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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1865
Erscheinungsdatum: 1865
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[209]

No. 14. 1865.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Der bairische Hiesel.
Volkserzählung aus Baiern.
Von Herman Schmid.

„Du bist ein gut’s Mädel,“ sagte der Alte mit freundlichem Nicken, „Du weißt allemal und überall Rath und hast mir noch keine böse Viertelstund’ gemacht in Deinem Leben … Ja, wenn der Bub’ nur ein Aderl hätt’ von Dir!“

Die Stimme versagte ihm vor kummervoller Erregung; das Mädchen schob rasch und wie unwillig das Spinnrad von sich und trat näher. „Da weinst’ schon wieder!“ rief sie. „Und weißt doch, daß das Gift ist für Deine kranken Augen! Der Bub’ ist all’ die bittern Zähren nit werth!“

„Ich wein’ auch nicht,“ sagte der Alte, wie sich entschuldigend. „Es sind nur meine kranken Augen, die so übergehn! … Wenn das so fortgeht, kann ich bald gar nicht mehr schnitzen!“

„So gieb’s auf, Vater … vergönn’ Dir ein bissel Ruh …“

„Ich werd’s wohl ohnedem aufgeben müssen,“ fuhr er traurig fort. „Du weißt, Mirl, daß ich das Schnitzen nicht ordentlich gelernt hab’ – ich hab’s nur meinem Vater so nebenbei abgeschaut – es giebt Andre, die’s viel besser können – der Betermacher von Friedberg hat mir’s schon das letzte Mal gesagt, daß meine Kreuzeln nicht so schön sind, wie sie’s anderswo schnitzen, in Berchtelsgaden und im Ammergau, er will mir keine mehr abkaufen, wenn ich’s nicht auch so schön machen kann … und das … das werd’ ich wohl nimmer zuweg’ bringen.“

„Hast es auch nit Noth, Vater! Geh’ hinaus zum Hüten, so lang’s Dich noch freut und so lang’ Du’s machen kannst, die freie Luft wird Dir wohl thun, aber Deine Augen laß einmal rasten. So lang’ ich einen Finger rühren kann, soll Dir nichts abgehn!“

„Ja, ja, Mirl,“ erwiderte der Alte bewegt, „bist eine gute Tochter, die ihren Vater in Ehren hat … soll Dir auch gut gehn Dein Leben lang! Hab’ mir Alles freilich anders vorgestellt!“ fuhr er fort, indem er sich zurücklehnte und die Hände im Schooß faltete, „aber es ist vielleicht besser, daß es so hat kommen müssen. Das Gütl ist zwar gar klein, aber für ein paar arbeitende Leut’ langt’s doch aus, sollst Dir um einen braven Mann umschauen, kannst das Hausel jede Stund’ haben von mir …“

„Ich krieg’ keinen …“ erwiderte sie kurz und scharf.

„B’hüt’s Gott, das glaub’ ich nicht!“ rief er entgegen. „Du bist brav und fleißig und hast ein gutes Gesicht … es ist mir allemal, als wenn mich Deine Mutter aus Deinen Augen anschauen thät! Warum sollst Du keinen Mann kriegen … und gar so schlecht und gering ist das Gütl doch auch nicht!“

„Ich krieg’ doch keinen …“ sagte sie wie zuvor.

„Aber warum denn?“

„Du wirst es nit gern hören, Vater – aber wenn Du’s durchaus wissen willst, kann ich Dir’s wohl sagen! Es mag Keiner einheirathen beim Brentau’, weil Keiner seinen Schwager im Zuchthaus haben will!“

Der alle Klostermair erwiderte nichts; er preßte nur wieder die Hände vor die Augen, als ob sie ihn stärker schmerzten, die Tochter hatte sich wieder zu ihrer Arbeit gesetzt und brachte das Rad mit einem unwilligen Anstoß in Schwung.

Von Beiden unbeachtet war ein Mann eingetreten und stand zuhörend auf der Schwelle der offen stehenden Thür: hinter ihm funkelten die Augen eines riesigen Hundes.

„Wenn das Dein einziger Schmerz ist, Schwester,“ sagte er finster, „so wirst bald davon curirt sein!“

„Jesus, Maria,“ schrie sie zusammenschreckend aus, „was ist denn das für eine Spitzbubenart, die Leute so zu erschrecken! Das Haus ist doch zu, wie kommst Du herein?“

Der Mann trat in die Stube und legte Hut und Gewehr auf die Bank. „Ich werde doch in dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, einen Weg finden, der nicht durch die Thür geht!“ rief er lachend und schritt auf den Alten zu. Dieser hatte sich ebenfalls im Schrecken rasch aufgerichtet; aber die Bewegung, mit welcher er beide Hände wie zur Umarmung gegen den Ankommenden erhob, glich einer Bewegung der Freude, fast wie ein Tropfen Wasser dem andern gleicht. Er brachte nichts hervor, als: „Hiesel … Du bist wieder da?“

„Ich bin’s, Vater,“ erwiderte dieser, „sie haben mich wieder losgelassen. Weiß selbst nicht, was ich nun thun will und wohin ich geh’ – aber nach Kissing komm’ ich wohl so bald nicht wieder; drum hab’ ich da, wo ich doch einmal daheim bin, nicht vorbeigehn wollen und will ,B’hüt’ Gott’ sagen.“

Der Vater hatte sich wieder gesetzt, es war, als ob das Unerwartete ihn des letzten Restes von Kraft beraubt habe. „Also willst wieder fort?“ sagte er traurig. „Du kommst erst von dem Ort, den ich nicht nennen mag, und gehst schon wieder den alten Weg!“

„Das siehst, Vater,“ schaltete die Schwester mit einem bösen [210] Seitenblick auf Hiesel’s waidmäninschen Anzug ein, „das siehst am Gewand!“

„Das Gewand hab’ ich versteckt gehabt,“ entgegnete Hiesel, „wär’s Dir vielleicht lieber gewesen, wenn ich in einem gewissen grauen Kittel gekommen wär’? … Aber ich bin nit wegen Deiner gekommen, Schwester, ich weiß wohl, daß es Dir am Liebsten wär’, wenn sie mich ganz behalten hätten in München … aber ich komm’ zu Vater und Mutter und hab’ eine Bitt’ an den Vater! Es geht Dir hart, Vater,“ fuhr er fort, als dieser ihn mit verwunderten, fragenden Blicken ansah, „Du mußt viel schaffen und arbeiten in Deinen alten Tagen, und ich kann Dir nit helfen, drum hab’ ich, eine Bitt’, daß Du Dir’s leichter machen sollst und sollst das Bissel da annehmen von mir …“

Er schob und legte einen wohlgefüllten Beutel auf den Tisch; der Alte zog die Hände zurück, als scheue er sich, das Angebotene zu berühren. „Kannst es mit gutem Gewissen anrühren und nehmen,“ rief Hiesel mit bittrem Lachen, „ich hab’s ehrlich verdient. Der Zuchthausverwalter hat mich zur Aushülf’ verwendet in der Schreiberei … das ist mein Arbeitslohn … Aber wo ist denn die Mutter, daß ich sie gar nit seh?“ setzte er hinzu und sah in der Stube umher, die er schon vorher mit unstäten Blicken durchflogen hatte. „Laßt sich denn die Mutter gar nit sehn? Sie wird sich doch nit vor ihrem eigenen Sobn verstecken?“

„Deine Mutter …?“ rief der Alte und erhob die gefalteten Hände, sie zitterten, wie der Ton seiner Stimme. Die Schwester stieß das Spinnrad von sich und eilte aus der Stube, die Schürze vor dem Gesicht. „Deine Mutter hat sich wohl vor Dir versteckt, und so gut, daß Du sie nimmer finden wirst!“

„Vater!“ schrie Hiesel aus und mußte sich mit der Hand auf die Tischplatte stemmen, es war, als habe er einen plötzlichen Streich erhalten, der seine ganze Kraft erschütterte. „Vater … das kann ja nit möglich sein!“

„Die Mutter,“ fuhr der Alte bebend fort, „die hat’s geschwind gar gemacht … sie ist gestorben … am nächsten Erchtag werden’s eilf Wochen, da haben wir sie ein’graben …“

„Die Mutter?“ stieß Hiesel aus keuchender Brust hervor. „Und an mich hat kein Mensch gedacht, daß er mir’s auch nur zu wissen gemacht hätt’! Mein’ gute Mutter …“ In Hiesel’s Benehmen und Haltung hatte sich bis jetzt ein kalter, rückhaltender Trotz ausgeprägt, noch gereizt durch das höhnend scharfe Betragen der Schwester, mit diesem Ausruf war es, als ob ihn alle Festigkeit verlassen hätte, als ob die Feder gebrochen wäre, die ihn so lange in gewaltsamer Spannung gehalten: mit einem schweren Seufzer knickte er auf die Bank zusammen, die Arme über den Tisch gebreitet und in ihnen das Antlitz verbergend. Der wildstarke Mann hatte ein gar weichmüthiges Herz; es war sein Erbtheil von dem schwächeren Vater, das entschlossene Wesen hatte er von der Mutter überkommen, die vermöge desselben im Leben das Haus nicht nur verwaltet, sondern auch beherrscht hatte.

„Weinst, Hiesel?“ fuhr der Vater fort. „Weinst um Dein’ Mutter? Du hast ganz recht, wenn Du’s thust … wie sie Dich gefangen und fortgeführt haben … Du weißt schon, wohin, das ist der Nagel zu ihrem Sarg gewesen, das hat sie nicht verwinden können und ist völlig von einem Tag zum andern dahingeserbt! – Wie wir Alle herumgestanden sind um ihr Todbett, da hat sie die Augen noch einmal aufgemacht und hat sich noch einmal aufrichten wollen und hat in der ganzen Stuben umhergeschaut, als wenn sie was suchen thät … dann hat sie den letzten Zug gemacht… Sie hat sich gar schön und christlich gericht’ zu ihrem End’, und ihr einziges Leid ist’s gewesen, daß sie Dich hat suchen müssen in ihrem letzten Augenblick, und daß sie Dich nit gefunden hat und wo sie Dich hat suchen müssen in Gedanken – darfst wohl weinen um sie, Hiesel … und beten auch!“ setzte er noch eindringlicher hinzu, da Hiesel stumm und unbeweglich in seiner Stellung verharrte. „Sie ist ein braves Weib gewesen, unser Herrgott wird’s wohl gnädig mit ihr gemacht haben … aber wenn sie was abzubüßen hat in der Ewigkeit, so ist’s wegen Deiner, Hiesel, weil sie Dir zu viel nachgegeben und, was ich gut gemacht hab’, allemal wieder zernicht’t hat, wider meinen Willen und hinter mein’ Rücken … darfst wohl beten für sie, wenn Du’s noch, nicht verlernt hast, das Beten!“

Der Alte schwieg, der Sohn erhob sich nach einigen Augenblicken; aus seinem Gesicht war die Erregung und Weichheit wieder verschwunden: er hatte den Zoll kindlicher Liebe und Erinnerung gebracht; in den letzten Worten des Vaters aber lag etwas, was er als einen ungerechten Vorwurf empfand und was ihm rasch die vorige wilde Verschlossenheit wieder gab. „Schänd’ meiner guten Mutter nit ins Grab nach, Vater!“ sagte er trotzig. „Ich mag’s nit hören! Sie hat mir nichts als Lieb’s und Gut’s gethan, so lang’ sie ein offenes Aug’ gehabt hat … sie soll wegen meiner nichts zu leiden und nichts zu verantworten haben in der Ewigkeit! Du auch nit, Vater; keinem Menschen soll’s aufgebürd’t werden – wie’s ausgeht mit mir, gut oder bös, ich nehm’s schon allein auf mich! Also b’hüt’ Gott, Vater – ich seh’s, daß hier meines Bleibens nit länger ist!“

„O Hiesel,“ rief der Greis, als er sich erhob, nach Hut und Gewehr zu greifen. „Geh’ nit so fort von mir, geh’ nit wieder fort – leicht, daß Du mich, wenn Du wiederkommst, nit mehr über der Erd’ antriffst, wie Deine Mutter! – Bleib da, und es soll Alles vergessen sein! Gieb das Wildschützenleben auf, werd’ ein ordentlicher Bursch; ich werd’ der Mutter bald nachfolgen … mach’, daß ich ihr in der Ewigkeit sagen kann, daß ihr Sohn, den sie noch auf dem Todbett gesucht hat, nit verloren ist …“

Hiesel starrte eine Weile in düstrem Brüten zu Boden. „Ich kann nit, Vater …“ sagte er dann. „B’hüt’ Dich Gott und gieb mir noch einmal Deine Hand …“

„Auf dem Weg, den Du gehst,“ rief abwehrend der Alte, „kann meine Hand Dich nit führen … auf dem Weg brauchst sie nit; geh’, Du hast Dir’s ja vermessen, daß Du Alles auf Dich nehmen willst!“

„Das will ich auch – ich kann auch ohne Dein ,B’hüt’ Gott’ gehn, Vater, ich bin noch einmal ’kommen, weil ich Dich und die Heimath und die Mutter noch einmal hab’ sehn wollen, ich hab’ mein’ Schuldigkeit gethan, ich kann’s nit anders!“

Er hatte den Hut aufgesetzt, das Gewehr umgehangen und wandte sich zu gehen.

