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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1867
Erscheinungsdatum: 1867
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[433] No. 28.
1867.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen.     Vierteljährlich 15 Ngr.     Monatshefte à 5 Ngr.


Das Geheimniß der alten Mamsell.
Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Die Regierungsräthin hatte mit dem weichsten Ton ihrer flötenartigen Stimme gesprochen und bot dem Professor lieblich lächelnd die Hand. Sonderbar, der ernste Mann erröthete wie ein junges Mädchen – es war ihm wohl selbst unbewußt, daß ein scheuer Seitenblick rasch nach der hinüberstreifte, die mit gesenkten Lidern am Bett des Kindes saß – er erfaßte zögernd die Hand mit zwei Fingern und ließ sie sofort wieder fallen… Die zwei Taubenaugen, welche bittend und unverwandt auf seinem Gesicht geruht hatten, funkelten auf, und das Gesicht erblaßte, aber die Sanftmuth wurde tapfer behauptet. Die junge Frau nahm den Kopf ihres Kindes zwischen ihre Hände und hauchte einen Kuß auf die kleine, fieberglühende Stirn.

„Ich kann nun Aennchens Pflege wieder übernehmen und danke Ihnen herzlich, liebe Caroline, daß Sie mich einstweilen vertreten haben,“ sagte sie freundlich zu Felicitas.

Das junge Mädchen erhob sich rasch, aber die Kleine brach in ein bitterliches Weinen aus und umklammerte mit beiden Händchen fest ihren Arm.

Der Professor prüfte den Puls des Kindes.

„Sie hat starkes Fieber; ich darf durchaus nicht zulassen, daß sie sich noch mehr aufregt,“ sagte er mit kalter Freundlichkeit zu Felicitas. „Sie bringen wohl das Opfer, dazubleiben, bis sie eingeschlafen sein wird?“

Sie nahm schweigend ihren Platz wieder ein, und er ging hinaus. Zu gleicher Zeit eilte die Regierungsräthin in ihr Wohnzimmer und ließ die Thür hinter sich ziemlich unsanft in’s Schloß fallen. Felicitas hörte, wie sie drin mit raschen Schritten auf und nieder lief. Plötzlich klang ein scharfes Geräusch wie das Zerreißen irgend eines Gewebes durch die Thür. Aennchen richtete sich horchend auf und fing an zu zittern; das Geräusch wiederholte sich und folgte immer rascher aufeinander.

„Mama, Aennchen will artig sein, will’s nicht wieder thun! Ach, Mama, Aennchen nicht patschen!“ rief das Kind plötzlich wie außer sich.

In dem Augenblick trat Rosa in das Zimmer. Das frische Gesicht des Mädchens sah blaß und erschreckt aus.

„Sie zerreißt wieder einmal – ich hörte es auf dem Vorplatz,“ murmelte sie mit einem unsäglich verächtlichen Ausdruck zu Felicitas hinüber. „Still, Herzchen,“ flüsterte sie dem Kind beschwichtigend zu, „Mama thut Dir nichts; sie kommt nicht heraus und wird bald wieder gut.“

Drüben wurde eine Thür zugeschlagen, die Regierungsräthin hatte sich entfernt. Rosa ging in das Wohnzimmer und kam gleich darauf mit einem Bündel weißer Fetzen in der Hand zurück – es waren die Ueberreste eines ehemaligen Battisttaschentuches.

„Wenn sie in Wuth kommt, so kennt sie sich selbst nicht mehr!“ grollte das Mädchen flüsternd. „Da zerreißt sie, was sie gerade unter den Händen hat, und schlägt auch ohne Gnade und Barmherzigkeit zu – das weiß der arme, kleine Tropf da recht gut.“

Felicitas drückte das Kind an ihre Brust, als müsse sie es vor den Zornausbrüchen der leidenschaftlichen Mutter schützen, ihre Besorgniß war jedoch ohne Grund. Die Stimme der Regierungsräthin klang plötzlich in ihrer Glockenreinheit vom Vorsaal her; sie plauderte heiter mit dem die Treppe herabkommenden Rechtsanwalt, und als sie bald darauf das Schlafzimmer wieder betrat, war ihr Aussehen schöner und anmuthiger denn je. Die Zornröthe lag noch als zart hingehauchter Carmin auf den sanft gerundeten Wangen, und wer hätte bei dem ganzen lieblichen Gesichtsausdruck den auffallenden Glanz der Augen für etwas Anderes als die erhöhten Regungen einer schönen weiblichen Seele halten mögen?


16.

Als Felicitas auf das Ersuchen des Professors hin den Platz an Anna’s Bett wieder einnahm, hätte sie nicht gedacht, daß sie ein vieltägiges Wärteramt antrete – die Kleine wurde gefährlich krank und litt weder ihre Mutter noch Rosa in ihrer Nähe; nur der Professor und Felicitas durften sie berühren und ihr die Medicin reichen. In ihren Fieberphantasieen spielte das zerrissene Battisttuch eine große Rolle. Der Professor hörte mit Verwunderung die Angst- und Furchtäußerungen des Kindes und jagte mehr als einmal durch seine eindringlichen, forschenden Fragen die Röthe des Schreckens und der Verlegenheit in das Gesicht der Regierungsräthin. Sie blieb aber, von Rosa unterstützt, stets bei dem Ausspruch, daß Aennchen einen schlimmen Traum gehabt haben müsse.

Felicitas fand sich rasch in ihre Aufgabe als Pflegerin, obgleich ihr dieselbe anfänglich durch den stündlichen Verkehr mit dem Professor sehr erschwert wurde, aber die Sorge um das Leben des Kindes, die sie mit ihm theilte, half ihr schneller über das Peinliche ihrer Situation, als sie meinte. Es kam ihr selbst höchst wunderbar vor, wie gut sie ihn in seinem Wesen als Arzt verstand. Während er den Anderen, selbst der Mutter des Kindes, undurchdringlich erschien, wußte sie stets sofort, ob er die Gefahr gesteigert fand oder Hoffnung schöpfte. Deshalb bedurfte es aber auch fast nie eines erklärenden Wortes seinerseits, um sie [434] auf das eingehen zu machen, was der Augenblick erheischte. Er wechselte mit ihr im Nachtwachen ab, allein auch tagsüber war er sehr viel im Krankenzimmer. Stundenlang saß er geduldig neben dem Bettchen und legte seine Hände abwechselnd auf die Stirn des Kindes – dann ruhte es still und unbeweglich, es mußte eine eigenthümlich beschwichtigende Kraft in diesen Händen liegen.

Unwillig und tief erregt suchte das junge Mädchen die vergleichenden Gedanken abzuschütteln, die sie beschlichen, wenn sie, unfern von ihm sitzend, ihn schweigend beobachtete. Das waren noch dieselben unregelmäßigen, harten Linien des Gesichts, dieselbe wuchtig hervortretende Stirn, über welcher das dicke Haar peinlich sorgfältig zurückgestrichen lag – es waren dieselben Augen, dieselbe Stimme, Alles in Allem der Schrecken ihrer Kindheit, aber den finster asketischen Zug, der einst den Jünglingskopf so unjugendlich und abstoßend hatte erscheinen lassen, suchte sie vergebens… Von jener nicht schön geformten, jedoch bedeutenden Stirn ging es aus wie ein mildes Licht, und wenn sie hörte, wie er dem aufgeregten Kind mit unaussprechlich sanfter Stimme beschwichtigend zuredete, so konnte sie sich nicht verhehlen, daß er seinen Beruf in seiner ganzen Heiligkeit erfasse. Er stand nicht mit kalt-grausamem Achselzucken den unvermeidlichen Schmerzen Anderer gegenüber, er suchte nicht allein den Körper vor der Vernichtung zu retten – die bangende Seele fand an ihm eine Stütze; sie las das Mitgefühl in seinen Augen und schöpfte Muth und Trost aus seiner Stimme. Er hatte die Sprache in seiner Gewalt, wie selten ein Mensch. Es standen ihm Klänge und Worte zu Gebote, die das Herz des jungen Mädchens wie elektrische Schläge berührten… Wer dachte in solchen Augenblicken an seine unschönen, eckigen Bewegungen, an sein abstoßendes Wesen im geselligen Verkehr? Da war er eine sittlich schöne Erscheinung, ein Mann im Bewußtsein großer, moralischer Kraft, der rastlos denkende und kämpfende Vermittler zwischen den zwei erbitterten Gegnern „Leben und Tod“… Aber mochten auch alle diese Gedanken versöhnend an ihr vorüberziehen, die Schlußbetrachtung war dieselbe: „Er fühlt und denkt menschlich, er hat Erbarmen mit dem hülflosen Zustand des geringsten Nächsten – das verfehmte Spielerskind hat mithin doppelten Grund, ihn zu verabscheuen, denn ihm war er ein mitleidsloser Unterdrücker, ein vorurtheilsvoller, ungerechter Richter.“

Er hatte bei dem jetzigen täglichen Verkehr nicht ein einziges Mal jenen weichen Ton wieder angeschlagen, der ihr schrecklich war und gegen welchen sie stets mit den Waffen des Trotzes und der Zurückweisung kämpfte. Er hielt die kalt höfliche Freundlichkeit fest, die er seit dem letzten Gespräch mit ihr angenommen, und auch diese lag mehr in seinem Gesichtsausdruck, als in seinen Worten, denn, die unerläßlichen Fragen ausgenommen, sprach er fast nie mit ihr. Einen schweren Stand hatte er der Regierungsräthin gegenüber. Sie geberdete sich anfänglich wie unsinnig und wollte es durchaus nicht zulassen, daß Felicitas ihre und Rosa’s Stelle am Krankenbett einnehme; es bedurfte seiner ganzen Entschiedenheit, um sie zur Ruhe zu bringen. Dagegen ließ sie es sich durchaus nicht nehmen, alle Augenblicke den von dem Kinde so sehr gefürchteten Lockenkopf lauschend zur Thür hereinzustecken; sonderbarer Weise traf es sich dann stets, daß ihr Cousin und Felicitas zusammen im Krankenzimmer waren… Sie weinte und rang die weißen Hände – es giebt kein menschliches Gesicht, das in wahrhaft schmerzlicher und angstvoller Aufregung schön unter einem Thränenerguß bliebe; mögen die Dichter auch ihre Heldinnen ‚hinreißend in ihren Thränen‘ sein lassen – hier aber auf diesem rosigen Oval vertiefte sich kein Zug, nicht ein krampfhaft verzogenes Fältchen erschien, die zarte Haut zeigte keinen einzigen entstellenden rothen Flecken, leise rieselten die hellen Thränenperlen über die Wangen – es war ein so vollendet künstlerisches Weinen, wie es sich der Maler zu einer Mater dolorosa nicht schöner denken kann… Welch’ ein Unterschied zwischen ihr und jenem bleichen, überwachten und angstvollen Mädchengesicht am Bett des Kindes! … Jeden Abend erschien sie pünktlich in elegantem Schlafrock; ein wunderfeines Spitzenhäubchen umschloß das bezaubernde Gesicht, und die feinen Hände hielten ein Andachtsbuch – sie wollte wachen. Ein und dasselbe Wortgefecht erhob sich jedes Mal zwischen ihr und dem Professor, sie wiederholte stets ein und dieselbe Phrase der Verwahrung gegen Eingriffe in ihre mütterlichen Rechte und ging dann sanft weinend und klagend, um am anderen Morgen frisch wie eine Mairose aufzustehen.

Es war der neunte Abend seit Aennchens Erkrankung. Das Kind lag in dumpfer Betäubung; nur dann und wann rang sich ein unarticulirtes Lallen von seinen Lippen. Der Professor hatte lange, die Stirne sorgenvoll in die verschlungenen Hände gedrückt, am Bettchen gesessen; da stand er plötzlich auf und winkte Felicitas in das Nebenzimmer.

„Sie haben die vergangene Nacht gewacht und sich auch gestern und heute nicht einen Moment der Ruhe gönnen dürfen, und doch verlange ich noch weitere Opfer von Ihnen,“ sagte er. „Diese Nacht wird entscheidend sein. Ich könnte nun zwar meine Cousine oder Rosa in die Nähe des Kindes lassen, denn es ist bewußtlos; aber ich brauche wahrgemeinte Hingebung und Besonnenheit neben mir – wollen Sie heute noch einmal wachen?“

„Ja.“

„Doch es werden voraussichtlich Stunden der Angst und Aufregung, die Sie durchmachen müssen – fühlen Sie sich noch stark genug?“

„O ja – ich habe das Kind lieb, und schließlich – will ich.“

„Haben Sie ein so festes Vertrauen auf die Kraft Ihres Willens?“ Seine Stimme nahm bereits wieder jene milde Färbung an.

„Er ist mir bis jetzt noch nicht treulos geworden,“ entgegnete sie; ihr bis dahin völlig ruhiger Blick wurde sofort eisig und abweisend.

Die Nacht brach herein – eine süße, lautlos schweigende Frühlingsnacht! Das volle, funkelnde Mondlicht schwebte über der schlafenden Stadt; im Erkerzimmer des alten Kaufmannshauses streifte es gleichsam mit silbernem Flügel die stillen Bilder an den Wänden und hauchte ein fremdartiges Leben über die festgezauberten Gestalten; die Blumen im Fußteppich leuchteten auf unter dem bleichen Licht, und aus dem Krystallkronleuchter an der Decke sprühten Millionen Silberfunken… Drin, aber im dunklen Krankenzimmer, kreiste eine furchtbare Gewalt über dem schmalen Bett – die Kreise wurden enger und senkten sich tiefer und tiefer auf den qualvoll ringenden, kleinen Körper, das Kind lag in den heftigsten Krämpfen… Der Professor saß neben dem Bett; sein Blick ruhte unverwandt auf den zuckenden Gliedern und dem unkenntlich gewordenen, verzerrten Gesichtchen. Er hatte Alles gethan, was im Bereich ärztlicher Kunst und menschlichen Wissens lag, und nun mußte er macht- und thatlos verharren und die Naturkräfte ihren erbitterten Streit allein auskämpfen lassen.

Draußen schlug es zwölf mit langaushebenden Schlägen. Felicitas, die still am Fußende des Bettes saß, schauerte in sich hinein: es war ihr, als müsse eine dieser mächtigen Schwingungen die Kinderseele mit hinwegnehmen … und wirklich wurde der heftig arbeitende Körper plötzlich schlaffer, die kleinen, festgeballten Hände lösten sich und fielen matt auf die Decke, und nach wenig Augenblicken lag auch das Köpfchen bewegungslos in den Kissen. … Der Professor hatte sich über das Bett geneigt – bange zehn Minuten verstrichen, dann hob er den Kopf und flüsterte bewegt: „Ich halte sie für gerettet!“

Das junge Mädchen bog sich forschend über die Kranke; sie hörte tiefe, ruhige Athemzüge und sah, wie sich die kleinen, todtmüden Glieder behaglich in den Kissen streckten. Lautlos erhob sie sich und ging hinaus in das Nebenzimmer. Sie trat in eines der weit offenen Fenster. Die würzige Nachtluft, in die sich bereits ein Hauch von herber Morgenröthe mischte, strich erquickend an ihr vorüber; sie lehnte das müde Haupt an die steinerne Fenstereinfassung, während ihre gefalteten Hände schlaff niedersanken. Auf dem Sims stand ein Theerosenstrauch; er hatte eine einzige, prachtvolle Blüthe – doppelt bleich im weißen Mondenglanz, hing sie schaukelnd über der blassen Stirn, dem flimmernden Haar des Mädchens… Felicitas’ Pulse klopften fieberhaft – kein Wunder! da drin in dem dumpfen, schwülen Raum war ja der Tod hart an einem Menschen vorübergeschritten; die Spannung ihrer Nerven während der letzten Stunden war eine furchtbare gewesen – kein anderer Laut, als das vereinzelte, schrille Aufkreischen des Kindes hatte ihr Ohr getroffen; sie hatte nichts gesehen, als den zuckenden Körper der Kranken und das stumme, bleiche Gesicht des Arztes, der nur durch Winke und Blicke ihre Hülfleistungen forderte – vier enge Wände umschlossen ihn und sie allein; sie wirkten zusammen in Ausübung der Nächstenpflicht und Barmherzigkeit, während die tiefe Kluft des Hasses und des Vorurtheils zwischen ihnen lag.

[435] Die heißen, trockenen Augen des jungen Mädchens starrten durch das gegenüberliegende Eckfenster nach der mondbeleuchteten Fronte des Rathhauses. Die Statuen zu beiden Seiten der Uhr, eine Muttergottes und der h. Bonifacius, traten geisterhaft lebendig aus ihren Nischen hervor – was half es, daß sie schützend und segnend da droben standen? Dicht unter ihnen war das Unglück geschehen. Die drei hohen Fenster dort, die jetzt silbern glitzerten, hatten an jenem unglückseligen Abend die rothe Gluth einer feenhaften Beleuchtung ausgestrahlt, und da, wo jetzt der Mondschein einsam und harmlos auf dem Boden spielte, war die wundervolle Frauengestalt unerschrocken vor die versammelte Menschenmenge und die dräuenden Feuerwaffen hingetreten; aber unter dem Panzer hatte ein warmes, banges Mutterherz geklopft – einsam, im fremden Hause schlummerte derweil ihr Kind, für das sie erwerben mußte, für das sie immer wieder hinaustrat, bis die letzten sechs Schüsse krachten, unter denen sie sterbend zusammenbrach.

Der Professor trat aus dem Krankenzimmer und schloß die Thüre geräuschlos hinter sich. Er ging auf Felicitas zu, die unbeweglich im Fenster stehen blieb.

„Aennchen schläft sanft,“ sagte er. „Ich werde den Rest der Nacht bei ihr bleiben; ruhen Sie nun auch.“

Felicitas verließ sofort, ohne das Ende seiner Worte abzuwarten, die Fensternische und ging schweigend an ihm vorüber, um das Zimmer zu verlassen.

„Ich meine, heute sollten wir doch nicht so fremd auseinandergehen!“ rief er ihr mit gedämpfter Stimme nach – fast klang es, als streife er wider Willen den Bann des ernsten Schweigens ab. „Wir haben in den letzten Tagen treulich, wie zwei gute Cameraden, zusammengehalten und gemeinschaftlich ein Menschenleben dem Tode abzuringen gesucht – bedenken Sie das!“ fügte er warm hinzu. „In wenigen Wochen gehen wir ja ohnehin auseinander und jedenfalls auf Nimmerwiedersehen… Ich will Ihnen die Genugthuung nicht versagen, einzugestehen, daß Sie durch eigene Kraft Vieles widerlegt haben, was ich an Vorurtheil und übler Meinung Ihnen gegenüber neun Jahre hindurch festgehalten; nur in einem dunklen Punkt, in Ihrem unseligen Haß und Starrsinn sind Sie das ungeberdige Kind geblieben, das einst meine ganze Härte und Strenge herausgefordert hat!“

Felicitas war ihm wieder einige Schritte näher getreten. Der Mondschein überstrahlte voll ihre Gestalt. So wie sie dastand, den Kopf stolz über die Schulter nach ihm zurückbiegend, während das Gesicht mit den strenggeschlossenen Lippen noch tiefer erblaßte, lag etwas unerbittlich Feindseliges in der ganzen Erscheinung.

