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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[529] No. 34.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


24.

Felicitas verließ mit geflügelten Schritten den Garten – der Professor irrte sich, nicht einmal der Abend, geschweige denn die Nacht sollte sie noch im alten Kaufmannshause finden. … Jetzt war der Moment gekommen, wo sie in Tante Cordula’s Zimmer dringen konnte. In der Allee begegnete ihr die alte Köchin, die das Abendbrod in den Garten trug – es war mithin Niemand zu Hause als Heinrich. … Wie das sauste und brauste durch die alten, knorrigen Linden! Der Wind trieb das junge Mädchen unwiderstehlich vorwärts – das war auf dem ebenen, festen Boden, unter dem Schutz dichter Baumkronen; was aber stand ihr für ein Gang bevor, hoch droben in den brausenden Lüften, über abschüssige Dächer hinweg!

Heinrich öffnete ihr die Hausthür. Felicitas glitt athemlos an ihm vorüber, trat in die Gesindestube und nahm den Dachkammerschlüssel von der Wand.

„Nun, was soll’s denn werden, Fee’chen?“ fragte der Alte verwundert.

„Ich will Dir Deine Ehre und mir die Freiheit wieder holen! Sei hübsch wachsam unterdeß, Heinrich!“ rief sie zurück und sprang die Treppe hinauf.

„Du wirst doch keinen dummen Streich machen? Heda, Fee’chen, ‘s ist doch nichts Gefährliches?“ rief er ihr nach; aber sie hörte nicht mehr. Er mußte unten auf seinem Posten bleiben und schritt aufgeregt in der Hausflur auf und ab.

Ueber Felicitas’ Haupt zog es bald seufzend, bald in lang gezogenen, leise pfeifenden Tönen hin, als sie den Corridor unter dem Dach betrat. Das Sparrwerk knarrte, und durch die Oeffnungen der sonnenerhitzten Hohlziegel fuhr stoßweise der schwüle, heiße Athem des Gewitterwindes. In diesem Augenblick hing eine grau und weiß gemischte Hagelwolke über dem Dächerquadrat, ein fahlgelbes Licht zuckte schräg auf den blumenbedeckten First, es glitzerte wie ein falscher Blick in den Glasscheiben der Vorbauthür, über welcher sich losgerissene Ranken des Epheu und der Capuzinerkresse haltlos bäumten, und beleuchtete grell das aufgepeitschte Blättergewirr des wilden Weines.

Als das junge Mädchen den Kopf aus dem Dachfenster steckte, fuhr ihr ein heftiger Windstoß über das Gesicht; er raubte ihr den Athem und zwang sie, augenblicklich zurückzuweichen – sie ließ den Unhold vorüberbrausen, dann aber schwang sie sich hinaus… Wem es vergönnt gewesen wäre, dies schöne, bleiche Gesicht mit den fest aufeinander gepreßten Lippen und dem düster entschlossenen Ausdruck aus dem dunklen Dachfenster auftauchen zu sehen, der hätte erkennen müssen, daß das Mädchen einer entsetzlichen Gefahr sich vollkommen bewußt und daß es bereit sei, selbst den Tod zu erleiden um seiner Mission willen! … Welch ein wunderbares Gemisch war doch diese junge Seele! Ueber einem heißen Herzen, das so glühend hassen konnte, ein so kühler, besonnener Kopf!

Sie lief leichten Fußes über die knirschenden Ziegel, und nicht einen Moment dunkelte es vor diesen klaren Augen; ihr brausender Feind aber gönnte sich nicht viel Zeit zum Ausschnaufen – ein greller Pfiff, und er kam wieder daher mit niederstürzender Wucht. Die Vorbauthür flog klirrend auf, Blumentöpfe stürzten zerschmetternd auf den Fußboden der Galerie, und die uralten Sparren ächzten und zitierten unter Felicitas’ Füßen. Sie stand noch auf dem Nachbardach, aber ihre Hände umklammerten das Galeriegeländer, das sie in demselben Augenblicke erreicht hatte.

Wohl riß ihr der Sturm das Haar auseinander und peitschte die gewaltigen Strähne, als sollten sie in alle Lüfte zerstreut werden, allein sie selbst stand fest. Nach einem Moment geduldigen Ausharrens konnte sie sich über das Geländer schwingen, und gleich darauf trat sie in den Vorbau… Hinter ihr brauste und tobte es weiter – sie hörte es nicht mehr, sie dachte auch nicht an den todbringenden Rückweg – die gefalteten Hände schlaff niederhängend, stand sie in dem kühlen, epheuumsponnenen Raum – sie sah ihn zum letzten Mal. … Die stillen, schneeweißen Gesichter an den Wänden schauten wohlbekannt und doch auch wieder so verwundert fremdartig hernieder – einst hatten sie diesen Raum beseelt, denn ihre lebendigen Gedanken wurden heraufbeschworen und umflatterten die kalten Stirnen, jetzt waren sie nur noch ein Schmuck, eine Decoration der Wände, sie starrten ebenso gleichgültig auf die jugendstrahlende Gestalt der koketten Regierungsräthin, wie auf das blasse Mädchengesicht, das sich thränenüberströmt zu ihnen emporhob.

Im Uebrigen erschien das Zimmer so traut und wohnlich wie zu Tante Cordula’s Lebzeiten. Kein Stäubchen lag auf dem spiegelglatten Mahagonideckel des Flügels, der Epheu streckte, als Zeichen, daß es ihm wohlgehe, zahllose junge, hellgrüne Triebe aus der dunklen Blätterwand, und in der einen Fensternische standen sorgsam gepflegt der prachtvolle Gummibaum und die Palme, zwei Lieblinge der alten Mamsell. Aber die andere Fensterecke war verändert, das zierliche Nähtischchen stand nicht mehr dort – der Professor hatte sich die Nische als Studirwinkel eingerichtet.

Ueber Felicitas’ Gesicht ergoß sich eine brennende Schamröthe. … Also sie stand doch wie ein Dieb in seinem Zimmer! Wer weiß, was dort auf dem Schreibtisch für Briefe und Papiere lagen, auf [530] die kein fremder Blick fallen durfte! er hatte sie sorglos, ohne Arg offen liegen lassen, denn er trug ja den Zimmerschlüssel in der Tasche – das junge Mädchen flog wie gejagt nach dem Glasschrank.

Auf der Seitenwand des alten Möbels, inmitten einer geschnitzten, seltsam verschnörkelten Arabeske befand sich ein feiner, für ein uneingeweihtes Auge kaum erkennbarer Metallstift. Felicitas berührte ihn mit festem Druck, und die Thür des Geheimfaches sprang auf. Da standen und lagen die vermißten Kostbarkeiten in wohlbekannter Ordnung! Die weitgebauchten silbernen Kaffee- und Milchkannen, die mit seidenen Bändern zusammengebundenen, schweren Löffelpakete, die altmodischen Etuis mit dem Brillantschmuck, alle diese Dinge befanden sich genau auf demselben Platz, den sie seit vielen Jahren im tiefen Dunkel der Verborgenheit eingenommen hatten … und dort in der Ecke stand die Schachtel mit dem Armring, daneben aber – der kleine, graue Kasten in schräger Stellung, wie ihn die alte Mamsell vor wenig Wochen hastig hingeschoben – sie hatte ihn offenbar nicht wieder berührt.

Felicitas nahm ihn mit bebenden Händen heraus – er war nicht leicht – sterben sollte sein Inhalt, aber auf welche Weise? Wie war er beschaffen?

Sie hob vorsichtig den Deckel – ein plumpgearbeitetes, in Leder gebundenes Buch lag darin – die starren Blätter klafften auseinander, und der Einbanddeckel hatte sich im Lauf der Zeit aufwärts gekrümmt. Ein scheuer Blick belehrte das junge Mädchen, daß dies grobe Papier da drinnen nicht bedruckt, sondern vollgeschrieben sei.

Tante Cordula, da ruhen zwei Augen auf deinem Geheimniß – zwei Augen, in denen du unzählige Mal treue, kindliche Liebe und Hingebung gelesen hast, und ein junges Herz, das nie an dir gezweifelt, steht hastig klopfend vor dem Räthsel deines Lebens! Es ist von deiner Schuldlosigkeit so unerschütterlich fest überzeugt wie von dem Dasein der leuchtenden Sonne, aber es will wissen, wofür du littest; es will die Größe deines lebenslänglichen Opfers in seinem ganzen Umfang ermessen können… Dein Geheimniß soll sterben; diese Blätter werden zu Asche zerstieben, und der Mund, der schon in zarter Kindheit unverbrüchlich zu schweigen verstand, wird es so fest verschließen wie der deine!

Die zitternden Finger des jungen Mädchens schlugen den Deckel zurück. „Joseph von Hirschsprung, Studiosus philosophiae“, stand in kräftigen Zügen auf dem ersten Blatt… Es war das Tagebuch des Studenten, des adligen Schustersohnes, um dessen willen Tante Cordula ihren Vater buchstäblich zu Tode geärgert haben sollte. Der Schreiber hatte stets nur die erste Seite eines jeden Blattes beschrieben und die Rückseite desselben, ohne Zweifel zu Anmerkungen, freigelassen. Diese Blattseiten aber zeigten in dicht gedrängten Reihen die feinen, zierlichen Schriftzüge der alten Mamsell.

Felicitas las den Anfang. Tiefe, originelle Gedanken, mit einer seltenen Kraft und Knappheit zum Ausdruck gebracht, fesselten sofort das flüchtige Auge und zwangen zum Nachdenken. Es mußte ein wunderbarer Mensch gewesen sein, dieser junge Schustersohn, mit der Phantasie voll grandioser Bilder, mit dem tiefeinschneidenden Urtheil und dem feurigen Herzen voll leidenschaftlicher Liebe! … Und darum hatte ihn auch Cordula, die Tochter des gestrengen Kauf- und Handelsherrn, geliebt bis in den Tod. Sie schrieb:

„Du schlossest die Augen für ewig, Joseph, und hast nicht gesehen, wie ich vor Deinem Lager kniete und mir die Hände wund rang im Gebet zu Gott, daß er Dich mir erhalten solle. Du riefst meinen Namen in der Wuth des Fiebers unaufhörlich mit dem süßen Schmeichellaut der Liebe, aber auch in zürnenden Tönen eines tiefverwundeten Herzens, mit dem Aufschrei einer wilden Rache, und wenn ich zu Dir sprach, da starrtest Du mich fremd an und stießest meine Hand zurück.

Du bist von hinnen gegangen in dem Wahn, daß ich meinen Schwur gebrochen habe – und als Alles vorüber war und sie Dich hinweggenommen hatten von Deinem Schmerzenslager, da fand ich dies Buch unter Deinem Kopfkissen. Es sagt mir, wie ich geliebt worden bin; aber Du hast auch an mir gezweifelt, Joseph! … Nur noch auf einen einzigen bewußten Blick wartete ich in Todesangst – er hätte Dich überzeugen müssen, daß ich schuldlos war, und mein trostloses Geschick hätte seinen schärfsten Stachel verloren – vergebens! … Ein Auseinandergehen für immer, ohne Versöhnung zwischen den scheidenden Seelen – es giebt keine größere Seelenmarter! Und wenn ich die schwersten Verbrechen begangen hätte, ich könnte nicht grausamer gestraft werden, als mit diesem Herzen, das Tag und Nacht aufschreit und mich ruhelos umherjagt, wie den flüchtigen Kain!

Dein großer Geist stürmt jetzt weiter auf ungemessenen Bahnen, ich aber wandere noch über die arme, kleine Erde und weiß nicht, ob Dir ein Zurückblicken möglich… Ich darf mit Niemand über meine inneren Stürme sprechen, und ich will auch nicht; denn wo wäre ein Mensch, der meinen Verlust begriffe? Es hat Dich Keiner gekannt, als ich! … Aber einmal muß es noch ausgesprochen werden, wie Alles kam. In diesem Buch hast Du Deine Gedanken niedergelegt; allein so kühn und gewaltig sie sind, nebenher geht ein süß erquickender Hauch tiefer, unsterblicher Liebe zu mir, Joseph. Das Alles spricht zu mir, wie mit lebendigem Athem und Deiner sympathischen Stimme … ich will Dir antworten, hier auf denselben Blättern, wo Deine Hand geruht hat, und will denken, Du stehest neben mir und Deine tiefen Augen verfolgen die Feder, wie sie Zug um Zug hinzeichnet, bis das Räthsel gelöst vor Dir liegt!

Weißt Du noch, wie die kleine Cordula Hellwig ihr weißes Lieblingshuhn, das der Jagdhund verscheucht hatte, auf dem Hausboden suchte? Es war dunkel da droben, aber durch eine Bretterritze floß es golden, und die Sonnenstäubchen spielten zu Milliarden in der Lichtsäule. Das kleine Mädchen lugte durch die Ritze. Da drüben hatte Nachbar Hirschsprung eben die Frucht seines einzigen Ackers eingeheimst, und hoch auf den gelben Garben saß der wilde, schwarze Joseph und schaute durch die Dachluke.

‚Such’ mich doch!‘ rief das Kind durch die Spalte. Der Knabe sprang herab und sah sich trotzig um. ‚Such’ mich doch!‘ klang es wieder. Da geschah ein Krach und eines der Bretter, hinter welchen die kleine Cordula steckte, fiel polternd herein auf den Dachboden des vornehmen Nachbarhauses… Ja, so warst Du, Joseph! und ich weiß, Du würdest späterhin genug der unwürdigen Schranken in der Menschenwelt und manches mühsam erbaute falsche System genau so zertreten haben, wie das Brett, hinter welchem Du geneckt wurdest.

Ich weinte bitterlich vor Schreck, und da warst Du plötzlich ganz sanft und unsäglich gut und führtest mich hinunter in das enge, räucherige Schusterstübchen… Die Bretterwand wurde wieder hergestellt; seit der Zeit aber wanderte ich täglich über die Straße und besuchte Dich… Ach, was waren das für Winternachmittage! Draußen stöberte und stürmte es um die Wette; der Rosmarinstock auf dem Fenstersims zitterte bei jedem Windstoß, der an den runden, bleigefaßten Scheiben vorüberbrauste, und der sonst so beherzte Stieglitz klammerte sich an die innere Wand seines Bauers. Auf dem riesigen Kachelofen brodelte der Kaffeetopf; Deine ehrbare Mutter saß am schnurrenden Spinnrad und spann Hanf, und der Vater hämmerte tapfer auf seinem Schemel und verdiente das tägliche Brod.

Ich sehe noch sein edles, melancholisches Gesicht vor mir, wenn er erzählte von vergangenen Zeiten. Da waren die Hirschsprungs ein gewaltiges, berühmtes Geschlecht gewesen, ein tapferes Hünengeschlecht von riesiger Körperkraft! Welch’ eine unabsehbare Reihe von Heldenthaten hatte ihr starker Arm ausgeführt! Aber mir graute vor den Strömen edlen Menschenblutes, das sie vergossen – ich hörte viel lieber die Geschichte von dem Ritter, der sein junges Weib so herzlich und treu geliebt hatte. Er ließ zwei Armringe machen, und auf jedem stand die Hälfte eines Liebesverses eingegraben; den einen Ring trug er, den anderen sein trautes Gemahl… Und als er in der Schlacht todeswund zu Boden stürzte, da kam ein räuberischer Kriegsknecht und wollte ihm das kostbare Liebeszeichen entreißen; aber der Sterbende preßte krampfhaft seine Linke auf das Kleinod – er ließ sich die Hand verstümmeln und zerhauen, bis sein Knappe zu Hülfe eilte und den Räuber niederschlug… Die Armringe wurden in der Familie als Reliquien aufbewahrt, bis – ja bis die Schweden kamen… Wie haßtest Du damals diese Schweden, Joseph! Sie sollten ja schuld sein an dem Untergang Derer von Hirschsprung… Das war eine tieftraurige Geschichte, und ich mochte sie schon um deshalb nicht hören, als Dein Vater jedesmal sagte: ‚Siehst Du, Joseph, wenn das Unglück nicht geschehen wäre, da könntest Du studiren und ein großer Mann werden – so aber [531] bleibt Dir nichts als der Schusterschemel.‘ Ach, diese Geschichte hatte noch eine ganz andere Kehrseite, als der ehrliche Schuster meinte! …

Die Hirschsprungs waren gut papistisch geblieben, als auch das ganze Land ringsumher abfiel und sich zu der neuen lutherischen Lehre bekehrte. Sie lebten von da an streng zurückgezogen um ihres Glaubens willen, aber dem alten Adrian von Hirschsprung genügte das nicht, denn er war ein wilder Fanatiker, der lieber Haus und Hof und die alte Thüringer Heimath verlassen, als unter Ketzern leben wollte. Er hatte sein Besitzthum, bis auf das Haus am Markt, um baare sechszigtausend Thaler in Gold verkauft, und seine zwei Söhne ritten eines Tags davon, um in gut katholischen Landen eine neue Heimath zu suchen… Da geschah es, daß der Schwedenkönig, Gustav Adolph, mit einundzwanzigtausend Mann Kriegsvolk durch das Thüringer Land zog. Er rastete auch einen Tag in dem kleinen Städtchen X. – das war am 22. October 1632 – und seine Leute besetzten die Häuser. Auch das Ritterhaus am Marktplatz steckte voll schwedischer Reiter, und das mochte den alten Adrian mit Wuth und Ingrimm erfüllt haben. Es kam zu einem heftigen Wortwechsel zwischen ihm und den Soldaten, die halbtrunken im Hofe Wein zechten, und da geschah das Schreckliche – ein Kriegsknecht stieß dem alten, finsteren Eiferer das Schwert mitten durch die Brust; er stürzte mit ausgebreiteten Armen rücklings auf das Steinpflaster und verschied, ohne einen Laut, auf der Stelle. Die wüthenden Schweden aber zerschlugen und zertrümmerten Alles im Hause, was nicht niet- und nagelfest war, und als die Söhne zurückkamen, da lag der alte Adrian längst unter den Steinfließen der Liebfrauenkirche, und sie suchten vergebens nach ihrem Erbe. Die sechszigtausend baaren Thaler hatten die Schweden fortgeschleppt, Kisten und Kästen standen leer, ihr Inhalt lag zerfetzt und zerstampft am Boden, und die Familienpapiere waren in alle Winde zerstreut, nicht ein Blättchen ließ sich mehr auffinden… So erzählte Dein Vater, Joseph! Darauf kam das Haus um einen armseligen Preis in die Hände des Bürgers Hellwig. Die zwei Söhne des Adrian theilten den Erlös; Lutz, der Aeltere, zog von dannen, und es hat nie wieder etwas von ihm verlautet, die andere Linie aber hing das Ritterschwert an den Nagel, und die Nachkommen Derer, die gegen die Saracenen gekämpft, die einst wohlgelitten waren an Kaiserhöfen um ihrer Tapferkeit und adligen Sitten willen, sie griffen zu Hobel und Pfrieme.