Starkes Pochen an der Hausthür machte, daß er die Schritte anhielt und gespannt horchend in Mitte der Stube stehen blieb.

„Was bedeutet denn das?“ rief aufstehend der Alte. „Wer will heut’ noch zu uns? Das ist doch seltsam!“

„Mir nicht,“ flüsterte Hiesel entgegen, indem er das Gewehr hob, den Hahn spannte und sich neben den Ofen zurückzog, wo er rückenfrei war und einen Ausweg in die Kammer hatte, aus welcher eine Thür in die Küche und von da in den Stall führte. Tiras, zum Sprunge bereit, knurrte hinter ihm. „Die Schergen haben’s wohl schon ausgestochen, daß ich da bin, und passen mir ab – da kannst sehn, Vater, was ich zu hoffen hätt’, wenn ich blieb’!“

„Heilige Mutter Anna!“ rief angstvoll der Vater, „und so was muß in meinem eigenen Haus passiren!“

Die Schwester, welche vor der Thür im dunklen Fletz gesessen, war inzwischen schon an die Hausthür geeilt und hatte gefragt, wer Einlaß begehre. „Es ist nichts Gefährliches,“ rief sie dann herein, „ich glaub’, nach der Stimm’ ist es gar unser Herr Pfarrer.“

„Der ist es auch,“ sagte eine tiefe, wohltönende Stimme, und in der Thür erschien ein hochgewachsener, schlanker Mann in langem, schwarzem Rock, die Silberschnallen auf den Schuhen und den hohen Rohrstock mit Elfenbeinknopf in der Hand. Als er grüßend das Haupt entblößte, zeigte sich ein silberweißer Scheitel; aus dem milden, freundlichen Antlitz leuchteten Frieden und Wohlwollen. „Siehe da, meine Schäflein kennen die Stimme ihres Hirten, und obwohl ich Wolf heiße, erschrecken sie doch nicht vor mir! Guten Abend, meine Lieben … Gelobt sei Jesus Christus!“

„In Ewigkeit!“ erwiderten, sich verneigend, Vater und Tochter; Hiesel stand immer noch unbeweglich, wie zur Vertheidigung bereit, er schien dem friedlichen Anschein des Besuchs zu mißtrauen.

„Und so spät bemühn sich Hochwürden Herr Pfarrer noch zu uns?“ rief der Alle freudig, während Mirl mit der Schürze die Bank abwischte, um einen reinen Sitz zu bereiten. „Wie komm’ ich denn noch so spät zu der besondern Ehr’?“

„Was ich suche, hab’ ich schon gefunden,“ erwiderte der Pfarrer, auf Hiesel zeigend. „Ich suche diesen wilden Jäger hier, der noch immer dasteht, als wisse er nicht, ob hinter mir nicht die Grünröcke nachkommen! Setz’ Dein Gewehr in Ruh’, Hiesel, ich komme allein und komme Deinetwegen!“

[211] „Meinetwegen?“ fragte Hiesel unschlüssig, doch ließ er das Gewehr sinken. „Was könnt’ Hochwürden so viel an mir liegen, daß Sie noch so spät mich aufsuchen sollten?“

„Ist das so wunderbar?“ entgegnete der Pfarrer herzlich. „Du bist mein Pfarrkind, mein Schulkind und Beichtkind gewesen, ich würde um jedes von meinen Pfarrkindern einen schwereren Gang nicht scheuen, wie viel mehr um eins, das sich vom rechten Weg verlaufen hat, um eins, dem ich bei jeder Gelegenheit hab’ merken lassen, was ich darauf halte!“

„Ha, das ist wahr! Das haben Hochwürden immer gethan!“ rief Hiesel überwunden, legte Hut und Büchse ab und kam an den Tisch. „Und daß Sie wegen meiner kommen, wirklich wegen meiner und noch so spät … schauen’s, Herr Pfarrer, das freut mich, wie mich noch nicht leicht was gefreut hat im Leben …“

„Und mich erfreut Deine Freude, Hiesel, sie beweist, daß ich mich in Dir nicht getäuscht habe, daß Du ein gutes Herz hast, dem nur der Leichtsinn gar viel zu schaffen macht und der Uebermuth. Ich habe schon erfahren, was heute am Erdweg vorgefallen ist; der erste Gebrauch, den Du von Deiner wiedererlangten Freiheit gemacht, war ein schlimmer, Du bist mit einem Schritt wieder ganz auf den alten Irrweg gerathen!“

„Ich hab’ nit anders gekonnt, Herr Pfarrer! Hätt’ ich zuschauen sollen, wie die Jäger den Buben mißhandelt und fortgeschleppt haben? Und wenn’s mir auf der Stell’ den Kopf gekostet hätt’, das hätt’ ich nit über’s Herz gebracht!“

„Ja, ja,“ entgegnete der Pfarrer etwas unsicher, „Du hast ganz wacker gehandelt Deiner Gesinnung nach, und doch hast Du ein großes Unrecht begangen. Widersetzung gegen die Obrigkeit, gewaltsame Befreiung eines Gefangenen! Ueberleg’ es Dir selber, Hiesel, und sage, wohin es kommen müßte, wenn es Jedem erlaubt wäre oder einfiele, der Gerechtigkeit in den erhobenen Arm zu fallen! … Wegen der Eigenthümlichkeit des Falles,“ fuhr er fort und rückte dem schweigenden Hiesel näher, „will ich sorgen, daß das Gericht ein Auge zudrückt und die Geschichte keine weitern bösen Folgen haben soll … aber Du mußt mir versprechen, daß Du ein anderes Leben anfangen willst … Du warst im Begriff zu gehen, als ich kam, das kann nicht Dein Ernst gewesen sein; Du wirst hier bleiben, wirst die Büchse, die Dir einmal nicht zugehört, weglegen und dafür wieder zu Drischel und Sense greifen …“

„Nein, Herr Pfarrer!“ rief Hiesel kopfschüttelnd und mit ungläubigem Lächeln. „Das geht nimmer an! Zum Bauernknecht bin ich schon verdorben!“

„Warum doch? Du wirst Dich mit der Bauernarbeit wieder zurechtfinden, wenn Du nur ernstlich willst und es Dir vornimmst, dabei auszuhalten! Warum solltest Du dazu verdorben sein?“

„Das will ich Ihnen erzählen, Herr Pfarrer, wenn Sie’s hören wollen! Sie werden’s nachher selber sagen, daß es nimmer geht … ich bin ein Bauernknecht gewesen, so gut als Einer, und hab’ gearbeitet, so gut wie zwei – mein Vater soll mir’s bezeugen, ob’s nicht wahr ist. Meine Dienstbauern sind alle zufrieden gewesen mit mir, und wie ich nach Mergenthau hinübergekommen bin, auf das Gut und Brauhaus von den Jesuitern, da haben’s den Klostermair-Hiesel schier auf den Händen getragen … vom Jäger, vom alten Lienhard, der mich als Buben oft mitgenommen hat in den Wald, hab’ ich das Schießen gelernt gehabt; die Herrn, wenn sie in die Vacanz herausgekommen und auf die Jagd gegangen sind, haben mich allemal bei sich haben wollen – aus dem Bauernknecht ist nach und nach ein Jäger worden – sie haben mir versprochen, daß sie mich zum Gehülfen und am End’ selber zum Jäger machen wollten auf einem von ihren Gütern … drüber hab’ ich die Bauernarbeit verwöhnt, und wenn mich einmal wer auf dem Gewissen haben muß, so sind’s die Herrn …“

„Sei nicht ungerecht, Hiesel!“ bemerkte der Pfarrer, „wäre das der Dank dafür, daß sie Dich befördern wollten, daß sie Dich unterrichten ließen, daß sie …“

„Ja, ja!“ unterbrach ihn Hiesel, „sie haben mich in die Höh’ gehoben und dann fallen lassen – aber ich bin ihnen doch Dank schuldig. Ich mein’ auch nicht Alle; es waren brave Herrn, die’s gut gemeint haben mit mir, ich mein’ nur Einen, den Pater Venantius. Das war ein verdrießlicher griesgrämiger Herr, der Tag und Nacht nichts anders gethan hat, als Rechnen und an der Erdkugel messen, die er in seinem Zimmer hat stehen gehabt; der ist verwachsen gewesen und halb blind und hat gehunken auf einem Fuß. Wenn er aber mit herausgekommen ist in die Vacanz, hat er durchaus auch mit gewollt auf die Jagd und wenn er dann lauter Löcher hineingeschossen hat in die geduldigen Bäum’ und in die blaue Luft, nachher hat er mir Vorwürfe gemacht und hat gesagt, ich thät’s ihm zu Fleiß und stellt’ ihn allemal an den schlechtesten Platz… Und einmal … ich muß noch lachen, wenn ich dran denk’, so schwer ich’s auch hab’ büßen müssen … einmal hab’ ich ihm zugeschaut, wie er auf dem Anstand gewesen ist und eine Katz’ ist gegen ihn herangeschlichen durch’s Dickicht, die hat er für einen Hasen gehalten und hat sie nieder’brennt, daß sie Miau geschrien hat … Drauf ist er hin gehunken und hat’s genau visitirt und weil er gemeint hat, es hätt’s Niemand gesehn, hat er die Katz’ im Gebüsch versteckt …“

Der Pfarrer lächelte. „Es können nicht Alle gewaltige Jäger sein vor dem Herrn!“ rief er, „doch fahre fort.“

„Wie der Trieb aus war,“ begann Hiesel wieder, „hat er mich richtig wieder gezankt und hat gesagt, ich verstünd’ es nicht, die Schützen richtig im Bogen aufzustellen – das hat mich geärgert, weil’s die andern Knechte mit anhörten, und in dem Aerger bin ich in’s Braustübel hinein und hab’ eine Halbe übern Durst getrunken, da ist mir’s herausgefahren … ich hab’s erzählt, wie er die Katz’ geschossen hat und hab’s in meinem Dusel nachgemacht, wie er hingehunken ist und was er für Gesichter geschnitten, und wie er die Katz’ von allen Seiten angeguckt hat, ob nit ein Haas draus wird unter der Hand … Die Bauern und Gäst’ im Braustubl haben sich schier krank gelacht ich aber hab’ am andern Tag den Laufzettel gekriegt und der Katzenschütz hat’s durchgesetzt, dem Jäger ist verboten worden, daß er mich nie mehr zur Jagd oder im Forst mitnehmen darf, sonst verliert er selber seinen Dienst …“

Aus den Mienen des Pfarres war das Lächeln verschwunden.

„Das war mein Unglück,“ fuhr der Erzähler nach einem Augenblick des Nachsinnens weiter. „Ich hab’ die Jägerei erschmeckt gehabt, und die Bauernarbeit ist mir nit mehr aus der Hand gegangen … Die Burschen haben über mich gespöttelt, wo ich mich hab’ sehen lassen, es hat mich hinaus ’zogen in den Wald, als wenn’s mich bei den Haaren hätt’ … bei Tag hab’ ich kein’ andern Gedanken gehabt und wenn ich die Augen zugemacht hab’, bin ich im Forst draußen gewesen und hab’s knallen hören! So hat’s fortgekocht in mir und wie einmal bei meinem Dienstbauer ein Hirsch in’s Kornfeld ’kommen ist und hat darin geäßt und sich herumgewälzt, da ist mir die Wuth kommen … ich bin ins Haus hinein, hab’ den Stutzen geholt und hab’ ihn niedergebrennt … am andern Tag haben’s die Jäger schon gewußt und ich hab’ flüchten müssen … Seitdem ist es aus mit dem Bauernleben! Seitdem hab’ ich mir’s vorgesetzt, den Bauern zu helfen und das überflüssige Wildbrät wegzuputzen, das ihnen so viel Schaden macht! …“

„Aber was Du auf solche Weise thust, ist schweres Unrecht!“ rief, als er geendet, der Pfarrer. „Das Wild gehört dem Fürsten oder Gutsherrn, es ist also fremdes Eigenthum, und wer es sich zueignet, begeht einen Diebstahl!“

„Das kenn’ ich!“ sagte Hiesel leicht hin. „So sagen sie alle, damit’s das dumme arme Volk glauben und fein ducken soll, es ist aber nit wahr! Das Wild ist frei – wie der Vogel in der Luft! Es hat kein’ andern Herrn, als den, der’s erwischt! Den Bauern hilft doch kein Mensch zu ihrem Schaden – giebt gar viele Gutsherrn, denen ihre Jagd lieber ist, als ihre Bauern; wenn ich ihnen also helfe, thu’ ich ein gutes Werk und kein Unrecht!“

„Deine Gesinnung ist löblich!“ antwortete kopfschüttelnd der Pfarrer, „aber die Art, wie Du sie ausführen willst, ist darum nicht weniger Unrecht. Suche auf andere Weise zu nützen … diese ist ein Verbrechen!“

„Wer hat’s zu einem Verbrechen gemacht?“

„Das Gesetz!“

„Und das Gesetz haben dieselben gemacht, die das Bauernvolk gern unterdrücken möchten – das ist kein rechtes Gesetz, das kann nicht gelten! das muß man abschaffen!“

„Ueberlaß das denen, die dazu berufen sind!“

„Wenn Jeder warten wollt’, bis man ihn ruft, geschieht niemals was … ich spür’ den Beruf in mir!“

„Welche Verblendung! Das, was Dir Lust macht, verwechselst [212] Du mit Deiner Pflicht, Deine Neigung hältst Du für Beruf! … Sieh, Hiesel!“ fuhr er zutraulich fort und legte ihm die Hand auf die Schulter, „es kann sein, daß Du Recht hast … es ist wohl Manches nicht, wie es sein soll, und vielleicht kommen einmal andere Zeiten, wo ein anderes Gesetz gemacht wird, ein Gesetz, wie Du es meinst, aber jetzt gilt noch das alte Gesetz, und das Gesetz zu achten, befiehlt Dir Deine heilige Religion. Als Christ und als Unterthan bist Du schuldig, Dich dem Gebot der Obrigkeit zu fügen, denn Gott ist es, der ihr die Gewalt gegeben!“

„Die Gewalt!“ murrte Hiesel mit verbissnen Zähnen. „Ja wohl ist es eitel Gewalt, was sie üben … und Gewalt leid’ ich nit; es ist so in mir, daß ich’s nit leiden kann, daß mir oder einem Andern Gewalt geschieht!“

„Gott möge Dich bewahren, daß Du nicht einmal Gewalt erleiden müssest, die viel furchtbarer sein wird, als diese! – Geh’ in Dich, Hiesel, höre die Stimme eines Mannes, der Dich gewiß nicht falsch beurtheilt und der es herzlich gut mit Dir meint! Bedenke, welches Leben Dir bevorsteht … von Mangel, Noth und steter Gefahr umgeben; bedenke, welch’ ein Ende Dich erwartet, durch die Kugel eines Jägers, plötzlich, unvorbereitet, mitten in Deinen Sünden, oder noch furchtbarer in den Händen der strafenden Gerechtigkeit! Deinen Vater wird der Kummer um Dich in’s Grab bringen, wie er schon die Tage Deiner Mutter abgekürzt, und Du selbst wirst unstet umher wandern, ein überall verfolgter Flüchtling! Täusche Dich nicht, die Dich jetzt rühmen ob Deiner Verwegenheit, werden verstummen und sich von Dir wenden in der Stunde der Noth! Du wirst keinen Freund haben, denn Deine wüsten Cameraden sind nur die Genossen Deines Glücks! Du wirst keine Stätte haben, wohin Du ruhig Dein Haupt legen kannst … Du wirst Niemand haben, der sich um Dich kümmert und sorgt, Niemand, der Dich lieb hat; Du wirst nicht Ruhe haben, nicht Heimath, nicht eigenen Heerd!“

Das Angesicht des Wildschützen hatte sich umdüstert; er barg es in den Händen und murmelte wie unwillkürlich: „Keinen eigenen Heerd … Niemand, der mich lieb hat…“

„Siehst Du, das ergreift Dich!“ begann der Pfarrer wieder. „Es zeigt mir, daß Du solche Gedanken und Wünsche auch schon in Dir getragen hast, daß Du Dich, wenn Du Dir’s auch in Deinen wüsten Stunden nicht eingestehen willst, auch schon darnach gesehnt hast, Dein Haus zu haben und einen neuen Kreis von Menschen um Dich zu versammeln, die Dich lieben und die Du wieder liebst, weil Ihr einander gehört nach dem Rathschlusse des Ewigen… Wenn es so ist, Hiesel … wenn dieser Funke wirklich in Dir aufgeblitzt hat, so ersticke ihn nicht, er ist vom Guten, lasse ihn fortglimmen und auflodern, daß er Dich wie eine Flammensäule aus der wüsten Nacht Deiner Zweifel herausführe! Folge dem heiligen Zuge, den Gottes Hand in jede Menschenbrust gelegt … er wird Dir Deine Verwilderung abstreifen, er wird Dich zu einem Menschen unter Menschen machen…“

Hiesel regte sich nicht. „… Was soll ich thun?“ murmelte er nach langem Schweigen durch die geschlossenen Hände.

„Deine Vergangenheit auslöschen in der Erinnerung der Welt!“ rief der Pfarrer bewegt. „Eine neue Lebensweise erwählen … Du bist kühn und kräftig, Du liebst das Außerordentliche und Gefährliche, im Soldatenstande hast Du Gelegenheit, diese Eigenschaften zu benützen, sie geltend zu machen. Du kannst es vielleicht sogar zu hohen Ehren bringen!“

„Hab’ es auch schon hie und da gedacht,“ sagte Hiesel finster, „aber es ist doch nichts mit dem Soldatenrock! Ja, wenn es Krieg gäbe, hätt’ ich mich schon lang nicht besonnen – aber im Frieden mag ich kein Soldat sein … ich mag nicht Schildwache stehn und die Zuchthäuser hüten oder dem Gesindel nachstreichen, mag mich nicht fuchteln oder wohl gar auf die Bank legen lassen … beim bloßen Gedanken siedet’s schon in mir … ich kann nichts vertragen, was wie Zwang aussieht und wie Gewalt!“

„So verlasse diese Gegend; geh’ in ein anderes Land – geh’ nach der Schweiz, wähle ein redliches Geschäft und betreib’ es und dann komm wieder als ein gebesserter, als ein anderer Mensch!“

„Es hilft Alles nichts!“ erwiderte Hiesel dumpf, aber entschlossen. „Und wenn ich zehnmal als ein anderer Mensch zurück käm’ – sie würden’s mir nicht glauben! Sie würden auf mich aufpassen und spioniren und beim ersten Schuß, der fallen thät’, nähmen sie mich beim Kragen, schuldig oder unschuldig …“

Er stand auf.

„So ist es wirklich möglich,“ rief der Pfarrer schmerzlich, „daß Du in Deiner Verblendung bleibst? Daß Schwester, Vater und Freund nichts ausrichten bei Dir? Fallen alle meine guten Wort’ bei Dir nur unter Dornen und auf Felsen?“

„Ich kann nit anders, Herr Pfarrer,“ sagte Hiesel fest, „Ihre wohlgemeinten Reden haben mich erst recht überzeugt, daß bei mir nit zu helfen ist … Ja, ich will’s nit laugnen, Herr Pfarrer, Ihnen will ich’s nicht verlaugnen – einen Augenblick hab’ ich geglaubt, es könnt’ möglich sein, es könnt’ für mich ein Platzel geben, wo ich mir einen eignen Heerd bauen dürft’ … es könnt’ Jemand auf der Welt sein, der mich gern hätt’ und der’s mit mir theilen möcht’ … es war nur eine Einbildung, wie man sich gern selber das weis macht, was man gern haben möcht’. Das Alles ist für mich nit auf der Welt … ich muß ausführen, was ich mir vorgenommen hab’, und ich will’s auch … Ich verzicht’ auf Alles, ich geh’ fort … Ihre Wort’, Herr Pfarrer, sind nit auf Felsen gefallen, aber das Dorngesträuch’ laßt nichts aufkommen, und ich bin’s wahrhaftig nit, der’s eingesetzt und an’pflanzt hat … B’hüt Gott bei einander … Ich kann Euch Allen nichts Besseres wünschen, als – vergeßt’s mich! Denkt’s nimmer dran, daß der Hiesel auf der Welt ist …“

Er wollte der Thüre zu; aber wieder schallte Klopfen von draußen, diesmal stärker als zuvor, und eine laute schnarrende Stimme rief: „Aufgemacht, heda aufgemacht! Ich bin’s, der Vetter Maier! Aufgemacht!“

„Ist das nicht der Vetter Bader?“ rief der Alte. „Was giebt es denn, daß der heute noch bei uns einspricht?“

Inzwischen war die Thür schon geöffnet und der Bader, ein kleiner kugeldicker Mann mit Stutzperücke und steifem Zopf, trippelte händereibend in die Stube. „Verteufelt frisch heute Nacht!“ rief er und warf sein kurzes Mäntelchen auf die Bank. „Sollte mich gar nicht wundern, wenn’s einen tüchtigen Reif machte! Ein gefährliches Wetter für Einen, bei dem das systema lymphaticum so irritirt ist, wie bei mir! Hab’ aber doch nicht warten wollen, hab’ meine Nachricht noch heut’ anbringen wollen!“

„Aber was giebt es denn, Herr Chirurgus?“ fragte der Pfarrer. „Was ist das für eine Nachricht?“

„Ah, Hochwürden Herr Pfarrer auch hier?“ rief der Bader entgegen. „Kann mir vorstellen, warum! Der Seelenarzt ist da wohl am Platz! Aber der Körperarzt, der medicus corporalis wird diesmal doch den Vorrang behalten! Ich habe ein Geheimmittel bei mir, ein Universal-Elixir, probatum est! … Heda, Er junger Mensch! Er Thunichtgut! Seinetwegen bin ich da, ich will ihm das Wildern vertreiben, daß Er seine Lebtage nicht mehr daran denken soll! Gaff’ Er mich nur an … da hab’ ich’s! In meiner Westentasche steckt’s!“

„Nun, ein solches Mittel wäre allerdings ein Arcanum!“ lächelte der Pfarrer. „Nur dürfte es schwer zu finden sein!“

„Ist gefunden, Herr Pfarrer, ist gefunden! Was hab’ ich hier in meiner Hand? Was enthält dies Schreiben aus der Residenzstadt, das ich so eben noch durch einen Erpressen von Friedberg erhalten habe?“

„Ein Schreiben aus München?“ rief Hiesel. „Und das mich betrifft?“

(Fortsetzung folgt.)




Das Junkerthum unter der Kaiserfaust.
Von Wilhelm Zimmermann.

Jemehr im Laufe der Jahrhunderte das Reich deutscher Nation sich in einzelne Theile zersplitterte, immer mehr in sich zerfiel, und je rascher immer mehr verschwand vom alten Glanze und von der ehemaligen Macht nach außen: desto mehr wurde von der Sehnsucht des Volksherzens die Gestalt des Kaisers Rothbart, des gewaltigsten der Hohenstauffen, in der Erinnerung und Sage verklärt.

[213]

Barbarossa’s Strafgericht über das meuterische Junkerthum.
Nach dem Gemälde von H. Plüddemann auf Holz gezeichnet von P. Thumann.

[214] Sein Bild lebte in den Seelen deutscher Männer und Frauen als das Ideal eines deutschen Kaisers, unter welchem Deutschland der große, schöne Einheitsstaat war, das deutsche Volk in der ganzen Welt „die herrliche und unwiderstehliche Nation“ hieß und als solche galt; unter welchem, bei dem über die Welt strahlenden Glanze der deutschen Krone, das deutsche Nationalgefühl sich wunderbar gehoben und gestärkt fand, unter welchem aber auch im Innern Deutschlands Recht und Ordnung herrschte, eine höchste Gewalt, zwar eine gesetzlich beschränkte, aber doch nur eine höchste Gewalt war, welche Gerechtigkeit, Frieden und Wohlfahrt handhabte und förderte. Und dieses Bild, das die Sehnsucht des deutschen Volkes nach der allen Größe und Herrlichkeit des Vaterlandes vom Kaiser Friedrich dem Ersten sich machte, war kein erdichtetes, sondern ein wahres; es ruhte auf dem Boden der Wirklichkeit, auf geschichtlichen Thatsachen.

Unter dem Kaiser Rothbart war die deutsche Nation nicht blos durch Kriegsruhm, durch große Kämpfe und Thaten nach außen herrlich, sondern Europa anerkannte den deutschen Kaiser als seinen Herrn und Schiedsrichter; die Könige Englands, Dänemarks und Böhmens waren und nannten sich des deutschen Reiches Vasallen; der Dänenkönig Sweno, der Böhmenkönig Wratislaw trugen bei öffentlichen Aufzügen, selbst mit goldenen Kronen auf dem Haupte, das Kaiserschwert dem Rothbart vor; Polens Herzoge und Ungarns Fürsten und alle Großen an der Loire und Rhone bis in’s Herz des heutigen Frankreichs hinein waren thatsächlich unter dem Rothbart Lehensträger der deutschen Krone; und Italien war theils deutsches Reichsland von jeher, theils, wie Neapel und Sicilien, Erbreich der Hohenstauffen geworden. Auf deutschem Boden blühte der Handel, eine Stadt um die andere wurde frei und reich, der ritterliche Minnegesang erklang, große Nationalfeste wurden gefeiert, wie das zu Constanz am Bodensee, wie das zu Mainz am Rhein, und der Mittelpunkt von Allem war der Kaiser, des Rothbarts mächtige, edle Fürstengestalt. Mit dem Kaiserthum seiner Persönlichkeit hing in Wahrheit das Geschick der deutschen Nation engst zusammen, so lange er waltete auf Erden, und mit seiner Person flocht, lange nach seinem Heimgange noch, in bösen Tagen des Verfalls, die Hoffnung des deutschen Volkes die deutsche Zukunft eng zusammen; an die Wiederkehr des Rothbarts knüpfte die Volkssage die Wiederkehr deutscher Herrlichkeit.

Greifen wir aus dem thatenreichen Leben dieses Kaisers einen Auftritt heraus, zur Veranschaulichung, wie der Rothbart in Deutschland Recht und Ordnung handhabte, wie er die Fürsten im Zaum hielt und diejenigen strafte, welche Recht und Ordnung mit Füßen traten und thaten, als ob sie Herren und Meister auf deutschem Boden wären. Unter den gezüchtigten Häuptern waren überdies zwei, welche zu den mächtigsten Fürsten des Reiches gehörten: der Erzbischof von Mainz, unter den geistlichen Herren einer der vornehmsten, und der Pfalzgraf bei Rhein, einer der ersten unter den weltlichen Herren des Reiches.

Im Sommer 1155 war Kaiser Friedrich zur Kaiserkrönung nach Rom und zur Herstellung der Reichsmacht auf dem Boden Italiens über die Alpen gezogen. Während er jenseits des Gebirges weilte, hatten diejenigen Fürsten, Herren und Ritter, welche die Römerfahrt nicht mitmachten, die Abwesenheit des Herrschers benutzt, sich ungebunden ihrer Rauf- und Raublust zu überlassen. Durch die Kreuzzüge hatten zwar auch die deutschen Adeligen den feineren Rittergeist der Saracenen im Morgenlande kennen gelernt, welcher auch im Westen Europas unter den Saracenen Spaniens blühte und durch das südliche Frankreich herüber sogar die deutschen Reichslande an der Rhone berührte, das schöne Burgund und die Provence; aber die große Mehrheit der deutschen Edelleute war damals noch weit entfernt von feiner Rittersitte. Selbst von denen, welche in der Fremde etwas davon angenommen hatten, sank mancher, bald nach der Rückkehr in die Heimath, unter den gewaltthätigen Standesgenossen wieder in die Feudalrohheit zurück, in den Urgeist des alten Junkerthums, welchem es als adelig galt, dem Gesetz und der bürgerlichen Gesellschaft Trotz zu bieten, in muthwilligen Fehden unter sich zu raufen, die Schwachen zu unterdrücken, den Kaufmann, den Bürger, den Landmann zu überfallen und auszuplündern. So litt der Schwache auch jetzt fast aller Orten in Deutschland unter dieser bösen Art der Herren auf den Schlössern, als diese den Kaiser weitab im südlichen Italien wußten. Besonders schrecklich aber wütheten sie mit Feuer und Schwert in einer der fruchtbarsten Landschaften Deutschlands, am schönen Rhein, im Bisthum Worms, in einer Natur, die dazu gemacht ist, daß alle Menschen, die dort wohnen, wenigstens äußerlich glücklich sind.

Und diese Bewohner, mindestens auf dem flachen Lande, waren damals gerade die unglücklichsten in Deutschland, so sehr wurde ihnen Haus und Hof, Feld und Weinberg verwüstet. Die erste Schuld daran aber fällt auf einen geistlichen Großwürdenträger, auf den Erzbischof Arnold von Mainz.

Dieser Arnold war des Kaisers Geheimschreiber gewesen und dann durch dessen Einfluß zum Erzbischof von Mainz gemacht worden. Er stammte aus dem alten Mainzer Dienstadel, aus dem angesehenen Hause der Selenhofer. Ein Stockaristokrat und ein Reactionär, liebte Arnold Ueppigkeit und Pracht, ein glänzendes fürstliches Auftreten. Die Mittel, welche ihm sein rechtmäßiges Einkommen abwarfen, reichten dazu nicht. Er suchte sie sich durch gewaltthätiges Zugreifen zu verschaffen. Was frühere Erzbischöfe an die Stadt oder an Lehenträger zur Belohnung treuer Dienste gegeben hatten und worüber tadellose Urkunden vorlagen, das forderte Arnold zurück, um die alte Oberherrschaft, wie er sagte, und den alten Glanz dem Erzstuhle wieder zu verschaffen. Alle früher dem Volke von Mainz gewährten Rechte setzte er außer Kraft. Auf die Einsprache der Mainzer Bürgerschaft sagte er, „dieses starrsinnige Volk, das dem Volk Israel unter Rehabeam gleiche, müsse mit Scorpionen gezüchtigt werden; da, wo insgesammt die Treue des Gehorsams wanke, thue ein Tyrann noth.“

Wie er den Mainzer Bürgern alle Schenkungen an Gut mit Gewalt abnahm, so dehnte er diese Reunionen auch auf alle die Ländereien aus, in deren Besitz die großen Lehenträger des Mainzer Erzstuhls durch rechtskräftig gewordene alte Schenkungen oder Verleihungen sich befanden. Er erklärte das als „ungültige Verschleuderung“ des Kirchengutes. Zugleich forderte er von dem Dienstadel des Erzstiftes Leistungen, wie sie gegen das Herkommen und über die Kräfte des Einzelnen waren. In seinem ganzen Erzbisthum machte er eine wahre Jagd auf Rechtstitel, unter welchen er überhaupt alles Gut, was vor langer Zeit zum Stuhle von Mainz gehört hatte, wieder zurück haben wollte, und damit er seine Ansprüche und Forderungen auch auf dem Rechtsweg durchsetze, brachte er seine Verwandten in die entscheidenden Stellen. Durch diese ließ er dem Erzstuhl, das heißt, sich selbst, weite Ländereien zusprechen. Damit machte er sich Alle, welche mit diesen Gütern begabt waren, zu schwerverletzten Feinden. Darunter waren die vornehmsten Herren des Rheingaus, der Pfalzgraf Hermann bei Rhein, der auf Schloß Stahleck saß, die Grafen Emich von Leiningen, Gottfried von Sponheim, Heinrich von Katzenellenbogen, Conrad, der Graf von Kyrberg an der Nahe, Heinrich, der Graf von Deidesheim und viele Edelleute. Sie alle wollten die beanspruchten Güter nicht herausgeben.

Der Erzbischof sprach den Bannfluch über sie aus, und um diese Widerspenstigen, die sich mit den Waffen wider seine Ansprüche setzten, seinerseits allesammt mit den Waffen zu zwingen, griff Arnold sogar die Kirchenschätze an. So sehr Geistlichkeit und Volk zu Mainz sich gegen die Kirchenplünderung wehrten, so verkaufte er doch selbst ein „Stück vom heiligen Kreuz“ im Martinstift, und gleichzeitig brandschatzte er ganz willkürlich Domcapitel und Volk von Mainz. Mit dem so zusammengebrachten Gelde warb er Söldner und zog zu Felde, den Herren das von ihm Angesprochene mit Gewalt abzunehmen. Weit umher wüthete er mit Raub, Mord und Brand in den Besitzungen seiner Gegner, und diese thaten das Gleiche in den seinen. So wurde namentlich das Bisthum Worms verheert. Das Volk war es, auf dessen Kosten diese Herren ihre wildesten Leidenschaften rasen ließen. Es war ja nur das Volk, der große Haufen der armen Leute auf dem offenen Lande, dem seine Reben abgeschnitten, dem seine Kornäckerlein und seine Hütten angezündet und niedergebrannt, seine Ochsen und Schafe weggetrieben oder niedergestochen wurden!

Da tritt der Rothbart plötzlich mitten hinein unter die hochadeligen Raufer und Räuber. Ein böses Gewissen durchschauert einen großen Theil von Deutschland. Plötzlich ruhen die Leidenschaften und die Schwerter in dem Rheingau. Er ist unverhofft wieder auf deutschem Boden erschienen, der Kaiser, den sie noch lange jenseits festgehalten wähnten. Ihm voraus eilt die Sage, er komme, ein strenges Gericht zu halten. Und die Sage spricht diesmal Wahrheit.

[215] Er will Deutschland zeigen, daß es ein Reichsoberhaupt habe mit eisernem Willen, das Gesetz in seiner ganzen Strenge aufrecht zu halten. Nach langer Zeit zum ersten Male soll durch ihn, den vor Kurzem erst zum Kaiser Gekrönten, ohne Unterschied, ohne alle Rücksicht auf Rang und Würde des Uebertreters, der Gerechtigkeit ihr freier Lauf werden. Den Landfriedensbruch der Verwüster der schönen Rheingelände nachhaltig zu strafen und diese Art von Heimsuchung des Volkes den Herren zu verleiden, fängt er mit den Großen an und endet bei den Kleinen.

Zu Worms versammelt er um Weihnachten die Fürsten des Reichs um sich. Er hat sie mit Augen geschaut, die Verwüstung dieser Gebiete, und die Fürsten sollen sie auch vor Augen haben. In den Mittelpunkt der Brandstätten und der Verödung der Felder stellt der Kaiser seinen Stuhl und setzt sich zu Gericht.

Die vornehmen Missethäter wider die Ordnung des Reiches werden vorgeladen und müssen erscheinen, wie die kleinen; sie werden öffentlich verhört, die Sache der Unterdrücker und der Unterdrückten wird öffentlich untersucht, damit alle Welt, damit Hoch und Niedrig sehe, daß ein Kaiser im Reich ist, ein Schirmer und Rächer des Volks und der Rechtsordnung, der weder das eine noch das andere ungestraft verletzen läßt und der gerade eine um so augenfälligere Strafe wählt, je vornehmer die sind, welche beide mit Füßen treten. Es soll Jedem für immer der Wahn vergehen, daß ihn seine hohe Stellung vor aller Strafe sichere; es soll keiner mehr sich schmeicheln, man werde aus Rücksicht auf seinen Fürstenrang es ihm nachsehen, wenn er über die Gesetze des Reiches sich hinwegsetze; alle Welt soll erfahren, daß Keiner zu hoch und zu mächtig sei, um vom Arm der Gerechtigkeit erreicht zu werden.

Der Erzbischof von Mainz wie der Pfalzgraf bei Rhein werden schuldig erfunden, also zwei der vornehmsten und mächtigsten Fürsten des Reiches, und an Beiden läßt der Kaiser, um ein abschreckendes Beispiel zu geben, nicht nur die Strafe vollziehen, sondern zudem noch eine ganz ausgesuchte Art der Strafe. Der Kaiser selbst sucht nach Strafen, welche geeignet wären, Eindruck zu machen auf die verwilderten Verstörer der Reichsverfassung. Da findet sich unter den Bräuchen und Gesetzen der alten Franken und Schwaben ein Gesetz, nach welchem für Landfriedensbruch, wenn nicht das Leben verwirkt ist, der Freie einen Hund, der Dienstmann einen Stuhl, der Bauer ein Pflugrad zum Schimpf bis in die nächste Grafschaft tragen soll. Diese Strafe war seit langen Zeiten außer Gebrauch. Gerade aber diese Strafe ist es, welche der Rothbart jetzt auf die Frevler an der Reichsordnung anwendet.

Da sitzt, wie es unsere Abbildung darstellt, der Kaiser auf seinem Throne, ihm zur Seite sein Oheim Welf, dahinter die Reichsversammlung als Fürstengericht; weithin reihet und dehnt sich das zuschauende Volk aller Stände, und der Pfalzgraf Hermann bei Rhein muß laufen, und zehn seiner Waffengenossen müssen laufen, darunter Graf Emich von Leiningen, Graf Gottfried von Sponheim, Graf Heinrich von Katzenellenbogen, Graf Konrad von Kyrberg. Sie Alle tragen Hunde; sie tragen sie eine deutsche Meile weit; sie Alle müssen in voller Wirklichkeit die Strafe des Hundetragens abbüßen, zu der sie verurtheilt sind.

Auch der Erzbischof, welcher seitwärts auf das Portal einer Säule gelehnt steht, der Greis mit dem weißen Barte, ist zum Hundetragen verurtheilt worden; nur er allein für seine Person, aus Rücksicht auf sein hohes Alter, und mehr noch aus Rücksicht auf seine erzpriesterliche Stellung, auf die Kirche, auf den Papst, wird mit dem wirklichen Hundetragen verschont, nicht aber seine Waffengenossen. Vor den Augen des Erzbischofs müssen seine Freunde, die Grafen seiner Partei, laufen und Hunde tragen.[1]

Bald nach diesem Strafgericht verbarg sich der Pfalzgraf Hermann bei Rhein in das Kloster Ebrach; sein gebrochenes Herz überlebte nicht ein Jahr seine Schmach. Der Kaiser aber ließ diese Verurtheilungen und Bestrafungen von Staatswegen bekannt machen durch das ganze Reich. Der Vollzug einer so ausgesuchten Strafe an einem so großen Fürsten des Reichs brachte einen solchen Schrecken über alle Reichsstände, daß die fehdelustigsten gerne ruhig innerhalb ihrer Schlösser saßen. Hartwig, der neue Bischof von Regensburg, hatte, ehe ihm der Kaiser die Regalien des Bisthums verlieben hatte, den Lehensleuten seines bischöflichen Stuhles ihre Lehen ertheilt. Das war gegen das Reichsgesetz. Auch diesen Uebertreter strafte der Kaiser um hundert Pfund Silbers, und alle Vasallen desselben je nach Verhältniß. Dann zog er mit Kriegsvolk von einem Gau zum andern, um nach der Bestrafung der großen auch die kleinen Landfriedensbrecher, die Raufer und Räuber in den Burgen, zu richten. Er hörte die Klagen, die über die Raubgrafen und über die Raubritter vor ihn gebracht wurden; er untersuchte sie. Dann zerstörte er die Schlupfwinkel dieser schädlichen Leute, eine Reihe Burgen und Festen. Die Schuldigsten dieser Rauf- und Raubjunker strafte er am Leben; die einen ließ er enthaupten, die andern hängen. Geistliche und weltliche Herren hatten den Handelsverkehr durch willkürliche Zölle bedrückt; auch denen legte er das böse Handwerk und strafte, die darin gefrevelt hatten.

Mit Schrecken empfanden die Bösen, mit Freuden die Guten im Reich, daß es nur eine Macht auf deutschem Boden gab, nur eine höchste Gewalt. Alle Gutgesinnten in Schlössern und Klöstern, in Städten und Dörfern verehrten und feierten den Kaiser, der alle Glieder des Reichs, hohe und niedere, dem Gesetz unterwarf. Es war damals auf deutschem Boden zur Wirklichkeit geworden der Gesang des späteren Dichters:

Ein Richter war wieder auf Erden.
Nicht blind mehr waltet der eiserne Speer,
Nicht fürchtet der Schwache, der Friedliche mehr,
Des Mächtigen Beute zu werden.

So oft seitdem deutsche Völker sich vergewaltigt fühlten von deutschen Fürsten, gedachte das deutsche Herz mit Schmerz des alten Kaisers Rothbart, und jemehr ein Volk die Abwesenheit eines solchen höchsten Richters und starken Schirmes in der Gegenwart spürte, desto heißer wandte sich die Sehnsucht rückwärts und wünschte seine Wiederkehr; und jedesmal in denjenigen Theilen Deutschlands am stärksten, in welchen das Recht von der Gewalt mit Füßen getreten war. Und auch heute, in der Erinnerung an jene Tage und im Gefühle der Gegenwart, wie sie da und dort sich zeigt, wo wäre ein deutsches Herz, das nicht, im schmerzlichen Vermissen der einen und starken höchsten Reichsgewalt, sich Luft machen möchte in dem Schrei: „Wach auf, Kaiser Rothbart, und tritt hervor, dem niedergetretenen Recht, den bedrängten Völkern zu helfen wider die Mächtigen, die ihr Spiel damit treiben!“




Du bist mein Volk und ich Dein Sohn.

Wie lieb’ ich Dich, mein Volk, und bin Dein eigen,
Von ganzem Herzen Dein getreuer Sohn,
Auf Deiner Kämpfe dornenvollen Steigen,
Auf Deiner Idale stolzem Thron!

Ein Kaiser bist Du aller Nationen
Und in den Himmel reicht Dein Sinn hinein,
Du greifst entzückt nach allen höchsten Kronen
Und stößest Deinen Fuß an einen Stein;

Hast blutend Deine Siege preisgegeben
Dem Feinde, der Dein Bestes nicht versteht,
Um immer neuen Siegen nachzustreben,
Wo des Gedankens letzter Aether weht.

Dem Unerreichten treibt Dich’s nachzujagen
Mit allumfassend nie gestilltem Geist,
So wie sie von der Liebe Sehnsucht sagen,
Der das Erfüllte nie das Höchste heißt.

Und doch wie lieb’ ich Dich und bin Dein eigen,
Von ganzem Herzen Dein getreuer Sohn,
Auf Deiner Kämpfe dornenvollen Steigen,
Auf Deiner Idale stolzem Thron!

Denn einst, mein Volk, wir müssen’s noch erringen,
Daß wir besitzen, wo wir obgesiegt,
Und einmal endlich muß es noch gelingen,
Daß ruhig uns die Welt zu Füßen liegt.

J. G. Fischer.
[216]
Das Räthsel des Tempels.
Von Johannes Scherr.
1. Der Tempel.

Paris ist jetzt ohne Frage die prächtigste Stadt des Erdballs. Aber das französische Volk hat es sich auch Etwas kosten lassen, das moderne Babel dazu zu machen; nur seit 1852 ist von Staatswegen die kolossale Summe von 235 Millionen auf die Verschönerung der Stadt verwendet worden, die ihrerseits zu demselben Zwecke einen mindestens ebenso großen Aufwand gemacht hat. Wenn heute ein Pariser aus den Tagen des vierzehnten Ludwig’s, oder des vierten Heinrich’s, oder gar einer aus dem fünfzehnten und vierzehnten Jahrhundert wiederkäme, er würde nur noch die Seine als dieselbe vorfinden, vorausgesetzt, daß er den Strom in Gestalt seiner dermaligen Eindämmung und Ueberbrückung wieder erkennen würde.

Und was Alles hat diese Stadt erlebt, seit sie aus der Residenz Julian’s des Abtrünnigen die Residenz Napoleon’s des Dritten geworden ist! Ein Gang durch Paris ist eine Wanderung durch die Geschichte Frankreichs; noch mehr, auch eine Wanderung durch die moderne Geschichte Europa’s. Die Herren Franzosenfresser mögen noch so grimmige Grimassen schneiden, es bleibt doch eine Thatsache: das Herz des menschheitlichen Organismus pulsirt seit 1789 in Paris. Dort hebt der Hammer zum Schlage aus, wenn wieder eine Weltstunde um ist. Die Despotenknechte von 1792 waren nicht so dumm, wie sie aussahen, als sie in dem „Manifest des Herzogs von Braunschweig“ alles Ernstes die Forderung aufstellten, daß Paris vom Erdboden weggetilgt werden sollte. Der Instinct des Hasses und der Furcht sagte ihnen, daß der Hahn der Freiheit dort immer wieder die Flügel schütteln und sein Auferstehungs-Kikeriki in die Welt schmettern würde. Aber jetzo – sagen händereibend die Lohnschreiber, Lakaien und Sbirren des Despotismus – jetzo ist endlich dem dreimal vermaledeiten Thiere der Hals napoleonisch umgedreht. Heuchler ihr! Die Angstfurche auf eueren Stirnen verräth euch. Bei Tag und bei Nacht raunt das böse Gewissen euch in die Ohren: „Der Hahnschrei wird doch wieder erschallen, wenn es Zeit!“

Denn Alles hat seine Zeit, und so hatte die ihrige auch jene mittelalterliche Glaubensbegeisterung, welche Hunderttausende und wieder Hunderttausende zur Eroberung und Behauptung des „heiligen Grabes“ aus dem Abendlande nach Palästina trieb, damit sie dort mehr oder weniger jämmerlich umkämen. Andere Hunderttausende, welche daheim blieben, entäußerten sich wenigstens großenteils oder auch ganz ihrer Habe zu Gunsten der Kämpfer für das heilige Grab, und so kam es, daß insbesondere die geistlichen Ritterorden, welche zu dem genannten Zwecke in Palästina entstanden waren, zu großem Reichthum, Glanz und Ansehen gelangten. Den übrigen zwei, den Hospitalitern und Deutschherren, weit voran stand der dritte, die Templer oder Tempelherren (templarii oder milites, fratres, commilitones templi), so geheißen, weil der erste Sitz des Ordens ein an den sogenannten salomonischen Tempel in Jerusalem stoßendes Gebäude war. Im Jahre 1118 gestiftet, war die Templerschaft schon dreißig Jahre später eine reiche und mächtige Corporation und zu Anfang des dreizehnten Jahrhundert besaß der Orden nicht nur in der Levante, sondern auch und weit mehr noch in sämmtlichen katholischen Ländern Europas eine Menge von Tempelhöfen, Balleyen, Comthureien und Präceptoreien, einen Besitz an Häusern, Burgen, Land und Leuten, wie er so ausgedehnt und stattlich keinem Fürsten der Christenheit als Domaine zu eigen war. Den meisten Reichthum und größten Glanz hatte jedoch die Templerei in Frankreich erworben, wo der „Tempel“ in oder vielmehr bei Paris für den eigentlichen Mittelpunkt des Gesammtordenslebens galt.

Von der Place de la Concorde zieht sich in einem grandiosen Bogen bis zur Place de la Bastille die Reihenfolge von Prachtstraßen hin, welche unter dem Namen der Boulevards bekannt sind. Bei der Porte St. Martin wendet sich dieser unvergleichliche Bogen in ziemlich scharf südöstlicher Schwingung dem Bastilleplatze zu und zwar zunächst unter dem Namen „Boulevard du Temple“. Hier stand zur Zeit der ersten französischen Revolution ein jetzt verschwundenes, d. h. völlig umgebautes Stadtquartier, dessen Mittelpunkt die alte, im Sinne des Mittelalters mächtige und prächtige Ordensburg „der Tempel“ gewesen ist. Die Anfänge der Erbauung dieses Schlosses, welches die Schlösser der gleichzeitigen französischen Könige an Räumlichkeit, Stärke und Pracht weit übertraf, fielen in die Regierungszeit Ludwig’s des Siebenten, welcher den Templern einen damals außerhalb der Stadtmauer gelegenen Bauplatz geschenkt hatte, ein sumpfiges Stück Feld vor dem Stadtthor St. Antoine. Mit derselben Raschheit des Aufschwungs, welche die ganze Templerei kennzeichnete, stieg aus diesem Sumpffeld der „Tempel“ empor, mit seinen Mauern, Bollwerken, Gräben und Thürmen eine beträchtliche Bodenfläche bedeckend oder umfassend. Die Burg war der Sitz des Großpräceptors von Francien, welcher Ordensbeamte dem Ansehen nach der dem Großmeister zunächst stehende gewesen ist, und hier wurden auch die großen Generalcapitel der sämmtlichen diesseits der Alpen angesessenen Templerschaft abgehalten, während welcher Versammlungen der Tempel häufig vielen Hunderten von Tempelherren und dienenden Brüdern („Servienten“) zur Herberge diente. Das Hauptgebäude der Ordensburg, der gewaltige viereckige Thurm, wurde erst im Jahre 1306 durch den Großpräceptor Jean-le-Turc vollendet.

Kaum war der Thurm vollendet, als König Philipp der Schöne, gegen welchen um seiner ewigen Steuererhebungen und Falschmünzereien willen die Bürger von Paris in Waffen sich erhoben hatten, darin eine Zuflucht fand. Die Templer schützten ihn und versöhnten ihm auch mittelst ihres großen Einflusses die aufständischen Pariser. Der König stattete in seiner Weise den pflichtschuldigen Dank ab – er verschwor sich mit seiner Creatur, dem Papst Clemens dem Fünften, zur Vernichtung des Ordens. Der Schuldigere von Beiden war hierbei jedenfalls der Papst. Denn Philipp der Schöne, ein entschlossener, rücksichts- und skrupelloser Arbeiter an dem großen Werke der Staatseinheit Frankreichs, konnte wenigstens zu seinem Gunsten anführen, daß die Austilgung der Templerei dieses Werk um einen beträchtlichen Ruck vorwärts brächte; der fünfte Clemens dagegen, von Amtswegen der geschworene Beschützer des Ordens, lieh nur aus infamer Habsucht und elender Feigheit seine Hülfe zur Zugrunderichtung desselben. Freilich, wie sollte ein Gefühl für Recht und Ehre, wie eine Regung von sittlichem Muth von einem Manne zu erwarten gewesen sein, welcher als einer der wahlverwandtesten Vorgänger Alexander’s des Sechsten in der Geschichte der „Statthalter Christi“ dasteht; von einem Papste, dessen zuchtlose Hofhaltung zu Avignon, Poitiers und Bordeaux selbst in jener gewiß nicht mit übermäßigem Zartgefühl behafteten Zeit jeden nicht ganz verdorbenen Besucher anwiderte; von einem Papste, welcher, dem Zeugniß eines der gebildetsten und ehrsamsten Kirchenfürsten des Mittelalters, des Erzbischofs Antoninus von Florenz zufolge, mit seiner „Freundin“, der reizenden Brunissente, Tochter des Grafen von Foix und Frau des Grafen von Talleyrand-Perigord, ganz öffentlich lebte, – so öffentlich, daß die „Freundin“ Sr. Heiligkeit nicht anstand, aus der päpstlichen Tiare die schönsten Diamanten ausbrechen und in ihre Armbänder fassen zu lassen! Auch „zur größeren Ehre Gottes“ vermuthlich!

Am 12. October von 1307 war König Philipp der Schöne mit seinem ganzen Hofe im Tempel zu Gast, – zu Gast bei dem Großmeister Jacques de Molay, welchen auf des Königs Wunsch der Papst tückischer Weise von der Insel Cypern nach Frankreich gelockt hatte, damit derselbe in das Verderben des Ordens verwickelt würde. Am Morgen des nächsten Tages sollte dieses Verderben anheben. Den Vorwand dazu mußten, wie Jedermann weiß, die „Verbrechen“ des Ordens hergeben, welcher allerdings durch Stolz, Hochmuth, Eigennutz und Ueppigkeit viel gesündigt hatte, allein der blasphemischen und sodomitischen Gräuel, welche die königlichen und päpstlichen Richter, d. h. Folterknechte und Henker, ihm schuldgaben, ganz gewiß nicht theilhaft gewesen ist.

Einhundert und vierzig Tempelbrüder, darunter verschiedene Großwürdenträger des Ordens, waren an jenem Octobertage im Tempel um den Großmeister versammelt, welcher den König bewirthete. Es ging hoch her in dem großen Thurm, allwo die Staatsgemächer sich befanden. Philipp der Schöne war huldvoll und heiter über die Maßen, und während er unter Scherzen mit Jacques de Molay und den übrigen Tempelgebietigern tafelte und [217] zechte, hatten seine Baillifs und Seneschalls im ganzen Umfange von Frankreich schon seine strengen Befehle in Händen, mit dem kommenden Tage, dem 13. October, mittels List oder Gewalt aller Templer auf französischem Boden sich zu bemächtigen und dieselben einzukerkern, sowie sämmtliche Besitzthümer, liegende und fahrende Habe des Ordens mit Beschlag zu belegen.

So geschah es, und was am 12. und 13. October von 1307 vorging, gehört mit zu den schnödesten der im Buch der Geschichte verzeichneten Verräthereien. Der hierauf folgende Templerproceß war sowohl als Ganzes wie in seinen Einzelnheiten selbst für jene aftergläubische, recht- und sittenlose, zugleich barbarisch-stupide und tückisch-grausame Zeit ein häßliches Brandmarkmal, eine der höchsten Schandsäulen, welche Königthum und Papstthum mitsammen sich errichtet haben. Es war ein gräuliches Verfahren. Die Folter fungirte als Untersuchungsrichter. Wie sie arbeitete, mag schon das eine Beispiel beleuchten, daß einer der gefolterten Templer im Wahnwitz der Qual und Pein ausgeschrieen hat, er bekenne sich schuldig, den Heiland an’s Kreuz geschlagen zu haben. Das ist ganz analog der Thatsache, daß in deutschen Hexenprocessen als Hexen verklagte neun- und siebenjährige Mädchen auf der Folter bekannten, sie seien zu dem Teufel in Verhältnissen gestanden, welche ganz unmöglich, ja undenkbar waren, auch den Glauben an die Existenz eines Teufels vorausgesetzt. Die Hinrichtungen der Tempelbrüder, welche die Qualen des Kerkers und der Marterbank überlebten, waren massenhaft. In Paris allein erlitten einhundert und dreizehn den Feuertod. An einem und demselben Tage, am 12. Mai von 1310, wurden vierundfünfzig Templer an vor dem St. Antonsthor aufgerichteten Brandpfählen mit langsamem Feuer zu Tode gequält, allesammt inmitten der Pein bis zum letzten Athemzug ihre Unschuld betheuernd. Dies that in feierlichster Weise auch der Großmeister Jacques de Molay, welcher, zugleich mit ihm der Großpräceptor der Normandie, am 11. März von 1313 auf der kleineren Seineinsel, da, wo später die Statue Heinrich’s des Vierten aufgestellt wurde, errichteten Scheiterhaufen bestieg. Dieser Angesichts des Todes abgegebene Protest ist historisch. Die Sage aber, welche in ihrer poetischen Weise der herben Tragik der Geschichte häufig einen versöhnenden Zug beizumischen liebt, will, der unglückliche Molay habe aus den Flammen des Holzstoßes hervor den Papst und den König vor den Thron Gottes geladen. Gewiß ist, daß Clemens der Fünfte am 20. April von 1314 zu Roquemaure an der Rhone starb und Philipp der Schöne am 29. November desselben Jahres zu Fontainebleau.

„Ich werde die Missethaten der Väter strafen an ihren Kindern und Kindeskindern bis in’s siebente Glied.“ Ein schrecklicher Spruch, erbarmungslos, grausam und rachsüchtig, wie der alttestamentliche Judengott, welchem derselbe in den Mund gelegt ist. Und doch, die Bestätigung desselben findet sich auf zahllosen Blättern des Buches der menschheitlichen Geschicke. Denn mit Alles vor sich niederwerfender Gewalt schreitet durch die Weltgeschichte die Vergeltung. Spät kommt sie manchmal, häufig, am häufigsten sogar; aber sie kommt, unerbittlich, taub allem Flehen, mit der eisig-ruhigen Majestät eines Naturgesetzes das Richter- und Rächeramt übend. Ach, wenn an jenem 12. October von 1307 vor den Augen König Philipp’s, als er im großen Tempelthurm von Paris den verrathenen Tempelherren zutrank, für einen Moment der Schleier der Zukunft zerrissen worden wäre, so daß er hätte hinausblicken können durch die Jahrhunderte auf den 13. August von 1792, würde da der todhauchende Odem der Vergeltung nicht seine Seele angeschauert haben? Es war nicht Zufall, nein, es war die Logik der Weltgeschichte, daß der große Thurm des Tempels, in welchem eine der größten Ruchlosigkeiten des aufstrebenden französischen Königthums geplant und abgespielt worden, an dem genannten Augusttag dem französischen Königthum zum Kerker angewiesen wurde.[2]

Der Tempelthurm, dessen Inneres die jammervolle Agonie Ludwig des Sechszehnten und seiner Familie sah, ist von der Oberfläche der Erde verschwunden; aber niemals wird er aus dem Weltgeschichtsbuch verschwinden. Da steht er für alle Zeit, finster, drohend, wie der warnend emporgehobene Finger einer Riesenhand. Ist die Warnung bislang von Jenen, welchen sie gilt, beachtet worden? Nein. Wird sie in der Zukunft beachtet werden? Schwerlich, denn die Geschicke müssen sich erfüllen.

Am 21. Januar von 1793 machte der entthronte König vom Tempelthurm aus seine Todesfahrt zum Revolutionsplatz. Am 1. August wurde Marie Antoinette aus dem Tempel in die Conciergerie gebracht, von wo der entsetzliche Karren sie am 16. October zum Schaffot führte. Am 10. Mai von 1794 hält dieser Karren wieder vor dem Tempelthor, um eines der reinsten, beklagenswertesten Opfer des Terrorismus, die Prinzessin Elisabeth, zur Guillotine zu bringen. Am 8. Juni von 1795 starb im Tempelthurm ein armer, körperlich und geistig verkümmerter, rhachitischer und bis zur Stummheit schweigsamer Knabe, Louis Charles, dem König von der Königin Marie Antoinette am 27. März von 1785 zu Versailles geboren, erst Herzog von der Normandie, dann nach dem Tode seines älteren, im Juni 1789 verstorbenen Bruders Dauphin von Frankreich.

Aber war der am 8. Juni von 1795 im Tempel gestorbene Knabe wirklich der Dauphin?

Diese Zweifelfrage erhob sich sofort, leise und laut, und sie ist bis auf den heutigen Tag noch nicht so beantwortet oder so zu beantworten, daß jeder Zweifel verstummen müßte. In Wahrheit, wir haben hier ein ungelöstes Räthsel vor uns, das immer wieder zu Lösungsversuchen reizt. Mag der nachstehende für das angesehen werden, für was er sich giebt: eine unbefangene Zusammenstellung und Werthung der Thatsachen, welche die historische Kritik zur Aufhellung des dunkeln Problems bis jetzt an die Hand gegeben hat.


2. Das Räthsel.

Thatsache ist zuvörderst, daß alle die Betrogenen oder Betrüger oder betrogenen Betrüger, welche nach einander als Dauphin Louis Charles oder als Ludwig der Siebenzehnte aufgetreten sind, Hervagault, Bruneau, Naundorff, Richemont, Williams, Glauben und Anhänger gefunden haben; zum Theil innigst überzeugte und leidenschaftlich begeisterte Anhänger. Dies muß auf den Umstand zurückgeführt werden, daß im Jahre 1795 die Sage ausgegangen und Bestand gewonnen hatte, der angeblich im Tempel gestorbene Dauphin sei ein untergeschobenes Kind gewesen, der wahre und wirkliche lebe und sei aus dem Kerker gerettet. Man darf sogar behaupten, daß diese Anschauung die öffentliche Meinung war, wodurch freilich nichts bewiesen wird. Denn was ist zumeist die „öffentliche Meinung“? Nichts als ein verworrenes Geräusch, das aus dem Zusammenstoß der so oder anders angestrichenen Breter entsteht, welche die Menschen vor ihren Stirnen tragen. (Eine Ansicht, welche die Redaction nicht vertritt.)

Indessen ermangeln wir doch nicht ganz solcher Anhaltspunkte, die beweisen, daß man auch in Kreisen, welche wissende genannt werden können, von dem Tode des Dauphin nicht überzeugt gewesen ist. Herr Labreli de Fontaine, ehemals Bibliothekar der Wittwe des Herzogs von Orleans-Egalité, hat in einer von ihm unterzeichneten und veröffentlichten Flugschrift erklärt, die verbündeten Monarchen seien im Jahre 1814 so zweifelhaft gewesen, ob Ludwig der Siebenzehnte nicht noch am Leben sei, daß sie zwar öffentlich Ludwig den Achtzehnten als König anerkannt, im Geheimen aber und sogar vertragsmäßig sich verpflichtet hätten, dem möglicher Weise lebenden Sohne Ludwig des Sechszehnten den französischen Thron noch zwei Jahre lang offen zu halten. Sollte sich für diese Behauptung nicht ein vollgültiger urkundlicher Beweis beibringen lassen? Fest steht wenigstens, daß ein Theil der Royalisten, welche nach dem factischen Untergange der französischen Republik, d. h. nach dem 9. Thermidor von 1794, eifrig an der Wiedereinsetzung der Bourbons arbeiteten, an den Tod des Dauphin nicht glaubte. Ein sehr glaubwürdiges Zeugniß hierfür wurde noch im Jahre 1851 beigebracht, bei Gelegenheit des Processes, welchen die Hinterlassenen Naundorff’s bei den französischen Gerichten anstrengten. Dieses Zeugniß rührte von Herrn Brémond her, dem ehemaligen Geheimsecretair Ludwig des Sechszehnten, und besagte, daß er, Brémond, im Jahre 1795, von dem Schultheiß Steiger zu Bern vernommen habe, er, der Schultheiß, wisse ganz [218] bestimmt und aus besten Quellen, daß der Dauphin keineswegs im Tempel gestorben, sondern gerettet sei. Steiger stand aber, wie bekannt, mit den höchsten Kreisen der royalistischen Emigration, wie auch mit den Generalen der Vendée, in engen Beziehungen.

Die gäng und gäbe Sage in Betreff der Rettung des Prinzen aus dem Tempel ist, daß dieselbe auf Betreiben von Josephine Beauharnais durch ihren damaligen Liebhaber Barras bewerkstelligt worden sei. Diesen zwei Personen wird, unter Mitwirkung von Hoche, Pichegru, Frotté und dem Creolen Laurent, die Retterrolle auch in der Geschichte des Uhrmachers Naundorff zugetheilt, welcher übrigens, nebenbei bemerkt, von Madame de Rambaud, Amme des Dauphin bis zu dessen Einkerkerung im Tempel, förmlich und feierlich als der echte Sohn Ludwig des Sechszehnten erkannt und anerkannt worden ist. Freilich, die ganze Rettungshistorie des Dauphin, wie Naundorff sie erzählte, ist ein solches Wirrsal von Abenteuerlichkeiten, Unwahrscheinlichkeiten und Unmöglichkeiten, daß man sie der Phantasie eines Victor Hugo entsprungen glaubt, welche bekanntlich toll geworden, so sie das nämlich überhaupt erst zu werden brauchte. (??) Es giebt aber auch noch andere Versionen dieser Historie. Eine derselben, von denen geglaubt und verbreitet, welche den geretteten Dauphin in der Person des Richemont erkannten und verehrten, lautet also: „Am 19. Januar von 1794 wurde der Prinz, mit Vorwissen und Beihülfe seines bestochenen Wächters Simon, durch die Herren Frotté und Ojardias, Emissäre des Prinzen von Condé, aus dem Tempel entführt, nachdem man an die Stelle des Entführten einen stummen Knaben von gleichem Alter gebracht hatte. Der gerettete Dauphin aber ward nach der Vendée gebracht, begab sich, nachdem sein angeblicher Tod im Tempel officiell bekannt gemacht worden, zur Armee des Prinzen von Condé und wurde von diesem später (1796) dem General Kleber anvertraut, der ihn für den Sohn eines Verwandten ausgab und ihn als Adjutanten bei sich behielt.“ Weiter brauchen wir diesen Mythus nicht zu verfolgen. Dagegen ist die Frage zu berühren, warum denn der gerettete Prinz nicht sofort bei sämmtlichen Anhängern der Bourbons laute und begeisterte Anerkennung gefunden habe. Hierauf wird uns die ziemlich plausibel lautende Antwort:

In der bourbonischen Familie herrschten bekanntlich schon vor dem Ausbruch der Revolution heftige Zerwürfnisse, und man schrieb insbesondere und allerdings nicht ohne Grund dem schlauen und ehrgeizigen Grafen von Provence, Bruder Ludwig’s des Sechszehnten und nachmals Ludwig der Achtzehnte, die planmäßig verfolgte Absicht zu, die Nachkommenschaft seines älteren Bruders, schon aus Haß gegen Marie Antoinette, zu Grunde zu richten. Als nach dem angeblichen Tode des Dauphin im Tempel der Graf von Provence von einem Theil der Royalisten als legitimer König anerkannt worden war, habe er natürlich Alles daran gesetzt, jedem von seinem geretteten Neffen etwa zu erhebenden Anspruch zum Voraus die Möglichkeit des Gelingens abzuschneiden. Zu diesem Zwecke hätten es Ludwig der Achtzehnte und seine sämmtlichen Anhänger zu einem Glaubensartikel gemacht, daß der Dauphin wirklich im Tempel gestorben sei. Um aber auch der Schwester des Prinzen, der Prinzessin Marie Therese Charlotte, von verzückten Royalisten als „die Waise des Tempels“ glorificirt, welche im December 1795 zum Austausch von Kriegsgefangenen an die Oesterreicher ausgeliefert wurde, die Annahme dieses Glaubensartikels zu belieben, trennte man ihr Interesse von dem ihres Bruders, indem man sie mit dem ältesten Sohne des Grafen von Artois vermählte und ihr damit, maßen Ludwig der Achtzehnte kinderlos, die Aussicht eröffnete, eines Tages Königin von Frankreich zu werden und zwar regierende Königin, da ihr Gemahl, der Herzog von Angoulème, eine entschiedene Null. Hieraus habe man sich denn auch den Umstand zu erklären, daß die Herzogin von Angoulème mit der ganzen Härte und Schärfe ihres Charakters gegen jeden Versuch, sie von der Rettung ihres Bruders aus dem Tempel, von seinem Fortleben, von seinem Dasein zu überzeugen, herb abweisend sich benommen hat.

Und doch war es dieselbe Prinzessin, welche mittelst einer Stelle der berühmten Denkschrift, worin sie ihre Erlebnisse im Tempel aufgezeichnet hat – („Recit des évènements arrivés au Temple“, par Madame Royale) – für die Behauptung, der Dauphin sei aus dem Tempel gerettet worden und zwar an dem schon erwähnten 19. Januar von 1794, einen sehr bemerkenswerthen Stützpunkt beibrachte. Die gemeinte Stelle ist diese: „Am 19. Januar hörten wir (d. h. die Prinzessin und ihre Tante Elisabeth) bei meinem Bruder – (d. h. im Zimmer desselben) – ein großes Geräusch, welches uns auf die Vermuthung brachte, daß mein Bruder den Tempel verließe, und wir wurden dessen überzeugt, als wir, durch das Schlüsselloch unserer Gefängnißthür blickend, Gepäckstücke wegtragen sahen. An den folgenden Tagen hörten wir die Thür des Zimmers, worin mein Bruder sich befunden hatte, öffnen und vernahmen die Schritte von darin Herumgehenden, was uns in dem Glauben, daß er weggegangen – (will sagen, weggebracht worden sei) noch bestärkte.“

Wir sind aber mit diesem 19. Januar von 1794 noch nicht fertig. Denn es ist eine festgestellte Thatsache, daß gerade an diesem Tage der verrufene Schuster Simon, welcher das Wächteramt bei dem armen Dauphin mit einer Anstellung als Municipalbeamter vertauschte, mit seiner Frau und mit Sack und Pack den Tempel verließ. Thatsache ferner ist es, eine im Verlaufe der oben erwähnten Proceßverhandlung von 1851 als wohlbezeugt erhärtete Thatsache, daß die Wittwe Simon’s, Marie Jeanne Aladame, welche erst am 10. Juni von 1819 gestorben ist und zwar in dem Frauenspital der Sèvres-Straße, den barmherzigen Schwestern, welche daselbst die Krankenpflege besorgten, wiederholt und umständlich erklärt hat, der Dauphin sei nicht im Tempel gestorben, sondern daraus entführt worden, mit ihrer und ihres Mannes Beihülfe, und zwar an demselben Tage, wo sie ihren Auszug bewerkstelligten, am 19. Januar von 1794. Die Entführung sei aber so bewerkstelligt worden. Unter anderem Spielzeug habe man für den Prinzen ein großes Pferd von Pappendeckel anfertigen lassen. In dem Bauche dieses Pferdes wurde das (stumme) Kind, welches man der Person des gefangenen Dauphin unterschob, in den Tempel gebracht. Der Prinz aber ward in einem großen Weidenkorb mit doppeltem Boden verborgen, dieser Korb sodann auf den Wagen gebracht, welcher das Mobiliar Simon’s aus dem Tempel führte, und mit einem Haufen Wäsche bedeckt. Die Wache am Tempelthor untersuchte zwar den Wagen und machte Miene, auch die Wäsche zu durchstöbern; allein Frau Simon wandte dies glücklich ab, indem sie mit gutgespielter Entrüstung die Männer zurückwies, sie bedeutend, das sei ihre schmutzige Wäsche. Also sei der Inhalt des Weidenkorbes ohne weitere Anfechtung aus dem Tempel geschmuggelt worden.

Nun haben freilich alle diejenigen, welchen irgendwie daran liegen mußte, die Ansicht, der Dauphin sei im Tempel gestorben, als die allein richtige aufrecht zu halten, die Behauptung aufgestellt, die Wittwe Simon’s sei, als sie die citirte Mittheilung machte, verrückt gewesen; aber für diese Behauptung ist nicht ein Schatten von Beweis beigebracht worden, während im Gegensatz hierzu die Zeugnisse der barmherzigen Schwestern, die Wittwe Simon habe, als sie ihre Angaben machte, dies bei vollem Verstande gethan, ganz bestimmt lauten. Dieser Einwurf gegen die Erzählung der Frau wäre also beseitigt. Aber war die ganze Aussage vielleicht nur eine Dichtung, mittelst welcher die Wittwe Simon’s die Wucht des gerechten Abscheus mindern wollte, welche auf ihr selbst und auf dem Andenken ihres Mannes lastete? Eine bestimmte Bejahung dieser Frage ist ebenso unmöglich, wie eine bestimmte Verneinung. Indessen muß doch hervorgehoben werden, daß die Ansicht, der Dauphin sei aus dem Tempel gerettet worden, in den höchsten und allerhöchsten Hofkreisen mißfällig, sehr mißfällig war und daß, wenn Irgendwer, die Wittwe Simon’s sich zu scheuen hatte, das Mißfallen der Machthaber von damals auf sich zu ziehen. Es ist daher durchaus unstatthaft, anzunehmen, die Frau habe ihre Phantasie angestrengt, um Etwas zu ersinnen, was ihr keinen Dank, sondern möglicher Weise nur Verfolgung eintragen konnte.

Die Entführung des Prinzen in der Erzählung der Wittwe Simon’s hätte offenbar das Einverständniß und die Mitwirkung von damals, d. h. im Jahre 1794, einflußreichen Männern zur Voraussetzung gehabt. In dieser Beziehung ist von verschiedenen Seiten her auf Cambacérès hingewiesen worden. Der über gar Manches, was hinter den Coulissen der Revolutionsbühne vor sich gegangen, wohlunterrichtete Verfasser der „Histoire secrète du Directoire“ – man schreibt sie dem Grafen Fabre de l’Aude zu – meint: „Es scheint gewiß, daß man das Publicum hinsichtlich der Zeit und des Ortes, wann und wo Ludwig der Siebzehnte gestorben, getäuscht hat. Cambacérès gab das zu; aber niemals wollte er mittheilen, was er über diese Angelegenheit [219] wußte“. Im Mai von 1799 sodann schrieb die Gräfin d’Adhémar, gewesene Palastdame der Königin Marie Antoinette, in das Buch ihrer „Souvenirs“, indem sie auf den Dauphin zu reden kam: „Unglückliches Kind, dessen Regierung in einem Kerker begonnen und beschlossen wurde, das aber doch nicht in diesem Kerker den Tod gefunden hat! Gewiß, ich meinerseits will in keiner Weise die Anhaltspunkte vermehren, welche Betrügern sich darbieten könnten; aber, indem ich dieses niederschreibe, bezeuge ich bei meiner Seele und bei meinem Gewissen: ich weiß bestimmt, daß Se. Majestät Ludwig der Siebzehnte nicht im Tempelkerker gestorben ist. Sagen zu können, wohin der Prinz gekommen und was aus ihm geworden, behaupte ich nicht; ich weiß es nicht. Nur Cambacérès, der Mann der Revolution, wäre im Stande, meine Angabe zu vervollständigen; denn er weiß hierüber viel mehr als ich…“ Da hätten wir ein recht förmliches und feierliches Zeugniß. Schade nur, daß dasselbe anfechtbar. Die „Erinnerungen“ der Gräfin d’Adhémar rühren nämlich großen Theils nicht von ihr selbst, sondern von dem Baron Lamothe-Langon her, auf welchem der wohlbegründete Verdacht ruht, Wahrheit und Dichtung häufig so vermischt zu haben, daß man Mühe hat, zu unterscheiden, wo jene aufhört und diese anfängt. Jedoch ist gerade in Betreff der angeführten Stelle wohl zu beachten, daß Lamothe-Langon einer der vertrautesten Hausfreunde von Cambacérès gewesen ist und demnach allerdings von der allfälligen Betheiligung des Letzteren an der Entführung des Dauphin, wenn nicht Alles, so doch Etwas wissen konnte. Die Vermuthung, daß Cambacérès wirklich bei der Sache betheiligt gewesen, gewinnt einigermaßen an Bestand dadurch, daß die Bourbons nach ihrer ersten Rückkehr (1814) und sogar nach ihrer zweiten (1815) dem Mann eine ganz merkwürdige, geradezu auffallende Schonung angedeihen ließen, dagegen mit ebenso auffallender Hast sofort nach seinem Tode seine Papiere versiegeln und mit Beschlag belegen ließen. Hatte man aus dem Munde des lebenden oder aus den Papieren des todten Cambacérès eine Enthüllung des Tempelgeheimnisses zu befürchten? Denn wir müssen uns stets gegenwärtig halten, daß es für Ludwig den Achtzehnten, wie für Carl den Zehnten, und auch nachmals für den Julikönig Louis Philipp von höchstem Interesse war, das Räthsel des Tempels ungelöst zu lassen und jeden neuauftauchenden Zweifel an dem angeblich im Tempel erfolgten Tod des Dauphin sofort niederzudrücken.

(Schluß folgt.)




Bilder aus dem Thiergarten.
Von Brehm.
5. Der König des Alpenwildes.

„Soeben,“ schreibt mir ein als Naturforscher berühmter Freund, „erhielt ich wieder einige Hefte des ‚Thierlebens‘ und will Ihnen meinen Dank für das Buch auch dadurch beweisen, daß ich Sie auf einen entschiedenen Irrthum aufmerksam mache, auf welchen ich soeben beim Durchblättern der Hefte stoße. Sie sagen nämlich: Der Steinbock, dem Aussterben nahe, findet sich nur noch auf den Hochgebirgen um den Monte Rosa herum. Dies ist nun entschieden unwahr. Der Steinbock ist auf den Gebirgen um den Monte Rosa herum längst ausgerottet und zwar vollständig. Die letzte und einzige Zufluchtsstätte dieses edeln Wildes ist jetzt das den grajischen Alpen angehörige Gletschergebiet des Val Cogne in Piemont, eine Alpenwelt im höchsten Style, deren prachtvolle Hochgipfel ich noch ganz kürzlich, auf einer Reise durch’s Aostathal und noch weit herrlicher vom Gipfel des neuntausend Fuß hohen Cramont zu bewundern Gelegenheit hatte. Also nochmals gesagt: es sind allein und ausschließlich die grajischen Alpen, deren allererhabenste Gletschergebiete der Steinbock noch bewohnt. Ich habe im vergangenen Sommer den Monte Rosa von allen Seiten kennen gelernt, also nicht nur die Schweizer Seite, die Jedermann kennt, sondern auch die piemontesische, die entlegenen Thäler Val Anzasca, Val de Lys, Val Sesia, deren obere Enden von Gletschern des Monte Rosa ausgefüllt werden. Dort überall kennt man den Steinbock gar nicht, und auch die prachtvolle Gehörnsammlung des Baron Beck in Gressonay, St. Jean im Val de Lys, stammt von Steinböcken her, welche im Cognethal erlegt wurden.

So weit für dieses Mal. Ihr Buch ist zu gut, als daß grobe Fehler über europäische Thiere darin vorkommen dürfen.“

Also wiederum weiter zurückgedrängt, auf ein noch kleineres Gebiet beschränkt, der Vernichtung noch näher gebracht – so dachte ich, als ich diese Zeilen las. Die Stelle meines Buches, welche von meinem Freund berichtigt wurde, hatte ich aus Tschudi’s allbekanntem „Thierleben der Alpenwelt“ entnommen und zwar aus der vor zehn Jahren erschienenen zweiten Auflage. Ich durfte also mit Sicherheit annehmen, daß zu jener Zeit die Steinböcke noch um den Monte Rosa herum vorgekommen waren. Wenige Tage später sandte mir Tschudi die siebente Auflage seines Werkes, welche die Jahreszahl 1865 trägt. Ich war begierig, zu erfahren, ob der Schweizer Naturforscher von dem Verschwinden des Steinwildes am Monte Rosa Kunde erhalten habe, fand jedoch, daß das nicht der Fall war. „Es war um so erfreulicher,“ sagt Tschudi, „daß seit etlichen Jahren diese stolzen Thiere plötzlich ziemlich zahlreich am Monte Rosa erschienen, wo man zum letzten Male in den siebenziger Jahren des vorigen Jahrhunderts etwa vierzig Stück beisammen, dann aber mehr als fünfzig Jahre lang kein Exemplar mehr gesehen hatte. An den Aiguilles rouges und den Dents bouquetins in der Nähe der Dents blanches schoß man dann vor dreißig Jahren, wie man glaubte, die letzten Steinböcke, und als man einige Jahre später auf der Seite gegen Arolla sieben solcher Thiere durch eine Lauine verschüttet fand, hielt man sie für nun völlig ausgerottet. Wirklich bemerkte man auch zwölf Jahre lang keine weiteren Spuren. Heute sieht man, ohne Zweifel in Folge des in Piemont sechszehn Jahre lang streng eingehaltenen Jagdverbotes, im südlichen Monterosagebirge und in dessen Verzweigungen als Seltenheit wieder Familien von zehn bis achtzehn Stück beieinander, doch kaum auf Schweizergebiet.“ Tschudi’s Angabe stützt sich, wie er weiter unten sagt, auf ganz bestimmte Thatsachen. „Der Naturforscher Nager in Andermatt hat in den letzten Jahren an vierzig Steinböcke vom Monterosa erhalten,“ und Tschudi selbst wurden drei ausgezeichnet schöne Steinböcke, welche im November und December 1853 am Monte Rosa geschossen worden waren, zur Messung und Beschreibung zugesandt. Meines Freundes Behauptung also kann sich nur auf die allerletzte Zeit beziehen.

Ich beabsichtige nicht, eine ausführliche Beschreibung des Steinbocks und seines Freilebens zu geben, da ich annehme, daß Tschudi’s mustergültiges Werk dem größten Theile der Leser dieses Blattes bekannt sein dürfte oder bekannt sein sollte. Auch habe ich selbst den Gegenstand erst vor Kurzem des Breiteren behandelt. Es mag daher genügen, wenn ich hier hervorhebe, daß der sogenannte europäische Steinbock (Capra Ibex) ausschließlich noch in dem gedachten sehr beschränkten Alpengebiete vorkommt, daß er aber keineswegs allein der europäische Steinbock ist; denn auch die Pyrenäen und ihre Verzweigungen, die mittel- und südspanischen Gebirge, der Kaukasus, der Altai, die Insel Kreta und einige Cykladen beherbergen Steinböcke, über deren Artselbstständigkeit oder, was dasselbe sagen will, Verschiedenheit von dem Alpensteinbock kaum Zweifel herrschen können, obwohl einige Forscher solche hervorgerufen haben. Gewiß ist, daß alle bekannten Steinböcke sich ebenso sehr hinsichtlich ihrer Gestalt ähneln, wie bezüglich ihres Lebens und Wesens. Ich will hier nur im Auszuge die Beschreibung wiedergeben, welche der alte Geßner vor nunmehr fast dreihundert Jahren von dem theilnahmswerthen Thiere entworfen, und Dr. C. Forer in’s Deutsche übersetzt hat.

„Vnder die wilden Geissen wirdt auch der Steinbock gezelt, ein wunderbarlich geschwind thier: wonet in den höchsten plätze vn orte der Teütschen Alpen, felsen, schraafen, vnd wo es alles gefroren, yß vnd schnee ist; denn von seinen natur har erforderet er kelte, sunst wurde er erblinde …

,Die Jeger,’ spricht Johannes Stumpffius in seiner Chronica, [220] ‚treybend solche thier auff hohe vnd glatte felsen, von welchen so sy nit springen, oder sunst sich entledigen mögend, so wartend sy fleyssig des Jegers, stond still, nemmend war, ob yenen inen ein schrunden zwüschend dem Jeger vnd felsen möge sichtig werden. Wo inen in solchem gelingt, so farend sy mit grosser Bngestümigkeit hindurch, vnd stürmend den Jeger hinab. Wo aber der Jeger in dem das er naher steygt, so glat vnd aben sich an den felsen helt, daß im auch gantz kein durchgesicht mag werden, so bleybt das thier still ston vnd wirt also eintwäders gefangen oder getödt?‘

Ettlich Jeger sprächend, so der Steinbock mercke, daß er sterben müsse, so steyge er auff den allerhöchsten schroffen des gebirgs, vnd stütze sich mit dem Horn an ein Felsengang also ringweyß härumb, höre nit auf, byß das Horn abgeschliffen, er falle vnd also sterbe.“

In diesen Angaben lernen wir die Quelle aller der Lagen und Fabeln kennen, welche in späterer Zeit über den Steinbock in Umlauf gesetzt worden sind. Gegenwärtig wissen wir mehr und Bestimmteres über das Thier, jedoch immer noch wenig genug.

Die Steinböcke bewohnen den Gürtel der Hochgebirge dicht unter dem ewigen Schnee und nur die Ziegen mit den Jungen steigen tiefer in die Gebirge herab. In Spanien, auf den griechischen Inseln, am Kaukasus und auf dem Altai treiben sich die Rudel oft in tieferen Gebieten umher; bei Gefahr aber steigen alle zu den eisigsten Höhen empor. Mit Einbruch der Dämmerung ziehen sie weit abwärts, mit Tagesanbruch kehren sie zu ihren Höhen zurück.

Im Winter kommen sie bis zur oberen Waldgrenze herab. Ihre Nahrung besteht in saftigen Alpenpflanzen, Gräsern, Baumknospen und dergleichen, im Winter in den Sprößlingen und der Rinde der Nadelbäume, sowie in Flechten. Die Paarung fällt in den Januar und erregt die ohnehin streitlustigen Böcke auf das Höchste. Nach ihr trennen sich die Böcke von den beschlagenen Geisen und einsiedlern, während die Ziegen eigene Rudel bilden. Im Mai oder Juni geschieht der Wurf des Jungen, welches schon wenige Tage nach seiner Geburt der Mutter überall hin zu folgen vermag.

Um diese Zeit allein ist es möglich, einen Steinbock lebend zu fangen. In welcher Weise dies eigentlich geschieht, ist mir unklar. Tschudi erwähnt, daß Nager wilde Steinziegen durch eine Anzahl von Jägern aussuchen und eine Zeit ununterbrochen beobachten ließ. Wenn die Stunde getroffen und der Ort zugänglich war, so konnte bei großer Eile das Junge erhascht werden; war es aber einmal erst trocken geworden, so war es nicht mehr zu ereilen. Nager hatte den rühmlichen Entschluß gefaßt, den St. Gotthard wieder mit Steinböcken zu bevölkern, besaß auch einmal bereits eine Herde von acht Stück Steinwild auf einer Alm. Wie es mit dieser Zucht gegenwärtig steht, weiß ich nicht, wohl aber kann ich mittheilen, daß Nager unserm Thiergarten lebende Steinböcke zum Kauf angeboten hat und mit Bestimmtheit hofft, solche für uns erlangen zu können.

Ueber das Gefangenleben der Steinböcke liegen vielfache Beobachtungen vor, denn bereits seit Jahrhunderten wurde Steinwild in Zwingern gehalten, hauptsächlich der Zucht halber. Auch die auf unserer Abbildung dargestellten Thiere sind nach einer im Gebiete der norischen Alpen von einem österreichischen Fürsten gehegten Steinbockfamilie gezeichnet. Man glaubte, durch in der Gefangenschaft geborene Thiere dieser Art die Alpen wieder bevölkern zu können. Namentlich die Bischöfe von Salzburg und die österreichische Herrscherfamilie haben sich angelegen sein lassen, Steinwild in der Gefangenschaft zur Fortpflanzung zu bringen. Dabei sind nun viele und wichtige Beobachtungen gemacht worden. Es ist nicht immer möglich, Steinböcke und Geisen zu erhalten; deshalb wurde Steinwild mit passenden Hausziegen gekreuzt. Aus diesen Kreuzungen gingen kräftige Bastarde hervor, welche sich durchgehends wieder fruchtbar zeigten und der beliebten Einpaarlertheorie geradezu widersprachen. