aichhofe hell empor, und die jungen Leute machten sich lustig daran, nach altem Brauch unter Jubeln und Lachen durch die Flamme zu springen.

Sixt stand mit Franzi zuschauend daneben, als er sich von rückwärts am Arme gefaßt fühlte. Verwundert blickte er um und gewahrte im Lindenschatten einige Männer, welche sorgsam bemüht waren, ihre Gesichter vor dem Lichtschein zu bergen.

Es waren die Alten von den Haberern.

„Der Haber fangt an, gelb zu werden,“ sagte der Eine flüsternd, „es wird Zeit, daß man an’s Treiben denkt. Wie ist’s damit, Habermeister?“

Mit ängstlicher Bewegung hielt Franzi des Mannes Hand gefaßt; er machte sich sanft los und schritt, ohne ein Wort zu erwidern, dem Hause zu. Als er wieder kam, hatte er den Meisterstab Kaiser Karl’s mit den aufgehobenen Schwurfingern in der Hand. „Nehmt,“ sagte er zu den Alten, „ich habe einsehen gelernt, daß die Zeit für dies Regiment vorüber ist, – in unserem Land herrschen Gesetz und Recht, es braucht Niemand mehr sich selber Recht zu verschaffen, wie’s wohl ehedem nöthig gewesen ist. Thut was Ihr wollt, Ihr Mannen, ich aber will in mein eignes Herz greifen und über Niemand mehr den Stab brechen oder den Haber streuen, – ich will das Gericht unserem Herrgott überlassen … Da, nehmt Euern Stab zurück!“

„Wie!“ rief einer der Alten. „Du wolltest unser altes Recht aufgeben? den alten Brauch abschaffen, der so viel Gut’s geschaffen hat? Wir finden keinen Meister wie Dich … nimm, Aichbauer, und behalt’ den Stab …“

„Nein,“ entgegnete Sixt, „der Brauch hat viel Gut’s geschaffen – aber es ist aus damit … Besser, es kommen zehn Schuldige durch, als daß einem einzigen Unschuldigen ein Leides geschieht – ich will nicht!“

Er reichte den Stab entschieden zurück; der Alte widerstrebte, ihn zu nehmen. Darüber waren sie vorschreitend dem Feuer näher gekommen; über dem Weigern entglitt der Stab ihren Händen und fiel, auf der Bodensenkung fortrollend, mitten in die Sonnwendgluth … Wohl sprang Einer sogleich hinzu und suchte ihn zu erfassen: es war zu spät – das alterdürre Holz hatte sofort Feuer gefangen, – in wenigen Augenblicken lag der Stab verglimmend in den Kohlen.

„Das kann uns ein Zeichen sein“ sagte Sixt ernst, „es ist vorbei mit der alten Zeit und ihren Bräuchen; der Gerichtsstab des Kaisers is untergegangen, mit ihm der letzte Habermeister!“




Blätter und Blüthen.


Aus einem Fürstenschlosse. Als einer der vorm Jahre Depossedirten in diesem Sommer zum ersten Male anstatt auf W.… auf dem Schlosse zu H.… residirte, traf es sich, daß einer seiner Lakaien am Nervenfieber schwer erkrankt war. Der hohe Herr war seinerseits ernstlich besorgt und erkundigte sich fast täglich bei seinem Haushofmeister nach dem Befinden des Dieners; der Lakai überstand endlich auch die Krisis der Krankheit, konnte sich aber nur schwer wieder erholen und kränkelte lange Zeit, ohne seinen Dienst thun zu können. Als der Fürst nun eines Morgens beim Lever wiederum nach dem Zustande des Patienten frug, erwiderte der Haushofmeister mit einem tiefen Bücklinge Serenissimo:

[800] „Halten zu Gnaden, königliche Hoheit, aber der arme Meier sieht immer noch sehr elend aus und kann noch gar nicht wieder zu Kräften kommen.“

„So, – so, – hm, – fatale Geschichte,“ sprach der Fürst in seiner abgebrochenen Manier und ging im Zimmer herum.

„Ja,“ faßte sich der Haushofmeister ein Herz, „es würde wohl besser mit ihm werden, wenn er nur eine stärkende Kost zu sich nehmen könnte.“

„So? – na, – warum he, – warum thut er das denn nicht?“

„Ach, königliche Hoheit, dazu reicht sein Gehalt nicht aus bei seiner großen Familie,“ wagte Jener vorzustellen.

„Wie? – wo? – nicht ausreichen? – hm. Na, – Augenblick warten,“ damit gingen Serenissimus vorsichtig an Allerhöchstdero Secretär, nahmen eine Rolle mit zwanzig Goldstücken heraus und versetzten gnädig, aber leise: „So, – geb’ Er ihm das, – sich ordentlich pflegen, – bald gesund werden, – verstanden? hm!“

„Zu befehlen, königliche Hoheit,“ sprach der Haushofmeister mit einem neuen Bücklinge, indem er das Geld nahm. Als sein hoher Herr dann mit dem Kopf nickte, ging er zur Thür hinaus, froh über das Geschenk für den armen Reconvalescenten.

Aber ach, so leise auch königliche Hoheit den Secretär geöffnet hatten, eine hohe Dame hatte in dem Nebenzimmer – die Thür war nur angelehnt – das ihr wohlbekannte Knarren desselben mit feinem Ohre doch vernommen, und draußen auf dem langen Corridor kam sie jetzt schnell dem Davoneilenden nach und hielt ihn fest.

„Er kommt von Sr. königl. Hoheit?“ frug sie kurz und bestimmt.

„Zu befehlen!“ stammelte der Ueberraschte, die Rolle vorsichtig in der hohlen Hand verbergend.

„Was hat Er da in der Hand? Laß Er doch ’mal sehen, mein Freund,“ sprach die Dame, den Finger gegen ihn ausstreckend.

„Hoheit, es ist nur – Serenissimus befahlen – der arme Meier –“

„Ach, Larifari, zeig’ Er nur ’mal her!“ entgegnete mit gerunzelter Stirn die Dame, erwischte den Erschrockenen ohne Weiteres beim Aermel und nahm ihm höchsteigenhändig das Geld ab, trotzdem Jener ihr eindringlichst vorstellte, es sei für den kranken Lakai, der des Geldes so sehr bedürfe. Es half Alles nichts, die Dame rauschte mit dem Gelde von dannen, der Haushofmeister aber ging betrübt seiner Wege, und mit den Eigenthümlichkeiten seiner Herrschaft seit langen Jahren sattsam bekannt, hütete er sich wohl, irgend Jemandem ein Wort von dem zu sagen, was hier vorgefallen war, am allerwenigsten dem Fürsten selbst.

Wenige Tage später wollte es nun das Schicksal, daß dieser auf einer seiner Morgenpromenaden im Schloßparke dem kranken Lakaien, der seinen ersten Ausgang machte, von ungefähr begegnete. Um ein Haar hätte er seinen eigenen langjährigen Diener gar nicht wieder erkannt, so elend und gebrochen sah derselbe aus, nur an der Livrée noch sah der Fürst, daß er einen seiner Lakaien vor sich hatte. Er blieb deshalb ganz erschrocken und mitleidig stehen, winkte den Mann zu sich heran und sprach herablassend: „Hm, hm, – sehr blaß, sehr mitgenommen, mein Freund – besser pflegen, besser pflegen!“

„Ach, königliche Hoheit,“ stammelte dieser mit matter Stimme und trübem Blick, „ich habe vier Kinder, und bei der Theurung –“

„Wie, wa –?!“ unterbrachen ihn hier Serenissimus erzürnt, „Theurung? – vier Kinder? – hm. Was soll das heißen? Eben erst zwanzig Wilhelmsd’or geschickt, schon wieder alle, he –?“

„Mir?“ rief der Lakai überrascht aufblickend, und seine eingefallenen Wangen rötheten sich ein wenig, „mir? – o, königliche Hoheit belieben zu scherzen!“

„Was – wie, scherzen? Scherze nie, dummes Zeug!“ rief der Fürst zornig, „Haushofmeister erst vor drei Tagen horrendes Geld für Ihn gegeben!“

„Königliche Hoheit,“ entgegnete der Lakai vorwurfsvoll, „da muß ein Irrthum vorgegangen sein, ich habe nicht einen Pfennig bekommen außer meinem Gehalte, aber ich bedanke mich unterthänigst für die gnädige Absicht.“

Nun geriethen königliche Hoheit in helle Wuth, stampften mit dem Fuße heftig auf den Erdboden und befahlen Allerhöchst ihrem Adjutanten, Allerhöchstdero Haushofmeister augenblicklich herbeizurufen. Dieser kam alsbald und wurde gar übel und ungnädig empfangen (man kann sich ungefähr denken, wie), er war aber glücklicherweise schon an die Eigenthümlichkeiten seines Herm seit langen Jahren zu gut gewöhnt, um sich viel daraus zu machen, und als es ihm nur erst gelungen war, zu Worte zu kommen, klärte sich bald die ganze Angelegenheit zu seinen Gunsten auf.

„Hm, hm,“ sprachen Serenissimus, als er geendigt hatte, mit finsterem Stirnrunzeln und einigem Stampfen auf den Fußboden, „Graf X.…, hm, Fürstin in ihren Appartements?“

„Nein, königliche Hoheit,“ erwiderte dieser ausweichend und sich tief verneigend, „Durchlaucht sind vor einer Stunde aus dem südlichen Portale mit Prinzeß nach der Stadt gefahren.“

„So, so – hm – hm – na, warten, warten! – mitkommen, mitkommen!“ (d. h. der Lakai sollte warten, der Haushofmeister aber mitkommen) sprach nun der Fürst und damit eilte er schnell in’s Schloß und auf sein Zimmer, öffnete noch einmal den Secretär und händigte diesem eine Rolle mit fünfzig Wilhelmsd’or ein.

„Hm, hm,“ sprach er dabei mit einem Blicke auf die Nebenthür, „Vierzig sind für ihn und zehn für Ihn, – bin übrigens sein gnädiger Fürst, hört Er, hm – aber –!“

Der Haushofmeister verstand dieses „Aber“ und der Lakai Meier kam bald wieder zu Kräften, denn diesmal trat die hohe Dame nicht in den Weg. An demselben Nachmittage soll es aber noch in den Appartements der hohen Dame eine sehr heftige Scene zwischen dieser und ihrem Gatten gegeben haben.
H. H.




Verbotene Früchte schmecken bekanntlich am besten, wenn sie auch nicht allemal gut bekommen. Eine der gefährlichsten Früchte, welche aber für die gesammte Knabenwelt ihren unwiderstehlichen Zauber übt, ist der edle Rauchtabak, und eben deswegen wird unsere Illustration auf S. 797 der großen Mehrzahl unserer Leser wie ein Stück heimlichster Erinnerung aus dem eigenen Leben vorkommen, wenn auch für Viele nicht gerade eine Dorfschulstube der Schauplatz dieser geheimen Freuden und – Leiden war. Unser Bild selbst bedarf keiner Erklärung. Dagegen freut es uns, über den Künstler, Karl Schlösser, und nach seinen eigenen Berichten mittheilen zu können, daß er zu den Deutschen in Paris gehört, welche es aus eigener Erfahrung zu preisen wissen, daß in der Würdigung der Kunstleistungen in Frankreich parteiloser vorgegangen wird, als man häufig meint. Das Bild unsers Landsmannes, eines geborenen Darmstädters, der schon mehrere Jahre in Paris lebt, gehört zu den wenigen Kunstwerken, welche aus der großen Ausstellungssammlung, und zwar vom Kaiser Napoleon dem Dritten selbst, angekauft worden sind. Ein Bild von gleich humoristischem Inhalte ist sein „Schulzwang“.




Inhalt: Heimath. Novelle von Adolf Wilbrandt. – Erinnerung an Julius Mosen. Mit Abbildung. – Der Arbeiterinnen Heim in New-York. – Wie werden Moden gemacht? Von Eugen Laur in Paris. – Der Habermeister. Eine Geschichte aus den bairischen Bergen. Von Herman Schmid. (Schluß.) – Blätter und Blüthen: Aus einem Fürstenschlosse. – Verbotene Früchte. Mit Illustration.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.