Du aber nicht, Joseph! Wie die prächtigen Locken über Deiner Stirn sich eigenwillig ringelten und aufbäumten, so schweifte Dein Geist weit ab von der engen Lebensbahn Deiner letzten Vorfahren, Du gingst Deinen eigenen Weg, ob Du auch wußtest, daß er dornenvoll und steinig war, daß Mangel und Entbehrung an Deiner Seite schreiten mußten; Du sahst nur das Ziel, das hohe, leuchtende Ziel, und so viel Heldenmuth endete schmählich in einer Dachkammer! Der Geist entfloh, weil der Körper hungerte! … Allmächtigster, eine deiner herrlichsten Schöpfungen ging unter aus Mangel an Brod!

Wer hätte an dies spurlose Verlöschen Deines Daseins gedacht, wenn Du mit überzeugender Gewalt Deine neuen, kühnen ursprünglichen Ideen entwickeltest? Oder wenn Du am Clavier saßest und die wundervollen Harmonien unter Deinen Fingern emporquollen? … Es war ein armes, kleines Spinett, das in einer dunklen Ecke Deiner elterlichen Stube stand, seine Töne klangen stumpf und rauh, aber Dein Genius beseelte sie, sie erbrausten in Sturm und Gewitter und malten den lachenden Himmel über einer strahlenden Welt… Weißt Du noch, wie Dein guter Vater Dich belohnte, wenn er zufrieden mit Dir war? Da schloß er mit feierlicher Geberde eine kleine, uralte Spinde auf und legte Dir ein Notenheft auf das Pult – es war die Operette von Johann Sebastian Bach; sein Großvater hatte sie von dem Componisten selbst erhalten, und sie wurde wie ein Heiligthum in der Familie aufbewahrt… Sie fanden nicht einen Pfennig Geldes, nicht einen Bissen Brod bei Dir, als Du heimgegangen warst, aber das Bach’sche Opernmanuscript, dessen materiellen Werth Du wohl kanntest, lag unangerührt, unter meiner Adresse, auf dem Tische.

Da drüben auf der Seite, genau auf der Stelle, wo ich jetzt schreibe, da steht: ‚Meine süße, goldlockige Cordula kam herüber im weißen Kleide,‘ das war an meinem Confirmationstag, Joseph! Meine strenge Mutter hatte mir gesagt, es geschähe zum letzten Mal, von nun an sei ich die erwachsene Tochter des Kauf- und Handelsherrn und mein Verkehr mit der Schusterfamilie schicke sich nicht mehr… Deine Eltern waren nicht in der Stube und ich theilte Dir das Verbot mit… Wie wurde Dein Gesicht bleich unter den kohlschwarzen Locken! ‚Nun, so gehe doch!‘ sagtest Du trotzig und stampftest mit dem Fuße auf, aber Deine Stimme brach, und in den zornigen Augen funkelten Thränen. Ich ging nicht; unsere zitternden Hände schlangen sich plötzlich wie unbewußt und unauflöslich ineinander, das war der Uranfang unserer seligen Liebe!

Ich sollte das je vergessen haben und, nachdem ich jahrelang meinen zürnenden und bittenden Eltern widerstanden, plötzlich aus eigenem Antrieb meineidig geworden sein? Sie schalten Dich einen Hungerleider, einen mißachteten Schustersohn, der brodlose Künste treibe, sie drohten mit Fluch und Enterbung – ich blieb standhaft, wie leicht war das damals, Du standest ja neben mir! Aber als Deine Eltern starben und Du fort gingst nach Leipzig, da kam eine furchtbare Zeit! … Da erschien eines Tages eine hohe, schlanke Männergestalt im Hause meines Vaters, und auf dieser Gestalt saß ein Kopf mit fahlen Wangen, an denen dürftiges, dunkles Haar lang und glatt niederhing, und den Mund umzogen unheimliche, schlaffe Linien… Es giebt einen Seherblick, Joseph, und das ist der Instinct in einer reinen Menschenbrust … ich wußte sofort, daß mit jenem Menschen das Unheil über unsere Schwelle geschritten war. Mein Vater dachte anders über diesen Paul Hellwig. Er war ja ein naher Anverwandter, der Sohn eines Mannes, der sein Glück draußen in der Welt gemacht hatte und einen angesehenen Posten bekleidete. Da war der Besuch des jungen Vetters eine Ehre für unser Haus, und wie diese hohe Gestalt sich demuthsvoll bücken konnte, wie das süß und salbungsvoll von den Lippen floß!

Du weißt, daß der Elende es wagte, mir von Liebe zu sprechen, Du weißt auch, daß ich ihn heftig und empört zurückwies; er war erbärmlich und ehrlos genug, die Hülfe meines Vaters anzurufen; der wünschte lebhaft diese Verbindung, und nun begannen entsetzliche Tage für mich! … Deine Briefe blieben aus, mein Vater hat sie unterschlagen, ich fand sie nebst den meinigen in seinem Nachlaß. Ich wurde wie eine Gefangene behandelt, aber es konnte mich doch Niemand zwingen, im Zimmer zu bleiben, sobald der Verhaßte eintrat… Dann floh ich wie gehetzt durch das Haus, und die Geister Deiner Ahnen beschützten mich, Joseph. Ich fand Schlupfwinkel genug, wo ich vor meinem Verfolger sicher war.

Ob es wohl auch der geheimnißvolle Finger einer unsichtbaren Ahnfrau gewesen ist, der eines Tages meinen Blick auf das Goldstück zu meinen Füßen lenkte? …

Eine Mauer im Geflügelhof hatte sich gesenkt, und Nachmittags waren Arbeiter dagewesen und hatten den schadhaften Theil niedergerissen. Ich saß still auf dem Trümmerwerk und dachte an die Zeit, wo man diese Steine aufeinander gethürmt hatte – und da lag plötzlich das Goldstück vor mir im Grase; es war nicht das einzige, auch zwischen den Mörtelbrocken schimmerte es golden. Ohne Zweifel war ein beträchtliches Mauerstück nachgestürzt, als die Arbeiter den Hof bereits verlassen hatten, denn es lag Alles wild und zerklüftet durcheinander, und zwischen den Bruchstücken hervor guckte die scharfe Ecke einer hölzernen Truhe – sie war zum Theil geborsten, dieser Spalt erschien förmlich gespickt mit dem geränderten Gold.

Joseph, ich hatte den Fingerzeig Deiner Ahnmutter nicht begriffen – ich holte meinen Vater, und der Verhaßte kam auch mit. Sie hoben mühelos den Kasten aus den Trümmern und schlossen ihn auf mit dem gewaltigen Schlüssel, der noch im Schloß steckte…

Die Schweden waren es nicht gewesen, Joseph! … Da lagen wohlbehalten die zwei Armringe, da lagen die sechszigtausend Thaler in Gold und die vergilbten Pergamente und Papiere Derer von Hirschsprung! Der alte Adrian hatte Alles hierher gerettet vor den heranziehenden Schweden! … Ich war wie trunken vor Glück. ‚Vater,‘ jubelte ich auf, ‚nun ist der Joseph kein Hungerleider mehr!‘

Ich sehe ihn noch, wie er da stand! Du weißt, er hatte ein ernstes, strenges Gesicht, das heitere Wort erstarb einem auf den Lippen, wenn man in diese wandellosen Züge sah, aber seine ganze Erscheinung trug das Gepräge einer unerschütterlichen Rechtschaffenheit [532] – er war der geachtetste Mann in der Stadt. Jetzt stand er vorwärts gebeugt da, und seine Hände wühlten in dem Golde. Was war das für sein eigenthümlicher Blick, der aus dem kalten Auge auf mich fiel! ‚Der Schusterjunge?‘ wiederholte er, ‚was hat der damit zu schaffen?‘

‚Nun, das ist sein Erbe, Vater!‘ Ich hatte das Testament des alten Adrian in der Hand und deutete auf den Namen ‚Hirschsprung‘.

O, wie entsetzlich veränderte sich plötzlich dies sonst so unbewegliche Gesicht!

‚Bist Du wahnsinnig?‘ schrie er auf und schüttelte mich heftig am Arme. ‚Dies Haus gehört mir mit Allem, was es enthält, und ich will den sehen, der mir auch nur einen Pfennig Werth von meinem Grund und Bodens wegholt!‘

‚Sie sind vollkommen in Ihrem Recht, lieber Vetter,‘ bestätigte Paul Hellwig mit seiner sanftesten Stimme. ‚Aber vordem hat das Haus, mit Allem, was es enthalten, meinem Großvater gehört.‘

‚Schon gut, Paul, ich leugne Deinen Anspruch nicht!‘ sagte mein Vater… Sie trugen den Kasten vor in das Haus. Niemand wußte um den Raub, als ich und der letzte Abendsonnenstrahl, der neugierig über das funkelnde Gold hingeglitten war. Er erlosch, um drüben neu aufzugehen und vielleicht auf ein glückseliges Menschenangesicht zu fallen; ich aber irrte umher, und sah Nacht und Fluch und Verbrechen, wohin ich blickte!

Noch an demselben Abend hörte ich, wie Paul Hellwig zwanzigtausend Thaler und einen der Armringe beanspruchte und erhielt…

Weißt Du nun, was ich litt, während Du mich für treulos, falsch und leichtsinnig hieltest? Ich stand allein meinen zwei Peinigern gegenüber – meine strenge, aber rechtschaffene Mutter war todt, und mein einziger Bruder in fernen Landen. … Es handelte sich nicht allein mehr um meine Liebe zu Dir – ich sollte auch schweigen, unverbrüchlich schweigen vor Dir und der Welt, und dazu verstand ich mich nun und nimmer! … Hat nie Dein Herz bang und ahnungsvoll geklopft in jenen unseligen Momenten, wo ich meinem zürnenden Vater unerschütterlich fest gegenüber stand, wo er die Hand hob, um ‚die starrsinnige, entartete Tochter‘ zu Boden zu schleudern? …

Ich hatte das Testament des alten Adrian zurückbehalten – das wußten sie nicht, und als eines Abends Paul Hellwig höhnisch fragte, womit ich denn eigentlich den Fund beweisen wolle, da wies ich auf dies Papier hin – und da kam das furchtbare Ende! Mein Vater hatte Nachmittags einer großen Gasterei beigewohnt, sein Gesicht war stark geröthet, er hatte offenbar viel Wein getrunken. Bei meiner Erklärung stürzte er auf mich zu, schüttelte mich mit seinen gewaltigen Händen, daß ich aufschrie vor Schmerz, und fragte knirschend, ob mir denn seine Ehre und sein Ansehen nicht einen Pfifferling werth seien. Noch hatte er das letzte Wort nicht ausgesprochen, als er mich zurückstieß – sein Gesicht wurde dunkelbraun, er fuhr mit beiden Händen nach dem Halse und brach plötzlich wie niedergeschmettert vor mir zusammen – der große, stattliche Mann! … Er athmete noch, als wir ihn aufhoben, ja, er hatte sogar Bewußtsein, denn sein Blick ruhte unverwandt mit einem furchtbaren Ausdruck auf meinem Gesicht, und – da brach mein Widerstand, Joseph! Als der Arzt für einen Augenblick das Zimmer verlassen hatte, da zog ich das Papier hervor und hielt es an die Flamme des Lichtes. Ich konnte meinen Vater nicht ansehen, aber ich gelobte ihm mit weggewandtem Gesicht, daß ich schweigen wolle für immer, daß mit meinem Willen kein Flecken auf seine Ehre fallen solle… Wie lächelte Paul Hellwig teuflisch bei diesem Schwur! … O Joseph, das that ich! Ich sicherte meiner Familie das Dir gestohlene Erbe, in dem Augenblick, wo Dich der Mangel auf das Sterbebett warf!“


25.

Felicitas schlug erschöpft das Buch zu – sie konnte nicht weiter lesen. Draußen pfiff und tobte es an den Fenstern vorüber, daß sie klangen und klirrten – was war dies Brausen gegen die Stürme in der Menschenbrust, von denen das Buch erzählte!

Tante Cordula, Du bist gemartert und gekreuzigt worden! Die in dem gestohlenen Gut schwelgten, sie stellten sich auf den hohen Standpunkt angestammter Familientugend und Rechtschaffenheit; sie verstießen Dich als eine Entartete, und die blinde Welt bestätigte diesen Urtheilsspruch. Hoch droben in den Lüften standest Du, verfehmt und verlästert, und hinter den festgeschlossenen Lippen ruhte Dein Geheimniß! Du riefst nicht Wehe über die Blinden da drunten – sie aßen gar oft Dein Brod, und erfaßten unbewußt Deine rettende Hand in Noth und Elend! Dein starker Geist erbaute sich seine eigene Welt, und das stille, versöhnliche Lächeln, das im Alter Deine Züge verschönte, war der Sieg einer erhabenen Seele!

Welch’ ein Unding ist die öffentliche Meinung! Die Welt hat nichts Haltloseres, und doch darf sie tief und bestimmend eingreifen in das Schicksal der Einzelnen! Leiden nicht Familien noch nach Jahren für ein einziges Glied, das die öffentliche Stimme gerichtet und verfehmt hat, und giebt es nicht Geschlechter, die den Nimbus angestammter Tugend und Ehrbarkeit mühelos tragen, blos weil ihr Name dem Volksmund als „gut“ geläufig ist? Wie viel unbestrafte Schurkerei hat die öffentliche Meinung auf dem Gewissen, und wie oft weint das stille Verdienst unter ihren blinden Fußstößen!

Die Familie Hellwig gehörte auch zu jenen Unantastbaren. Wenn Einer gewagt hätte, den Finger aufzuheben gegen die stattlichste und stolzeste Erscheinung unter den Oelbildern der Erkerstube und zu sagen: „Das ist ein Dieb!“ – er wäre gesteinigt worden vom großen Haufen. Und doch hatte er den armen Schustersohn um sein Erbe betrogen; er war gestorben, der Ehrenmann, mit dem Diebstahl auf dem Gewissen, und seine Nachkommen waren stolz auf den „sauer und redlich erworbenen“ Reichthum des alten Handlungshauses. … Wenn Er das wüßte, wenn er einen Blick in dies Buch werfen könnte, er, der sein eigenes Wünschen derartigen „geheiligten“ Traditionen unterwarf, der so lange den Satz festgehalten hatte, nach welchem Tugend und Laster, hoher Sinn und Gemeinheit sich an die Familie und deren Stellung, nicht aber an das einzelne Individuum knüpfen sollten! …

Felicitas streckte unwillkürlich die Rechte mit dem Buch wie triumphirend in die Höhe und ihre Augen funkelten. … Was hinderte sie, diesen kleinen, grauen Kasten mit seinem furchtbaren Inhalt dort auf dem Schreibtisch liegen zu lassen? … Dann kommt er herein und setzt sich arglos in die traute, epheuumhangene Nische. Die wuchtige Stirn voll tiefer Gedanken, nimmt er die Feder auf, um an dem dort liegenden Manuscript weiter zu arbeiten. … Da steht das kleine, unbekannte Etwas vor ihm – er hebt den Deckel auf, nimmt das Buch heraus und liest – und liest, bis er todtenbleich zurücksinkt, bis die stahlgrauen Augen erlöschen unter der Wucht einer schreckensvollen Entdeckung. … Dann ist sein stolzes Bewußtsein lebenslänglich geknickt. Er trägt im Verborgenen die Last der Schande. … Will er die Annehmlichkeiten seines reichen Erbes genießen – es sind gestohlene Freuden; liest er seinen so gepriesenen Namen – es ruht ein häßlicher Flecken darauf … er ist innerlich gebrochen, gemordet für alle Zeiten, der stolze Mann! …

Buch und Kasten fielen schallend zur Erde, und ein heißer Thränenstrom stürzte aus Felicitas’ Augen. … „Nein, tausendmal lieber sterben, als ihm dies Leid anthun!“ … War der Mund, der diese Worte bebend herausstieß, derselbe, welcher einst hier, zwischen diesen vier Wänden gesagt hatte: „Ich würde es nicht beklagen, wenn ihm ein Leid widerführe, und wenn ich ihm zu einem Glück verhelfen könnte, ich würde keinen Finger bewegen!“? War das wirklich noch der alte, wilde Haß, der sie weinen machte, der ihr Herz mit unsäglichem Weh erfüllte bei dem Gedanken, er könne leiden? War es Abscheu, das süße Gefühl, mit welchem sie plötzlich seine kraftvolle männliche Gestalt vor sich heraufbeschwor, und hatte die glückselige Genugthuung, daß sie berufen sei, die Hände schützend über seinem Haupt zu halten, ihn vor einer niederschmetternden Erfahrung zu bewahren, noch etwas gemein mit dem häßlichen Gefühl der Rache? … Haß, Abscheu und Rachedurst – sie waren verlöscht in ihrer Seele! … Wehe, sie hatte ihr Steuer verloren! … Sie taumelte zurück und schlug die Hände vor das Gesicht – der geheimnißvolle Zwiespalt ihres Herzens lag gelöst vor ihr, aber nicht unter jenem Licht einer himmlischen Erkenntniß, das plötzlich ungeahnte, lachende Gefilde bestrahlt – es war ein grelles Wetterleuchten, in welchem ein Abgrund zu ihren Füßen sichtbar wurde. …

Fort, fort – es hielt sie nichts mehr! Noch einmal den

[533]

Auf dem Burgberg bei Loschwitz. Originalzeichnung von J. B. Schmelzer.

[534] Weg über die Dächer zurück, dann den letzten eilenden Schritt über die Schwelle des Hellwig’schen Hauses, und sie war frei, sie war entflohen auf Nimmerwiedersehen!

Sie raffte das Buch auf und schob es in ihre Tasche – aber da stand sie mit zur Flucht gehobenem Fuß und zurückgehaltenem Athem einen Moment wie versteinert – draußen im Vorsaal war eine Thür zugeschlagen worden, und jetzt schritt es rasch auf das Wohnzimmer zu. Sie floh in den Vorbau und riß die Glasthüre auf – der Sturm fuhr herein und schleuderte ihr einzelne große Regentropfen in das Gesicht. … Ihre Augen irrten über das Dächerquadrat, da hinüber kam sie nicht mehr, dort mußte sie gesehen werden – ihre einzige Rettung war ein augenblickliches Versteck.

Zwischen der Vorbauwand und den Blumentöpfen lief ein schmaler, unbesetzter Raum empor. Felicitas flüchtete hinaus und erfaßte droben taumelnd und mit versagenden Blicken die Eisenstange des Blitzableiters, der sich über den First hinzog. Sie stand hoch über dem Vorbau. … Hei, wie der Sturm die zarte Gestalt packte und schüttelte, wie er in erneutem Ingrimm versuchte, sie hinabzustoßen in die Straße, die wie ein dunkler Spalt jenseits herauf klaffte. … Ueber den Himmel hin brausten die schwarzen Gewitterwolken – war kein Engel droben über der kochenden, gährenden Wetterwand, der seine Hände schirmend herniederstreckte auf die mit der furchtbarsten Gefahr Ringende?

Wer es auch sein mochte, der in diesem Augenblick heraustrat auf die Galerie, das Mädchen da droben stand als Diebin gebrandmarkt vor ihm. … Sie war in verschlossene Räume eingedrungen – die ganze Welt nannte das Einbruch; schon hatte man die Anklage, daß sie um den Silberdiebstahl wisse, auf ihr Haupt geschleudert – jetzt lag ihre Schuld sonnenklar am Tage! Sie wanderte nicht mehr freiwillig über die Schwelle des alten Kaufmannshauses, sie wurde hinausgestoßen als Entehrte, und wie Tante Cordula mußte sie fortan mit festgeschlossenen Lippen Schimpf und Schmach unverschuldet durch’s Leben tragen. … War es da so schrecklich, wenn sie sich dem Arm des Sturmes willig überließ und nach wenigen qualvollen Augenblicken ihr junges Leben drunten auf dem Straßenpflaster aushauchte? …

Mit wirren Blicken starrte sie hinab auf das vorspringende Dach des Vorbaues – die Person unten blieb nicht vor der Glasthür stehen – Felicitas’ letzte verzweifelte Hoffnung – sie schritt, trotz Sturm und Wetter, weiter und weiter auf der Galerie, und jetzt wurde die Gestalt sichtbar – es war der Professor. … Hatte er die fliehenden Schritte des Mädchens gehört? – Noch kehrte er ihr den Rücken, noch war es möglich, daß er zurückging, ohne sie gesehen zu haben – aber da kam der Sturm, der Verräther; er zwang den Professor sich umzudrehen und ließ in dem Augenblick Haar und Gewand der Geflüchteten wild aufflattern – und er erblickte die Gestalt mit den krampfhaft um das Eisen geschlungenen Armen und dem geisterhaften Gesicht, das aus den wogenden Haarmassen verzweiflungsvoll auf ihn niedersah.

Einen Augenblick war es, als gerinne ihr unter dem entsetzten Blick, der sie traf, das Blut in den Adern; dann aber schoß es siedend nach dem Kopfe und raubte ihr den letzten Rest von Besonnenheit.

„Ja, da steht die Diebin! Holen Sie das Gericht, holen Sie Frau Hellwig! Ich bin überführt!“ rief sie unter bitterem Auflachen hinab. Sie ließ mit der Linken die Eisenstange los und warf das Haar zurück, das ihr der Sturm über das Gesicht peitschte.

„Um Gotteswillen,“ schrie der Professor auf, „fassen Sie die Stange – Sie sind verloren!“

„Wohl mir, wenn’s vorüber wäre!“ klang es schneidend durch das Brausen und Pfeifen.

Er sah den schmalen Raum nicht, auf welchem Felicitas emporgeklimmt war. In wenig Augenblicken hatte er die Blumentöpfe herabgeschleudert und sich einen Weg gebahnt, und da stand er plötzlich neben ihr. Er umschlang mit unwiderstehlicher Kraft die widerstrebende Gestalt und zog sie herab in den Vorbau – krachend fiel die Thür hinter ihnen in das Schloß.

(Fortsetzung folgt.)




Nach vierzig Jahren.
Von Ferdinand Stolle.


Sieh’ das Dörflein dort, das holde,
Weich bespült von blauer Fluth –
Wie es in dem Blüthengolde
Seiner Pfirsichbäume ruht;

Oder wenn darum sich legen
Seine Reben, reich umblaut,
Und es wie ein Gottessegen
Dankbar auf zum Himmel schaut.

Friedlich und anmuthig ruht an den Ufern der sanftblauen Elbe und umarmt von Wald und Weinberg ein Dörflein, das mit zu den wenigen auserwählten Ortschaften gehört, welche einst für einen poesiebegnadeten Liebling der Nation zum stillen und umfriedeten Asyl ausersehen waren und die von der dankbaren Nachwelt gleichsam eine poetische Weihe erhalten haben. Ja, von des erwähnten Dörfchens weinumrankten Höhen schweifte zwei Sommer lang das leuchtende Jünglingsauge Friedrich Schiller’s über Berg und Thal und von diesen Höhen schleuderte er sein

„Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“[WS 1]

zündend in das Herz des deutschen Volks. Wem wäre darum nicht der Name „Loschwitz“ erinnerungsrosig und poetisch umgrünt durch die Seele geklungen? –

Das Frühlingsgewitter hatte sich über Berg und Wald zurückgezogen. In der Ferne verrollte der Donner. Blumen und Kräuter, von erquickendem Platzregen überrauscht, dufteten stärker und die ihrem Versteck entschlüpften Vögel durchjubelten von Neuem den sich klärenden Himmel. Da durchbrach, ein kostbar Juwel, die Nachmittagssonne die Wolken im Abend und rollte ihre goldenen Wellen über die Frühlingslandschaft, auf Baum und Strauch und in den Augen der Blumen Diamanten, Rubinen und Smaragden entzündend.

Aus einem bescheidenen Winzerhause dort auf derselben Höhe, wo heut das freundliche Schlößlein „zum Burgberg“ weit hinausschaut über Berg und Thal, traten zwei Jünglinge in den angehenden zwanziger Jahren. Sie hatten, die Berge durchwandernd, vom Gewitter überrascht, in dem Winzerhäuschen Schutz gesucht. Jetzt waren sie wieder herausgetreten zur herzerquickenden Rundschau. Da ruhten Berg und Thal in frischester Farbenpracht und goldenster Beleuchtung. Alles lachte und blühte. Rechts und links fröhliches Grün der Rebe. Zu Füßen, ein umblühtes Idyll, das freundliche Loschwitz, aus welchem hie und da bereits die blauen Wölkchen zur Abendmahlzeit emporstiegen. Die Elbe als Silbergürtel das Thal umschließend. Auf den Häuptern der Berge und jenseits des Flusses schweigendes Waldgrün und darüber hinaus unabsehbare, von breiten gelben Rübsenbändern durchschnittene fruchtbare Fluren bis zu den im Nebelduft verlorenen böhmischen Gebirgen, als deren erhabenste Krone der Schneeberg aus weiter Ferne daher schaute. Unfern zur Rechten die Thürme von Sachsens Hauptstadt.

Unsere jungen Freunde, Bernhard und Reinhold mit Namen, standen lange im Anschauen des reichen Frühlingsbildes versunken. Sie waren, die Ferien benutzend, als deutsche Studenten den Frühling durchwandert, um lachende Landschaftsbilder, Blumen, Humor und Poesie sich einzusammeln für die späteste Erinnerung. Der gefällige Winzer, welcher an den beiden jungen Leuten Gefallen zu finden schien, trug einen Tisch vor das kleine Haus nebst zwei Holzstühlen.

„Hier, meine Herren,“ sagte er, „können Sie sich’s bequem machen und die Aussicht ansehen, so lange es Ihnen beliebt.“

Dankbar nahmen die Jünglinge Platz. Wie glücklich waren sie! Noch floß das Blut leicht und wohlig durch ihre Adern; noch lebten sie in der unvergeßlich schönen Zeit, wo man aus sorgenloser, froher Brust das Gaudeamus lebensvoll ertönen laßt. Nur wenn sie des zerrissenen und politisch ohnmächtigen Vaterlandes gedachten, zog tiefes Weh durch ihr deutsches Herz.

„Fürwahr,“ sprach Bernhard, der Aeltere, ein der Theologie [535] Beflissener, „dieses Plätzchen ist mit Golde nicht zu bezahlen. Ich schaute die Alpen in ihrer Herrlichkeit und Majestät, lauschte des Rheinstroms ahnungsreichem, märchenseligem Rauschen, durchirrte Thüringens buchenschattende Waldpracht, Schlesiens gesegnete, lachende Fluren, vernahm das Branden des deutschen Meeres an Arkonas sturmgewohnten Felsen – aber die vollendete Anmuth und Lieblichkeit der Landschaft haben wir im vorliegenden augenerquickenden Bilde. O mein deutsches Vaterland, wie reich und schön bist du!“

Reinhold, der Jurist und der Jüngere, dessen Herz sofort überwallte, so er des Vaterlandes gedacht, erwiderte: „Ja, reich, unermeßlich reich und schön, aber ein gebrochen, polizeibewachtes und polizeidressirtes Volk trotz der Weck- und Mahnrufe eines Schiller und Körner, die dort von dem Nachbarberge wie wir die schöne Gotteswelt überschauten.“

„Laß uns diese Stunde,“ mahnte Bernhard, „nicht durch das alte Weh verkümmern. Sieh, wie die sinkende Sonne das Thal mehr und mehr mit ihrem Golde belegt! Fürwahr, die Götter des Olymp müssen uns beneiden.“

Man hatte sich eine Flasche Wein vom besten Jahrgange und eine Schüssel frischer frühlingduftender Erdbeeren bringen lassen und schaute in holdester Seelenstimmung das kostbare Abendbild. Die Landschaft verklärte sich immer himmlischer. Die Sonne glühte nur noch eine Hand breit über dem Erdrande. Berg, Thal und Wald standen in flammendem Golde. Jetzt entzündeten sich auch die Fenster einiger Weinberghäuser auf den Morgenbergen und strahlten als Brillantsterne daher. Dabei heilige, erhabene Stille. Kein Blättchen regte sich. Die Vögel gingen nach vollbrachtem Tagesconcert in ihre Waldesheimath zur Ruhe. Nur eine vereinsamte Lerche sang noch ihr Abendlied über einem Weizenfelde. Weiße Segel, auf der Elbe von Abend daher kommend, zogen wie Schwäne langsam vorüber und verschwanden hinter den Wald- und Rebenbergen im Morgen.

Jetzt noch ein letzter Blick der Sonne, ein goldner Funken in Smaragdgrün. Auch er erlosch und die Herrliche versank, um andern glücklichern Geschlechtern als junge Morgenfürstin aufzugehen. Mit ihr verglühten auch die Brillantsterne auf den Morgenbergen, und das Abendroth belegte Berg und Thal mit seinem tiefsten Purpur. Reinhold recitirte leise:

In tiefem Frieden ruht das Thal,
In purpurrothem Abendtraume,
Es tropfen Blüthen ohne Zahl
Hernieder von dem Apfelbaume.

Der Abendhorizont umkränzte sich jetzt mit goldumränderten Wölkchen, die, leise aufwärts steigend, hoch am Himmel in violetten Duft zerflossen. Wälder und Niederungen begannen sich dämmernd zu umschleiern und die bisher einem weißen Wölkchen vergleichbare Mondsichel trat immer siegender hervor.

„Gott, welch’ ein Abend!“ sagte Bernhard, „das ist ein Sabbathstündlein, wie es nur selten einkehrt im Leben.“

„Nur die von der Poesie gerötheten Stunden hat man gelebt,“ sprach Reinhold. Plötzlich frug er: „Bernhard, hörst Du?“

Vom Thale herauf erklang Gesang. Ein Kahn mit einem Männerquartett der Dreißig’schen Singakademie hielt eine Abendfahrt. Mit verhaltenem Athem lauschten die Freunde entzückt den Tönen, die über die dunkler werdenden Wellen und im ersterbenden Abendrothe himmlisch heraufklangen.

„Sie singen das ‚Aennchen von Tharau‘,“ rief Reinhold begeistert.

Der Kahn fuhr weiter. Die Töne wurden schwächer und schwächer. Endlich verstummten sie. Tiefe Stille. Da erhoben sie sich von Neuem, die Gondel hatte gewendet, und halb verweht und vom Abendhauche daher getragen, vernahmen die Freunde: ‚Was ist des Deutschen Vaterland?‘

Beglückt und verständnißinnig reichten sich Bernhard und Reinhold die Hand, und als der Vers kam: ‚Das ganze Deutschland soll es sein!‘ fielen sie laut und jubelnd und gläserklingend ein.

Aber als ob der Genius der Poesie es darauf abgesehen gehabt, unsere Freunde mit seinen reichsten Blumen zu überschütten, brach plötzlich von den Thürmen Dresdens festliches Geläute, den morgenden ersten Pfingsttag verkündend. Wie ein erhabenes Gebet tönten diese Glocken durch die Stille des Frühlingsabends und das Geläute der nah und fern gelegenen Dörfer fiel harmonisch ein.

„Pfingstheiligerabend!“ sagte Bernhard tief bewegt; „ja, diese Glocken, die den morgenden Pfingsttag verkünden, sind die prophetischen Wahrsager, daß auch dem deutschen Volke sein Pfingstmorgen nicht verloren ist und daß der Traum unserer Jugend dereinst zur goldenen Wahrheit werden wird.“

Reinhold, ganz hingerissen von der Poesie des Abends und den heiligen Klängen, rief glaubensfreudig: „Ja, er wird zur Wahrheit werden. Die Stimme im reinen deutschen Herzen kann nimmer lügen, denn sie ist die Stimme Gottes.“

Und gleich darauf rief er poesietrunken:

„Bruder, es ist überirdisch schön, fülle darum nochmals die Gläser, klinge an und gelobe: daß wir uns heut’ über zehn Jahr, so wir noch im Erdenthale wandeln, auf diesem Berge wieder finden wollen. Denn dieser Abend fürwahr verdient es, daß wir ihn im tiefsten Herzkämmerlein treu bewahren bis auf die spätesten Zeiten.“

„Ich gelobe es,“ rief Bernhard, und man leerte unter dem Geläute des Pfingstheiligenabends die Gläser bis zum Grunde.

Nachdem man vom gefälligen Winzer auf das Herzlichste Abschied genommen, reichte Reinhold letzterm nochmals die Hand mit den Worten: „So Gott will, kommen wir heut’ über zehn Jahre wieder. Möge Euch bis dahin der Himmel recht gesegnete Weinjahre bescheeren!“

Bereits am andern Tage befanden sich Bernhard und Reinhold auf dem Wege nach der Heimath. –

Und zehn Jahre waren vorüber. Bernhard lebte als armer Privatdocent auf seiner Universität und viele, viele Meilen davon Reinhold als karg besoldeter Assessor in einer obscuren Grenzstadt. Man hatte sich trotz der langen Zeit seit obiger Ferienwanderung nicht wiedergesehen, aber ununterbrochen in freundschaftlichem Briefwechsel gestanden.

Als der zehnte Jahrestag nahte, gedachten wohl Beide ihres Gelöbnisses; aber wie es in diesem sublunarischen Leben zu gehen pflegt, die prosaische Wirklichkeit läßt das in begeisterter Stunde Versprochene selten zur Ausführung kommen. So auch bei unsern Freunden. Beiden fehlte es, als der Pfingstheiligeabend nahte, an Zeit und auch für die viele Meilen lange Reise an – nöthiger Baarschaft.

Und so zog ein Frühling nach dem andern, ja ein Jahrzehnt nach dem andern über die Berge von Loschwitz und immer stellten sich, zumal bei der großen Entfernung der beiderseitigen Wohnorte – Bernhard docirte als hochgeachteter Professor an einer rheinischen Universität, während Reinhold Gerichtsrath im fernsten deutschen Osten war – einer persönlichen Zusammenkunft Hindernisse hemmend in den Weg.

Da erhielt, als der vierzigste Pfingstheiligeabend nahte, Reinhold von wohlbekannter Hand folgende Zeilen:

          „Mein alter, theurer Freund!

Du weißt, daß es heuer vierzig Jahre werden, wo wir auf dem Burgberge bei Loschwitz den Pfingstheiligenabend feierten. Auch erinnerst Du Dich unseres Gelöbnisses. Vierzig Frühlinge sind dahingegangen, und immer ließ es ein neidisch Geschick nicht dazu kommen, dasselbe zu erfüllen. Unser Loschwitzer Winzer hat vergebens gewartet.

Alter, theurer Freund! mich hat der Himmel in dieser langen Zeit manche schöne und erhebende Stunde erleben lassen, aber eine poesiereichere als an jenem Pfingstheiligenabend nicht wieder.

Da halte ich denn dafür, daß wir als Männer am Abend unseres Lebens erfüllen, was wir uns im holden Jugendtraume gelobten. Jene Stunde verdient es. Auch drängt es mich, je älter ich werde, dem Jugendfreund noch einmal in’s treue Auge zu blicken, bevor sich das meine schließt für dieses Erdenleben.

Ich kenne Deine Verhältnisse und lasse jetzt keine Entschuldigung mehr gelten. Aber alle unsere Lieben müssen mit. Ich komme mit meiner Frau Marie und drei Töchtern, der verheiratheten Amalie (deren Gatte leider durch sein Geschäft an seinen Wohnort gefesselt ist), ihrer fünfjährigen Anna und ihrem dreijährigen Ernst, sowie mit Gertrud und Elsbeth. Bringe darum auch Deine treffliche Elisabeth mit und trommle Deine Jungen, den Erich und den Adolph, zusammen. Wir müssen Alle mitsammen sein. Das Rendezvous im schönen Dresden überlasse ich Dir. Wie ich überhaupt alles Uebrige in dieser Angelegenheit in Deine Hand lege.

Mit Gott auf Wiedersehen nach vierzig Jahren!

„Dein Bernhard.“

[536] Reinhold’s begeisterte Zustimmung erfolgte mit umgehender Post. Nur bat er, die Zusammenkunft auf die großen Universitätsferien, welche mehr in den Sommer fallen, zu verlegen, da er als gewissenhafter Vater die Studien seiner Söhne nicht zu unterbrechen wünschte. In einem späteren Briefe bestimmte er Tag und Stunde, Eisenbahnzug, Rendezvous und Alles. –

Der schönste Augustmorgen übergoldete das Elbthal. Die Thürme Dresdens ragten im reinsten Blau zum Himmel. Der Dampfer „Marie“ im Hafen unter der Brühl’schen Terrasse begann seine Räder brausend zu bewegen und dampfte gen Morgen. Auf seinem Verdeck trug er zwei glückliche Familien, die sich in Kaiser’s Hotel am freundlichen Neustädter Markte fröhlich zusammengefunden. Welch’ ein Wiedersehen von Bernhard und Reinhold! Welch’ ein Bekanntwerden der Frauen, Söhne und Töchter, die sich jahrelang nur auf dem Wege der Briefpost hatten kennen lernen! Lange lagen sich die alten Freunde, keines Wortes mächtig, aber mit thränenden Augen in den Armen.

Ja, nur wer Gelegenheit gehabt, dem Sichwiederfinden der alten Burschenschafter auf dem fünfzigjährigen Jubelfeste zu Jena beizuwohnen, wird die Empfindungsseligkeit der beiden alten Musen in tiefster Seele zu würdigen verstehen.

Und so fuhren die Glücklichen dahin zwischen sommergrünen Ufern, lachenden Villen mit grünen Jalousieen und umblühten Veranden; vorüber an schloßgekrönten Weinbergen, die noch in schönster Frische des Sommers lachend in’s Thal herabschauten. Sie konnten sich nicht satt trinken am blauen Dufte des Morgens und der erquickenden Pracht der Landschaft. Aber je näher man dem Dörfchen kam, welches das Ziel der Fahrt war, desto zahlreicher stiegen zur Linken reizend umgrünte Villen und Weinberghäuser terrassenförmig empor. Sommerblumen schmückten in ländlicher Einfachheit Gärten und Wohnungen, und hie und da schaute aus Laub und Rebengrün noch eine vom Frühling vergessene Rose.

„Aber, mein Gott,“ rief Bernhard, als man dem Landungsplatze immer näher kam, mit freudigem Erstaunen das stattliche Villendorf überschauend, „ist das unser einfach Dörflein, unser Loschwitz von vor vierzig Jahren? Nur der Kirchthurm dort grüßt noch als alter Bekannter. Wie hat während dieser Zeit die Kunst der Menschenhand fleißig geschaffen! Verschwunden sind die einfachen Weinbergswohnungen, welche ehedem, einsam verstreut, diese Höhen bedeckten! Prachtvolle aristokratische Schlösser mit stolzen Zinnen und Thürmen und geschmackvolle Privatwohnungen eines wohlhabenden Bürgerstandes sind an ihre Stelle getreten. Und auch das Nachbardorf da drüben, die Heimath der ‚Gustel von Blasewitz‘[WS 2] ist doppelt so groß geworden wie ehemals.“

„Auch unser Winzerhäuschen seh’ ich nicht mehr,“ sprach Reinhold, der ebenfalls bemüht war, sich in der Gegenwart zurechtzufinden. „Es hat einem kleinen liebenswürdigen Schlößchen Platz gemacht. Wem mag dasselbe wohl gehören?“

„Das ist die Restauration ‚zum Burgberg‘, belehrte ein danebenstehender Dresdner, „von wo man die schönste Aussicht hat und recht gute Bewirthung findet.“

„Ei,“ jubelte Reinhold, „das trifft sich herrlich,“ und zu den Frauen und blühenden Söhnen und Töchtern gewendet rief er: „Kinder, dort oben wird gefrühstückt! Denn das ist der Berg, wo wir vor vierzig Jahren den unvergeßlichen Pfingstheiligenabend verlebten und wo wir gelobten, uns in diesem Leben noch einmal wiederzufinden, wie wir Euch oft erzählt haben.“

Mit Rührung schauten die beiden älteren, aber noch rüstigen Frauen und freudestrahlenden Blicks die junge Gesellschaft nach der Höhe. Elisabeth, Reinhold’s treffliche Gattin, aber sprach: „So gehet immer voraus; mir aber und der guten Frau Professor gestattet zuvor einen kurzen Besuch, den ich schon lange einer Jugendfreundin versprochen, die hier in ländlicher Stille die schönen Sommermonate verlebt. Wir Zwei kommen bald nach.“

Und so ging es denn rosenlaunig durch den idyllisch am Elbufer gelegenen lindenschattigen und lindenduftenden Garten der gemüthlichen Demnitzischen Restauration und zwischen grünen schwellenden Weintrauben und grünsammetnen Pfirsichen die hundertfünfunddreißig Stufen hinauf zum Burgberge.

Während aber die Jugend in den anmuthigen Räumen sich freudigst umhertummelte, bestiegen Bernhard und Reinhold die erhabene Warte, die thurmartig in den blauen Himmel ragt. Da standen die zwei Freunde wie vor vierzig Jahren fast an derselben Stelle. Das herrliche Thal, einst von des Frühlings Abendsonne zauberisch überklungen, ruhte jetzt in der vollen Pracht des Sommermorgens.

Tief ergriffen reichte Reinhold dem Freunde die Hand. „Dies ist wieder ein Sabbathstündlein,“ sprach er leise, „wie sie nur selten einkehren hienieden. Wie können wir Gott genug danken, daß er uns ein solches noch hat erleben lassen!“

„Wohl, mein Reinhold,“ erwiderte Bernhard, ebenfalls innig bewegt die Hand des Freundes drückend, „und daß er unsere Herzen frisch erhalten hat für seine Pracht und Herrlichkeit noch am Abende unseres Lebens.“

„Und,“ fügte Reinhold, der sich um vierzig Jahre jünger fühlte, hinzu, „wir können nicht genug danken, daß unsere Liebe zu unserem deutschen Vaterlande die alte geblieben, daß trotz mancher schmerzlichen Prüfung und mancher bitteren Enttäuschung die Träume unserer Jugend sich endlich zu erfüllen beginnen, daß das Deutschland von 1867 ein anderes ist, als das von 1827, ein anderes in der Achtung und Furcht des Auslandes, das ihm den Weg zur Einheit nicht mehr zu sperren vermag. Ja, die Glocken an jenem Pfingstheiligenabend haben nicht vergebens ihre prophetischen Stimmen erhoben. Auch dem deutschen Volke naht schon der Pfingstmorgen, der ihm gebührt von Gottes- und Rechtswegen.“

Lange standen die Freunde Hand in Hand. – Und wie einst tönten jetzt die Sonntagglocken von den Thürmen Dresdens durch den goldenen Morgen. Noch geraume Zeit verweilten Bernhard und Reinhold in geweihter Stimmung auf der erhabenen Warte. Dann stiegen sie herzerquickt herab, wo sich indeß die Familie in der schattigen Ecklaube zum Frühstück heiter versammelt hatte. Während aber die beiden Alten in Erinnerung an ihre Universitätszeit beim duftenden Johannisberger sitzen, erfreut sich die Jugend der blühenden Gegenwart. Die junge Mutter Amalie ist glücklich im Glück ihrer Kinder, von denen Aennchen mit ihren Blumen zur Herstellung eines Kranzes beschäftigt ist, während der kleine Bruder Ernst sich die Chocolade trefflich munden läßt, von welchem angenehmen Stoff die Kellnerin soeben eine neue Auflage herbeiträgt. Adolph klingt mit Gertrud an und gelobt, den schon immer versprochenen Besuch im schönen Rheinlande, wo die Familie des Professors wohnhaft, in Begleitung seines Bruders noch im Laufe der gegenwärtigen Ferien abzustatten; und Elsbeth winkt mit ihrem Tuche dem von einem Abstecher nach dem unfern gelegenen Schillerhäuschen zurückkehrenden Erich, welcher hutschwenkend verkündet, daß die beiden Mütter auf dem Fuße folgen. Selbst Sultan, das schwarz und weiß gefleckte Hündchen, scheint das allgemeine Vergnügtsein der Familie zu theilen und strebt freudig an seinem Herrn empor. –




Gedanken über das Curiren von Krankheiten.
3. Strafpredigt gegen curirende Laien, Naturärzte und Homöopathen.


Darum weil mit Hülfe der Naturheilungsprocesse die Mehrzahl der Krankheiten ohne alles ärztliche Eingreifen und sogar auch bei den blödsinnigsten Curen und Hokuspokussen doch heilen, darum hat noch lange nicht jede alte Frau, jeder Lampe und Lutze, jeder Dütchenskrämer und Kaltwassernarr, jeder Dampf- und römisch-irische Badewüthige das Recht und die Fähigkeit kranken Menschen ärztliche Hülfe zu leisten, zumal wenn diese, wie dies in der Regel der Fall ist, in Anpreisung und schablonenartiger Anwendung einer ganz einseitigen, oft recht einfältigen Behandlungsweise besteht. Denn Folgendes mögen sich alle curirsüchtigen Laien wohl merken:

1. Sehr oft veranlaßt ein und dieselbe Krankheit bei verschiedenen Personen ganz verschiedenartige Erscheinungen, besonders in Gestalt von Störungen der Empfindung (sogenannte subjective Symptome) und der Thätigkeit der Organe (sogenannte functionelle Symptome), und deshalb kann in sehr vielen Fällen nur ein [537] in der sogenannten physikalischen Diagnostik geübter Arzt über die Natur des Leidens klar werden. So treten z. B. bei ein und demselben Lungenleiden bei dem einen Kranken am deutlichsten die Athmungsbeschwerden zu Tage, während bei einem andern, an derselben Lungenentartung Leidenden am auffälligsten die Störungen in der Herzthätigkeit und bei noch einem andern die der Magenverdauung etc. sind. Daher rührt ja die kindische Ansicht der Laien von einem Magenhusten und daher kommt es, daß manche Lungenkranke weit weniger über ihre Brust als über ihren Magen klagen.

2. Gar nicht selten bieten ganz verschiedene Krankheiten ganz dieselben Erscheinungen dar und nur die genaue Kenntniß des gesunden und kranken menschlichen Körpers läßt hierbei einen Irrthum, der zu einer sehr zweckwidrigen, ja gefährlichen Cur verleiten kann, vermeiden. Wenn z. B. bei Schwindel, Kopfschmerz, Ohrensausen, Flimmern vor den Augen, Ohnmacht und dergl. gegen Congestionen nach dem Kopfe (Blutüberfüllung im Gehirn) loscurirt würde, so könnte dies dem Kranken gar nicht selten sehr schlecht bekommen, da häufig alle jene Erscheinungen vom gerade entgegengesetztem Zustande des Gehirns, also von Blutarmuth herrühren[1].

3. Die Ursachen vieler beschwerlicher und selbst lebensgefährlicher Leiden sind häufig derartige, daß sie nur durch eine ganz genaue physikalische Untersuchung aufzufinden und, wenn aufgefunden, nicht selten durch eine passende örtliche Behandlung zu heben sind. Um aber eine solche, oft eine große manuelle Fertigkeit und Sinnesübung verlangende Untersuchung ordentlich anstellen zu können, dazu bedarf es, neben der gehörigen Kenntniß von den Einrichtungen im menschlichen Körper, eines jahrelangen Studiums am Krankenbette und Leichentische. Es ist nichts gefährlicher, als wenn z. B. bei Frauenkrankheiten, bei Leiden im Harn- und Geschlechtsapparate, bei sogenannten Hamorrhoidalübeln, bei leicht zu übersehenden Bruchschäden etc., Laiencurirerei und homöopathisches Nichts in Anwendung kommt.

4. Eine nicht kleine Zahl von Menschen haben, ohne daß sie es wissen, Entartungen in diesem oder jenem Organe, welche vom wissenschaftlich gebildeten Arzte bei genauer Untersuchung entdeckt und durch Angabe der passenden Lebensweise in Schranken gehalten werden können, während dieselben bei unzweckmäßiger Behandlung gar nicht selten zu einem sehr schlimmen Ende führen. So z. B. Gnade Gott Einem mit entarteten Blutgefäßwänden, wenn er in die Hände eines Kaltwasserfanatikers fällt; ein Schlagfluß ist ihm dann gewiß. Auch Die mit Tuberkeln in den Lungenspitzen – welche Entartung, wenn sie noch gering ist und den Kranken in seinem äußern Aussehen noch nicht auffällig heruntergebracht hat, sehr häufig auch von Aerzten übersehen und nicht diagnosticirt wird,[2] – sind gar nicht selten einem frühzeitigen Tode durch Lungenschwindsucht ausgesetzt, wenn sie von einem Unwissenden an sich herumdoctoren lassen. Die Purgirquacksalber und Kaltwasserärzte sind solchen Kranken am gefährlichsten.

5. Das Mikroskop und chemische Untersuchungen sind in manchen Fällen von Kranksein (z. B. bei Blut- und Harnveränderungen, Nierenleiden, Hautkrankheiten, Magen- und Darmaffectionen) ganz unentbehrliche Hülfsmittel zum Erkennen des Sitzes und des Wesens der Krankheit. Den Gebrauch dieser diagnostischen Hülfsmittel erlernt man nun aber nicht in der Schusterwerkstatt, in einer Postexpedition oder hinter dem Ladentische am sauren Gurken- und Heringsfasse. – Schon das Nichtauffinden von pflanzlichen und thierischen Schmarotzern (Parasiten), die, wenn auch nicht lebensgefährliche, so doch entsetzlich unangenehme Beschwerden veranlassen können, müßte eigentlich die Laienheilwirthschaft bei verständigen Menschen verächtlich machen. Nehmen wir z. B. die Krätzmilbe, den Kahl- und Erbgrindpilz, die Trichine etc. – das Vorhandensein aller dieser Schmarotzer muß durch das Mikroskop erst festgestellt werden, bevor man für ihre Vertilgung Etwas thun kann. – So kann die Krätze, welche von selbst nie heilt und zu ihrer Heilung durchaus der Tödtung der Krätzmilben durch örtlich wirkende Mittel bedarf, wenn sie nicht erkannt und richtig behandelt wird, nicht nur in einer Familie alle Mitglieder durch einen entsetzlich juckenden Ausschlag jahrelang peinigen, sondern sie kann auch bei längerer Dauer, in Folge der chronischen Störung der Hautthätigkeit, sowie in Folge der durch das Jucken und Kratzen unterhaltenen Nervenreizung und Schlaflosigkeit, eine solche Verschlechterung der Haut und des ganzen Ernährungszustandes erzeugen, daß förmliches Siechthum entsteht. Der curirende Laie und echte Homöopath sind demnach bei diesem Leiden ganz verwerfliche Heilkünstler.

Die Homöopathen, von denen doch auch einige die Tödtung der Milben und deren Brut durch äußere Mittel in allopathischer Form (Schmiercuren) für nothwendig erklären, behaupten, daß der innere Gebrauch des Schwefels (in der zweiten und selbst ersten Verreibung) die Krätze gründlich heilt und auch die übrigen Glieder einer Familie vor Ansteckung schützt. Herr Goullon (der allopathische Examinator im medicinischen Staatsexamen in Weimar) geht sogar so weit, daß er die örtliche Behandlung der Krätze eine unselige Heilart nennt, deren üble Folgen nicht ausbleiben werden und sich zum Theil jetzt schon an dem immer kränklicher und schwächer werdenden Geschlechte zeigen. Hr. Hirschel (in Dresden) sagt dagegen: die Krätze bedarf blos der äußern Behandlung mit milbentödtenden Mitteln; da man aber nicht stets bestimmen kann, ob die Milbe die Ursache, nicht vielleicht erst das Product der Krankheit ist, so kann man Schwefel auch innerlich geben. (Von welchen Krankheiten sind denn da die Läuse und Flöhe die Producte? Verf.) Hr. Cl. Müller (in Leipzig), nach welchem die schnelle Heilung der Krätze durch Einreibungen niemals bedenkliche Folgen bringt, will nach Tödtung der Milben ebenfalls noch den Schwefel innerlich angewendet wissen. Hr. Hering weiß dagegen, daß jede vertriebene Krätze eine andere Krankheit macht. Ein Hr. Dr. Attomyr curirt die Krätze mit dem Psoricum oder Krätzstoffe.[3]

6. Es giebt gewisse krankhafte Zustände und Beschwerden, wo man, und wenn man die Arzneistoffe auch noch so sehr haßt, doch zu deren Gebrauche gezwungen ist, natürlich nach vorhergegangener, durch genaue Untersuchung des Kranken erlangter Erkennung der Krankheit. Wie so segensreich z. B. kann ein allopathischer Arzt bei Schmerzkrankheiten mit Hülfe des Opium (Morphium innerlich oder unter die Haut gespritzt) wirken, während der echte Homöopath mit seinem Nichts auch nichts bewirken und der unverständige quacksalbernde Laie möglicherweise sogar sehr schaden kann. Wie hülflos die Homöopathen in Fällen dastehen, wo es gilt, lindernde Arzneien zur Hebung von Beschwerden anzuwenden, das zeigt sich auch recht deutlich beim Wechselfieber, wo die homöopathische Gabe des Chinin und anderer Arzneien auch gar nichts hilft. Und daher kommt es denn, daß manche Homöopathen in ihrer Privatpraxis bei wohlhabenden Leuten das Chinin zur schnellen Unterdrückung der Fieberanfälle in tüchtiger allopathischer Dose anwenden, während die Armen in den Kliniken und Polikliniken des Principes wegen der rein homöopathischen Behandlung unterworfen, für längere Zeit im Fieber erhalten und ihrer Arbeit entzogen werden. Und was ist dann das Finale? Die armen Leute gehen noch fiebernd, mit enorm angeschwollener Milz und wassersüchtigen Beinen zu einem Allopathen, werden aber im klinischen Journal als geheilt verzeichnet. Nun Leser! wie urtheilst Du denn über ein solches Gebahren von Heilkünstlern, durch welches der Arme des Principes wegen an seiner ihm so nöthigen Gesundheit geschädigt, auf den Reichen dagegen das Princip nicht angewendet wird? Pfui über solche gewissenlose Bastard-Homöopathen (wie sie von Hahnemann genannt werden)! –

7. Was die vernünftige diätetische Behandlung der Krankheiten betrifft, so verlangt diese erst recht nicht nur eine genaue Kenntniß der physiologischen und chemischen Vorgänge im gesunden menschlichen Körper, sondern auch ein richtiges Verständniß der verschiedenen heilsamen und gefährlichen Reactionsprocesse im kranken Körper. Denn es ist hierbei nöthig, die Bedingungen, unter denen die Naturheilungsprocesse die Krankheiten zur Gesundheit zurückführen, aufsuchen, herbeiführen und durch passende naturgemäße diätetische Hülfsmittel, und zwar je nach der Natur der Krankheit und [538] des Kranken in verschiedener Weise, fördern zu können. Zu den naturgemäßen diätetischen Heilhülfsmitteln gehören nun aber vorzugsweise: Luft, Licht, Nahrung, Wärme, Kälte, Wasser, Ruhe, Bewegung etc., nicht aber die für die meisten Kranken ganz naturwidrigen und deshalb oft schädlichen Kaltwasserstrapazen, die Schroth’sche trockene Semmeltortur, die Dampf- und römisch-irischen Bäder. Denn der Hauptgrundsatz bei diätetischer Behandlung eines Kranken muß stets der sein, daß der kranke Körper nicht durch ungewohnte Einwirkungen widernatürlich erregt und dadurch in seinem Gesunden gestört, sondern in ihm auf die mildeste Weise der Naturheilungsproceß unterstützt werde. – Am unvernünftigsten ist es nun aber, alle Krankheiten der Menschheit durch ein und dasselbe sogenannte diätetische Heilverfahren (manchmal mit unbedeutenden Modificationen) curiren zu wollen, wie das vorzugsweise die Kaltwasser-, Schroth’schen- und Natur-Pseudoärzte thun, denen sich natürlich noch viele andere Quacksalber, besonders mit Bädern, welchen dieses oder jenes unnütze Zeug (Lohe, Fichtennadeln etc.) zugesetzt ist, anschließen. – Daß von den wissenschaftlich gebildeten allopathischen Aerzten die allermeisten sich bei Behandlung von Krankheiten weit mehr auf arzneiliches, als auf diätetisches Verfahren verlassen, ist sehr traurig und hat Gründe, die ich vorläufig verschweigen will. Aber Zeit wird es allerdings, daß sich die Heilkunst allmählich der Heilkunde (medicinischen Wissenschaft) mehr accommodirt und endlich von einem Arzneimißbrauche abläßt, der größtentheils doch nur dem Aberglauben dummer Patienten huldigt und sogar schon den Gevatter Schneider und Handschuhmacher dahin gebracht hat, sich und seines Gleichen beim Braunbiere und bei wässerigem Gewäsch über Heilkunst zu „Naturärzten“ zu promoviren.

Schließlich wollen wir uns auch die curirenden Laien und Homöopathen einmal ansehen und ihre kindische Renommisterei und arrogante Frechheit beleuchten. Denn eine Frechheit und Unverschämtheit sonder Gleichen ist es, wenn so ein sogenannter Naturarzt, der vom gesunden und vom kranken menschlichen Körper nicht Kix und nicht Kax versteht, und ebenso wenn ein Homöopath, dessen medicinisches Wissen = 0 (gleich Nichts) ist, Männern der Wissenschaft, die viele Jahre Tausende von Kranken und Leichen untersuchten, mit der Redensart entgegentritt: Ihr versteht von unserer Heilweise nichts und wollt sie auch nicht kennen lernen, darum bekommt Ihr auch niemals eine richtige Ansicht von der Sache. Nun wahrlich, man müßte ein wissenschaftlicher Cretin sein, wenn man Heilkünsteleien nicht verstehen und sofort durchschauen wollte, die jeder dümmste Pinsel und jeder unwissendste aller Ignoranten in kürzester Zeit ohne alle Vorstudien erlernen kann. – Was die Homöopathen betrifft, so haben wir schon zu wiederholten Malen geschrieben, daß sich unter ihnen auch nicht ein einziger Mann befindet, der in der Wissenschaft genannt würde, wohl aber eine Menge von halbschürigen und verdorbenen Medicinern, sowie allerlei Abkömmlinge von Homöopathen und Laien männlichen und weiblichen Geschlechts und jedweden Standes. Und diese Gesellschaft wagt es, dem Ausspruche des Herrn Dr. Clotar Müller in Leipzig (der es übrigens auch nicht verschmäht allopathische Arzneien in großer Gabe zu verordnen) zuzujauchzen, daß unsere jetzige wissenschaftliche Medicin, das Product langjähriger eifriger Forschungen großer Gelehrter, „die personificirte Impotenz in der höchsten Potenz, eine Frucht überstürzter Verblendung“ sei, „die nicht mit der jugendkräftigen Homöopathie um die Palme des Sieges ringen kann“! – Was die wunderbaren Heilungen durch Homöopathen betrifft und die großen Erfolge der homöophathischen Heilkünstelei bei lebensgefährlichen Krankheiten, so weiß man, wie es damit steht und daß, wenn wirklich eine solche Heilung zu Stande kam, dieselbe niemals den angewandten homöopathischen Mitteln, sondern, stets den Naturheilungsprocessen zu verdanken war. Manche Homöopathen erdichten auch wunderbare Heilungen, wie z. B. Hr. Lutze in Cöthen, der die homöopathischen Arzneien mit Lebensmagnetismus versetzt. Von ihm heißt es in zwei Berichten der königl. Polizeidirection in Potsdam (vom 18. August 1846 und vom 8. Juli 1850), daß, „wo derselbe in einzelnen Fällen sich der Heilung bedeutender Uebel öffentlich gerühmt habe und in seinen Schriften noch rühme, das Gegentheil davon bekannt worden sei“.

Wenn viele Homöopathen sich rühmen, von solchen Kranken, die unter jeder andern Behandlung deshalb meistens sterben, weil die Natur nicht helfen kann, nur wenige verloren zu haben, so ist dies leicht zu erklären; denn entweder waren es jene schlimmen Krankheiten gar nicht, die sie behandelten (der Homöopath kann und braucht ja auch nicht zu diagnosticiren), oder es sprangen die Angehörigen des Kranken, wenn es mit diesem zum Tode geht, von der Homöopathie ab und holten flugs noch einen Allopathen, auf dessen Conto nun der Gestorbene kommt. So verhält es sich auch mit der Naturdoctorei, die sich sogar rühmt, daß sie durch ihre „physiatrische Wirksamkeit“ oft noch „fast vom Tode“ erretten könne.

Es ist recht human und lobenswerth, wenn Laien ihren kranken Mitmenschen zur Wiedererlangung der Gesundheit mit Rath und That beistehen, ohne damit ein einträgliches Geschäft, wie die meisten Besitzer von Kaltwasser- und Naturheilanstalten, machen zu wollen. Aber dieses Arztspielen der Laien darf nur nicht darin bestehen, daß sie auf gut Glück hin bei allen Kranken ein und dieselbe Lieblingscur in Gebrauch ziehen, wäre es auch die, wie sie meinen, „heilsame Combination des Prießnitz’schen und Schroth’schen Systems“. Das ist nicht nur recht einfältig, weil es gegen die in unserm Körper herrschenden Naturgesetze verstößt, sondern es kann auch, wie ich oben nachzuweisen suchte, sehr gefährlich ablaufen. Und ich sollte denken, es müßte so einem Naturarzte, dem nachgewiesen werden kann, daß er durch sein unbefugtes Curiren einen Mitmenschen unglücklich oder vielleicht sogar todt gemacht hat, zeitlebens Gewissensbisse machen. (Wir wollen übrigens von jetzt an dieser Art von Heilkünstlern auf die Finger sehen. Verf.) – Will der Laie sich und seinen Mitmenschen in gesundheitlicher Hinsicht wirklichen Nutzen schaffen, so strebe er zuvörderst mit allen Kräften dahin, daß die Kinder in den Schulen und im Hause mehr als jetzt von ihrem Körper und von der Gesundheitslehre lernen; er selbst mache sich aber auch mit den Gesetzen bekannt, welche zum Gesundbleiben und Gesundwerden unseres Körpers beobachtet werden müssen, um sich, seine Angehörigen und, zumal wenn er in irgend welcher Stellung auf das Volkswohl Einfluß äußern kann, seine Mitmenschen vor Schädigung der Gesundheit wahren zu können.

In späteren Artikeln wollen wir den Zweck besprechen, welchen die Männer der medicinischen Wissenschaft vor Augen haben, wenn sie dem Publicum Einblick in die Medicin zu verschaffen suchen (die Medicin popularisiren). Keinenfalls ist es der, aus jedwedem Menschen einen Curirer zu machen. – Sodann wollen wir auch einmal die Krankheiten des Menschen eine Revue passiren lassen, um an ihnen zu zeigen, einestheils wo arzneiliche, sowie alle andern Eingriffe unnöthig oder gar schädlich sind, und anderntheils wo durchaus ein wissenschaftlich gebildeter Arzt zu Rathe gezogen werden muß.
Bock.




Das Leben in Eisen und die Kunst in Holz und Stein.
Erinnerungen aus den Chemnitzer Industrie-Festhallen.


Unsere Illustration führt uns noch einmal nach Chemnitz in die Festhallen der Industrie von Sachsen und Thüringen zurück. Leser und Aussteller müssen wir aber im Voraus bitten, uns nicht die Absicht zuzutrauen oder zuzumuthen, daß wir auf ein paar Spalten der Gartenlaube eine gründliche Belehrung über den Inhalt der Ausstellung geben oder uns gar zu einer Art Vor-Jury aufwerfen und jedem Verdienste seine Krone aufsetzen wollten. Wir können keinen besseren Zweck verfolgen, als den unseres ersten Artikels: durch die Aeußerungen unserer aufrichtigen Freude über das Gesehene recht viele deutsche Menschen zu einem Besuch dieser sächsisch-thüringischen Ausstellung anzuspornen. Eben deshalb ist es heute vorzugsweise die sinnige Frauenwelt, für welche ich mich als zum Führer durch die schönen Hallen engagirt denke.

„Von der Wiege bis zum Sarg Alles von Eisen!“ Fast wörtlich habe ich diesen Ausruf von solchen Besucherinnen erlauscht, welche in der Haupthalle zur Linken des Octogon sich [539] langsam und immer langsamer von einer Waarengruppe zur andern bewegten und endlich so in Anschauen versunken und selbstvergessen stehen blieben, als ob sie sich da häuslich niederlassen wollten. Hier hat das Eisen sein Gebiet, so weit es selbst Kunstform angenommen hat, nicht das Eisen, welches die Arme und Beine des Dampfes vorstellt und im entfernten Maschinenraum donnert und rasselt. Hier ist aber auch Alles vertreten, was der Mensch an Geräthschaften des Bedürfnisses und Vergnügens, vom untersten bis zum obersten, vom größten bis zum kleinsten, auf der Straße und im Garten, in Haus und Stall, in Prunkzimmer und Wohnstube, ja sogar in Schule und Kirche selber braucht und schließlich auf dem Gottesacker sich gefallen lassen muß. Treten wir ein wenig näher.

Nur vier Firmen sind auf dieser Eisenparade vertreten, aber jede stellt ihren Mann: die Eisenhüttenwerke von Tangerhütte bei Magdeburg und von Lauchhammer in Verbindung mit den anderen gräfl. v. Einsiedel’schen Hüttenwerken von Gröditz, Riesa und Berggießhübel, ferner die Eisengießerei von G. P. Heßler in Chemnitz und Eisenhüttenwerk und Maschinenfabrik von Nestler und Breitfeld zu Erla bei Schwarzenberg im sächsischen Erzgebirge.

Wir binden uns an keine dieser Firmen und ihre Ausstellungsordnung, sondern lassen unsere Wünsche nach eigener Wahl in dem Reichthum herumschwärmen. Sorgen wir zuerst für Straßen und Plätze, so bietet man uns nicht nur das modernste Bedürfniß der Gasröhren und Candelaber aller Größe, sondern auch prächtige Brunnenständer, Veranda- und Treppengeländer, reichverzierte Haus- und Hof- oder Gartenthore, Balcone, welche die Straße schmücken, und sogar einen Balcon mit doppelter Wendeltreppe, deren ebenso zierliche, wie feste Glieder von einer Achse zusammengehalten werden.

Erstaunlich ist, was das Eisen für den modernen Hausbau leistet an Balken und Säulen, Treppen und Geländern von unten bis oben und hinauf bis zum eisernen Dachfenster. Aber wahrhaft gemüthlich wird es in den Zimmern selbst. Wo sonst Thon und Gyps, Holz und Horn, Porcellan und Elfenbein, Papiermaché und Marmor abwechselnd oder gemeinsam herrschten, hat jetzt das Eisen allein sich eingedrängt. Nicht blos der Ofen steht herrlich wie ein Werk des Bildhauers da, das köstliche Uhrgehäuse mit dem Arabeskenschmuck, die Etagère für die Damenbibliothek und die lieblichen Nippsachen, ja diese selbst sammt Tischen, Stühlen und Canapee und nicht blos die Büstchen und Statuettchen auf den Consölchen, sondern wiederum auch diese selbst, Alles ist von Eisen zu haben, Alles in anmuthiger Ordnung hier um uns her gestellt. Alles von Eisen, und um den eisernen Ring um unser bischen Dasein uns recht schlagend vor Augen zu führen, grenzen hier Taufstein und Grabkreuz vom selben Material hart an einander. Wenn wir nicht selber in den Garten wollen, für dessen Möbel in ausreichendster Weise gesorgt ist, so verwandelt der Salon sich zum Garten durch die eisernen Gartenlauben mit dem Epheublätterdach und die Blumentische, die so reizend da stehen, daß uns der Wunsch befällt: Möchten doch auch die Blumen unvergänglich sein! Kaum gedacht, ist’s geschehen: man führt uns wenige Schritte weit, und da steht ein Blumentisch von Rewitzer, welchen Igel mit unvergänglichen Blumen geschmückt hat.

Einsam, erhaben über dieses Groß- und Kleinzeug hinter sich, steht Reuchlin, der Eherne von Lauchhammer[4], am Aufgang zur Halle; er sieht aus, als wüßte er nicht recht, was er hier bedeuten soll. Aus seiner Denkmalgesellschaft, die seine Bedeutung dem Volke erst mit erklärte, herausgerissen, stellt er für die große Menge hier weiter nichts vor, als eine Gußprobe; als solche wird die Statue von den Fachleuten jedoch ebenso bewundert, wie das Bildnerwerk selbst von Künstlern und Kunstfreunden.

Weit besser versteht sich mit den Leuten der alte Fabel-Gellert, an dessen Gypsstatue wir vorüber müssen, um zur Kunst in Holz zu gelangen. Der liebe alte Herr hat sich in Aller Herzen in der Kinderzeit eingeschlichen, so daß es noch die Erwachsenen freut, ihn endlich einmal persönlich kennen zu lernen. Hinter ihm überkommt uns die berühmte Qual der Wahl. Man fühlt sich nach links und rechts, zu Franz Schneider’s und zu Friedrich’s Holzschnitzereien gleich stark angezogen. Das Weltliche siegt: wir gehen an der Kanzel vorüber zu Friedrich’s Jagdschrank, vor dem wir uns für einige Zeit niederlassen.

Dieses Meisterwerk des Kunsttischlers und Bildschnitzers Friedrich in Dresden ist ein Schrank aus Eichenholz, der in zwei Absätze getheilt ist, in dessen oberem der Gewehrstand, während im unteren das sonstige Waidmannszeug Platz findet. Der Hauptwerth desselben liegt in dem Kunstschmuck von acht Bildern, auf welche ich die Aufmerksamkeit der Besucher ganz besonders hinlenken möchte. Zuoberst der Geier mit dem Huhn in der Kralle ist eine Gruppe von außerordentlicher Wahrheit; stark und frei hebt das Raubthier als Sieger die Schwingen. Von den beiden Thierköpfen zum Ausputz der beiden Schrankseiten oben erwirbt sich das Fuchsköpfchen die meisten Freunde. Unter diesen sehen wir zur Linken drei Schnepfen an einem Nagel hängen; der Schnabel der einen Schnepfe, welche am Kopf aufgehängt ist, hat sich ihrem eigenen Gefieder auf der Brust tief eingedrückt; das Seitenstück dazu auf der rechten Seite bilden zwei Rebhühner und eine wilde Ente, die in den Flügel geschossen ist, der deshalb herabhängt. Am unteren Theile hält an jeder Seite ein Jagdhund Wache, deren jeder an einer (ebenfalls aus dem Ganzen geschnittenen) Kette liegt. Das Hauptstück aber, ebenfalls am unteren Theil, stellt eine Gruppe von vier Stück Wild vor, die aus ihrem Lager im Walde aufgeschreckt werden, weil im Hintergrund so eben ein Hirsch auf der Flucht durch das Holz bricht. Alle diese Holzschnitzereien sind der Natur abgelauschte Thierportraits; man braucht nicht Jäger zu sein, um sich von dieser ebenso geschmackvollen, wie correcten und sauberen Arbeit immer wieder angezogen zu fühlen. Uebrigens kostet dieser Schrank, was er unter „sehr hohen“ Brüdern werth ist: Achthundert Thaler.

In der Ausstellung Franz Schneider’s aus Leipzig begegnen wir sehr vielen Gegenständen in Holz, die wir vorher in Eisen vorliegen hatten: Oefen und sonstige dem Feuer dienstverpflichtete Sachen ausgenommen wiederholt sich hier ein „Leben in Holz“, durch eine in jeder Beziehung gediegene Kunst veredelt. Unter dem geschmackvollen Hausrath und Zimmerschmuck jeder Art, namentlich kunstreichen Uhrgehäusen, Basreliefs, fesselte uns auch hier ein köstlicher Blumentisch, dessen viele Schmuckketten ebenfalls aus dem Ganzen geschnitten sind. Diese Kettenschneiderei ist mehrfach angewandt und scheint eine besondere Liebhaberei des Künstlers zu sein.

Es ist kein Wunder, wenn die Blicke des Verlangens aus schönen Augen in dieser Halle viel umgehen. Da bleiben sie auf den prachtvollen Kunstmöbeln haften, dem erfrischenden Farbenspiel der Tische und Tischchen mit Holzmosaik und Glasmalereien, den Secretären und Schreibtischen von neuer sinniger Einrichtung, dem Schmuckkästchen, das selbst ein kostbarer Schmuck für einhundertundachtzig Thaler ist, den Stühlen, in denen sich’s so bequem sitzt, daß man kaum wieder aufstehen mag, und nun gar links und rechts davon, dort die Spielwaaren vom Thüringerwald (Dietz in Sonneberg) und Erzgebirge, die Lust der Kinder und der Mädchen, alt und jung, Gottlob! so lange die Welt steht, und dort die stattliche Sammlung von Pianofortes und Uhlig’schen Harmonions und darunter sogar ein Nähtischchen mit Harmonium – utile cum dulci – wer kann da widerstehen?

Des Contrastes wegen folgen uns unsere Damen aus dieser glänzenden Umgebung ein wenig abseits zur allereinfachsten Erscheinung in Holz, zu dem Reifendreher Sigismund Müller aus Seiffen bei Olbernhau. Wir sehen freilich weiter nichts, als eine alte Drehbank, die der allgemeine Industriehallendampf mit in Bewegung setzt, und einen schlichten Erzgebirgler dahinter, welcher nichts als Holzreifen, nur von verschiedenen Randvertiefungen, dreht. Lassen wir uns aber ein Stückchen aus einem solchen Reifen herausschneiden, so überrascht uns der Anblick irgend einer

[540]

Die erste Haupthalle des Industrie-Ausstellungs-Gebäudes zu Chemnitz.
Nach einer Photographie von C. Römler in Chemnitz.

[541] Thiergestalt, eines Pferdes, eines Schafes, eines Hahnes und dergl., wie sie, mit geringer Nachschnitzung und Bemalung, später der Weihnachtsmarkt für das Christkindlein liefert. Eine höchst sinnige Erfindung, die allein es möglich macht, daß trotz der schlechten Preise für das Dutzend solcher Sachen die Arbeiter dennoch davon leben können.

Von diesem Musterstück der Zeitersparniß eilen wir zu einem hölzernen Curiosum von entgegengesetzter Entstehungsweise: einem von J. H. Schulze in Dresden aus Holz geschnitzten Blumenbouquet, einem Werke feinster Kunst und riesigster Geduld. Diese Rosen und Astern, Nelken, Kornblumen, Aehren und Strauchgewächszweige in geschmackvollster Vereinigung sind ein wahres Wunder des Schnitzmessers und der beste Beweis, welcher Geduld ein Deutscher fähig ist!

Die Damen trennen sich so schwer von diesem Blumenstück, daß nur etwas noch Reizenderes sie weiter locken kann, und das winkt uns gleich in der Mittelhalle, als Schönstes herausglänzend aus der Prachtausstellung der Meißner Porcellanmanufactur: auch Blumen, aber welche! Prächtiger Gedanke! Ein ovaler Spiegel mit einer Blüthenguirlande als Rahmen! Welche zierlichen, lieblichen Formen und welche Farbenlust blühen uns da entgegen! Und nun denke man sich in den Spiegel ein Antlitz hinein, aus welchem holde Augensterne und rosige Wangen und Lippen uns entgehen blühen, und frage sich, ob es etwas Schöneres in der Welt geben kann. Man scheut sich förmlich, mit einem alten Gesicht zwischen die Blumenzierde hineinzuschauen.

Wie schade, daß nun der Raum der Gartenlaube für uns zu eng wird, um unsere Damen von Stück zu Stück im reichen Kranze der Bildwerke in Gyps und Marmor, Serpentin, Sandstein, Thon etc. herumzuführen! Wie zieht es uns zu der Tischhälfte, welche der Chemnitzer Bildhauer Händler mit seinen Gypsmodellen besetzt hat! Da ist wirkliche Kunst, Kunstverherrlichung der Industrie (Modell zum Standbild Jacquard’s, Erfinders des nach ihm benannten Webstuhls etc.) und Kunstveredelung der Gewerbe. Als letztere müssen wir auch die Erzeugnisse der Thonwaarenfabrik von Heber und Compagnie anerkennen, die es möglich machen, mit edlen Werken der Bildhauerkunst auch des Bürgers Garten zu schmücken.

Es wird aber höchste Zeit, dem einladenden Sausen und Brausen des Maschinenraumes nachzugehen. Wir folgen ihm, und da stehen wir nun vor dem größten Raum mit dem großartigsten Inhalt des ganzen Industriepalastes. Denn vollkommen wahr ist, was wir sehr gern einem Berichterstatter nachsprechen: „Die Vertretung der Maschinenfabrikation ist unstreitig das Großartigste und Interessanteste der Ausstellung, und wenn irgendwo, hat hier der Mensch Ursache, stolz zu sein; nirgends zeigt und bewährt sich die Herrschaft des menschlichen Geistes über die Natur so augenscheinlich und handgreiflich, wie zwischen diesen Rädern, Schrauben, Spindeln und Kurbeln, welche, unabänderlichen Naturgesetzen gehorchend, eine Bestimmung erfüllen, die ihnen der Mensch gegeben hat.“ – Aber wohin zuerst? Dort wettert eine Dielen- und Pfostenhobelmaschine, daß die Spähne an die Decke fliegen; da sausen die Spindeln der Selfactoren Pfaff’s und Wiede’s dreitausendmal in der Minute um ihre Achse und das Schwirren klingt wie Meeressturm; hier rauschen und brausen die mächtigen Brauereimaschinen von Münnich, von Schwalbe und Sohn, und dort drehen Dampfmaschinen stolz nur zur Parade ihre vielpferdekräftigen Arme. Und immer weiter dehnen sich die Räume! Wir wollen keine Namen mehr nennen; man thut zu Vielen Unrecht, wenn man Einigen Recht thun will. Lieber erzähle ich Eines: Ich sah einst einen Bergmann schwärmen über einen Silberblick, aber freudiger glänzte sein Auge nicht, als das eines Chemnitzer Fabrikherrn, der an seinen eigenen, trefflichen Werkzeugmaschinen vorüber, mich zu seinem Leibstück in der Ausstellung, einer horizontalen Hochdruck-Dampfmaschine mit verstellbarer Expansion und Condensation, zu fünfzig Pferdekraft, von Theodor Wiede, führte. „Sie sind Laie,“ sagte er, „und werden mein Entzücken über dieses Prachtwerk nicht verstehen. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen. Wenn der Schneider Ihnen einen Rock macht und Alles ist gut daran, so ist doch gewöhnlich der Henkel schlecht; aber an dieser Maschine ist selbst der gut!“ – Ich darf den Mann, der über andere Leistungen so gerecht und freudig anerkennend urtheilt, wohl nennen, eben weil er selbst zu den tüchtigsten Ausstellern gehört, Herr C. H. Stier (Sondermann und Stier), von dessen Wort wir wünschen, daß es in jeder Werkstätte an die Wand geschrieben und es jedem Mann der Arbeit immer klarer werde, wie viel darauf ankommt, daß auch der Henkel gut sei!

Schließlich ist es wohl für die Deutschen allerwärts von Interesse, zu erfahren, wie von dem gesammten Ausstellungsgebiet die Theilnahme der preußischen und thüringischen Theile zu der Industriefeier der königlich sächsischen Stadt Chemnitz sich verhält und wie die sächsischen Orte selbst dazu beigesteuert haben.

Vertreten sind im Industriepalast zu Chemnitz etwa zweihundertundvierzig Städte und Ortschaften; von diesen gehören gegen fünfundsiebzig Thüringen und dem preußischen Sachsen an, und viele davon thun durch die Zahl ihrer Aussteller sich vor nicht wenigen sächsischen Ausstellungsorten hervor. An der Spitze aller steht, selbstverständlich, Chemnitz mit zweihundertundfünfzig Ausstellern, dann folgen Leipzig mit einhundertundsechszehn, und Dresden mit sechsundneunzig; alle übrigen sächsischen Städte haben vor den nichtsächsischen keinen Vorzug mehr, denn neben Plauen und Döbeln steht auch Altenburg mit einundzwanzig Ausstellern und ihm nach folgen Gera mit sechszehn, Magdeburg mit vierzehn, Halle mit zwölf, Gotha mit zehn, Coburg mit sieben, Arnstadt, Erfurt und Nordhausen mit je sechs, Greiz, Merseburg, Naumburg, Pösneck, Saalfeld und Zeitz mit je drei, Eilenburg, Hildburghausen und noch einundzwanzig andere Städte mit je zwei Ausstellern und etwa achtunddreißig Städte oder Ortschaften[5] mit je einem Aussteller. Diese Betheiligung ist nicht gering, ja, wer Zweierlei, den Bruderkrieg des vorigen mit der schweren politischen Uebergangszeit dieses Jahres und die Entfernung mancher thüringischen und preußischen Industrieplätze von Chemnitz oder von einer Eisenbahn, vor Augen hat, dem wird es ein tröstlicher Gedanke sein, daß der tüchtige Bürgersinn stark genug ist, so viele Schwierigkeit zu Gunsten einer industriellen Festeinheit gerade im staatenreichsten Landstriche Deutschlands und damit zugleich dort langgehegte Vorurtheile zu überwinden und so auf immer mehr Gebieten mit eigenem freien Willen festern Grund zur deutschen Einigkeit zu legen, als es den Geboten der Macht und der Noth je gelingen wird.
Fr. Hofmann.




Die Humoristen der „Fliegenden Blätter“.


Ich habe doch recht lachen müssen, als hier in München ein Programm herumging, in welchem ein mir bekannter Journalist großartig auseinandersetzte, er wolle, um einem längst gefühlten Bedürfniß abzuhelfen, vom 1. Juli an einen süddeutschen Kladderadatsch herausgeben. Der Vater des zukünftigen Kladderadatsch fragte mich damals sehr pikirt, weshalb sein Programm meine Heiterkeit so errege, und ich konnte ihm nur schwer begreiflich machen, daß es einer Revolution und Contrerevolution bedurft hätte, um auf dem günstigen Boden, den man Berlin nennt, das im Laufe von Jahrzehnten zu zeitigen, was man gegenwärtig unter dem Namen „Kladderadatsch“ begreift, nämlich eine politische Macht. Glücklicherweise hatte ich die Nummer 13 der Gartenlaube bei der Hand und konnte durch „die Geschichte des Kladderadatsch“ ihm noch mein Recht, sein Programm auszulachen, etwas deutlicher nachweisen.

Wie nun der Kladderadatsch, dieser Inbegriff des zersetzenden politischen Witzes, eben nur aus dem Berliner Boden herauswachsen konnte, so wurzeln die Münchener Fliegenden Blätter ganz speciell im Münchener Boden und nur der harmlos glückliche Humor, der das Münchener Künstlerleben vor 1848 durchwehte, konnte diese Fliegenden Blätter hervorbringen, welche so ganz und gar die deutsche Natur mit all’ ihren blauen romantischen Träumen, mit all’ dem gutmüthigen Spott über so viele Gebrechen, mit all’ dem unergründlichen Schatz von Poesie, der sich in Scheidemünze verzettelt, [542] mit all’ dem unter Thränen lachenden Humor repräsentiren, wie nicht leicht ein zweites deutsches Blatt.

Es war eine stille gemüthliche Zeit, der Anfang der vierziger Jahre, in die auch der Anfang der Fliegenden Blätter fällt. Das Kunstleben in München stand zu der Zeit in höchster Blüthe, die Gemüther waren damals noch nicht durch die viele Politik, die sie später verarbeiten mußten, vergrämt und vergällt, der Verdienst war reichlich, die Leute brauchten zu der Zeit noch nicht all’ ihr Geld für’s Militär auszugeben und überließen sich deshalb gern einem behaglichen fröhlichen Lebensgenusse. Wie Märchen klingen uns aus dieser Zeit herüber die Schilderungen der glanzvollen Künstlerfeste, welche im Winter in den Prachtsälen der Residenzstadt, im Frühling und Sommer in den herrlichen Umgebungen der Stadt, auf den waldigen Höhen der Menterschwaig und Großhesselohe mit seltenem Glanz gefeiert wurden.

In dieser Zeit hatten sich zwei Freunde zusammengefunden, deren Namen, die jetzt Millionen von Fliegenden Blättern längst bekannt gemacht haben, damals noch sehr dunkel erschienen. Es war ein Maler und ein junger Buchhändler, Caspar Braun aus München und Friedrich Schneider aus Leipzig. Der Erstere, ein Schüler von Cornelius und Studiengenosse Kaulbach’s, kam auf den Gedanken, die Holzschneidekunst zu höherer Entwickelung zu führen, und ging deshalb nach Paris zu Grandville und dessen Xylographen, um die Sache gründlich zu studiren. Nach München zurückgekehrt, begann er in Gemeinschaft mit einem Hofrath Dessauer ein Holzschnittatelier zu errichten. Der Letztere war indeß nicht der Mann für das Unternehmen und verkaufte kurz darauf seinen Antheil an den damals noch in einer Buchhandlung Augsburgs angestellten Friedrich Schneider. Dieser kam nun nach München und war bald ein gern gesehener Gast in der bekannten Künstlerkneipe, dem Stubenvoll, machte Bekanntschaft mit vielen der daselbst verkehrenden Maler und erfreute sich an dem Humor, den diese in einer Menge vom Augenblick eingegebener Skizzen entfalteten, in welchen meistens eine oder die andere der anwesenden Persönlichkeiten mit heiterster Laune persiflirt wurde.

„Es ist doch schade,“ meinte eines Tages Schneider zu seinem Associé, „daß alle diese prächtigen Bilder in den Mappen vergraben bleiben sollen! Wie wäre es, wenn wir ein komisches Blatt herausgäben und es durch dergleichen Humoresken illustrirten?“

Braun erfaßte mit Eifer die Idee; man sprach bei Freunden und Bekannten vor, unermüdlich warb Schneider bei Künstlern und Schriftstellern herum, überall fand die Idee Anklang und die Fliegenden Blätter waren geschaffen.

Gleich die erste Nummer der neuen Zeitschrift sprach allgemein an, obwohl der literarische Theil verhältnißmäßig untergeordnet und unbedeutend war, allein mit dem Absatz des Blattes wollte es nicht recht gehen, und bei Schluß des ersten Bandes fanden sich die beiden Gesellschafter eines schönen Sonnabends nur noch im Besitze eines Wechsels von zweihundert Gulden, als ihres einzigen realisirbaren Vermögens. Zum Glück liefen schon in der nächsten Woche so viele Bestellungen auf den zweiten Band ein, daß sich die Rentabilität des Unternehmens nicht mehr in Frage stellen ließ und ein Buchhändler in Augsburg, Schneider’s einstiger Chef, die nöthigen Mittel zu energischerer Fortsetzung des Geschäftes darlieh. Jetzt war die Existenz der Fliegenden Blätter gerettet, ihren eigentlichen Aufschwung aber verdankten sie zumeist dem so überaus glücklich erfundenen, weltberühmt gewordenen Paare Eisele und Beisele.

Jetzt fanden sich Mitarbeiter die Hülle und Fülle und es war gar ein lustiges Leben und Treiben in dem Redactionsbüreau von Braun und Schneider am Dultplatz zu München. Da schrieb Fentsch seine reizenden, poetischen Novellen; Trautmann erzählte vom alten München so schön und innig, daß man bedauerte, nicht vier Jahrhunderte früher zur Welt gekommen zu sein; Graf Pocci, der originelle und geistreiche Dichter und Künstler, schuf seinen classischen Staatshämorrhoidarius und die berühmten Figuren des keroplastischen Cabinets; Hermann Marggraff, der jetzt längst unter dem grünen Rasen schlummert, erzählte seine drolligen Schnurren und Münchhauseniaden von Fritz Beutel; Levin Schücking dichtete seine herrliche Novelle „Die drei Freier“; sogar Ludwig Steub, der große Gelehrte, brachte eine reizende Erzählung vom „Seefräulein“; außer diesen Genannten war noch ein ganzes Heer von jungen namenlosen Dichtern vorhanden, die alle ihre schönsten Lieder den „Fliegenden Blättern“ gaben. Nur einige wenige von ihnen haben später Ruf bekommen, aber gerade von manchem Namen, den keine Literaturgeschichte kennt, waren Gedichte unterzeichnet, die wahre Perlen genannt werden müssen.

Und dieses Heer von Künstlern, die alle für die Fliegenden Blätter zeichneten! Da war Toni Muttenthaler, der jetzige artistische Leiter der Illustrirten Zeitung; aus wie viel hundert Zeichnungen tritt uns sein markiger, breiter und bequemer Bleistift entgegen! Da war der humoristische Carl Reinhardt mit seinen urkomischen Gestalten und Gruppen; da finden wir Stauber mit seinen graciösen Bildern aus dem Hochlande. Wie herrlich waren die feinen und zierlichen Skizzen von Schmolze, der, in die pfälzische Revolution verwickelt, ein dunkles Grab in England gefunden! Was hat Spitzweg für köstlich naive Sachen geliefert, und wer erinnert sich nicht der classischen Figuren des Winters, des Carnevals etc. vom großen Meister Schwind! Wie Viele könnten wir noch nennen, wie manchen herrlichen Holzschnitt, der da in den sechsundvierzig Bänden begraben liegt und bei dem kaum ein Anfangsbuchstabe, oft nur die Manier den genialen Künstler verräth, der ihn schuf!

Mit 1848 trat ein entscheidender Wendepunkt auch bei den Fliegenden Blättern ein; der Zauber der Romantik, der uns aus ihren vor 1848 erschienenen Bänden so übermächtig entgegenweht, diese unsagbare und doch so entschieden hervortretende specifisch süddeutsche Färbung, die namentlich für uns Norddeutsche einen so eigenthümlichen Reiz hatte, das Alles ist mit Einem Schlag verschwunden. Zwar waren die Fliegenden Blätter tactvoll genug, sich an ihr ursprüngliches Programm und aller Politik fern zu halten, aber die schwere, fried- und freudlose Zeit spiegelte sich auch in ihnen wieder und ganz konnten sie sich doch dieser Alles niederdrückenden, Alles bezweifelnden und benergelnden Stimmung der traurigen Reactionsjahre nicht entziehen. Aber wenn die Fliegenden Blätter auch ihren so eigenthümlich schönen süddeutschen Charakter unwiederbringlich verloren hatten, ihren Humor gewannen sie wieder; davon geben die dreißig und etliche nach 1848 erschienenen Bände rühmlich Zeugniß. Wir wollen nur einzelne der köstlichen Episoden aufzählen, deren sich jeder Leser der Fliegenden Blätter nur mit dem herzlichsten Lachen erinnern wird.

Die ganze Biedermeyer-Posie fällt uns zuerst ein – wer erinnert sich nicht der köstlichen Figuren des Biedermeyer, des Buchbinders Horatius Treuherz, des pensionirten Major Don Zips und ihrer herrlichen poetischen Erzeugnisse; wer hat nicht von Herzen gelacht über die geistreiche Mystification, welche dem „weiland Biedermeyer“ ein Gedicht der Goethe’schen Muse unterschob! Wir blättern weiter in den schönen Bänden; da schlagen wir das „Buch der Jahrtausende“ auf. Wo bleiben unsere Becker, Schlosser und Rotteck gegen diese geniale Art Geschichte zu schreiben und zugleich zu illustriren?

Blättern wir weiter, so sehen wir den „wohlangesehenen Bürger Graf aus Pirna mit seinem Sohn Fritzchen und seinem Freunde, dem berühmten Maler Kohle“, sich zur Reise rüsten. Gleich auf der ersten Reise erhält Fritzchen von seinem Vater arge Schläge, weil er als Resultat des Auftrages, die Stationen von Hof nach München niederzuschreiben, einen längeren Zettel mit den classischen Bezeichnungen „für Männer“, „für Frauen“ mit einigen wenigen Variationen hervorbringt.

Schlagen wir einen neuen Band auf, so fällt unser erster Blick auf die der Nummer Tausend. Das war ein seltenes und großes Fest für ein wöchentlich einmal erscheinendes humoristisches Blatt! Tausend Wochen – ein halbes Menschenalter – mußten als Jubiläumsfeier für die Fliegenden Blätter gelten. Einer, der am wackersten mitgearbeitet, daß die Nummerzahl bis Tausend anschwellen konnte, dessen Augen mit ängstlicher Sorgfalt auf jedem dieser vielen Blätter geruht hatten, der am meisten mit interessirt war an dem Gedeihen des Unternehmens, der Miteigenthümer desselben, Friedrich Schneider, sollte das schöne Fest nicht mehr erleben – nicht lange vorher war er zum ewigen Frieden entschlafen. An seine Seele war ein wackerer Künstler Eduard Ille getreten, dessen markigem Humor und bedeutungsvollen Zeichnungen wir von nun an öfter begegnen. Wie dieses Jubiläumsfest privatim im Hause von Braun und Schneider am Dultplatz gefeiert worden ist, ob viele gute Weine dabei getrunken und viel schlechte Reden dabei gehalten worden sind, wissen wir nicht, es kann uns auch nicht kümmern, aber die öffentliche Feier ist eine so höchst originelle und denkwürdige für die ganze Geschichte der Fliegenden [543] Blätter gewesen, daß wir nothwendig näher darauf zurückkommen müssen.

Kaulbach’s großer und gewaltiger Carton „die Reformation“ war damals nicht lange erst bekannt geworden und der Streit um die Berechtigung der Kunst, Männer aus den verschiedensten Jahrhunderten auf einem Blatt im gemeinsamen Wirken zusammenzustellen, war noch in schönster Blüthe. Da faßte Ed. Ille, der Nachfolger Schneider’s in der Redaction, die Idee, die Kaulbach’sche Reformation zu seinen Zwecken auszubeuten und alle die komischen Figuren, welche die Fliegenden Blätter über den ganzen Erdball getragen haben, in der Gruppirung des großen Kaulbach’schen Cartons zusammenzustellen, Alles zur Feier der tausendsten Nummer der Fliegenden Blätter. Wir sehen in dieser berühmt gewordenen Caricatur zugleich eine bildliche Chronik der Geschichte der Fliegenden Blätter vor uns, denn sie wandern alle vor uns vorbei, die Typen des Zopfes und des Lächerlichen in Literatur, Kunst und Leben, über die wir so oft und so herzlich schon gelacht haben.

Neben Eisele und Beisele, neben ihren Nachfolgern Heulmeier und Wühlhuber, neben dem Bürger Graf aus Pirna und vielen andern bekannten Gestalten, begegnen wir aber noch einem Gesichte, das uns in den Fliegenden Blättern schon tausend Mal entgegentreten und das jeder der Leser sofort kennt, mag es sich nun als „Oansigl (Einsiedel) von Brettfall“, als unzufriedener Biertrinker, als Wanderer auf den Gebirgen des Rochusberges, als Urgermane oder sonst wie präsentiren. Das dicke, runde Gesicht mit den großen Brillengläsern und dem struppigen Bart, das so grimmig in die Welt schaut, ist nie zu verkennen: es gehört dem Begründer und Eigenthümer der Fliegenden Blätter, Herrn Kaspar Braun, der zugleich der thätigste Mitarbeiter an denselben war und noch ist. Tausende der besten schlechten Witze, der ergötzlichsten Einfälle, der schnurrigsten Bilder sind von ihm und die meisten classischen Figuren, wie z. B. Eisele und Beisele, Heulmeier und Wühlhuber etc. etc. verehren in ihm den Erzeuger. Er ist der feste Fels im brausenden Ocean der Zeit, das einzig Bestehende im ewigen Wechsel; der Freund und Compagnon ist von seiner Seite in’s Grab gestiegen und von denen, mit deren Hülfe er die Fliegenden Blätter so fröhlich begann, ist kaum Einer ihm treu geblieben. Viele von den alten Helden der Feder und des Bleistiftes sind gestorben, andere arbeiten nicht mehr mit; hohe Stellungen und Berufsgeschäfte haben ihnen den Humor verdorben. Neue Kräfte sind an ihre Stelle getreten, wie dies nun einmal der Welt Lauf ist. Unter den novellistischen Beiträgen, bei denen, beiläufig bemerkt, allein ein entschiedener Zurückgang gegen früher fühlbar ist, finden wir häufig hübsche Sachen von Gerstäcker. Von den neueren Poeten sind vor allen Karl Stieler und Seyfried zu erwähnen, welche in oberbairischer Mundart wahrhaft reizende Sachen geliefert haben. Von den jetzt mitarbeitenden Künstlern ist in erster Linie W. Busch zu nennen, dessen berühmte Geschichten vom Manne mit dem Floh, dem Bad, Diogenes und die beiden bösen Buben, die Fahrt nach Hannover und viele andere mehr, durch ihren Lakonismus und die Naivetät der Ausführung in Wort und Bild sich schnell ein großes und dankbares Publicum erobert haben. Die Zeichnungen von Diez, die mit Vorliebe militärische Gegenstände behandeln, sind durch ihre Genialität, ihre schöne Form und kecke, freie Ausführung ebenfalls leicht zu erkennen. Hin und wieder, leider nur zu selten, kommen auch Sachen von Watter, der mit seinem schönen Talent nur zu sparsam vor die Oeffentlichkeit tritt. Allzufrüh wurde ein großes Talent, Heiler, der Kunst und den Fliegenden Blättern entrissen; am Nervenfieber krank, warf er ein neben seinem Bett stehendes Licht um; die Flammen ergriffen die Kissen und er mußte krank und hülflos, wie er war, verbrennen. Mit ihm verbrannten die reichen Früchte seines Lebens, alle seine Skizzen und seine Entwürfe. Sein Andenken lebt aber fort in den Fliegenden Blättern, wo seine Freunde seine so heitern und frischen Zeichnungen nur mit Wehmuth durchblättern.

Von den ältern Künstlern arbeiten außer Braun nur noch Stauber und Iller wacker fort und zeigen, daß, wenn auch das Alter die Haare färben kann, die Jahre doch keine Gewalt über den frischen Humor haben, der in diesen Männern lebt und von dem die Fliegenden Blätter eigentlich nur einen ganz kleinen Theil erhalten, während derselbe zumeist, namentlich bei Braun, nur dem Kreis der engsten Freunde zu Gute kommt. Da giebt es stille, heimliche Gesellschaften (die vier blanken Tafeln, die Pappenheimer etc.), in denen es toll und lustig genug zugehen soll und in denen allein sich der alte echte Münchner Humor, wie ihn früher die Künstler repräsentirten, noch unverfälscht erhalten hat. Will’s Gott und Ernst Keil, so plaudern wir vielleicht demnächst einmal über die Mysterien, welche in den Kneipen zum Achetz, Utzschneider etc. etc. gefeiert werden; für heute wollen wir mit dem frommen Wunsche schließen, daß es uns vergönnt sei, auch noch über die Feier des Erscheinens der zweitausendsten Nummer der Fliegenden Blätter zu schreiben, und daß alle die freundlichen Leser, deren Augen diesen Zeilen folgten, auch unsern Zukunftsartikel noch frisch und gesund lesen mögen.
C. A. Dempwolff.




Blätter und Blüthen.


Aus den Erinnerungen einer Hebamme. 2. „Du riechst mir zu gut!“ – Andere Augen habe ich freilich nicht als die übrigen Menschen des Städtchens, aber dennoch sehe ich so Vieles anders, als diese.

Da geht eine Familie der Straße entlang, ein junger eleganter Mann, eine schöne blühende Frau und an ihrer Hand ein prächtiger Knabe von vier Jahren. Die Freude wie der Neid blickt der anmuthigen Gruppe nach, übereinstimmend in dem Ausruf: „Sind das glückliche Menschen!“ – Nur eine Kleinigkeit bemerkt Niemand: den leisen Schmerzenszug um den Mund der schönen Frau und den Hauch von Kälte, der auf ihrem Gesichte ruht, wenn nicht das Kind ihn hinweglächelt.

Ich grüße sie wie alle Anderen und sie grüßt mich ebenso, aber in ihrem Blick auf mich liegt der schwere Seufzer: „Sei Du nur still! O, wenn die Leute wüßten – –“

Eines Tages wurde ich zu einer Dame gerufen, welche ihrer zweiten Entbindung entgegenging. Auch der Herr Gemahl war zugegen. Ein erquickendes Bild seligster Eintracht, als dieses junge Paar mir bot, hatte mir noch nicht vor Augen gestanden. Beide wetteiferten förmlich in Aeußerungen ihrer Zärtlichkeit und im Austausch von klagendem Mitgefühl von seiner und erheiterndem Trost von ihrer Seite. Auf ihre ausdrückliche Bitte verließ er uns endlich, um uns für unsere Frauenberathung allein zu lassen, legte mir aber die äußerste Gewissenhaftigkeit für sein geliebtes Weib mit der rührendsten Sorge an’s Herz.

Es freute mich, daß die Dame mir so viel Vertrauen schenkte, im fröhlich aufperlenden Gefühl ihres Glückes mir leuchtenden Auges zu sagen, ihre Ehe sei ein Bund reinster Liebe, der sogar gegen den Willen ihrer Eltern geschlossen worden sei und nun selbst von diesen gesegnet werde, weil noch kein einziger trüber Schatten auf ihren gemeinsamen Lebensweg gefallen sei, denn selbst der Tod ihres ersten Kindes sei als ein gemeinsamer Schmerz nur zu neuem Kitt für ihren treuen Liebesbund geworden. „Ich kann Gott nicht genug danken,“ sagte sie, „nicht einmal in die allgemeinste Hausfrauenklage, in die über die Dienstboten, brauche ich einzustimmen, denn auf unser Mädchen kann ich mich in allen Dingen so verlassen, daß ich einem Wochenbett vollkommen sorglos entgegensehen darf.“ Letzteres gereichte auch mir zum Trost, und so freute ich mich im Voraus auf die Tage, welche ich in diesem kleinen Menschenkreise zubringen sollte.

Vier Wochen später wurde ich gegen Abend eiligst zu meiner Dame gerufen. Als ich ankam, brachte ein Bote, der zu der von mir für diesen Fall bestimmten erprobten Wartefrau geschickt worden war, die Nachricht, daß diese bedenklich erkrankt zu Bett liege. Wie sehr ich dies auch bedauerte, so hielt ich es für den Augenblick doch nicht für so störend, weil mit dem Dienstmädchen der Patientin bei dessen Tüchtigkeit und Willigkeit leicht über die ersten Tage hinüberzukommen sein werde.

Ich ging denn ohne Sorgen zu der jungen Frau und erzählte ihr ruhig das kleine Mißgeschick. Wie erstaunte ich aber, als sich bei meiner Mittheilung die Züge der Dame mit einem Male auf das Merkwürdigste veränderten und sie mit unbeschreiblicher Bitterkeit in die Worte ausbrach: „Reden Sie mir nicht von meinem Dienstmädchen! Ach, wohin ist mein Glück, liebe Frau! Wohin ist das! Das ist dahin auf ewig! Hören Sie. Vorgestern kam mein Mann von einer kleinen Reise zurück und, wie allemal, brachte er mir auch diesmal eine Ueberraschung mit, und zwar ein schmuckes Kästchen mit Parfümerien, Pomaden u. dergl., über das ich herzliche Freude empfand. Heute Morgen stand ich früher auf als mein Mann und rief dem Mädchen, damit es das Frühstück hole. Es kam auch sofort, flink wie immer, aber diesmal mit köstlich duftendem Haar. Im ersten Augenblick vermuthete ich, mein Kästchen habe geheime Dienste leisten müssen, – allein plötzlich fuhr mir ein Stich durch’s Herz und ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf. Das Mädchen ging, ich eilte in die Kammer desselben, – und da stand dasselbe Kästchen, wie das meine, und ein werthvoller Shawl lag noch außerdem daneben – Wie ich wieder in die Stube gekommen, weiß ich nicht, klar war mir nur das Eine, daß die Person sofort das Haus verlassen müsse. Ich zählte den ihr noch zukommenden Lohn auf den Tisch, und als sie vom Bäcker zurückkam, dies sah, ihre Entlassung erfuhr und erschrocken fragte: ‚aber um Gotteswillen, warum denn, Madame?‘ habe ich ihr nichts geantwortet, als: ‚Du riechst mir zu gut!‘ – Blutroth und ohne ein Wort zu erwidern ging sie, packte ihre Sachen und rief weinend zur Thür ‚Adieu‘ herein, als sie das Haus verließ. Als endlich mein [544] Mann zum Frühstück kam, war er erstaunt, sich von mir allein bedient zu sehen; mit zitternder Stimme sagte ich ihm, daß ich die Magd soeben des Dienstes entlassen hätte, weil sie mir zu gut röche. Und mein Mann verlangte kein Wort der Erklärung darüber, liebe Frau, kein einziges Wort der Erklärung – auch die gewohnte zweite Tasse Kaffee verlangte er nicht – er ging, und ich weiß nun, wie schändlich ich hintergangen worden bin!“

Meine Pflicht gebot mir, für möglichste Beruhigung der tief erregten Patientin zu sorgen; ihre schwere Stunde war, in Folge der tiefen Seelenerschütterung, vielleicht rascher herbeigekommen, als dies beim ungestörten Gang ihres Herzenslebens geschehen wäre. Zu meinem Erstaunen erschien jetzt auch der Herr Gemahl, und er wich nicht vom Schmerzenslager seiner Gattin, bis Alles überstanden war. Seine Zärtlichkeiten fanden indeß keine Erwiderung; kalt ruhte ihre Hand in der seinen, ihr Mund hatte keinen anderen Trost für ihn, als durch Fragen abgezwungene Antworten, ihr Auge schreckte seinen scheuen Blick zu Boden und sprach fast Verachtung als der Knabe, den ihm sein Weib geboren, auf seinen Armen lag und er im Tone der ehemaligen Herzlichkeit ein glühendes Gebet an Gott richtete, ihm diesen Engel nicht zu rauben, wie ihren ersten. Es schien kein Sonnenblick der Freude an diesem Wochenbett – ich war froh, als ich endlich das mir unheimlich werdende Haus des äußerlich gepriesenen Glücks verlassen konnte.

Das ist die von den Blicken der Neids und der Freude begleitete Familie. Es ist später nie wieder ein Wort zwischen der Dame und mir über ihre Ehe gewechselt worden; sie hat meiner auch nicht mehr bedurft. Das nur sehe ich, daß die Liebe zu ihrem Knaben ihr die Oede ausfüllt, welche der Gatte in ihr Leben gebracht. Das ist die tadellose Ehe, die im Städtchen als Muster für Alle gilt – das ist der liebevolle Mann, die glückliche Frau – die gebrochenen Herzen sieht Niemand, denn vor ihnen lächelt das einzig glückliche Kind.




Der Nachdruck in Deutschland. Eine neue Schillerstiftung für die deutschen Schriftsteller. – Wer den in Deutschlands allgemein üblichen Nachdruck mit aufmerksamen Blicken verfolgt, wird zu ganz eigenthümlichen Resultaten gelangen. Selbst recht bedeutende und sehr wohlhabende Zeitungen schämen sich keineswegs, einen Aufsatz, der ihnen gerade gefällt, ohne Weiteres nachzudrucken. Die meisten Leute scheinen es gar nicht zu wissen, daß sie dadurch ein Unrecht und dem Schriftsteller eine Schädigung zufügen. Andere aber wissen es recht gut und greifen zu den schnödesten Mitteln, lassen den Verfassernamen fort, ändern den Titel und Anfang etc., um den Nachdruck zu verbergen und sich ungestraft zu bereichern.

Sobald ein Schriftsteller Ansprüche eines Nachdrucks wegen erhebt, wird er zunächst den Einwand hören, daß es ihm ja lieb sein könne, wenn sein Name doch recht sehr verbreitet werde. Nun frage ich aber doch einmal, was kann z. B. Gerstäcker daran gelegen sein, wenn irgend eine Buxtehuder Zeitung seinen Namen nennt – um ihm nämlich eine Novelle zu stehlen! Und in dem Falle befinden sich recht viele deutsche Schriftsteller. Da aber kein einziger derselben, und sei es der allerbedeutendste, ebenso wenig vom Vielgenanntsein, als von Mondschein und Morgenroth zu leben vermag, so müssen sie wohl oder übel ihrerseits fortan jeden unerlaubten Nachdruck unnachsichtlich verfolgen.

Hierzu werden nun bereits durch eine Organisation, die vom deutschen Schriftstellerverein ausgeht, die entschiedensten Schritte eingeschlagen. Nach diesen wird zunächst eine Aufforderung an sämmtliche deutsche Zeitungen erlassen, sich des ehrlosen Nachdrucks ferner zu enthalten. Derselben ist ein Verzeichniß beigefügt, mit Namen und Wohnungsangabe aller derjenigen Schriftsteller, welche bereit sind, unter billigen Ansprüchen die Wiederabdrücke ihrer Arbeiten zu gestatten. Eine kleine, freiwillig gebildete Commission ist bereits in voller Thätigkeit, um an den Centralpunkten des Zeitungs- und Zeitschriftenverkehrs den Nachdruck zu überwachen und durch Listen und Kreuzbandsendungen sämmtliche Nachdrücke zur Kenntniß ihrer Eigenthümer zu bringen. Alle ohne Namensangabe begangenen und nicht so leicht zu ermittelnden Nachdrücke sollen in den betreffenden Zeitungsexemplaren gesammelt und am nächsten Schriftstellertage in Dresden öffentlich ausgelegt werden, damit jeder Anwesende dann sein herrenlos herumlaufendes Gut zu reclamiren vermag. – Werden auf diese Weise die bis jetzt nachdruckenden Blätter gezwungen, auch nur die geringe Summe von je fünfzig Thaler für das ganze Jahr zur Beschaffung ihres Lesestoffes auszusetzen – so erwächst daraus den deutschen Schriftstellern der außerordentliche Zuschuß von fünfzigtausend Thalern jährlicher Einnahmen.

Zugleich leidet aber zweifellos Niemand Schaden dadurch. Denn jener einzig statthafte Einwand: daß man dadurch die kleinen und kleinsten Localblätter vernichten und somit die Volksbildung beeinträchtigen werde, beruht in einer schiefen Auffassung. Einerseits wird nämlich jeder human denkende Schriftsteller die Wiederabdrücke seiner Arbeiten unter so liberalen Bedingungen gestatten, daß gewiß keine höhere Summe, als etwa fünfzig Thaler zur jährlichen Füllung des Unterhaltungsstoffes in den kleinsten und ärmsten Blättchen erforderlich ist, und andrerseits kann die Summe von fünfzig Thalern für das ganze Jahr unzweifelhaft das winzigste Wochenblatt ohne Opfer erschwingen. Damit fallen dann aber jene düstern, unappetitlichen und unsaubern Geschichten, die zur Volksbildung nichts weniger als geeignet sind und bis jetzt meistens neben den unerlaubten Nachdrucken die Spalten solcher Blätter füllen, ganz von selbst fort. Auch braucht der Besitzer eines solchen Blattes nicht mehr, wie bisher, nur gerade das, was ihm in den Wurf kommt, abzudrucken, sondern er kann nach Einsicht und Ermessen wählen und er wird dann selbstverständlich doch nicht thörichterweise noch schlechte Machwerke ankaufen, wenn er gute Leistungen anerkannter Schriftsteller für dieselben Preise zu erwerben vermag. Somit kann in jeder Hinsicht die Volksbildung nur gewinnen.

Wir wollen hiermit diese Angelegenheit gewissermaßen vor das Forum des ganzen deutschen Volkes gezogen haben und verweisen dringend alle Freunde der zeitgenössischen Literatur, sowie alle hierbei Betheiligten auf den in Nr. 31 der „Deutschen Blätter“ abgedruckten Artikel „Nachdruckliches“, welcher einerseits das Wesen, die Nachtheile und Uebelstände des Nachdrucks, andererseits die Verhältnisse der deutschen Schriftsteller, sowie die angedeuteten Bestrebungen derselben: durch Unterdrückung des Nachdrucks sich eine jährliche Mehreinnahme von etwa fünfzigtausend Thalern und damit eine neue, durchaus stichhaltige Schillerstiftung zu begründen, eingehend beleuchtet.




Instinct oder Ueberlegung? Vor langen Jahren besaß meine Mutter einen (nun längst verstorbenen) Pinscher, der ihr und der ganzen Familie Liebling war, ein Muster von Intelligenz und Behendigkeit, von Anhänglichkeit an seine Herrin und zuweilen auch von – Launen. Wenn Abends meine Mutter das Bett aufschlug, um sich zur Ruhe zu legen, da war in der Regel das verzogene Kindchen rasch zur Hand, um vor der Herrin den besten Platz in des Bettes Mitte zu erobern und dann nur zögernd und widerwillig, selbst knurrend und brummend, der einsteigenden Herrin ein Weniges zu weichen.

Er war eben ein Muttersöhnchen, und damit auch bei Nacht dem lieben Kind nichts fehle, stand in der Schlafkammer neben seiner Herrin Wasserkrug stets, auch bei Nacht, ein mit Wasser gefüllter Thonnapf. Kam es nun zum Schlafengehen, so wurde manche Kriegslist angewandt, um das liebe Kind vom Bette wegzulocken und dieses vor ihm zu gewinnen, und wie es eben traf, bald siegte die Herrin, bald der Hund.

So hatte denn auch eines Abends die Herrin gesiegt und freute sich des Sieges mit Recht, denn am Nachmittage hatte sie, von dem Hunde begleitet, einen sehr ausgedehnten Spaziergang gemacht, von dem sie nicht wenig ermüdet heimkehrte. Alles schien gut. Der Hund war glücklich überlistet worden und hatte mit einem Nebenplatze im Bette vorlieb nehmen müssen. Kaum aber war Alles in dieser Weise geordnet – meine Mutter wollte eben das Licht löschen – als Freund Ami, so müde er selbst auch sein mochte, sich erhob, schonungslos über seine Herrin hinwegschritt und mit einem entschlossenen Sprunge das Bett verließ. Nach dem Saufnapfe trollte er hin, der Arme, den der Durst nicht ruhen ließ auf weichem Lager. Aber siehe da! Der Saufnapf blieb unberührt von ihm, nur am Rande leckte die lechzende Zunge, und zungenleckend, unter mucksenden, bittenden Tönen, kehrte der Hund zurück zur entgegengesetzten Ecke der Kammer, zum Bette, von wo die Herrin verwundert ihm nachgesehen hatte – also das Wasser fehlte im Saufnapfe! Seltsam, es ging ja doch sonst Alles wie am Schnürchen bei der alten, pünktlichen Dame! Doch Irren ist menschlich. Es war vergessen worden, den Napf zu füllen, das mußte nachgeholt werden und meine Mutter stand sofort auf, um dies zu thun. Aber wie staunte sie, als sie den Napf bis zum Rande gefüllt vorfand! Wie viel mehr staunte sie, als in demselben Augenblick der Hund mit kühnem Satze in das jetzt leergewordene Bett sprang, dessen Mittelplatz er nun mit Hartnäckigkeit seiner Herrin streitig zu machen suchte.

Der Hund hatte auf seiner Herrin Mitleid speculirt, indem er Durst und Wassermangel heuchelte, um die Herrin aus dem Bette zu locken und dann ihren Platz einzunehmen.

Und der Hund hatte richtig speculirt; der Hund hatte den Menschen überlistet! Welche Gedankengänge in der Seele eines Hundes, deren Dasein beschränkte Rechtgläubige und Frömmlinge am liebsten ganz leugnen möchten!
A. St.




Freiligrath-Dotation.


Bei der Redaction der Gartenlaube gingen wieder ein: Von der Gesellschaft „Klapperkasten“ in Leipzig, Ertrag des Festabends für Freiligrath 200 Thlr.; M. F. in Halle a. S. 1 Thlr.; Anna D. in Graz 1 Thlr.; Redaction des Gothaer Tageblattes 4 Thlr.; bei einem fröhlichen Geburtstagsfeste in Guben 3 Thlr.; Prof. Schöntag in Rothenburg 1 Thlr.; ein Deutsch-Oesterreicher in Wien 3 Thlr.; W. W. in Calbe a. S. 1 Thlr.; aus Rastatt, im engern Kreise gesammelt 11 Thlr.; C. S. aus Fürth 1 Thlr.; Magdeburger Arbeiter-Bildungs-Verein 10 Thlr.; von vierzehn Mitgliedern der Euterpe in Buchholz 14 Thlr. 15 Ngr.; Zachariae in Bleialf 2 Thlr.; von Mitgliedern der Forster Liedertafel 5 Thlr.; A. Hülsen in Gr. 1 Thlr.; R. und S. in Petersburg 10 Thlr.; einige Deutsche und Schweizer in Livorno 30 Thlr.; aus Alt-Strelitz, eingesandt von Dr. Daniel Sanders, erster Beitrag 22 Thlr.; von einer Tanzkränzchengesellschaft in Sommerfeld 4 Thlr. 12 Ngr. 5 Pfg.; Adolf Geipel in Bautzen 2 Thlr.; G. C. und Comp. in Frankfurt a. M. 5 Thlr.; H. B. und W. Sp. in Lindau 4 Thlr.; gesammelt auf einem Turntage in Lambrecht 10 fl.; der Liederkranz in Bamberg 100 fl.; Ertrag einer Sammlung bei dem Waldfeste, welches am 21. Juli die „Ausburger Liedertafel“ in Verbindung mit den Gesangvereinen Cäcilia, Concordia, Amicitia und Liederkranz veranstaltete, 331 fl. 12 Xr.; für sieben Glaubensbekenntnisse von Freiligrath 8 Thlr.
Die Redaction.




Inhalt: Das Geheimniß der alten Mamsell. Novelle von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Nach vierzig Jahren. Von Ferdinand Stolle. Mit Illustration. „Gedanken über das Curiren von Krankheiten. 3. Strafpredigt gegen curirende Laien, Naturärzte und Homöopathen. Von Bock. – Das Leben in Eisen und die Kunst in Holz und Stein. Erinnerungen aus den Chemnitzer Industrie-Festhallen. Von Fr. Hofmann. Mit Abbildung. – Die Humoristen der „Fliegenden Blätter“. Von C. A. Dempwolff. – Blätter und Blüthen: Aus den Erinnerungen einer Hebamme. 2. „Du riechst mir zu gut!“ – Der Nachdruck in Deutschland. – Instinct oder Ueberzeugung? – Freiligrath-Dotation.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. WS: In der Vorlage ‚berrühren‘.
  2. Es ist dies insofern schlimm, als bei allgemeiner Wehrpflicht auch Tuberculöse mit zum Soldatendienste ausgehoben werden und recht leicht in Folge des anstrengenden Dienstes einen sogenannten Tuberkelnachschub erleiden können, der zu lebenslänglichem Siechthume oder zum Tode führen kann.
  3. Was das Psoricum für ein spaßiger Stoff ist, erzählt uns Herr Attomyr selbst. Er sowohl wie seine Tochter hatten von dem Mittel eingenommen, die letztere drei Körnchen von der einunddreißigsten Verdünnung und – nach drei Tagen fanden beide ihre Köpfe von sehr reger Bevölkerung belebt, zumal das Fräulein! Der Doctor war nun nicht länger im Zweifel, daß dasselbe Mittel auch das herbeigerufene Uebel vertreiben werde, und erhielt von einem Freunde, der es in seiner Praxis angewandt, bald die Bestätigung seiner Annahme.
  4. Wir benutzen diese Gelegenheit, um in der Gartenlaube noch einmal auf unsern Artikel über Lauchhammer („Die Reformatoren in der Gießhütte“, Nr. 27) zurückzukommen, über welchen einige Berichtigungen und Wünsche eingegangen sind. Vor Allem wünscht man die Wege und Brücken nicht zu sehr verdächtigt zu sehen; sie glichen nur bei sehr anhaltender Nässe dem von uns gebrachten Bilde derselben, seien aber den größten Theil des Jahres gut; auch das Stützen der Brücken soll nur ausnahmsweise, beim Transport großer Monumente, wobei bis zu dreihundert Centner schwere Lasten zu bewegen waren, vorgekommen, dann aber bei andern und sogar Festungsbrücken ebenso nothwendig gewesen seien. Was die Transportmasse von Lauchhammer betreffe, so betrage dieselbe wöchentlich im Durchschnitt zehntausend Centner; das Hauptproduct des Werks sind Eisengußwaaren, der Statuenguß muß neben diesem, trotzdem er nichts weniger als unbedeutend, doch als Nebenbranche betrachtet werden. Ebendeswegen verdient auch die Notiz Mittheilung, daß in Lauchhammer schon im Jahre 1785 mit dem Emailliren eiserner Kochgeschirre begonnen worden ist.
  5. Sogar ein Zuchthaus hat sich bei der Ausstellung eingefunden: die altenburgische Bergveste Leuchtenburg, deren Sträflinge sich in Korbwaaren auszeichnen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Don Carlos III,10 / Marquis von Posa (1787).
  2. siehe Johanne Justine Renner