„Bei den Krankheiten des menschlichen Körpers forschen Sie zuerst nach der Ursache, ehe Sie sich ein Urtheil bilden –“ entgegnete sie. „Aus was aber die sogenannte Ungeberdigkeit der Menschenseele hervorging, die Sie bessern wollten, das hielten Sie nicht der Mühe werth, zu untersuchen. … Sie urtheilten blindlings auf Einflüsterungen hin und haben sich damit einer ebenso großen Sünde schuldig gemacht, als wenn Sie durch ärztliche Nachlässigkeit einen Leidenden zu Grunde gehen lassen. … Entreißen Sie einem Menschen sein Ideal, eine ganze, erträumte, goldene Zukunft, er wird, und sei er der frömmste und tugendhafteste, im ersten Augenblick sicher nicht die Hände falten und ergeben in den Schooß legen.; wie viel weniger aber ein neunjähriges Kind, das sein Auge unablässig auf den Tag gerichtet hielt, an welchem es einst seine vergötterte Mutter wiedersehen sollte, durch dessen Seele kein Traum, keine Hoffnung ging, die nicht mit diesem Wiedersehen verknüpft gewesen wäre!“

Sie hielt inne, aber über die Lippen des Professors kam kein Wort; nicht einmal sein Auge war ihr zugewendet. Er hatte anfänglich bei ihrer Beschuldigung einmal rasch und heftig den Arm ausgestreckt, als wolle er sie unterbrechen; allein je weiter sie sprach, desto unbeweglicher und aufhorchender wurde seine Haltung; er hob nicht einmal die Hand, um sie über den Bart gleiten zu lassen, eine Bewegung, die er beim Zuhören unablässig zu wiederholen pflegte.

„Der Onkel hat mich in jener glückseligen Unwissenheit gelassen,“ fuhr sie nach einer Pause fort, „aber er starb und mit ihm das Erbarmen in diesem Hause. … An jenem Morgen war ich zum ersten Mal am Grabe meiner Mutter gewesen; ich hatte Abends zuvor ihr schreckliches Ende erfahren – man hatte mir zugleich gesagt, die Spielersfrau sei ein verlorenes Geschöpf, das selbst der allbarmherzige Gott nicht in seinem Himmel dulde –“

„Warum sagten Sie mir das Alles damals nicht?“ unterbrach sie der Professor dumpf.

Felicitas hatte in Rücksicht auf die nebenan schlummernde Kranke mit unterdrückter Stimme gesprochen, dadurch wurde der Ausdruck düsteren Grolles noch verschärft. Sie sprach auch jetzt in dem angenommenen Ton weiter, während sie ihrem Widersacher das schöne, bitterlächelnde Gesicht voll zuwandte.

„Warum ich das damals nicht sagte?“ wiederholte sie. „Weil Sie von vornherein erklärt hatten, die Menschenclasse, aus der ich stamme, sei Ihnen unsäglich zuwider, und der Leichtsinn müsse in meinem Blut stecken.“ – Der Professor legte einen Moment die Hand über die Augen. – „So jung ich war und obwohl erst eine einzige große, bittere Erfahrung hinter mir lag, wußte ich doch in jenem Augenblick genau, daß ich kein Erbarmen, kein Mitgefühl finden würde – und haben Sie je Erbarmen, Mitgefühl für das Spielerskind gehabt?“ fragte sie, rasch einen Schritt näher tretend und mit unsäglicher Bitterkeit jedes Wort betonend. „Ist Ihnen je eingefallen, daß das Geschöpf, welches Sie lediglich in das Arbeitsjoch einspannen wollten, doch vielleicht auch Gedanken haben könne? Haben Sie seine Seele nicht tausendfach gemartert, indem Sie jede nach außen dringende höhere Regung, jeden Ausdruck einer sittlichen Selbstständigkeit, jeden Trieb zu eigener Veredlung wie wilde Schößlinge erstickten? … Glauben Sie ja nicht, daß ich mit Ihnen rechte, weil Sie mich zur Arbeit erzogen haben – Arbeit, und sei es die strengste und härteste, schändet nie – ich arbeite gern und freudig; aber daß Sie mich zur willenlosen, dienenden Maschine machen und das geistige Element in mir völlig vernichten wollen, welches doch einzig und allein ein arbeitsvolles Leben zu veredeln vermag – das ist’s, was ich Ihnen nie vergessen werde!“

„Nie, Felicitas?“

Das junge Mädchen schüttelte energisch, mit einer fast wilden Geberde den Kopf.

„Also darein muß ich mich unwiderruflich ergeben,“ sagte er mit einem schwachen Lächeln, das sich jedoch, wahrscheinlicherweise sehr gegen seinen Willen, merkwürdig melancholisch gestaltete. „Ich habe Sie tödtlich beleidigt, und doch – ich wiederhole es – konnte und durfte ich nicht anders handeln. …“ Er ging einige Mal im Zimmer auf und ab. „Ich muß noch einmal eine schmerzende Stelle in Ihrer Seele berühren, indem ich meine Motive vertheidige,“ fuhr er rasch fort; „Sie sind völlig mittellos und von – verfehmter Herkunft. Sie sind darauf angewiesen, Ihr Brod selbst zu verdienen. Wenn ich Ihrer Erziehung eine höhere Richtung gab, dann erst wäre es grausam gewesen, Sie in die niedere Dienstbarkeit zurückzustoßen, und doch hätte ich nicht anders gekonnt; oder glauben Sie, daß eine Familie sich dazu verstehen wird, ihren Kindern die Tochter eines Taschenspielers als Erzieherin zu geben? … Wissen Sie nicht, daß ein Mann“ – er hielt einen Augenblick inne, tief Athem schöpfend, während eine fahle Blässe sein Gesicht bedeckte – „ja, daß ein Mann aus den höheren Kreisen, der sein Leben vielleicht mit dem Ihrigen verknüpfen würde, große innere und äußere Opfer bringen müßte? – Welch’ unausgesetzte Demüthigung für Ihr stolzes Herz! … Das sind die socialen Gesetze, die Sie mißachten, welche aber die Mehrzahl der Menschen oft mit unsäglicher innerer Anstrengung und Aufopferung aufrecht erhält, aus Pietät vor dem Vergangenen, und weil sie politisch unbedingt nothwendig sind. … Auch ich muß mich ihnen unterwerfen – es steht ja nicht Jedem auf die Stirn geschrieben, was er innerlich durchmacht – auch von mir verlangen jene Gesetze Entsagung und – einen einsamen Lebensweg.“

Er schwieg. Es durchschauerte Felicitas seltsam, hier in stiller Mitternachtsstunde in das Geheimniß eines strengverschlossenen Männerherzens blicken zu können, das in scheuer Hast, fast widerwillig und mit bebenden Lippen ausgesprochen wurde. … Er liebte und ohne Zweifel ein weibliches Wesen, das nach socialen Begriffen hoch über ihm stand. Eben noch in Haß und Entrüstung ihm gegenüberstehend, beschlich sie jetzt ein ihr bis dahin völlig unbekanntes Weh. … War es möglich, daß sie Mitleid fühlen konnte für ihn? Hatte sie in der That einen so unverzeihlich schwachen Charakter, sie, die neulich so entschieden ausgesprochen: „Wenn ihm ein Leid widerführe, ich würde es nie [436] beklagen!“ Und schließlich war er ja gar nicht einmal zu bedauern – warum legte er die Hände entsagend in den Schooß, statt mit männlicher Thatkraft um den hohen Preis zu ringen?

„Nun, Felicitas, haben Sie keine Entgegnung?“ fragte er. „oder fühlen Sie sich abermals gekränkt durch meine Erklärung, die ich nicht umgehen konnte?“

„Nein,“ entgegnete sie kalt. „Das ist Ihre specielle Ansicht – es liegt mir nichts ferner, als der Wunsch, sie geändert zu sehen. … Sie werden hingegen auch mir den Glauben nicht nehmen können, daß es brave vorurtheilslose Menschen giebt, die das ehrliche Herz und treue Wollen auch in einer Taschenspielerstochter anerkennen. … Was soll ich Ihnen noch antworten? Wir würden doch nie zu einem Ende kommen. … Sie stehen auf dem Standpunkt der sogenannten Vornehmen, die sich selbst mit Ketten anbinden, damit sie um Gotteswillen nicht herunterfallen, und ich gehöre in die von Ihrer Kaste mißachtete Classe der Freidenkenden. … Sie selber sagen, unsere Lebenswege gehen binnen Kurzem auseinander auf Nimmerwiedersehen – noch strenger geschieden aber sind wir innen. … Haben Sie noch einen Befehl in Bezug auf die Kranke für mich?“

Er schüttelte den Kopf, und ehe er noch ein Wort zu sagen vermochte, hatte sie das Zimmer verlassen.


17.

Aennchens Genesung schritt rasch vorwärts; gleichwohl wurde Felicitas ihres Wärteramtes noch nicht enthoben. Die Kleine, sonst ein stilles, geduldiges Kind, wurde heftig und aufgeregt, sobald das junge Mädchen das Zimmer verließ; es blieb mithin der Regierungsräthin nichts übrig, als Felicitas zu bitten, so lange bei dem Kind zu bleiben, bis es vollkommen hergestellt sei. Die junge Wittwe that dies ohne Zweifel mit um so leichterem Herzen, als der Professor sich im Krankenzimmer fast gar nicht mehr aufhielt. Er kam jeden Morgen, um nach der Kleinen zu sehen, aber diese Besuche währten kaum drei Minuten. Manchmal nahm er das Kind auf den Arm und trug es einige Mal drunten im sonnigen, geschützten Vorderhof auf und ab – sonst wurde er wenig im Hause gesehen. Es war, als habe ihn plötzlich eine wahre Leidenschaft für den Garten erfaßt; seine Tageseintheilung war eine ganz andere geworden; er arbeitete früh nicht mehr in seinem Zimmer – wer ihn sprechen wollte, wurde hinaus in den Garten geschickt. Frau Hellwig fügte sich seltsamerweise der Marotte, wie sie diesen Umschlag nannte, und richtete es zur großen Genugthuung der Regierungsräthin so ein, daß nun auch die Hauptmahlzeiten meist im Gartenhaus gehalten wurden. Das alte Kaufmannshaus war dadurch zu Zeiten wieder stiller als je; man kam oft vor zehn Uhr Abends nicht nach Hause. Es geschah aber auch manchmal, daß der Professor allein und früher zurückkehrte. Dann hörte ihn Felicitas langsam die Treppe heraufkommen; sonderbarerweise wiederholte sich dabei stets etwas Eigenthümliches – er ging nämlich consequent einige Schritte wie mechanisch nach dem Krankenzimmer hin, dann blieb er plötzlich mitten im Vorsaal stehen, als besinne er sich, und rascher als vorher stieg er schließlich in den zweiten Stock hinauf. Sein Zimmer lag über der Krankenstube – an solchen Abenden saß er nicht über seinen Büchern – stundenlang ging er ruhelos droben auf und ab; diese einsame Wanderung hatte stets etwas Aufregendes für Felicitas – sie brachte dieselbe in Einklang mit jenem nächtlichen Geständniß.

Um acht Uhr Abends war Aennchen gewöhnlich eingeschlafen; dann nahm Rosa Felicitas’ Platz am Bett des Kindes ein, und nun kamen auch Erholungsstunden für das junge Mädchen – sie ging hinauf in die Mansarde. Tante Cordula’s neuliche Körperschwäche und Todesahnung schien glücklich überwunden; sie war heiterer als je und konnte froh wie ein Kind von der nahen Zeit plaudern, wo sie Felicitas ganz bei sich haben würde. Sie wartete gewöhnlich mit dem Abendbrod auf das junge Mädchen. Dann stand der sorgfältig arrangirte Theetisch im Vorbau; für irgend ein Lieblingsgebäck Felicitas’ war stets gesorgt, und ein ganzes Paquet neu eingelaufener Zeitungen wartete auf die jugendliche Vorleserin. In diesen knapp zugemessenen, gemüthlichen Stunden versank Alles, was in jüngster Zeit Felicitas’ Herz – oft zu ihrer eigenen Verwunderung – bedrückte und quälte. Sie sprach nie über ihre Begegnisse im Vorderhause, die alte Mamsell; ihrer Gewohnheit treu, regte sie auch durchaus nicht zu irgend einer Mittheilung an, und so traten leicht Felicitas’ augenblickliche, ihr selbst räthselhafte innere Zerwürfnisse in den Hintergrund.

An einem schönen, sonnigen Nachmittag saß Felicitas allein bei Aennchen; im ganzen Hause herrschte förmliche Kirchenstille – Frau Hellwig und die Regierungsräthin waren ausgegangen, um Besuche zu machen, und der Professor hielt sich ohne Zweifel im Garten auf; denn im zweiten Stock wurde nicht ein Lebenszeichen laut… Die Kleine hatte lange gespielt, nun legte sie sich müde zurück und sagte bittend: „Liedchen singen, Caroline!“

Das Kind hörte Felicitas leidenschaftlich gern singen. Das junge Mädchen hatte eine Altstimme. Ihre Stimme hatte jenen Klang, der wie ein tiefer, voller Glockenschlag ohne hörbare Vorbereitung sich gleichsam aus der Brust löst – jene Färbung, wie sie auch dem Cello eigen; der Ton, der ohne irgendwelche faßbare, scharfe Kante in der Luft verschwimmt, trägt einen Hauch leiser Schwermuth, den Ausdruck unergründlicher Gedankentiefe. Die alte Mamsell mit ihrem seltenen musikalischen Verständniß und der großartigen Ausbildung, die ihr eigenes Talent einst durch tüchtige Meister erhalten, hatte dieses köstliche Material vortrefflich geschult – Felicitas sang namentlich deutsche Lieder in wahrhaft classischer Weise… Sie hatte gefunden, daß sie die Aufregung des Kindes stets beschwichtigte, wenn sie in leisen Tönen irgend eine getragene Melodie anhob; später ließ sie ihre Stimme auch gewaltiger ausströmen – begreiflicherweise jedoch nie, wenn sie feindliche Ohren in der Nähe wußte.

„Du junges Grün, du frisches Gras“, dies tiefsinnige Schumann’sche Lied klang jetzt durch das stille Krankenzimmer mit so keusch beherrschtem Ausdruck, wie er nur aus einer reinen Mädchenseele kommen kann. Felicitas sang die erste Strophe weich, in ergreifender Einfachheit und mit zurückgehaltener Kraft; aber mit Beginn der Worte: „Was treibt mich von den Menschen fort, mein Leid, das hebt kein Menschenwort“, da brauste die mächtige Stimme auf, wie Orgelklang – in diesem Augenblick wurde droben im Zimmer des Professors ein Stuhl nicht gerückt, sondern fortgeschleudert – rasche Schritte eilten nach der Thür, und schrill und heftig wie Sturmläuten scholl plötzlich eine Klingel durch das menschenleere Haus. Es war das erste Mal, daß im Studirzimmer des zweiten Stockes der Glockenzug in Bewegung gesetzt wurde. Friederike eilte athemlos die zwei Treppen hinauf, und Felicitas schwieg tödtlich erschrocken. Nach wenig Augenblicken polterte die alte Köchin wieder herab und trat in das Krankenzimmer.

„Der Herr Professor läßt Dir sagen, Du solltest nicht mehr singen – er könnte nicht arbeiten,“ rapportirte sie in ihrer rauhen, rücksichtslosen Weise. „Er war kreideweiß und konnte kaum sprechen vor Aerger… Was machst Du denn aber auch für dumme Sachen? Hab’ ich doch mein Lebtage so ‘was nicht gehört – Du singst ja accurat wie ein Mannsbild, und – daß Gott erbarm – das Lied! – ein reines Nachtwächterlied! .. Ich weiß nicht, was Du für ein Mädchen bist! Ich hab’ auch singen können, wie ich noch jung war! Und was gab’s damals für Lieder – schöne Lieder ‚Freut Euch des Leben‘ und ‚Guter Mond, Du gehst so stille‘. … Laß das ein ander Mal gut sein, Caroline – das kannst Du nicht! … Ja, und Du sollst das Kind ein Bischen in den Hof tragen und herumfahren, hat der Herr Professor gesagt.“

Felicitas verbarg ihr glühendes Gesicht in den Händen – es war ihr, als habe sie einen vernichtenden, moralischen Schlag erhalten – wie tief beschämt und gedemüthigt fühlte sie sich in diesem Augenblick! So muthig sie sein konnte, wenn es galt, ihre Ueberzeugung zu vertheidigen und ihren Gegnern die Wahrheit ungeschminkt in das Gesicht zu sagen, so scheu und ängstlich verschlossen war sie in Bezug auf ihre Talente und Kenntnisse. Schon der Gedanke, daß ihre Stimme bis zu fremden Ohren dringen könne, schnürte ihr den Hals zu und machte sie sofort verstummen, irgend Jemand aber gar lästig damit zu werden, das hätte sie nicht einmal auszudenken vermocht. Und nun war es wirklich geschehen; man hielt sie für aufdringlich, der Verdacht lastete auf ihr, als habe sie sich bemerkbar machen wollen, und dafür war sie auf die schonungsloseste Weise gestraft und beschämt worden – das war nicht zu ertragen! Die gröbsten Ungerechtigkeiten und Mißhandlungen Seitens der Frau Hellwig hatten ihr nie eine Thräne zu entlocken vermocht – jetzt aber weinte sie bitterlich.

(Fortsetzung folgt.)
[437]
Der königliche Verbannte in Hietzing.

In dem reizenden Dorfe Hietzing, mit seinen rosenbekränzten Sommerpalästen, eine halbe Stunde von Wien, in der Nähe des kaiserlichen Lustschlosses Schönbrunn, zieht sich durch die Auhofgasse eine langgestreckte Mauer, hinter welcher sich, mitten in einem bezaubernd schönen Park, mit üppigen Gewächshäusern und bunt wechselnden Partieen, aus duftendem Blumenteppich, die Villa Braunschweig erhebt, wo gegenwärtig Georg der Fünfte, ein Fürst ohne Krone, ein Herrscher ohne Volk, ein Regent ohne Land – ein heimathloser König residirt.

Wer in diesem großen und paradiesischen Park noch vor einigen Wochen zwei junge schlanke wunderbar holde Jungfrauen, in deren Augen sich der heitere blaue Himmel spiegelte, Arm in Arm dahin schweben sah und so zärtlich miteinander plaudern hörte, hätte wohl glauben müssen, das Glück habe um diese blonden Engelsköpfchen die immergrünen Kränze aller Jugendfreuden gewunden, an welche sich kein Sturm des Lebens wagen kann, – und dennoch hat die schwere Hand des Schicksals erbarmungslos in diese Kränze gegriffen, – der eine ist grauenvoll entblättert, der andere mit den Thränen des bittersten Leides getränkt und würde welken müssen, wenn nicht kindliche Liebe und Hoffnung ihn belebten. Die eine der lieblichen Erscheinungen, von denen wir sprechen, war Mathilde, Erzherzogin von Oesterreich, die andere ist Friederike, Prinzessin von Hannover.

Villa Braunschweig in Hietzing.

Das unter den qualvollsten Leiden gebrochene Herz der Erzherzogin Mathilde ruht in der jüngsten Urne der Capuzinergruft, – das Herz der Prinzessin Friederike blutet auf fremder Erde, am Sarge ihrer zärtlich geliebten unvergeßlichen Freundin. Es ist keine Trauer der Courtoisie, sondern eine Trauer warmer mitfühlender Herzen, die ihr schwarzes Banner in der Villa Braunschweig aufgeschlagen, denn das Band der innigsten Freundschaft verbindet die kaiserliche und königliche Familie, ein Band, das der tiefe und thränenreiche Schmerz um die vom grausamsten Element dahingeraffte Erzherzogin noch enger und fester geschlungen hat. Jeder Sonntag vereinigt beide fürstliche Familien in der kaiserlichen Burg, im Schönbrunner Schloß, in der Villa Braunschweig oder in einem der erzherzoglichen Paläste, zu einem Familien-Diner im gemüthlichsten Sinne des Wortes, um Leiden, Freuden, Sorgen, Wünsche und Hoffnungen mit einander zu theilen.

Sorgen, Wünsche und Hoffnungen, – es sind die drei Kronjuwelen, die Georg der Fünfte gerettet!

Man spricht gar viel vom starren Sinn des Königs und hat vielleicht Recht, denn der Starrsinn ist ein Attribut der Krone, haben wir in der Schule der Jahrhunderte gelernt. Aber der eiserne Starrsinn kleidet den Fürsten, den das Schicksal zwar erschüttern, doch nicht beugen konnte. Und – die Hand auf’s Herz – wer unter uns wäre nicht starrsinnig, wenn er Georg der Fünfte wäre? – Ein Thron ist ja kein Stuhl, den man in jedem Haushalt wieder findet, und verlorene Kronen muß man suchen, denn äußerst selten bringt sie uns ein redlicher Finder zurück.

Doch unsere Aufgabe ist es, uns in möglichster Ferne vom Labyrinthe der Politik zu halten. Was der König auch in früheren Zeiten seinem Volk gegenüber verschuldet hat, wir berühren es hier nicht wieder, denn das Unglück, auch in Fürstenhäusern, ist heilig; wir sprechen hier auch nicht von dem Feldherrn der Schlacht von Langensalza und deren bejammernswerthen Folgen – wir haben uns hier nicht mit dem Könige, nur mit dem Menschen, nicht mit dem fürstlichen Verbannten im gastlichen Oesterreich, sondern mit dem Hausherrn und Vater im glücklichen und beneidenswerthen Familienkreise zu beschäftigen, zu welchem wir auch die Diener seines Hauses zählen, die alle ihre Lieben in der Heimath verließen, um das Schicksal ihres königlichen Herrn auf fremder Erde zu theilen.

Der König verläßt nach sechs Uhr sein Schlafgemach, um eine Stunde später entweder am Arme des Grafen Wedell seine Morgenpromenade oder an der Seite des Vice-Oberstallmeisters Bussche seinen Spazierritt zu machen. Nach acht Uhr kehrt er zurück, und sein erster Gruß gilt seinem Töchterlein Wunderhold, das ihm mit kindlicher Herzlichkeit in die Arme fliegt. Bald findet sich auch Prinz Ernst August, der ehemalige Kronprinz, um ihn ein, und an diesen kindlich warmen Herzen vergißt der glückliche Vater, daß er ein unglücklicher König ist, denn die Blumen, die ihm diese innige und rührende Kindesliebe bietet, wiegen die Edelsteine aller Fürstenkronen auf. Nach diesem herzlichen Morgengruß widmet sich der König dem Empfange fremder und einheimischer Gäste und den Geschäften, die seine Thätigkeit bis fünf Uhr, das ist bis zur Tafelstunde, in Anspruch nehmen. Ja, oft pflegt er in der Nacht noch fünf bis sechs Stunden hindurch Briefe zu dictiren. Man rühmt seine Seelenruhe, sein seltenes Gedächtniß und seine klare unbefangene Uebersicht europäischer Verhältnisse.

Im geselligen Kreise erlaubten wir uns an einen hannoverschen Officier die Frage zu richten, ob diese Thätigkeit im Cabinet des Königs zu den Verschwörungen in Hannover in irgend einer Beziehung stände, und erhielten die bestimmte Antwort:

Schon längst haben öffentliche Stimmen dieses Gerücht als irrig bezeichnet. Dergleichen Bewegungen könne man nur den Bestrebungen anhänglicher Hannoveraner zuschreiben, die man minder achten würde, wenn sie nicht, wie die Kinder, ein wenig unruhig wären. Die Thätigkeit in der Villa Braunschweig beschränke sich auf Familienverhältnisse und Privatinteressen und habe nichts mit Verschwörungen gemein.

Wir bescheiden uns gern mit dieser Auskunft, können uns jedoch des Gedankens nicht entschlagen, daß auch die Politik in der Villa Braunschweig ihr bescheidenes Plätzchen hat, daß auch die Empfangsstunden zuweilen Geschäftsstunden sind und daß die vielen zureisenden Hannoveraner hin und wieder etwas mehr als warme Grüße aus der Heimath bringen.

Nach der Tafel folgen abermals kleine Ausflüge, die der König gewöhnlich am Arme der Prinzessin und der Kronprinz zu Wagen oder zu Pferde unternimmt. Vater und Sohn erscheinen fast immer in einfacher bürgerlicher Kleidung, nur bei besonders feierlicher Gelegenheit zeigen sie sich in der österreichischen oder hannover’schen Uniform. Die Abendstunden opfert die königliche Familie der Geselligkeit und der Muse der Tonkunst, welcher der kunstsinnige Fürst auch in der Villa Braunschweig ihren Altar gebaut. Der Prinz Ernst August arbeitet viel und fleißig, vorzugsweise beschäftigt er sich mit dem Studium des Staatsrechtes und der Staatswissenschaften. Als Lehrer derselben ist der junge tüchtige und gründlich gebildete Professor Dr. Maxen aus Göttingen bereits in Hannover angestellt worden. Der junge Prinz [438] hat sich in Hietzing und dessen Umkreisen schon ziemlich populär gemacht, denn bei jedem Unglücksfall ist Ernst August von Hannover mit Rath und That einer der Ersten auf dem Platze. Prinzessin Friederike beschäftigt sich eifrigst mit dem Studium der Geschichte, und der vielgenannte Archivrath Onno Klopp ist der glückliche Lehrer, dem die liebenswürdige Schülerin anvertraut wurde.

Ein besonders festlicher Tag in der Villa Braunschweig war der 27. Mai. Rauschender und prunkvoller mag das Wiegenfest eines glücklichen Fürsten gefeiert werden, aber herzlicher und rührender wahrlich nicht, als das Wiegenfest dieser heimathlosen Majestät. Doch nein, keine Majestät, ein Familienvater war es, der, umringt von seinen treuen Gefährten und Dienern, an den Herzen seiner innigstgeliebten Kinder lag, – es war der Verbannte, der innig umschlang, was ihm geblieben, und mit Thränen der Wehmuth seiner beiden Marien im fernen Heimathlande gedachte.

Bitter wie Wermuthstropfen mochten diese Thränen sein! Aber da draußen auf dem Blumenflor erklangen, wie versöhnend, vaterländische Weisen des Wiener Männergesangvereins, einen hannover’schen Sängerbund vertretend, der zur Feier des Tages des Königs eigene Compositionen eingesandt. Und als der Verbannte seine Lieder „Frühlingsgruß“ und „Treue Liebe“ hörte, – wer kann es ihm verargen, wenn sie ihm wie ein Echo aus der fernen Heimath klangen?

Am Arme seines schönen Töchterleins dankte er sichtbar gerührt, in schlichten, herzlichen Worten den Nahen und Entfernten für das zarte und sinnige Angebinde. Schon am Vorabende hatten in den feenhaft geschmückten Gewächshäusern der Villa Braunschweig der akademische und der Hietzinger Gesangs-Verein dem Könige ihre Ständchen dargebracht. Alle Mitglieder des Kaiserhauses und sämmtliche Würdenträger, alle hier weilenden Hannoveraner und unzählige Telegramme beglückwünschten den heimathlosen Fürsten.

So ist Georg der Fünfte oder so giebt er sich uns. Seine Umgebung bilden die Gräfin Wedell, Staatsdame der Prinzessin Friederike; Graf von Platen-Hallermund, ehemaliger Staatsminister; Graf Alfred Wedell, Sohn der Staatsdame, Schloßhauptmann und Vorstand der Hofämter; von dem Bussche, Vice-Oberstallmeister, und der geheime Cabinetsrath Dr. Lex.

Das sind die Männer des Rathes und der That, die, wie manche Stimmen behaupten, für König Georg den Fünften und seine Gefährten den neuen politischen Brückenbau von Hietzing nach Hannover leiten sollen.




Gefängnißleben zur Schreckenszeit.
Von Johannes Scherr.
(Schluß.)


Aus der Infirmerie erlöst, kam Beugnot in die „kleine Apotheke“, welche Zelle der Bischof Lamourette und sieben Conventsdeputirte von der Girondistenpartei mit ihm bewohnten und deren Wände über und über mit den Inschriften „Freiheit“, „Gleichheit“ und „Menschenrechte“ bedeckt waren. Einer der sieben Girondisten war Fauchet, Bischof von Calvados. Zu Ende Octobers wurden sie mit ihren Parteigenossen processirt und guillotinirt. Die Hinrichtung der „Einundzwanzig“ war eine rechte Festhekatombe, dargebracht dem Moloch Schrecken. Als die Verurtheilten vom Tribunal nach der Conciergerie zurückgebracht wurden, brachen sie unter der Wölbung der Gefängnißpforte mit einmal und wie aus einem Munde in das „Allons, enfants de la patrie!“ aus. Sie haben, wie bekannt, den weltgeschichtlichen Sang am folgenden Tage, am 31. October von 1793, auch am Fuße des Blutgerüstes und auf demselben angestimmt und so lange fortgeführt, bis das Fallbeil mit dem Lebensfaden des Letzten von ihnen auch das Lied abschnitt. Das ist Geschichte, aber Nodier’s „Letztes Bankett der Girondisten“ ist nur eine Novelle, obzwar eine sehr gute. Am 6. November ist Orleans-Egalité von der Conciergerie zum Revolutionsplatz gekarrt worden. Er blieb ganz gleichgültig, vor dem Tribunal, auf dem Karren und auf dem Schaffot. Als ihm, bevor er an das schreckliche Bret geschnallt wurde, die Henkersknechte die Stiefeln abziehen wollten, sagte er: „Das wäre reiner Zeitverlust. Ihr könnt mir sie bequemer abziehen, wann ich todt bin. Macht schnell voran!“

Vier Tage nach der Todesfahrt von Louis Philipp’s Vater machte Madame Roland die ihrige. Ob sie, die Treppe zum Blutgerüst hinansteigend, den Ausruf gethan: „O heilige Freiheit, welche Verbrechen begeht man in deinem Namen!“ ist fraglich; aber daß sie zu ihrem Todesgefährten Lamarche sagte: „Steigen Sie zuerst hinauf, weil Sie ja doch nicht den Muth hätten, mich sterben zu sehen“ – ist gewiß.

Manon Philipon, die Frau des girondistischen Exministers Roland, die „Aspasia der Girondisten“, die Prophetin und das Entzücken dieser armen Wolkenwandler von Schönfühlern und Schönrednern, war zuerst in der Abtei, dann in Sainte-Pelagie eingekerkert gewesen. Ihre Versetzung in die Conciergerie war für die Insassen derselben ein großes Ereigniß, welches Beugnot lebhaft beschrieben hat. In den beiden erstgenannten Gefängnissen hat sie ihre berühmten Memoiren niedergeschrieben, welche mit der Uebersiedelung in das letztgenannte abbrechen. An einer Stelle dieser Denkwürdigkeiten, welche nur mit großer Vorsicht als eine geschichtliche Quelle zu benützen sind, hat Citoyenne Roland ihr Portrait gezeichnet und gemalt, und diese kühne Selbstportraitirung giebt nicht nur ein Bild von ihrer Gestalt und ihren Zügen, sondern auch von ihrer Fühl- und Denkweise. Ihr ganzer Charakter prägt sich plastisch darin aus und dies Conterfei ist geradezu eine historisch-psychologische Merkwürdigkeit. Sehen wir sie uns einmal an. „Als ich ausgewachsen, war ich ungefähr fünf Fuß hoch. Meine Beine waren wohlgeformt, die Füße hübsch gebaut, die Hüften sehr gewölbt, die Schultern zurückgezogen, die Brust war breit und hochbusig, meine Haltung sicher und anmuthig, der Gang leicht und rasch. Mein Gesicht hatte nichts Besonderes als etwa eine große Frische und einen sanften Ausdruck. Prüft man jeden Zug einzeln, so darf man billig fragen: Wo ist denn da die Schönheit? Denn kein einziger ist regelrecht, aber mitsammen bilden sie ein gefälliges Ganzes. Der Mund ist ein wenig groß und es giebt tausend schönere; allein keiner weiß zärtlicher und verführerischer zu lächeln. Das Auge dagegen ist nicht sehr groß und seine Iris kastanienbraun. Es liegt weder zu tief, noch steht es zu sehr hervor; es blickt offen, frei, lebhaft und sanft, überwölbt durch schön gezeichnete Brauen von derselben Farbe wie die Haare, und es wechselt in seinem Ausdrucke wie die liebevolle Seele, deren Regungen es verkündet. Ernst und stolz, hat es zuweilen etwas Furchtbares, weit öfter aber ist es liebkosend und immer anziehend. Die Nase verursachte mir einigen Verdruß, weil ich fand, sie sei vorn ein Bischen zu dick; als Theil des Ganzen jedoch und von der Seite betrachtet, verdarb sie nichts. Die Stirn war breit, glatt, offen, von hochgewölbten Augenhöhlen getragen und keineswegs so nichtssagend, wie so manche Gesichter sie zeigen. Mein Kinn steht ziemlich weit vor und hat entschieden die Merkmale, welche die Physiognomiker als die der Sinnlichkeit bezeichnen; wenn ich diese Merkmale mit meinen übrigen Eigenthümlichkeiten zusammenstelle, bezweifle ich, daß jemals eine Frau mehr als ich für Sinnenlust geschaffen war, obzwar ich dieselbe weniger genossen habe als irgendeine. Ein mehr belebter als sehr weißer Teint, glänzende Färbung, häufig erhöht durch die plötzlich kommende Röthe eines kochenden, durch äußerst reizbare Nerven erregten Blutes; eine zarte Haut, ein runder Arm, eine wenn auch nicht kleine, doch niedliche Hand, weil ihre langen und schmächtigen Finger auf Gewandtheit deuten, ohne aufzuhören, anmuthig zu sein; schön gereihte und gut erhaltene Zähne; endlich eine Körperfülle, die auf vollkommene Gesundheit hinweist: – das sind die Schätze, welche die Natur mir geschenkt hat.“

Glaubt man nicht ein Portrait zu sehen, welches eine Sappho oder eine Aspasia von sich gezeichnet und gemalt hat oder wenigstens [439] haben könnte? In Wahrheit, wir haben Mühe, zu glauben, daß diese Selbstportraitirung von einer modernen Frau, noch dazu von einer anerkannt tugendhaften und sittenstrengen Frau herrühre. Es ist da eine Objectivität der Koketterie, welche ganz antik, ein künstlerisches Gefühl und Behagen, welches ganz griechisch. Arme Manon! Das eben war dein Unglück und dein Verderben, daß du in den Säulenhallen der Agora und unter den Platanen der Akademie traumwandeltest, daß du eine Athenerin der perikleischen Zeit sein wolltest, zu sein glaubtest, während du unter den Franzosen, unter den Parisern vom letzten Decennium des achtzehnten Jahrhunderts lebtest. Niemand wandelt ungestraft unter Palmen, d. h. in der Aetherregion der Ideale. Die gemeine Wirklichkeit des Lebens greift mit plumper Faust hinauf, reißt die armen Ideologen, die da hungern nach Wahrheit und Gerechtigkeit, die da dürsten nach Freiheit und Schönheit, unerbittlich herab und schmettert sie erbarmungslos zu Boden. Geschöpf von Staub, Eintagsfliege von Mensch, wie dürftest du es wagen, dich zur Sonne erheben zu wollen? Tiefsinnigeres ward nie ersonnen als der Mythus von dem Höllensturz der himmelstürmenden Titanen…

Beugnot gesteht, er habe gegen Frau Roland ein abgünstiges Vorurtheil gehegt, bevor er sie in der Conciergerie kennen lernte. Die Gefangenen durften nämlich während ihrer täglichen Spaziergänge in dem Hofraum ganz unbelästigt mit einander verkehren, und bei schlechtem Wetter vertrat der große Corridor die Stelle des Hofraums. Die Frauen und Mädchen hielten auch innerhalb der Gefängnißmauern die Herrschaft des guten Tons und der Mode aufrecht, soweit nur immer ihre Mittel reichten. Sie erschienen Morgens im frischesten Negligé, Mittags im Gesellschaftsanzug, Abends im reizenden Deshabillé. Die Herren putzten sich ebenfalls nach Möglichkeit heraus und machten den Damen nach allen Regeln der Courtoisie den Hof. Der Corridor und der Hofraum des düsteren Gefängnisses summten tagtäglich von echt französischer Causerie und Galanterie; man sah da Büschel von Witzraketen steigen und hörte ganze Feuerwerke von Pariser Esprit zischen und prasseln. Beugnot sagt ausdrücklich: „Ich bin überzeugt, daß zu dieser Zeit keine Promenade von Paris eine solche Vereinigung von elegant gekleideten Frauen aufzuweisen hatte, wie der Hof der Conciergerie sie zur Mittagszeit aufwies. Er glich einem blühenden Blumenbeet, aber einem Blumenbeet mit eisernem Staket.“

Unser Gewährsmann kam von seiner Voreingenommenheit gegen Frau Roland bald zurück. Ihre Haltung war ebenso edel wie anmuthig, ihre Sprache von außerordentlicher Reinheit, Grazie und Eleganz, ihre Ausdrucksweise entsprach vollständig der Hoheit ihrer Gedanken. Der Begeisterung für das Ideal, dem republikanischen Glaubensbekenntniß blieb sie treu ohne Wanken und Schwanken. Weich wurde sie nur, wenn sie von ihrem Mann und von ihrer Tochter sprach; dann füllten Thränen ihre schönen Augen. Die Macht über Menschen, welche dieser außerordentlichen Frau eigen, verblieb ihr noch in der Tiefe des Kerkers. Die von ihr bewohnte Zelle war ein Eden des Friedens inmitten dieser Gefängnißhölle. Selbst dem Auswurf des weiblichen Geschlechts, von welchem Auswurf ebenfalls hinlänglich viele Exemplare in der Conciergerie vorhanden waren, sogar Straßendirnen und Taschendiebinnen zwang Manon Roland Hochachtung ab, und zwar durch ihre bloße Erscheinung, durch ein tröstendes Wort oder einen strafenden Blick. Wenn sie im Hofraum erschien, sahen diese Elenden zu ihr empor wie zu einer Schutzgottheit, während sie dagegen die gleichzeitig in der Conciergerie der Guillotine entgegenharrende Dubarry, Ludwig’s des Fünfzehnten letzte Haupt- und Staatsmaitresse, völlig und sehr grobschlächtig als Ihresgleichen behandelten, obgleich das Schandweib die vornehmste Miene aufsetzte.

Beugnot sah die Pythonissa der Gironde auch an dem Tage, als sie vor dem Revolutionstribunal erscheinen sollte. Sie stand an dem Gitter, welches den Corridor abschloß, wartend, bis der Greffier ihren Namen rief. Mit Sorgfalt gekleidet, trug sie ein weißes Musselinkleid, das mit Spitzen besetzt und durch einen Gürtel von schwarzem Sammet zusammengehalten war; dazu einen Hut von einfacher Eleganz, unter welchem hervor ihre schönen Haare auf die Schultern herabfielen. Ihr Gesicht zeigte eine reizende Belebtheit und ein Lächeln war auf ihren Lippen. Mit der einen Hand hielt sie die Schleppe ihres Kleides, die andere überließ sie einer Schaar von Frauen, welche sich herbeidrängten, dieselbe zu drücken und zu küssen. Viele schluchzten laut. Manon selber behielt ihre Fassung und sprach zu ihren Schicksalsgefährtinnen voll Güte und Milde, sie zum Frieden, zur Geduld, zur Hoffnung, zu allen den Tugenden ermahnend, deren Uebung dem Mißgeschicke ziemt. Beugnot näherte sich ihr, um einen Gruß zu bestellen, welchen ihm sein Mitzelleninsasse Clavières, der zugleich mit Roland Minister gewesen war, an sie aufgetragen hatte. Sie hatte keine Zeit mehr zur Antwort. Ihr Name wurde gerufen, und weinend öffnete ihr der alte Schließer Fontenay das Gitter. Im Hinaustreten gab sie Beugnot flüchtig die Hand und sagte: „Adieu, mein Herr. Wir haben uns oft gezankt; es ist Zeit, daß wir Frieden machen.“ Als sie aber sah, daß er nur mit Mühe seine Thränen verhielt, hob sie ihre Augen empor, sprach nur noch nachdrucksam das Wort „Muth!“ und verschwand. Kurz zuvor hatte sie eines Tages zu Beugnot gesagt: „Die Gleichgültigkeit und Kälte, womit die Franzosen den Terrorismus sich gefallen lassen, setzt mich in Erstaunen. Wäre ich frei und man schleppte meinen Mann zum Blutgerüst, ich würde mich am Fuße desselben erdolchen und bin überzeugt, daß Roland, wenn er meinen Tod erfährt, sich das Herz durchbohren wird.“ Das war die Rede einer Prophetin. Roland hatte nach der Aechtung der Girondisten in der Nähe von Rouen eine sichere Zufluchtsstätte gefunden. Kaum aber hatte er den Tod seiner Frau erfahren, als er, ohne ein Wort zu sagen, sein Asyl verließ und die Nacht hindurch ziellos fortwanderte. Bei Tagesanbruch zog er sein Stilet, stemmte den Griff desselben gegen den Stamm eines Apfelbaums am Wege und durchbohrte sich das Herz. Er wollte, wie ein Zettel, den er bei sich trug, besagte, „nachdem er vernommen, daß und wie seine Frau gestorben, keine Stunde länger auf dieser mit Verbrechen besudelten Erde weilen.“ Wer wird bei solchem Todesernst der Empfindung und Leidenschaft, welcher die Revolutionstragödie durchzieht, fürder noch die Schamlosigkeit haben, hofhistoriographisch von dem „hohlen Pathos“ dieses Trauerspiels zu faseln?

Clavières ist seinem Collegen, Parteigenossen und Freund Roland bald nachgestorben; nicht auf dem Schaffot, sondern ebenfalls durch eigene Hand. Er sollte vor dem Tribunal erscheinen und seine Anklageacte war ihm zugestellt worden. Das Lügensammelsurium derselben empörte ihn dermaßen, daß ein unwiderstehlicher Welt- und Menschenekel ihn erfaßte. Mitten in der Nacht wurde Beugnot durch den Ausruf Lamourette’s aufgeweckt: „Clavières, Unglücklicher, was haben Sie gethan?“ und vernahm zweierlei schreckliches Geräusch: das Röcheln eines Sterbenden und das Getropfe seines Blutes auf dem Boden. Alle Bewohner der Zelle fuhren von ihrem Lager empor; sie vermochten indeß keine Hülfe zu schaffen. Nach einer halben Stunde war Clavières todt, aber das Blut aus seiner Todeswunde tropfte noch immer auf den Boden.

Nur von einem seiner Mitgefangenen weiß Beugnot zu melden, daß er muthlos, ja geradezu feige gewesen. Es war der Duc du Châtelet. Als dieser Grandseigneur eines Tages auf dem Hofe laut jammerte, weinte und winselte, mußte er von einer Gefangenen, von der Demoiselle Eglé – die Demoisellerie war freilich etwas brüchig – die Abkanzelung hinnehmen: „Pfui doch! Was, Sie flennen? Erfahren Sie denn, Herr Herzog, daß Solche, welche keinen Namen haben, hier einen erwerben können, und Solche, welche einen haben, denselben mit Ehren tragen müssen.“

Ganz anders als der Herr Herzog benahm sich der Conventsdeputirte Cussy. Er war, mit den Girondisten geächnet, verhaftet und in die Conciergerie gebracht worden. Um ihn auf’s Schaffot zu schicken, bedurfte es für ihn, als einen Geächteten, nicht erst noch einer gerichtlichen Procedur. Da er aber überzeugt war, nur ganz zufällig auf die Liste der Vogelfreien gesetzt worden zu sein, so machte er das in einer Eingabe an den Convent bemerklich und ersuchte die Versammlung, die Zurücknahme des Aechtungsdecrets zu vermitteln. Der Convent verwarf das Gesuch wider alles Erwarten. Am folgenden Tage wurde der Moniteur zur gewohnten Stunde in das Gefängniß gebracht und das für Beugnot’s Zelle bestimmte Exemplar fiel Cussy in die Hände, der ebenfalls dort saß. Er las seinen Mitgefangenen den Bericht über die gestrige Conventssitzung vor, worin auch der Verwerfung seines Gesuches erwähnt war. Das war für den Unglücklichen ein Beilschlag. Aber ohne zu stocken, ohne die Stimme zu ändern, las er das ganze Referat zu Ende.

[440] „So, da wüßt‘ ich ja, was morgen passirt,“ sagte er dann ruhig. „Ich habe er aber doch noch Zeit, meine Angelegenheiten zu ordnen.“

Seine Mitgefangenen umdrängten ihn theilnahmsvoll. Er drückte ihnen der Reihe nach die Hände und sagte:

„Liebe Freunde, ihr tröstet mich in meinen letzten Stunden. Das ist ja wie beim Tode des Sokrates; nur ist es uns leider nicht gestattet, uns philosophisch mitsammen zu unterhalten, bis der Schierlingsbecher kommt.“

Kaum hatte er so gesprochen, als ein Schließer eintrat, um den muthigen Mann in die „Vorhalle des Todes“ hinabzuholen.

Auch an Romantik in des Wortes verwegenster Bedeutung hat es in der Conciergerie nicht gefehlt, wie nachstehende Novelle zeigen mag. Vier Gefangene, der General la Marlière, der Conventsdeputirte Bunel, Beugnot und ein Oberst, welcher als Adjutant des Grafen d’Estaing den Unabhängigkeitskrieg der Amerikaner mitgemacht hatte, pflegten sich Abends bei dem Zweiten der Genannten zu einer Whistpartie zu vereinigen. Der arme Bailly, der Präsident der Nationalversammlung von 1789 glorreichen Andenkens, fand sich ebenfalls regelmäßig ein, zur Stunde, wo das Whist einer ernsteren Unterhaltung Platz gemacht hatte. Diese Unterhaltung drehte sich gewöhnlich um philosophische Fragen, um metaphysische Probleme und schwindelte sich demnach folgerichtig mehr und mehr in das Gebiet des Mysticismus hinauf. Der Oberst gab sich als einen Hauptmystiker. Er behauptete, die Schranken des „Möglichen“ wären nur durch die Unwissenheit der Menschen so enge gezogen. Seit Pythagoras und Aristoteles hätten sich diese Schranken schon sehr beträchtlich erweitert und die Zukunft würde dieselben unendlich weiter hinausrücken. Das Christenthum klagte er geradezu an, den Aufschwung der Geister gebrochen zu haben, und lobte daher die Schläge, welche die Revolution gegen dasselbe führte. Seine Religion war der Pantheismus und er glaubte, daß es eine unzählbare Anzahl beseelter Wesen gäbe, welche für unsere Sinne nicht wahrnehmbar wären; sowie, daß der Mensch noch weit von der Stelle entfernt sei, welche er im Weltganzen einnehmen sollte und könnte. Bunel, welcher lange in Indien gelebt und den Brahmanismus studirt hatte, stimmte diesen Ansichten bei. Der General la Marlière dagegen hielt standhaft an den Lehren seines Meisters Voltaire fest. Er meinte demnach, es gäbe nichts Ungewisseres als das, was man in diesem oder jenem Jahrhundert die Wahrheit zu nennen beliebe; er glaubte, daß die Ideen der Menschheit in jeder Epoche eine andere Form annähmen, aber ihrem Wesen nach in einem Cirkel sich bewegten, über welchen sie niemals hinauskämen.

„Ich will ein Beispiel aufstellen,“ fügte er hinzu. „Unlängst hat der Bischof von Paris (Gobel) in offener Conventssitzung seine Religion unter großem Beifall abgeschworen. Nun wohl, wir sind dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts nahe und es ist sehr unwahrscheinlich, daß Einer von uns das neunzehnte erleben wird. Aber ich prophezeie, das neunzehnte wird nicht zu Ende gehen, ohne daß die Franzosen mitansehen werden, wie Processionen von Mönchen die Straßen von Paris durchziehen.“ (Das war sehr richtig weis- und wahrgesagt! Schon die zwanziger Jahre unseres Jahrhundert brachten, wie Jedermann weiß, die Erfüllung.) Bailly seinerseits vertheidigte eifrig den Glauben an eine unendliche Vervollkommnungsfähigkeit der Menschheit. „Der gegenwärtig wüthende Sturm,“ sagte er, „beweist nichts dagegen. Im Gegentheil! Denn er weht wohl viele Blätter von den Bäumen, entwurzelt sogar viele Bäume, aber er fegt auch eine Masse alten Unflaths fort und der gereinigte Boden kann edle, bislang unbekannte Früchte zeitigen.“

Eines Abends, als das Gespräch um den Magnetismus, Somnambulismus und dergleichen mystische Dinge mehr sich gedreht hatte, sagte der General zuletzt zu dem Oberst:

„Sie glauben also an Mesmer, Cagliostro und tutti quanti?“

„Gewiß,“ erwiderte der Gefragte kaltblütig.

„Ei, ich wäre doch sehr begierig, vor meinem Tode einmal die Darstellung einer Scene von Hellsichtigkeit (une réprésentation d’une scène voyante) mitanzusehen.“

„Das macht sich an dem Orte, wo wir uns befinden, nicht so leicht; indessen will ich thun, was ich kann.“

Der Oberst hielt sein Versprechen und wußte sich nach und nach den nöthigen Apparat zu verschaffen. Eine Hellseherin aufzutreiben und in die Conciergerie einzuschmuggeln gelang nicht, aber man konnte dieselbe im Nothfall durch einen Knaben von zwölf bis vierzehn Jahren ersetzen; nur durfte derselbe nicht im Zeichen des Bogenschützen, der Zwillinge oder der Jungfrau geboren und mußte von zweifelloser Unschuld sein. Ein solcher Knabe ward in dem Sohn eines der Schließer entdeckt und der Oberst richtete die Zelle Bunel’s zu dem somnambulistischen Experimente her. Alles ist und wird à la Cagliostro gemacht und der Knabe (die sogenannte „Waise“) kniet vor der mit Wasser gefüllten Glaskugel.

„General,“ sagt der Oberst in seiner Rolle als Beschwörer, „geben Sie in der Vergangenheit oder in der Zukunft eine Thatsache an, welche Sie kennen zu lernen verlangen.“

„Den Urtheilsspruch, welcher mich erwartet.“

„General, wählen Sie einen andern Gegenstand; ich wäre in Verzweiflung, wenn die Antwort schlimm lautete.“

„Ich bestehe darauf und gebe Ihnen die Versicherung, daß die Antwort, laute sie so oder so, mich durchaus nicht erschrecken wird.“

„Dann wollen wir auf die Beschwörung verzichten und an unsere Whistpartie gehen.“

„Was, Sie bekennen sich geschlagen, bevor Sie begonnen haben? Ich wußte wohl, daß das Alles nur eine Kinderei sei.“

„Sie wollen es also schlechterdings, General? Nun wohl, ich beginne.“

Nach einer halben Stunde eifriger magnetischer Manipulationen von Seiten des Beschwörers war dieser und war der Knabe über und über mit Schweiß bedeckt, während die drei Zuschauer ihrerseits eine unerträgliche Beklemmung empfanden. Endlich gerieth das Wasser in der Glaskugel in sichtbare Bewegung und der Knabe rief aus:

„Ich sehe!“

„Was?“

„Zwei Männer, die sich raufen.“

„Wer sind sie?“

„Ich weiß nicht.“

„Wer sind sie?“

„Ich weiß nicht.“

„Wer sind sie?“

„Ach Gott! Ein Nationalgardist und ein Officier mit einem Generalshut.“

„Welcher ist der Stärkere?“

„O, mein Gott! Der Nationalgardist wirft den Officier zu Boden und schlägt ihm den Kopf ab.“

Dies gesagt, fiel der Knabe ohnmächtig zu Boden.

Bunel und Beugnot waren bestürzt, la Marlière zitterte am ganzen Leibe. Die beiden Ersteren bemühten sich, dem Letzteren einzureden, es sei doch wohl zwischen dem Urtheilsspruch, der ihm bevorstand, und dem Kampfe zwischen einem Nationalgardisten und einem Officier kein Zusammenhang denkbar. Der General blieb still und seine beiden Mitzuschauer bereuten es bitter, dieser Beschwörungsscene angewohnt zu haben. Dieselbe fand am 20. December 1793 statt. Am Abend des 21. kam dem General die Vorladung vor das Tribunal zu, am 23. wurde er verurtheilt und noch an demselben Tage hingerichtet. Samson aber that an diesem Tage seinen schrecklichen Dienst in der Uniform eines Grenadiers der Nationalgarde… Beugnot versichert hoch und heilig, daß der Oberst durch und durch ein Mann von Ehre gewesen, dem gar nicht zuzutrauen, daß er einen frevelhaften Spaß gemacht habe, demzufolge die ganze Beschwörungsscene nur eine zwischen ihm und der „Waise“ verabredete Mystification gewesen wäre. Von der Glaubwürdigkeit dieser Versicherung mag Jeder halten, was er mag. Ich meinerseits will mit dieser Novelle nur bewiesen haben, daß gerade zur Zeit, als der Atheismus auf den Straßen und in den Kirchen von Paris seine scandalvollen Orgien feierte, in den Gefängnissen die Mystik spectakelte. Die traurige Komödie der Weltgeschichte bewegt sich ja überall und allzeit in grellen Gegensätzen vorwärts oder – im Kreise herum.



[441]
Die Insel-Republik deutscher Künstler.
Von Erwin Förster.

Zur Zeit, als sich die hohen Herren eine Allongeperücke über den Kopf stülpten und die Bäume ihrer Gärten mit der Scheere in barocke Formen zustutzten, konnte der Sinn für die Alpennatur und ihre Schönheit nicht aufkommen. Sie war zu wild, zu groß und frei für diese engherzigen, verschnörkelten Caricaturmenschen; diese bauten sich mit dem Gelde ihrer „getreuen Unterthanen“ lieber ihre sonderbaren Schlösser in Gegenden, welche dadurch nicht zu verderben waren, so in den Sumpf nach Schleißheim oder auf die sterile Ebene Forstenrieds bei München. Was hohe Herren thaten, ward natürlich Mode bei dem Volke, und so kam es, daß dies die heute so viel besuchten bairischen Alpen „eine horrible Landschaft und arme Gegend“ nannte. Erst viel später, erst als in den zwanziger Jahren München die Heimath deutscher Kunst und Künstler durch Ludwig den Ersten wurde, ging den Münchnern der Sinn für die Alpenscenerie allgemein auf; da schnallte nun Jeder im Sommer vergnügt sein Ränzlein und zog nach der lange gemiedenen Gegend im Süden.

So kamen im Jahre 1828 auch vier junge Gesellen, von denen zwar nur der eine sich durch die damals noch übliche Leinenblouse, durch Farbekasten und Feldstuhl als Maler kennzeichnete, über den Wendelstein, dem Inn entlang bis zu einem großen See, zu dem einst so frommen Chiemsee oder, wie ihn überschwengliche Nativisten getauft haben, zum „Bairischen Meere“.

Dort liegen drei Inselchen, die eine, wohl über eine Stunde lang, trägt ein großes Kloster, das aber schon damals säcularisirt war und statt frommer und gelehrter Augustinermönche kräftige Bräuknechte, Jäger und Holzhauer beherbergte; hier vom Garten der Bräu- und Schloßschenke Herrenchiemsees sahen sie hinüber nach der schwimmenden Perle des Sees, nach Frauenwörth, dessen Häuser, Bäume und Nonnenkloster sich so friedlich in der glatten Fläche abspiegeln, daß wohl Jeder, wie unsre Wandrer, tiefe Sehnsucht fühlt hinüberzufahren nach dem reizenden Eiland. Als sie dort am Morgen im gastlichen Hause der Frau Dumbser erwachten, sahen sie sich an und stillschweigend wurden sie einig, den Wanderstab in die Ecke zu stellen und hier zu bleiben auf dieser göttlichen Isola bella. Ist’s ein Wunder? Säße der Leser, wie ich jetzt, im duftenden Schatten der hohen Wirthslinde Frauenchiemsees, blickte hinüber über die weite, weite Wasserebene mit ihren waldigen Ufern, aus denen friedliche Dörfer wie Edelsteine blitzen und blinken, oder gar hin nach Süden, wo sich frisch und stolz die zackige Kampenwand, der Hochgern mit seinen Schluchten, Felsen, Wäldern und Almen erhebt, oder endlich hin nach dem weiten Thale, aus dem der gewaltige Riese, der Watzmann, so freundlich herübergrüßt oder den Salzburger Untersberg herablassend anschaut, als glaube er nicht, daß in seinem Innern Carl der Große schläft – ich sage, erblickte er all die Herrlichkeit und wölbte sich wie heute der reine blaue Aether über ihm: er würde mich wohl billig einen barbarischen Einfaltspinsel nennen, wollte ich ihm vom Fortgehen reden.

Ja, ich sitze hier an derselben Stelle, wo auch unsere Wanderer am anderen Tage saßen, und vor mir liegt ein heiliges Vermächtniß einer schönen Zeit, ein äußerlich schlichtes Buch, aber werthvoller, als mancher Foliant, der in Bibliotheken ruht und erzählt, wie sich die Menschen mordeten und brandschatzten, um einen Purpur zu bereichern. Ich schlage den Deckel des unscheinbaren Buches auf und werde zu meinem Schrecken gewahr, daß ich meine Erzählung zwar sehr plausibel begonnen, damit aber der hier gegebenen Nachricht von der „Entdeckung von Frauenchiemsee“ geradezu vor den Kopf gestoßen habe, denn danach war die Sache so einfach bei Weitem nicht, sondern eine gefahrvolle, wunderbare Fahrt todesmuthiger Argonauten. Es steht nämlich verzeichnet: „Als man schrieb 1828 nach unseres Herrn Geburt, geschah es, daß ein gar wackerer Hauptmann, Maxen Haushofer geheißen, sich mit seiner Knappschaft, den edlen Jungherren Franz Trautmann und den Gebrüdern Carl und Joseph Boshart, auf den Weg nach Abenteuern aufmachten. Item geschah es, daß, als sie in einem Schifflein auf dem Schliersee fuhren, sich ein groß Windsbraut erhob, also, daß die Wogen immer höher und höher stiegen; gleichzeitig öffnete der Himmel alle seine Schleußen, daß die Wasser wuchsen,“ bis der tapfere Anführer und seine Gefährten keine Ufer mehr sahen. Endlich nach drei Tagen erreichten sie „ein grün Eiland, wo ein wild Volk hausete“, sich ihnen aber freundlich zeigte, auch von seiner „rohen Kost“ brachte, als es Geld bei ihnen sahe; die letztere aber bestand „aus Kartoffelsalat und frischem gehackten Fleisch, welches sie zuvor säuberlich in Fett buken und Coteletten nenneten“. Als der Sturm aufgehört hatte zu toben, die Wogen sich besänftigten, auch die Sonne wieder schien, erkannten die Argonauten erst, daß sie in einem fremden See seien, „den die wilden Eingebornen in ihrer ungeschlachten Sprache den Chiemsee benamsten.“

Somit war die Insel entdeckt. Entdeckt? höre ich fragen und ich antworte: Ja! so gut Amerika von Columbus für die alte Welt entdeckt wurde, so gut wurde es Frauenchiemsee von Haushofer und seinen Begleitern für die Maler; wie die goldgierigen Spanier nach Westindien zogen, um reich beladen heimzukehren, so zogen nun die Künstler hierher und hoben Schatz auf Schatz aus der unerschöpflichen Gegend, wo Land und Leute gleich reichen Stoff zu Bildern gaben. Wer kennt nicht die „Mittage am Chiemsee“ des leider in diesem Jahre verstorbenen Prager Professors Max Haushofer? Wer hat noch nie ein Bierglas im Wirthshause bekommen, auf dessen Deckel das „Ave Maria“ nach Ruben’s trefflichem, nur etwas gar zu fromm-sentimentalem Bilde mehr oder minder schlecht gemalt gewesen wäre?

Die Freunde, als sie endlich die gastliche Insel verlassen mußten, um wieder die Collegien zu besuchen oder zu schwänzen, je nachdem, nahmen doch die Sehnsucht nach ihr mit und priesen ihre Tugenden allerorts. Man hörte, staunte, überzeugte sich im andern Jahre selbst, und schon 1830 galt Frauenchiemsee bei Natur- und Kunstfreunden als ein Eldorado; selbst Fremde lockte schon der Ruf, denn das Fremdenbuch weist aus, daß die Maler C. Himler aus Dresden, Rices aus Dornbirn und Aloys Gatterer aus dem nachbarlichen Tirol hierher kamen. Jetzt begann eine blühende Zeit für die Insel und ihre Gäste. Da gesellten sich der Schlachtenmaler Ludw. Wendling und sein Bruder Georg, welcher später seine spärliche ärztliche Praxis mit der behäbigeren Stelle eines königlichen Schloßverwalters in Nymphenburg vertauschte, zu Max Haushofer und seinen Gefährten und „bildeten die Kneipe weiter“ und sich selbst wohl auch aus. Der Maler Löschhorn kam und führte „die Edeltrinkkunst“ ein, eine Errungenschaft seiner Universitätsjahre. Da wurden kühne Fahrten auf dem See unternommen, aber die schönsten waren jene, welche Trautmann vorgeschlagen. Wenn die Sonne von den Zinnen des Watzmanns den letzten Scheidegruß gesandt, der Himmel sich dunkler und dunkler färbte und ein Stern nach dem andern erwachte, dann zog die Schaar aus dem Hause der Frau Dumbserin mit brennenden Kienfackeln, stieg in die bereitstehenden Einbäume[1] und fuhr hinaus in Mondenschein und See und sang ein Lied, daß die kleinen unsichtbaren Wassergeister heraufschwammen und lautlos zuhörten und den Wellen verboten zu plätschern.

Mit jedem Jahr mehrten sich die Künstlerschaaren auf dem Eilande. Da war 1834 Ruben da, dessen Bildes ich oben erwähnte, welcher aber oft den Pinsel mit dem Stutzen oder der Angel vertauschte, Dr. Carl Noodt, „der seltsame Mensch und Hundsfreund“, wie ihn die Chronik nennt, welcher die Insel bald wie seine Heimath ansah und im Fremdenbuche zweiundzwanzig Jahre später der Erinnerung jener schönen Zeit rührende Worte weiht, sich aber als „Hofrath Dr. Noodt aus Tiflis mit Familie“ unterschreibt; seit 1862 ist auch er todt. Dann der kleine Mann mit dem ungeheuren Baß, C. Altmann, der uns in seinen Bildern das Leben der Wilderer und Schmuggler schildert, ein ebenso vortrefflicher Mensch, wie wunderlicher Heiliger, welcher für seine Freunde Alles wagen, für sich aber nie rasch zu einem Entschlusse kommen konnte. So, um nur Eines zu erzählen, besuchte er in seinem fünfundfünfzigsten Jahre, als er durch den Tod seines Vaters ein anständiges Vermögen geerbt hatte, Trautmann und sagte: „Höre, alter Freund, ich habe da einen dummen, aber sehr gescheidten Gedanken; was meinst Du, sollt’ ich nicht heirathen?“

[442] „Ei versteht sich, Du hast ja Geld, auf was willst Du denn noch warten?“ frug sein Freund.

Nach einiger Zeit, in welcher Altmann das Zimmer mit raschen Schritten maß, antwortete er: „Ich muß mir’s doch noch überlegen, weißt Du, ich möchte eigentlich mir lieber ein Reitpferd halten.“[2]

Das nächste Jahr wurde die Republik der Künstler, welche sich hier zu den königlichen Aufträgen die nöthige Kraft holten, durch den liebenswürdigen Genremaler Heinrich Varr vermehrt; er kam eben aus England, noch voll des Entzückens nicht sowohl über die Werke van Dyk’s, als über die dortige kräftige Kost, so daß er zur Befriedigung sämmtlicher Zunftgenossen „denen wild Köchinnen die Kunst der Beefsteakbereitung lehrete“. Vor Allem aber that er damit dem sehr langen, hagern Maler Adolph Mende einen Dienst, denn dieser war ebenso gewaltig im Essen, wie im Stil seiner großen Genrebilder, für welche aber die edlen Patricier in Basel, unter denen er längere Zeit lebte, so wenig Sinn hatten, daß er dieselben sammt und sonders in Caricaturen feierte. Man erzählt sich, daß, als sich in Basel für diese aus leicht begreiflichen Gründen kein Verleger fand, er sie in München erscheinen ließ und die guten Geschäftsleute dadurch zwang, die ganze Auflage aufzukaufen – der Posten mag sich in den dicken Hauptbüchern gut ausgenommen haben: „Für Ankauf meines Zerrbildes neun Franken fünfzig Centimes“. Das war der Zorn eines gelangweilten Künstlers!

Weiter berichtet die Chronik von ihm, daß er Anno 37 sich drei Viertel Jahre auf Frauenchiemsee aufhielt, „also daß unter den Eingebornen eine arg Hungersnoth entstand, sintemalen vorbemeldeter Mende ihren ganzen Vorrath aufgezehrt hatte“. Allein er fand seinen Rivalen. Bernhard Fries kam mit schwer beladener Mappe und mit verdorbenem Magen aus Italien – den letzteren mochte er den Pommeranzen und Trauben zu verdanken haben – kurz er war entzückt, als am Donnerstag Frau Dumbserin die Terrine mit den kräftigen, nahrhaften Leberknödeln auf den Tisch setzte, und machte so gefährliche, beutelustige Angriffe auf die letzteren, daß den staunenden Tischgenossen nicht viel mehr als das Nachsehen blieb. Sie rächten sich aber und nannten ihn, der uns mit keckem, breitem Pinsel die ganze Gluth und den ewigen Reiz des vielbesungenen und vielgemalten Italiens zu hinreißendem Entzücken auf die Leinwand zaubert, den „Knödelgeier“. Auch dem Maler tiefernster Wald- und Bergeinsamkeit, Eduard Schleich, begegnen wir seit 1833 hier auf dem gebenedeiten Eilande; seinem Vetter August oder besser „Gustel“ widmete kürzlich die Gartenlaube einen längeren Nachruf, der Feder eines jener Argonauten entsprungen, deren Namen ich eben nannte.

Schwer bleibt es, all’ die lustigen, übermüthigen Streiche zu schildern, die hier von geistig hochbegabten, freiheitgewöhnten Männern vollführt wurden; da geschah nichts in der Umgegend oder auf der Insel, das sie nicht für sich auszubeuten wußten; ja später (1839) wurde sogar ein besonderer „Unsinn brütender Rath“ gewählt und Engelbert Seiberts,[WS 1] der Urheber der nicht sehr glücklichen Illustrationen zu Goethe’s Faust, zu dessen Vorredner gewählt. Wendling, der Arzt, veranstaltete ein großes Scheibenschießen, dann „Sacklaufen und Milchfressen für die Nachkommenschaft der wilden Insularen“. Daß aber die edle Wirthin mit Fackelständchen und Liedern vor Allem gefeiert wurde, versteht sich wohl von selbst, und mehr oder weniger mißlungene Illustrationen und Verse geben in der Chronik davon Kunde. Hülfreiche Hand leistete dabei der Stiefelputzer, ein Mann, der mit philosophischer Würde das harte Loos trug, das ihn getroffen. Früher Hauptmann in der baierischen Armee, wurde er wegen eines Duells, in welchem er seinen Gegner erschoß, cassirt und suchte nun hier in der niedrigsten gesellschaftlichen Stellung seinen Unterhalt. Der zweite Liebling aber war der Bauer „Steckafazi“; er lebt noch und renommirt gern von seinem Wildschützenleben und wie oft er habe Modell stehen müssen. Er rächte sich für die vielen Neckereien mit gleichen Waffen; so wußte er z. B. sehr geschickt die Künstler auf die kleine Krautinsel zu locken und dann mit dem Kahne zu entfliehen; nun konnten sie warten, bis er wiederkam, und das geschah erst, wann Mittag längst vorbei und sie tüchtig ausgehungert und ausgedürstet waren.

Kein Kind kann sich auf den Weihnachtsabend mehr freuen, als damals die Künstler auf die schöne, warme Sommerszeit, welche sie nach Frauenchiemsee rief; sie mochten reisen wohin sie wollten, einmal wenigstens mußten sie hier im Jahre einkehren. Ich kann diese Sehnsucht nicht besser kennzeichnen, als wenn ich sage, daß Trautmann einmal spät Abends von München fortging; durch die dunklen Wälder, vorbei an den ausgedehnten Mooren des Vorlands, weiter und weiter ohne Rast, bis er bei Stock das ersehnte Ufer erreichte. Er hatte den sechszehn- bis siebzehnstündigen Marsch zurückgelegt, ohne etwas Anderes genossen zu haben, als ein Glas schlechten Bieres, und fand erst Ruhe, als er das gastliche Dach der Dumbser erreicht hatte! Und Trautmann konnte doch nichts anziehen, als die Gegend und seine Freunde, die er dort wußte. Ja, wäre es Max Haushofer oder Meister Ruben gewesen! das wäre erklärlicher. Ueberall und allerorts spielt sich ein Roman ab, warum nicht hier, wo fünf Töchter der Wirthin der Jungfrau entgegenreiften? Schon 1828 und 1830 thut die Chronik der zarten Gefühle Erwähnung, welche Haushofer zu dem gemüthreichen „Meerfräulein“ Anna oder Nanni hegte; allein erst 1838 führte er sie heim, als sein Künstlerruf ein wohlbegründeter war. Abwechselnd lebte er dann mit seiner Familie in München und auf Frauenchiemsee; selbst als er einem ehrenden Rufe nach Prag als Professor folgte, zog es ihn immer wieder an die geliebten Gestade, und als uns die Nachricht von dem Tode dieses edlen, herrlichen Menschen und Meisters überraschte, bewunderten wir eben wieder im Locale des neuen Kunstvereins einen „Mittag am Chiemsee“, denn in Wiedergabe der heißen, gewitterschweren Sommerluft war Haushofer unübertrefflich, wie auch, ich glaube, sein letztes Bild, „die Aussicht vom Hohentwiel“, es von Neuem bewies. Golden in seinem Charakter, war Haushofer ein poetisch angelegtes Gemüth; heiter bis zur Lustigkeit, verletzte er in seinen gutmüthigen Scherzen doch nie, sondern fesselte dadurch seine Freunde unzertrennlich an ihn und erwarb damit, wie mit seinen Werken, in Jedem, der ihm näher kam, neue Freunde und Verehrer. Seine Wittwe lebt wieder mit ihren beiden Söhnen in München, welch’ letztere den guten Klang des väterlichen Namens jetzt in der Literatur zu erhalten streben.

Ein anderer der Argonauten, Franz Trautmann, hatte als Kind häufig in dem alten (1802 aufgehobenen) Kloster Wessebrunn frühzeitig ebenso die Liebe zu alten, dunklen Geschichten, wie zu den hohen Firnen der Alpen gewonnen. Zeitig entwickelte sich sein schriftstellerisches, wie malerisches Talent, allein erst, als er 1840 das große Künstlerfest im Stil des sechszehnten Jahrhunderts besang und das Büchlein raschen Absatz fand, wandte er sich der Literatur zu, ohne jedoch den Pinsel ganz auf die Seite zu legen. Sein „Herzog Christoph“, „Eppelin von Gailingen“ etc. wurden Volksbücher im besten Sinne; allein nicht nur die Erzählung wurde sein Fach, auch dem Studium der Culturgeschichte widmete er sich mit einem Eifer, der ihn mehrmals in Lebensgefahr brachte. So steht ein tiefer Ziehbrunnen auf der Insel; Trautmann vermuthete Gott weiß was für historische Schätze in der unheimlichen Tiefe und ließ sich hinab. Als er sich vom Gegentheil überzeugt hatte, gab er dem oben harrenden Steckafazi ein Zeichen, welcher ihn heraufwand; als aber T. oben ankam, durchlief ihn ein eiskalter Schauer, wie er sah, daß das eine Glied der Kette bis auf einen bindfadenstarken Draht gerissen war – ein Zug mehr und er wäre hinabgestürzt und zerschmettert. Trautmann durchzog später Europa vom hohen Norden Schottlands bis zum tiefsten Süden, von Ost nach West, aber überall hin begleitete ihn die Sehnsucht nach dem Künstlereiland. Jetzt lebt er hier in München ganz dem Studium der Kunstgeschichte und vornehmlich der des Kunstwerkes im Mittelalter zugethan, über welches er, angeregt durch die übergroßen Schätze des hiesigen Nationalmuseums, soeben ein umfangreiches Werk vollendet hat, wie ich erfahre. – Die schönste Tochter der Frau Dumbser war Susanna. Noch heute sprechen die Leute von den prachtvollen dunklen Haaren, der weißen, feinen Gesichtsfarbe und dem fast classischen Profil; dabei war sie schlank und hoch gewachsen, so daß sie einen Verehrer des Schönen, wie Ruben, leicht fesseln konnte, und wieder (1840) feierte die Republik eine Hochzeit auf der Insel mit Glockengeläute, Böllerschüssen, Gedichten, Sang und Seefahrten in bekränzten Kähnen. Susanna Dumbser wurde Ruben’s bewunderte Gattin; sie folgte ihm nach Prag, wohin er ein Jahr später als Director der Akademie berufen wurde, bis er diese Stelle an Meister und Freund A. Zimmermann, den gewaltigen Landschafter, abtrat, um eine gleiche in [443] Wien anzunehmen. Hier wohnt er jetzt im Winter, aber der Sommer sieht ihn regelmäßig mit Stutzen und Rücksack auf den Schroffen Steierlands den Hirschen und Gemsen nachstellen. –

Die Sonne wirft lange Schatten; der Ost weht herüber über die weite, ruhige Spiegelfläche des Sees; es wird kühl hier. Da packe ich meine Schreibereien ein, nehme sie sammt der Chronik unter den Arm und lade meine Leser ein, in das Zimmer des äußerlich sehr einfachen Wirthshauses zu treten.

„Wohin soll ich Ihnen decken?“ fragt mich die Wirthin, und ich antworte: „Ei, an den Künstlertisch!“ Die Leser sehen mich deswegen fragend an und glauben, weil ein neuer Wirthschaftspächter und also auch eine neue Wirthin da seien, würde mein Wunsch wohl kaum erfüllt werden können; allein wer je im südlichen Deutschland, namentlich in Baiern, Tirol und Oesterreich eine Wirthsstube betrat, der erinnert sich der Zunftschilder, welche bunt bebändert über den weißen Ahorntischen von der Decke herabhängen, zum Zeichen, daß hier allein die Fischer, dort die Schmiede, oder die Holzhauer etc. zu zechen berechtigt sind. Welche Innung nun am meisten im Orte vertreten ist, deren Schild hängt auch über dem größten Tische. Auch Nichthandwerker haben solche gestiftet, man sieht sie für Jäger, Holzhauer; die Fuhrleute aber stiften gewöhnlich einen wohlbespannten und bepackten Frachtwagen von Holz, die Flößer ein Floß, die Schiffer einen Kahn, schön blau-weiß in Baiern, roth-weiß in Tirol, schwarz-gelb in Oesterreich angestrichen. Auch über dem Ecktisch des Frauenchiemseer Wirthshauses hängt ein solches Blechschild; auf der einen Seite sieht man die drei silbernen Ziegel im blauen Feld, welche einst Maximilian der Erste Albrecht Dürer als Wappen verliehen und von dem es die deutsche Künstlerschaft geerbt hat; auf der andern Seite erblickt man in der Mitte das Wirthshaus der Insel, bei welchem links ein dünnes, mageres Mitglied derselben eben ankommt, um auf der rechten rundlich genährt und fröhlich schmunzelnd wieder fort zu ziehen, und darüber prangen in fast unleserlich gewordener Schrift die Verse:

„Willst du wissen, wie man lebt in diesem Haus?
[links] So gehst du herein und [rechts] so gehst du heraus!“

Es war im Jahre 1841, als der Vorredner des „Unsinn brütenden Raths“, E. Seiberts, den Beschluß faßte, ein Innungsschild zusammen mit dem talentvollen Buchhändlersohn J. Fr. Lentner aus München zu malen, demselben, welcher später mit Lud. Steub so geschickte Briefe über das glaubenseinheitliche Tirol für die „Allgemeine“ schrieb, daß sie die schwarze Masse dort in große Aufregung versetzten, während die Abel’sche Censur gesegneten Andenkens nichts Verdächtiges, am wenigsten jedoch Beleidigendes gegen ihre tonsirten Freunde ahnte. Gleichzeitig aber verfaßte der schreibkundige Lentner die Chronik, woraus ich die Daten schöpfte und die als Vorrede dem Fremdenbuche vorausgesetzt ist, in welches die Jünger und Freunde der Kunst Namen, Bild und Lied eintrugen und noch eintragen, welches aber den Händen der Polizei, als ein liber sacer auch sonst Unberufenen verschlossen blieb, denn die jüngste Tochter der Dumbser, welche im Hause als Kellnerin fungirte, frug Jeden, der dies Buch wünschte: „Sind Sie aber auch Künstler?“ Erst später in den sechsziger Jahren haben Nichteingeweihte dies Heiligthum mit schlechten Versen und platten Witzen entweiht.

Wie bei jedem Reiche ging dem Verfalle unserer Republik ein goldenes Zeitalter voraus, dessen Culminationspunkt 1841 zu setzen sein dürfte. In diesem Jahre sehen wir das Reich mächtiger als je, die Eroberungslust nahm zu, man bereitete sich zu Angriffen auf benachbarte Wirthshäuser vor, und so konnte dem Inselvolk die unbeholfene Flotte ausgehöhlter Eichenstämme nicht mehr genügen, sondern man führte die Segelschifffahrt ein unter reger Betheiligung des ruderkundigen Fischers Gürtler. Die nautischen Kenntnisse scheinen indeß gering gewesen zu sein, denn die Probefahrten, deren die Chronik erwähnt, fielen nicht glücklich aus; der Wind trieb wohl das Schifflein in den See, aber nicht wieder zurück und den Schiffern gings wie jenem Sonntagsreiter, der nach Süden galoppiren wollte, den aber sein Pferd nach Norden zu dem Stalle trug, aus welchem es kurz vorher verkauft worden war. Die feindlichen Wirthshäuser und Schiffer lachten sich drüben in’s Fäustchen; schon sah man den Seefrieden gesichert, als ein langer, magerer Mann mit noch rötherem Bart als Gesinnungen erschien. Er hatte zwei Jahre im Piräus sich neben der Regentschaft der Nautik geweiht, wohl auch ungeziemende Redeweise gegen die begeisterten Philhellenen geführt und mit seinem Freunde Fallmerayer die Besitzer der weißen Fustanella für Verwandte der „slawonischen Pfannenflicker und der Zigeuner“ erklärt; ich sage, dieser Mann kam jetzt mit reichen Erfahrungen und unerschöpflichem Humor, stellte sich als den künftigen Verfasser der berühmten „drei Sommer in Tirol“ und als Dr. Ludwig Steub vor, worauf man ihn zum Admiral ernannte. Er verstand die schwierige Kunst des Segelstellens und landete auch wirklich mit einer auserlesenen Truppe in Uebersee; allein froh des Sieges stürmten sie die Schenke, hielten sie auch bis spät Abends besetzt, mußten dann aber nach schwerem Lösegeld schon auf dem Lande „laviren“ und auf dem See bei heftigem Sturmwehen mit Rudern und unverrichteter Dinge die heimathlichen Ufer zu erreichen streben. –

Durchblättert man das Fremdenbuch, so findet man darin eine Menge hochangesehener Namen aus der Künstlerwelt: da ist Echter, Flüggen, Ernst Fröhlich, Heinlein, Felix von Schiller, Eugen Neureuther u. v. a., auch Graf Pocci und Freiherr von Kobell fehlen nicht. Als aber das achtundvierziger Jahr ernstere Pflichten den Insularen auferlegte, nahm die Lust und Freude auf dem Chiemsee ab; es wurde stiller und stiller hier und nur 1856 flackerte das verlöschende Licht noch einmal hell auf: es galt, Mozart’s hundertjährigen Geburtstag zu feiern. Eine jüngere Generation sang hier die Lieder des Unsterblichen bei Fackel- und Mondenschein und sang so anziehend in die klare Nacht hinaus, daß die kleinen Wassergeister wieder an die Höhe schwammen, entzückt den lange entbehrten Klängen zu horchen.

Als Sang und Humor verklungen waren, da kamen ernstere Gestalten, wohlgestiefelt und bebrillt, krochen im Schlamme des Sees, suchten die ausgehöhlten Hühnerknochen, so einst hier von den Malern in die Tiefe geschleudert wurden, alte Scherben und verfaultes Holz gar säuberlich zusammen und schrieben dicke und gelehrte Bücher über die geringe Cultur der schwach bekleideten – Pfahlbauern.

Jetzt ist die alte Wirthin weggezogen; der Herr von Herrenchiemsee, Graf Hunoldtstein, hat das schlichte Wirthshaus gekauft und trotzdem er mehr Franzose als Deutscher ist, gab er Befehl, die alte Heimath der Künstler gar wohnlich herzurichten, damit es eine neue für sie werde. – Ich aber bin zu Ende und muß scheiden. Ernst und schwarz sehen die Bergriesen auf mich herab; im Westen donnert und blitzt es und der Wind thürmt Woge auf Woge, doch Fischer Gürtler und sein Sohn führen mich im alten Einbaum sicher nach Stock. Ehe ich indeß das Ufer, auf wer weiß wie lange, verlasse und dem Wasser den Rücken wende, rufe auch ich mit dem Dichter der Chronik:

„O Land voll alter Herrlichkeit,
Du wundervoller See,
Einst sahst du eine güldne Zeit,
}Kehrt sie dir nimmermeh’?“




Die beiden jungen Weltbürger des Dresdener Thiergartens.


Bei der Popularität des Bären erfreuen sich in unseren zoologischen Gärten die Bärenbehausungen immer der besonderen Aufmerksamkeit des Publicums. Einen fesselnden, wohleingerichteten und gut besetzten Bärenzwinger hat u. a. der zoologische Garten in Dresden. In der nach Norden gelegenen Abtheilung des geräumigen Zwingers residirte der Tiger der Arktik, der Eisbär, der noch am meisten das Wilde, Furchtbare im Charakter seines Geschlechts repräsentirt. In der mittlern Abtheilung war noch bis vor Kurzem ein Halsbandbär aus Sibirien, ein Bruan oder malayischer Bär und einer der bekanntesten Bären Amerikas, der Baribal oder Muskwa, untergebracht. In der dritten Abtheilung endlich hausen die gemeinen braunen Bären. Der Eisbär ist kürzlich, nachdem er sechs Jahr dem Dresdner Garten angehört hat, mit Tod abgegangen, und auch der kleine muntere Malaye, dem die [444] Sonne seiner Heimath gefehlt, ist der Tuberculose erlegen. Ein Ersatz für diese Verluste wurde dem Garten in den letzten Monaten durch einen Familienzuwachs der braunen Bären, ein Ereigniß, welches gegenwärtig in erhöhtem Grad das Interesse der Gartenbesucher auf den Bärenzwinger lenkt. – Schon öfters hatten besagte Bären Junge gehabt, aber es war bis jetzt nicht möglich gewesen, dieselben am Leben zu erhalten. Trotz der besten Pflege und obgleich Madame schon wochenlang vor ihrer Niederkunft von ihren Cavalieren getrennt gehalten wurde, starben doch die Jungen immer wenige Tage nach der Geburt und wurden dann sofort von der zärtlichen Mama aufgefressen. Ende Februar dieses Jahres ist Meister Petz wieder mit Zwillingen beschenkt worden. Man hat sich diesmal die möglichste Mühe gegeben, jede Störung von der Wöchnerin fern zu halten, und so besonders auch den Andrang der Besucher zu vermeiden gesucht. Dank diesen Bemühungen gediehen die Jungen, die in der Größe von Maulwürfen zur Welt kamen und vier und eine halbe Woche blind waren, in erfreulichster Weise. Sie sind jetzt bereits, ungefähr drei Monate nach ihrer Geburt, so groß wie mittlere Pudel und von lichter, warmer graubräunlicher Färbung. Obgleich sehr beweglich, haben sie doch auch schon die Plumpheit der Alten, ihren breitwatschelnden Gang, der dem menschlichen Schritte sich einigermaßen nähert und dadurch eben so komisch wirkt. Immer zum muntern Spiel aufgelegt, sind sie in ihrer Drollerie höchst ergötzlich und, weil kindischer, noch viel unterhaltender als junge Löwen. Sie versuchen an der Alten oder am Gitterwerk des Käfigs in die Höhe zu klettern, balgen und jagen sich umher wie ausgelassene Buben, plätschern im Wasser mit den Pfoten und treiben allerhand Possen. Unzählige prächtige Motive bieten sie so, im Verein mit der Alten, der Thiermalerei dar und trefflich hat unser Künstler verstanden, ein solches herauszugreifen und festzuhalten und seiner Freude an den Thieren, sowohl was deren Form, als was deren seelisches Wesen betrifft, Ausdruck zu geben.

Bereits wird dem aufmerksamen Beobachter eine Temperamentsverschiedenheit der beiden jungen Thiere bemerkbar, indem sich besonders das eine schon sehr reizbar und launisch erweist. In den Mittagsstunden liegen beide ziemlich faul, ihre Pfötchen leckend, da, während die Mama sich um sie geringelt hat, sie mit ihren Tatzen umschlungen hält und mit ihrer Schnauze bedeckt. Wenn man die Besorgniß, die Zurückhaltung der alten Gnädigen erwägt, die Pfänder ihrer Liebe dem frivolen Blick der Welt auszusetzen, möchte man fast dem alten Märchen glauben, daß die Jungen von der Bärin erst zurecht geleckt und präsentabel gemacht werden müßten. Die Alte hatte in den ersten Tagen etwas Weiches, fast Gutmüthiges im Blick, obgleich ihr nicht zu trauen und sie schnell mit einem Tatzenschlag bei der Hand war, wenn man sich zu unvorsichtig dem Käfig näherte. Kommt ihr eines der Jungen in den Weg, so daß sie zu fürchten hat, es zu treten, so wird das liebe Söhnchen vorsorglich mit dem Vorderbeine auf die Seite geschoben. Die Zärtlichkeit der Bärin zeigte sich besonders, als die Familie aus dem geschlossenen Raume, welcher als Wohnstube diente, in den Käfig gebracht wurde, den sie jetzt bewohnt; da die Luft noch rauh war, so bedeckte die Alte ihre Jungen sorgsam mit dem Stroh und Heu, welches im Käfig lag, indem sie nur deren Gesichter frei ließ. So überraschend und rührend oft derartige Züge sind, welche das Thier dem Menschen näher rücken, so werden wir doch immer der Thierwelt gegenüber daran erinnert, daß dieselbe von der bewußten Kindesliebe des Menschen weit entfernt bleibt, denn sobald der Fortpflanzungstrieb sich wieder einstellt, existiren die Jungen nicht mehr für das alte Thier.

Merkwürdig, wenigstens immerhin interessant ist, was nicht nur die russischen Bauern, sondern auch nordische Naturforscher davon erzählen, wie die Bärin ihre Jungen erzieht. Die Zwillinge, welche sie wirft, sind gewöhnlich ein Männchen und ein Weibchen. Das Weibchen entläßt sie schon im Herbst, das Männchen aber muß bleiben, um in der nächsten Kinderstube allerlei Dienste zu verrichten, die jüngeren Geschwister auf Spaziergängen durch Bäche und Sümpfe zu geleiten und zu tragen und ihnen Futter zu bringen, weshalb in Rußland dieser Bärenknabe den Namen Pestun, d. h. Kindeswärter, führt. Junge Bären sollen, auch wenn sie der Mutter an Kräften schon überlegen sind, ihre Züchtigung geduldig ertragen. Unser Gewährsmann hierfür, Eversmann, ein russischer Naturforscher, erzählt von einer Bärenfamilie, welche er über einen Strom setzen sah, Folgendes: „Als die Mutter am jenseitigen Ufer angekommen, sieht sie, daß ein Pestun ihr langsam nachschleicht ohne den jüngeren Geschwistern, welche noch am Ufer waren, behülflich zu sein. Sowie der Pestun ankommt, erhält er von der Mutter stillschweigend eine Ohrfeige, kehrt sofort nach eröffnetem Verständniß wieder um und holt das eine Junge im Maule herüber. Die Mutter sieht zu, wie er wieder zurückkehrt, um auch das andere herbeizuholen, bis er dasselbe mitten im Flusse in’s Wasser fallen läßt. Da stürzt sie hinzu und züchtigt ihn aufs Neue, worauf der Pestun seine Schuldigkeit thut und die Familie in Frieden weiter zieht.“ Man weiß noch nicht bestimmt, wie lange das Wachsthum des Bären währt; nach A. Brehm sollen mindestens sechs Jahre vergehen, ehe das Thier zum wirklichen Hauptbären wird. Das Alter, welches der Bär überhaupt erreichen kann, scheint ziemlich bedeutend zu sein. Man hat Bären gegen fünfzig Jahre in der Gefangenschaft gehalten und beobachtet, daß die Bärin noch in ihrem dreißigsten Jahre Junge geworfen hat.

Mit den jungen Bären läßt sich ruhig spielen; sowie sie aber älter werden, ist ihnen nicht mehr zu trauen, denn sie sind, wenn sie sich auch zu allerlei Künsten abrichten lassen, eigentlich unzähmbar; bei aller Einfalt, scheinbaren Harmlosigkeit und Gutmüthigkeit haben sie immer etwas Tückisches und werden nie zutraulich gegen ihre Wärter. Der berühmte französische Thierbändiger Charles trat furchtlos in den Käfig eines bengalischen Tigers, aber wagte sich nur selten in den seines braunen Bären. Selbst die Tanzbären, welche sich früher in Deutschland producirten, haben, obgleich sie durch alle möglichen Qualen in der Regel mürbe gemacht waren, mitunter noch Unheil angerichtet. Der letzte und auch in Deutschland wohl noch bekannteste Bärenführer war ein gewisser Yorik, aus Polen gebürtig, obgleich er sich nach Art dieser Leute den „großen Wilden der Cordilleren“ nannte. Er war ein immer phantastisch aufgeputzter, wüster Geselle, stark wie Simson, der mit seinen Bestien kämpfte und sie wie Federbälle auf die Erde warf. Auch Yorik soll schließlich von einem seiner Bären zugedeckt worden sein. Kann man als Freund der Romantik bedauern, daß die abenteuerlich lustige Erscheinung der Bärenführer von dem Hauche der Neuzeit weggeweht worden ist, so darf uns doch der Gedanke trösten, daß so und so viele Thiere weniger gemartert werden. Denn um den Bären zum Tanz abzurichten, pflegte man ihn in einen Käfig zu setzen, dessen aus einer eisernen Platte bestehender Boden glühend gemacht wurde; das Thier wollte der Hitze entgehen, richtete sich empor, hüpfte fortwährend mit den Hinterfüßen; dabei wurde getrommelt und gepfiffen und das Thier gewöhnte sich allmählich, sobald es diese Töne hörte, sich aufzurichten und zu tanzen. Ein durch die Nase gezogener Ring, mittels dessen der Bär gelenkt wurde, mußte das Uebrige thun. Ja, es soll vorgekommen sein, daß man, zum Zweck der Dressur älterer Bären, denselben grausamer Weise die Augen ausgestochen und sie allein durch Hunger und Prügel zu bändigen gesucht hat.

Im Mittelalter, als die Wälder Deutschlands noch viele Tausende von Bären bargen, gehörte die Jagd derselben, der Gefahr wegen, zu dem edelsten Waidwerk. Kaiser Max suchte einen Ruhm darin, es je zuweilen ganz allein mit einem dieser „wilden Wurmen“ aufzunehmen, was dann im Theuerdank gewissenhaft verzeichnet ward, während Ludwig der Bärtige von Ingolstadt ganze Dörfer zur Bärenhatz versammelte. Wer dem Aufgebot nicht folgte, dem ward der Ofen eingebrochen. Der Kopf des erlegten Thieres gehörte der Herrschaft, ebenso die rechte „Hand“; die linke kam dem Geistlichen zu, der mit dem Sacrament bei der Jagd bereit sein mußte für den Fall, daß ein Schütze unter den mörderischen Tatzen blieb. Und dieser Fall kam nicht selten vor. So zerriß bei einer Jagd, die Heinrich der Vierte in Frankreich hielt, ein stark verwundeter Bär sieben Treiber und mit mehreren anderen, die er auf dem Gipfel eines Felsens verfolgte, stürzte er sich endlich in den Abgrund. Daß aber auch das römische Alterthum, welches in seinen Kampfspielen Bären massenhaft abschlachtete, die Natur des Thieres nicht unterschätzt und dasselbe durchaus nicht für ein harmloses Geschöpf angesehen hat, geht aus einem Bilde hervor, dessen sich Horaz bedient. Er vergleicht die Scheu vor einem lästigen Dichtergenie mit der Flucht vor einem Bären, „der das Gitter seines Käfigs zu brechen vermochte.“
C. Clß.



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Die jungen Bären im zoologischen Garten zu Dresden.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

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Gedanken über das Curiren von Krankheiten.
2. Das Curiren der Epilepsie.


An der Epilepsie zeigt es sich recht deutlich, wie es um Heilmittel überhaupt und ganz besonders um die sogenannten antiepileptischen Heilmittel steht und daß doch wohl die Gedanken, die wir über das Curiren der Krankheiten in Nr. 23 der Gartenlaube aussprachen, die richtigen sein müssen. Denn nicht nur, daß Unmassen der verschiedenartigsten allopathischen Arzneien von anerkannt wissenschaftlichen Aerzten als bewährte Heilmittel gegen die Epilepsie empfohlen werden, es werden sehr oft auch homöopathische Nichtse, sowie die lächerlichsten Geheimmittel und sympathetischen Curen von Laien, die durch jene Mittel und Curen geheilt zu sein glauben, als ausgezeichnet gegen diese Krankheit in öffentlichen Blättern gerühmt. Und trotzdem taugen alle diese gerühmten anti-epileptischen Heilmittel und Curen auch nicht einen Pfifferling. Dieser gute Ruf gewisser anti-epileptischer Heilmittel läßt sich aber eben dadurch erklären, daß die Natur gar nicht selten der Epilepsie ganz plötzlich ein Ende macht, und zwar entweder für immer oder nur auf einige Zeit, und daß nun Das, was mit dem Kranken zu dieser Zeit gerade vorgenommen und von demselben eingenommen wurde, als Ursache der Heilung angesehen wird. Daher kommt es denn auch, daß ein Mittel, welches scheinbar einem oder wohl auch einigen Epileptikern geholfen haben soll, Tausenden gar nichts hilft. Existirten überhaupt wirklich helfende Arzneien gegen die Epilepsie, so würde diese meist angeborne und sicherlich sehr oft durch zu zeitigen Schulunterricht (vor dem siebenten Lebensjahre), sowie durch geschlechtliche Unarten erzeugte Krankheit, die in jedem Lebensalter und am häufigsten zwischen dem zehnten und zwanzigsten Jahre vorkommt, nicht so verbreitet und hartnäckig sein. Denn von tausend Menschen sind etwa sechs epileptisch, Frauen noch häufiger als Männer. Epileptische Mütter dürfen nicht stillen. – Erheuchelte Epilepsie läßt sich von der wahren (bei welcher die Haut gewöhnlich kühl und blaß, die Pupillen erweitert und unempfindlich gegen Licht sind) fast nur durch die Empfindlichkeit der Pupille beim Einfallen des Sonnen- und Kerzenlichtes (wo sie sich verengert) unterscheiden. Hat man einem Epileptischen die eingeschlagenen Daumen mit Gewalt geöffnet, so bleiben sie offen bis zum Ende des Anfalles oder schließen sich nur wieder beim Eintritt neuer Krämpfe, während der Heuchler den Daumen gewöhnlich sofort wieder einschlägt.

Halten wir einmal eine kleine Musterung der anti-epileptischen Mittel und Charlatanerien. Von den allopathischen Aerzten sind als specifisch in der Epilepsie so viele und so verschiedenartige Arzneien gerühmt, daß sich kaum angeben läßt, welches Mittel hier nicht hilft, wenn’s nur, wie die Herren sagen, mit hinlänglicher Ausdauer gebraucht wird. Daß dann gar nicht selten Arzneisiechthum und chronische Metallvergiftung die Folge ist, genirt nicht. – Von den homöopathischen Heilkünstlern, die mit weit weniger Arzneien als die Allopathen mit der Epilepsie fertig werden, hat fast jeder im besonderen Falle sein besonderes Hauptmittel. So paßt nach Müller die Ignatia, die nach Lutze auch unglückliche Liebe curirt und hauptsächlich auf die rechte Seite des Körpers wirkt, dann, wenn bei jungen sensiblen, in Freude und Schmerz ausgelassenen Personen die Epilepsie in Folge von Schreck entstanden ist, während sie im reiferen Alter bei Ehelosen und geschlechtlich Unbefriedigten gute Dienste thut. Herr Medicinalrath Goullon in Weimar (der merkwürdiger Weise als Homöopath doch Physikus und allopathischer Examinator im medicinischen Staatsexamen ist) kommt ohne die Ignatia aus und verläßt sich nur auf Kalkerde, Schwefel und Kieselerde. Den Schwefel,[3] welchen Hirschel und Lutze unter den gegen die Epilepsie dienlichen Arzneien nicht mit anführen – und der bei Pferden die Piephacke und Pörzelseuche, den Rattenschwanz und Hahnentritt, bei Rindern den Sterzwurm und das Teigmaul, bei Schafen den Gesichtsgrind und den Lämmerdurchfall, bei Schweinen die Borstenfäule und die Läusekrankheit, bei Ziegen das Ausfallen der Haare und bei Hunden das Augentriefen heilt, – diesen will Müller besonders dann gereicht wissen, wenn dem epileptischen Anfalle die Empfindung vorausgeht, als liefe eine Maus durch die Muskeln von unten nach oben. Kupfer, das hauptsächlichste Schutzmittel gegen die Cholera nach Lutze, empfiehlt Hirschel bei Epilepsie besonders mit nächtlichen Anfällen, während Müller hier Kalkerde reicht.

Daß zahlreiche Geheimmittel gegen die Epilepsie von Schwindlern verkauft und von Dummen gekauft werden, daß man solche Mittel auch öffentlich als heilsam ausposaunt, wird hoffentlich nach dem Gesagten nicht mehr Wunder nehmen. Man höre, woraus einige der beliebtesten dieser Geheimmittel zusammengewürfelt sind. – 1) Das Fröndhoff’sche Mittel gegen Epilepsie (in Warendorf) ist ein Amulet, welches sechs Monate lang auf der Herzgrube getragen werden muß und aus einem flachen, viereckigen, einundeinhalb Zoll langen und breiten Leinwandsäckchen besteht, in welchem sich befinden: zerkleinerte Krebsaugen, Bernstein, rothe Korallen, zerquetschter Päoniensamen und sieben ganze Päonienkörner. Dieser Hokuspokus kostet drei Thaler, kommt aber dem Verfertiger nicht über einen Silbergroschen zu stehen. – 2) Das Mittel von Hösch (in Köln), eine blaßgelbe ölige Flüssigkeit und täglich eßlöffelweise mehrmals einzunehmen, ist eine Mischung aus Provenceröl, Zucker, Pfeilwurzelmehl, Eichenmistelpulver, Florent. Veilchenwurzel, Zittwerwurzel. Die einundeinhalb Pfund enthaltende Flasche kostet für Unbemittelte das erste Mal achtundzwanzig Silbergroschen, jedes folgende Mal aber zwei Thaler. – 3) Das Welper’sche Mittel (in Berlin) wird aus schwarzem verkohltem und zu Pulver verriebenem Hanfzwirn hergestellt, in sieben Pulver vertheilt und mit fünf Thalern bezahlt. – 4) Das Pulver des Grafen Duplessix-Parceau ist nichts als zu Kohle gerösteter und gepulverter Maulwurf (oder Ratte und Krähen). – 5) Das Ragolo’sche Pulver ist zusammengesetzt aus Baldrianwurzel, Eichenmistel, Pomeranzenblättern, Zucker, Zinkoxyd und Cajeputöl. – 6) Das Poudre unique de Godernaux (Paris) wird in zwölf Pulvern für sechs Thaler verkauft und jedes Pulver besteht aus acht Gran Calomel. – 7) Das Wiedebach’sche Pulver, welches vom Pfarrer Schlemüller in Arensdorf gratis verabreicht wird, scheint nur aus schwach verkohlter Knochenmasse zu bestehen. – 8) Das Pulver von Sloet van Oldruitenborgh (in Holland) besteht aus Diptam- und Zittwerwurzel. – In ähnlicher Weise sind nun alle übrigen Geheimmittel gegen die Epilepsie zusammengesetzt und alle ohne Ausnahme, mögen sie einen Namen (und wär’s selbst ein chinesischer, Ying-kuei-tsun und Tsa-tsin) und einen Verfertiger (sogar eine oder einen Heiligen) an der Stirn tragen, welchen sie wollen, sie sind alle nichtsnutzige Schwindeleien, auch wenn sie von wirklich Geheilten (die natürlich glauben, daß sie dem gebrauchten Geheimmittel und nicht der Natur ihre Heilung verdanken) öffentlich belobt werden. – Manche anonyme sogenannte Special-Aerzte für Epilepsie, welche diese Krankheit sicher zu heilen versprechen und nur dann erst honorirt sein wollen, wenn sie den Kranken geheilt haben, machen damit ein Geschäft, daß sie sich anstatt für die Cur nur die Medicin, aber recht anständig, bezahlen lassen.

[447] Des Scherzes wegen wollen wir auch noch einiger sympathetischer Curen Erwähnung thun. 1) Man schneide dem Kranken die Nägel an Händen und Füßen ab, wickle selbige in ein kleines Läppchen, bohre in einen jungen Kirschbaum ein Loch, thue sie hinein und schlage einen jungen eichenen Pflock davor. – 2) Man nehme Fett von einem Kater, wenn der Kranke männlichen Geschlechts, von einer Katze, wenn er weiblichen Geschlechts ist und reibe den Nabel damit ein. – 3) Man schreibe den Taufnamen des Kranken sechsmal auf einen Zettel und lege diesen dann einem Todten unter den Kopf. – 4) Man gebe dem Kranken, ohne daß er es weiß, von dem Bodensatze seines eigenen Urins, einer Erbse groß, ein. – 5) Man trage einen Ring von weißem Eselshuf und Elensklau auf der Brust. – 6) Man grabe im Juli bei abnehmendem Monde Sonntags um zwölf Uhr Mittags eine männliche Päonienwurzel aus der Erde und trage sie auf der Brust. – 7) Man trinke Blut von einem Hingerichteten. – 8) Man trage eine lebendige Eidechse, oder weiße Hundshaare, oder echte Korallen und einen Smaragd am Halse. – 9) Man nehme Asche von gebrannten Menschenknochen früh nüchtern in Wasser ein. – 10) Man nehme die Milz von einem jungen Füllen, dörre und stoße sie fein und nehme davon ein. – 11) Man schreibe die Namen der heiligen drei Könige (Caspar, Balthasar, Melchior) auf ein Blatt Papier und hänge es zusammengebrochen an einen Faden gebunden um den Hals. – 12) Man thue in einen neuen unglasirten Topf einen lebendigen Maulwurf, gieße Essig darüber, verschließe den Topf fest und setze ihn so lange an’s Feuer, bis der Maulwurf zu Pulver verbrannt ist. Hiervon nehme man täglich dreimal einen Theelöffel voll mit Lindenblüthenwasser.

Und was räth denn nun der Verfasser, wenn er von einem Epileptischen um Rath gefragt wird? Zuvörderst sagt er ihm, daß die gebildetsten Aerzte alle zusammen zur Zeit über diese Krankheit noch im tiefsten Dunkel leben und daß es deshalb von jedem Arzte (der nicht den Wahlspruch führt: „es stürzt was stürzt“) gewissenlos ist, mit wirklich wirksamen oder gar mit Geheimmitteln auf gut Glück gegen diese Krankheit zu Felde zu ziehen. Sodann giebt er aber den Rath, dasjenige Organ, was bei der Epilepsie das vorzugsweise betheiligte zu sein scheint, wie ja das Fehlen von Empfindung und Bewußtsein beim epileptischen Anfalle bezeugt, das Gehirn nämlich, sanft und naturgemäß zu behandeln. Die richtige diätetische Behandlung des Gehirns (s. über Gehirndiätetik Gartenlaube 1856, Nr. 7) verlangt nun aber, daß von diesem Organe vor allen Dingen jedwede stärkere, zumal sich öfters wiederholende und längere Zeit anhaltende Reizung und Anstrengung abgehalten werde; dies gilt zumal von der geistigen, gemüthlichen und geschlechtlichen Ueberanstrengung. Geschlechtliche Unarten (Onanie), anstrengender Schulunterricht (zumal kleiner Kinder), heftige Sinneseindrücke (besonders durch Auge und Ohr, Schreck, Furcht, der Anblick eines in Krämpfe Verfallenen), stark erregende Getränke (Spirituosa), Kopferschütterungen und die Einwirkung großer Hitze und Kälte auf den Schädel, üben sehr nachtheiligen Einfluß auf ein leidendes Gehirn aus. – Sodann muß nun aber die Hirnsubstanz durch gutes (gehörig eiweiß-, fett- und sauerstoffreiches, von den Gewebsschlacken gereinigtes) Blut auch richtig ernährt werden, und deshalb ist eine dem Blute ähnliche Nahrung (besonders Milch und Ei), sowie das Einathmen reiner Luft und die Förderung der Reinigung und Circulation des Blutes ein Haupterforderniß zur Kräftigung des Gehirns und des ganzen Nervensystems. – Da überhaupt schwächliche Personen leichter von Epilepsie heimgesucht werden, so ist Kräftigung des ganzen Organismus bei solchen Kranken anzustreben. – Die Kaltwasser-Quakelei, die gar nicht selten bei nervösen, aber sonst gesunden Personen den epileptischen ähnliche Krämpfe veranlaßt, kann bei der Epilepsie großen Schaden anrichten.

Während des epileptischen Anfalles sehe man, ebenso wie beim wahrnehmbaren Herannahen desselben, von allen eingreifenden Maßregeln, die den Anfall unterdrücken oder verhüten sollen, ab, wie: vom Ausbrechen der eingeschlagenen Daumen, Umbinden der Gliedmaßen, Anspritzen mit kaltem Wasser, Vorhalten starkriechender Sachen vor Mund und Nase, Zusammendrücken der großen Adern und Nerven am Halse, Einflößen von Arzneimitteln. Auch das Binden und starke Festhalten des Kranken ist zu unterlassen, ebenso das gewaltsame Einflößen von Flüssigkeit in den Mund. Der Krampfanfall bei der epileptischen Krankheit hat nämlich eine gewissermaßen heilsame (kritische) Natur, insofern durch das Austoben und den nachfolgenden Schlaf der Kranke auf einige Zeit erleichtert und vom Anfalle verschont wird, während durch Unterdrückung und Behinderung desselben das Befinden außer dem Anfalle getrübt und der nächste Anfall um so frühzeitiger und angreifender wird. – Im Anfalle sorge man dafür, daß der Kranke beim Hinstürzen und Herumwerfen sich nicht beschädigen und daß er die krampfhaften Bewegungen ungehindert ausführen kann; man lasse ihn bewachen und unterstützen (aber ohne Gewalt anzuwenden), löse alle beengenden Kleidungsstücke (Halsbinde, Weste, Schnürleib, Gürtel, Bänder), entferne Alles, womit sich der Kranke beschädigen kann, reinige den Mund und wo möglich den Rachen von Schaum, schütze die Zunge durch Einlegen weicher Gegenstände zwischen die Zähne und fördere das Ausfließen des Speichels durch Seitwärtsneigung des Kopfes. Kennt der Kranke oder seine Umgebung die Zeit des Anfalls, dann werde derselbe natürlich zu Hause auf Decken, Kissen oder im niedrigen Bette mit hohen Wänden abgewartet. – Nach dem Anfalle reiche man höchstens ein Glas Wasser oder eine Tasse Thee oder schwarzen Kaffee, und lasse den Kranken im Bette wohl zugedeckt und bewacht ordentlich ausschlafen.
Bock.




Blätter und Blüthen.


Eine Requisition. (Episode aus dem letzten deutschen Kriege.) „Wir Leute vom Verpflegungswesen hatten es im Allgemeinen während des letzten deutschen Krieges in Böhmen und Mähren nicht schlecht,“ erzählte der Proviantmeister X. „Es fehlte uns nicht an Speise und Trank, an einer Schlafstelle, wenn auch nicht immer unter Dach und Fach, so doch auf irgend einem Proviant- oder Bagagewagen, und bei dem überaus schnellen Vordringen unserer siegreichen Armee war vom Feinde wenig zu fürchten. Wir befanden uns oft meilenweit hinter den kämpfenden Heeren und wenn wir herbeigerufen wurden, war für den Augenblick Kampf und Streit vorüber und die Gefahr in die Ferne gerückt. Dennoch möchte ich nicht noch ein Mal solch’ aufreibendem Dienste unterworfen sein, kein zweites Mal den ausgestandenen Jammer erleben. Man gewöhnt sich zwar an Vieles, aber nicht an Alles.

Das Peinlichste außer den Marterscenen auf den Kampfplätzen und in ihrer Nähe waren mir in meinem Amt und Dienste stets die Requisitionen, die gewaltsame Wegnahme von Lebensmitteln für Mensch und Thier; aber – Noth bricht Eisen! Der zu Tode ermattete Krieger, selbst die erschöpfte unvernünftige Creatur bedürfen unabweisbar Speis und Trank; denn beide haben nicht selten meilenweite Märsche gemacht, stundenlang in heißer Sonnengluth, in Wind und Wetter gekämpft, sind wohl selbst verwundet, durch Blutverlust geschwächt, – da muß schleunig Rath und Hülfe geschafft werden und – ‚Proviantmeister her! – Wo ist der Glückliche, welcher den ganzen langen Tag Maulaffen feil gehalten und in Nummer Sicher gesteckt hat? Schnell herbei! Drei Stückfaß Branntwein, viertausend Pfund Brod, tausend Pfund Ochsenfleisch etc. Herr, nicht lange besonnen, Pferde und Mannschaften sind zu Tode erschöpft!‘ So ertönt es aus dem Munde des fürsorglichen, aber sehr gestrengen Regiments-Commandeurs; ihm nach folgt der Chorus der anderen Ober- und unteren Officiere.

Da ist guter Rath theuer. Die Proviantcolonne ist noch weit hinter dem fliegenden Heere und die Vorräthe sind, besonders an Schlachtvieh, für den Augenblick erschöpft. Ich äußere meine Bedenken, beweise die Unmöglichkeit sofortiger Hülfe – ‚Requisition, Herr,‘ ruft der Gestrenge. ‚Binnen zwei Stunden muß das Regiment Fleisch, Brod und Branntwein haben und die Pferde Heu, Stroh und Hafer, oder‘ .… Na, und so weiter,“ fuhr der Erzähler fort, „machen Sie selbst die Fortsetzung des Donnerwetters. Ich armer verblüffter Speisemeister stelle mich nun an die Spitze einer Abtheilung Ulanen, um die befohlene Requisition schleunigst auszuführen, nachdem ich meiner Proviantcolonne mittels einer Stafette Befehl gesandt, in Eilmärschen heranzukommen. Das nächste Ziel ist jenes große Kirchdorf, welches nach Schlachtvieh Haus für Haus abgesucht, resp. ausgeplündert werden soll.

Als ich das Dorf erreicht hatte, suchte ich den Schulzen oder Richter auf. Leicht gelang mir das, denn das stattlichste Gehöfte war sein Eigenthum; auch fand ich den Mann selbst zu Hause, aber alle Räumlichkeiten standen öde und leer und zeigten überall Spuren der Plünderung. ‚Es thut mir unendlich leid,‘ sprach der Mann mit kriechender Freundlichkeit, ‚daß die Herren zu spät gekommen; Ihre Landsleute haben bereits seit zwei Tagen das ganze Dorf rein ausgeplündert und jedes Stück Vieh mit fortgenommen. Sie finden nicht die Haare mehr.‘

‚Herr, ich muß Schlachtvieh haben und sollte es vom Himmel herunter geholt werden müssen!‘ donnerte ich ihn an. Was konnte ich auch [448] anders sagen und machen? Mit leeren Händen durfte ich unmöglich zum Regimente zurückkehren. ‚Schaffen Sie, Herr, oder Sie machen Bekanntschaft mit Pallasch und Lanze. Rasch, ohne Verzug!‘

‚Nun, eine Kuh, und noch dazu die schönste im Dorfe, wüßte ich wohl noch. Freilich, sie gehört einer armen Wittwe und Sie sind gewiß zu gute Christen, als daß Sie sich an solchem Gut vergreifen möchten.‘ Ich sah den Sprecher scharf an und es schien mir, als laure der offenbare Hohn und Spott aus seinen Augen. ‚Du sollst mich nicht betrügen, alter Gauner, und obenein noch auslachen,‘ dachte ich im Stillen, laut aber rief ich: ‚Maul halten, vorwärts, wo wohnt das Weib mit der Kuh? Führt mich selbst hin.‘ Er schritt voran, ich folgte mit einigen meiner Leute, die anderen mußten sämmtliche Gehöfte des Dorfes durchsuchen.

Es war mir ein äußerst widerlicher Gedanke, eine arme Wittwe zu berauben. Unwillkürlich kam mir das in der Jugend gelernte Gedicht von Frau Magdalis und ihrer Kuh in den Sinn und im Geiste sah ich jetzt einen ähnlichen Jammer in der Hütte der Armen ausbrechen, wie bei jener. Immer noch tröstete ich mich aber mit dem Gedanken: Man hat dich belogen, die Frau besitzt keine Kuh, noch weniger die beste des Dorfes, und war wirklich eine solche ihr Eigenthum, so hat sie das Schicksal der andern Wiederkäuer getheilt.

Aber zu meinem äußersten Leidwesen hatte der alte Sünder die Wahrheit gesprochen. Als wir fast das Ende des Dorfes und die Hütte erreicht hatten, ließ sich ganz deutlich das Brüllen einer Kuh vernehmen. ‚Nun, Herr?‘ rief der Bauer, ‚habe ich die Wahrheit gesagt? Wie kräftig schreit das Vieh! Ja, es ist das schönste Stück und jetzt das einzige im ganzen Dorfe. Ich kann’s Euch am Ende nicht verdenken, wenn Ihr es wegnehmt, trotz Wittwe und Waise. Es geschieht dem hartnäckigen Weibe ganz recht. Habe ich selbst ihr nicht vor Monatsfrist noch für die Kuh ein tüchtig Stück Geld geboten? aber es war mit der Thörin nichts anzufangen. Solch’ Bettelvolk ist zäh wie Leder; nun muß sie dieselbe umsonst hergeben!‘

Als wir in die Hütte getreten und unser Anliegen vorgebracht, erblaßte die ohnehin höchst erschrockene Frau zu Tode, schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und brach in lauten Jammer aus. Sie warf sich mit den Kindern vor mir auf die Kniee, ergriff meine Hände und flehte inbrünstig: ‚Gnade. Herr, mit uns Armen! Vater ist todt und die Kuh ist unsere einzige Hülfe und Rettung, der unversiechliche Oelkrug der Wittwe in der heil’gen Schrift. Kommen und sehen Sie das liebe prächtige Thier. Ich selbst habe es aufgezogen, gespeist und getränkt, gehegt und gepflegt von seiner Jugend an, und jetzt dankt es mir, indem es uns vor dem Hungertode bewahrt. Gestern noch übten Ihre Landsleute Barmherzigkeit an uns und gingen an dem Hause gnädig vorüber; thun Sie ein Gleiches, ich bin eine verlassene Wittwe mit vier Waisen dazu,‘ – setzte sie leise hinzu – ‚eine Deutsche, Ihre Glaubensgenossin!‘

Ich stand rathlos, mein Herz krampfte in der Brust; aber nicht lange, und ich hatte meinen Entschluß gefaßt, ‚Cameraden,‘ rief ich meinen Begleitern zu, ‚wer Muth und Courage hat, der ergreife das Thier, ich selbst bin dazu außer Stande und wenn es eine Kugel vor den Kopf gelten sollte!‘ Aber zur Ehre der Braven muß gesagt werden: Alle verließen voll Mitleids die Hütte der Armuth und Niemand vergriff sich trotz Noth und Gebot am Eigenthum einer bedrängten Wittwe.

Wir waren nur wenige Schritte zurückgegangen, als einer meiner ausgesandten Leute eilig herbeikam und mir mit leiser Stimme die Meldung machte, daß in dem Gehöfte des Schulzen selbst, aber in tiefster Verborgenheit, eine bedeutende Anzahl Rindvieh entdeckt worden sei. Der alte Sünder mußte den Inhalt der Botschaft ahnen, denn seine bisherige Dreistigkeit und scheinbare Sicherheit schwanden immer mehr und machten einem sehr besorgten und ängstlichen Gesichte Platz. Urplötzlich that er einen wahrhaft thierischen Schrei. Wir waren an seinem Gute angekommen, hatten einen ungehinderten Einblick durch das offene Hofthor und sahen innerhalb der Palissaden-Einfriedigung den ganzen, so hartnäckig geleugneten und listig verborgenen Viehstand des schlauen Gauners: zwei kräftige Zugochsen, vier Milchkühe und fünf Stück Jungvieh, von den Schweinen abgesehen.

Mehrere meiner schlauen Bursche hatten das Versteck des Viehes ausspionirt, die harmlosen Wiederkäuer aus ihrer Verborgenheit gezogen und hier öffentlich und im lauten Triumphe aufgestellt. Ein wenig auf die Spur mochten sie ja wohl geleitet worden sein. Wer hat nicht seine Feinde, besonders widerwärtige und boshafte Menschen!

‚Ha,‘ schrie deshalb der Bauer, ‚das ist Verrath! Aber nun will ich auch Gleiches mit Gleichem vergelten und Niemand schonen!‘ Bei diesen Worten nannte er eine Menge Namen der Eigenthümer von verstecktem Rindvieh und wies mit Fingern auf die umherstehenden, gaffenden Nachbarn. Ich aber sah den alten Gauner mit ernster Miene an, dann rief ich voll tiefen Unwillens: ‚Kennt Ihr die Geschichte vom reichen und armen Mann im Evangelio? Es ist Eure Geschichte, die Härte des Reichen dort gegen den Armen Eure Härte gegen Wittwen und Waisen; aber wie jener Sünder nicht ohne Strafe verblieb, so sollt auch Ihr Euer Theil erhalten, und wenn dieses gnädiger ist, als Ihr verdient, so dankt es unserer Großmuth. Auch will ich selbst aus jener heiligen Geschichte und aus Euerm unchristlichen Thun etwas gelernt haben und mag Euer Richter weiter nicht sein. In Mangel und Noth sind wir, und Schlachtvieh müssen wir haben, und so nehme ich kraft meines Amtes und Auftrages von Euerm Viehbestand drei Kühe und drei Rinder, lasse Euch aber eine Milchkuh, zwei Rinder und die Zugochsen, als unentbehrlich für den Haushalt und die Wirthschaft. Ich könnte Euch ohne alle Rücksicht sämmtliches Vieh entführen, eine solche Strafe hätte Eure Schlechtigkeit wohl verdient, jedoch ich will Gnade für Recht ergehen lassen. Bedanket Euch deshalb für gnädige Strafe und ein andermal schützt Wittwen und Waisen, anstatt sie zu bedrücken und zu berauben.‘

Er machte zwar Versuche zum Reden, aber es blieben so unvollkommene, daß ich bis heute in Ungewißheit bin, ob es gute oder böse, Dankes- oder Fluchworte waren. Nun, sie haben mich nicht sehr bekümmert, wohl aber das laute Geschrei, der Hülferuf aus dem Dorfe kurze Zeit darauf. Meine zuletzt noch nachkommenden Leute, welche mehrere Wagen voll Brods mit sich führten, erklärten, daß die erzürnten Nachbarn ihrem schelmischen Schulzen eine kleine Collation verabreichten. Ich aber hatte weder Zeit noch Lust, ihren Eifer zu dämpfen, sondern eilte mit meinen erbeuteten Vorräthen zu den vor Hunger und Durst schmachtenden Kriegern.“




Unmenschlichkeit gegen Auswanderer. Die Unmenschlichkeit, mit der man auf dem Land- wie namentlich auf dem Seetransport die Aermeren der in Amerika eine neue Heimath Suchenden zu behandeln pflegt, ist leider eine alte Klage und scheint es bleiben zu wollen, wie oft und wie laut auch schon die Presse dagegen ihre Stimme erhoben hat. Alle diese Unbarmherzigkeiten und Grausamkeiten aber werden vielleicht von den Scenen überboten, die ein amerikanisches Blatt unter dem 3. Juni gelegentlich eines wenige Tage vorher beförderten Emigrantenzuges zu erzählen hat. Die Barbarei, mit der man dabei gegen die unglücklichen Auswanderer verfuhr, ist so entsetzlich, daß sie uns kaum glaublich erscheint und wir die Verantwortlichkeit für das nachstehend Berichtete lediglich unserer Quelle, dem Guelph. Advertiser, überlassen müssen:

„Am letzten Sonntag,“ schreibt die erwähnte Zeitung, „kurz nach Tisch passirte ein nach den Weststaaten bestimmter langer und schwer beladener Auswandererzug unsern Ort. Wohl acht- bis neunhundert Personen waren in zehn gewöhnliche Getreidewagen gepfercht, deren Thüren man zur Hälfte mit Bretern zugenagelt hatte und in denen sich nur ganz oben in der Rückwand ein einziges kleines viereckiges Luftloch befand. Diese Wagen dienen in der Regel blos zur Beförderung von Getreide und ähnlichen leblosen Gegenständen und sind deshalb fast hermetisch dicht construirt. Rinder oder Schweine würden darin ersticken, ihnen weist man gehörig ventilirte, halboffene Waggons an, für die armen Auswanderer aber, sämmtlich Deutsche, waren die Behältnisse gut genug, und in ihnen, in diesen Marterkästen, welche der Hölle der berüchtigten schwarzen Höhle in Ostindien nicht viel nachgeben dürften, hatten sie den ganzen weiten Weg von Point Levi bei Quebec in Canada zurücklegen, wenigstens drei Tage und drei Nächte fahren müssen! Von nur der Spur eines Sitzes war nicht die Rede, und selbst wenn man Sitzplätze zur Hand gehabt, so hätte doch Niemand davon Gebrauch machen können; selbst stehend waren sie ja so eng aneinander gepreßt, daß kein Mensch ein Glied rühren konnte. Den kleinern Kindern, den Mädchen und Frauen einen besonderen Wagen zu geben oder ihnen so viel Raum zu gönnen, daß sie sich ab und zu abwechselnd einmal niedersetzen und ihre schmerzenden Glieder etwas ausruhen konnten, daran hatte man nicht gedacht.

Jeder, der längere Strecken auf Eisenbahnen gefahren ist, weiß, wie erquickend es ist, von Zeit zu Zeit einen Trunk frischen Wassers zu erhalten, denn Hitze und Staub eines gefüllten Waggons zusammen lassen uns nach diesem Labsale lechzen, wie den Fisch auf dem Trockenen. Unsere armen Auswanderer waren, als sie Guelph erreichten, halb verschmachtet, und als sie auf dem Perron einige Krüge und Eimer voll Wasser erblickten, die man für sie zurechtgestellt hatte, sprangen, noch ehe ihnen die Gefäße heraufgereicht werden konnten, sofort Mehrere über die Breterbaricaden der Wagenthüren hinunter. Die wenigen Krüge, die man an die Waggons brachte, wurden von den Vornstehenden in Beschlag genommen, die ihre Köpfe bis fast an die Ohren darin versenkten und gierig das ersehnte Labsal hinabstürzten. Währenddem ertönte aus der Mitte der Karren heraus das herzzerreißendste Jammergeschrei von den Müttern, die um einen Trunk für ihre kleinen Kinder baten, dazwischen wimmerten diese selbst und jammerten die alten Männer und die Frauen, die um die Wette ihre Hände nach den Wasserkannen ausstreckten – es war ein Schauspiel, das Einem durch die Seele schnitt. ‚Wasser! Wasser! Ach, Wasser geben!‘ so klang es von allen Seiten; doch umsonst, denn schon ließ sich die barsche Stimme des Schaffners vernehmen: ‚Keine Zeit mehr dazu! Vorwärts, vorwärts!‘ und bereits begann die Locomotive zu pfeifen. Von Neuem und stärker hob nun das Jammergeschrei an, flehentlicher wurden die Hände ausgestreckt, ängstlicher die Gesichter. ‚Wir verdursten, wir verdursten! Ach, Wasser, Wasser!‘ so ging es in den rührendsten Tönen. Aber der Zug brauste ab und rasselte durch die Stadt, vom Fluche sämmtlicher Umstehenden begleitet, welche das eben Erlebte für die schmachvollste Scene erklärten, von der sie je Zeuge gewesen.“

Die Geschichte bedarf eines Commentars nicht; sie schreit laut genug zum Himmel, wenn wir auch zur Ehre der Menschheit annehmen wollen, daß die erzählten Einzelheiten etwas übertrieben sind. Das aber vermögen wir nicht zu begreifen, warum die Umstehenden, die doch als von dem Schauspiel so ergriffen geschildert werden, der Barbarei nicht energisch Einhalt thaten; man ist doch sonst in Amerika mit der Selbstjustiz rasch genug bei der Hand. Doch freilich, es waren eben Deutsche, Dutchmen, um deren willen man sich nicht gern in Ungelegenheiten bringt! Und was sagen die deutschen Consuln und diplomatischen Vertreter in Amerika zu der Sache, – mehr noch, was thun sie dagegen, was haben sie gethan, daß nicht den ersten besten Tag ähnliche Scenen wieder vorkommen können?




Inhalt: Das Geheimniß der alten Mamsell. Von E. Marlitt. (Fortsetzung.) – Der königliche Verbannte in Hietzing. Mit Abbildung. – Gefängnißleben zur Schreckenszeit. Von Johannes Scherr. (Schluß.) – Die Insel-Republik deutscher Künstler. Von Erwin Förster. – Die beiden jungen Weltbürger des Dresdener Thiergartens. Mit Abbildung. – Die Epilepsie oder Fallsucht. Zu: Gedanken über das Curiren von Krankheiten. Von Bock. – Blätter und Blüthen: Eine Requisition. – Unmenschlichkeit gegen Auswanderer.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Einbäume nennt man zum Kahne ausgehöhlte Eichen, wie dies im Oberlande üblich ist.
  2. Buchstäblich wahr.
  3. Der Schwefel spielt eine so merkwürdige Rolle in der Homöopathie, und zwar ebenso bei den Krankheiten des Menschen wie der Thiere, daß es dem Leser interessant sein wird, Einiges von seiner Wirksamkeit beim Menschen kennen zu lernen. Er erzeugt und heilt also auch: Melancholie mit Zweifel am Seelenheil, Blähungsversetzungen, große Weinerlichkeit oft mit Lachen abwechselnd, Würmerbeseigen mit drückendem Wühlen im Bauche, nächtliche Gespensterfurcht, Eigensinn und Aergerlichkeit, Stuhlverstopfung und Durchfall, Einbildung als ob man mager werde, Knarren im Kreuze, große Unlust zur Arbeit, drückende und stechende Schmerzen in den Hühneraugen, Scheu vor dem Waschen, stinkenden Achselgrubenschweiß, philosophische und religiöse Schwärmerei, schwarze Schweißlöcher auf der Nase, Nachtwandeln, nächtliches Bettpissen und viel Nietnägel, Empfindung wie von einem Haare im Rachen, Widerwille gegen Milch und Schwarzbrod, steten Durst besonders nach Biere, Geschwulst und Härte der Leber und Milz, Traum als habe man ein Kleid an, das ängstlich vor Schmutz zu sichern ist. – Am merkwürdigsten ist’s nun aber, daß der Schwefel auch zeitweilig seine Wirkung vollständig ändern kann. So hatte er z. B. früher nach Herrn Dr. Clotar Müller’s älteren Ausgaben des Haus- und Familienarztes die Hauptmacht, bei der Lungenentzündung das eitrige Zerfließen des in die Lungenbläschen Ausgeschwitzten und Festgewordenen zu verhindern, neuerlich (d. h. in der neuen Auflage jenes Buches) ist er dagegen bei derselben Krankheit das Hauptmittel geworden, welches gerade das Gegentheil von früher thut und die Verhärtung und Verdichtung dieses geronnenen Entzündungsproductes verhindert. Und warum diese Wandelung? Weil dem Schwefel gesagt worden war, daß er etwas sehr Unheilvolles thäte, wenn er das Zerweichen jener festen Ausschwitzung verhindere, denn dann könnte dieselbe nicht weggeschafft und die Lunge nicht wieder gesund werden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. gemeint: Engelbert Seibertz (1813–1905)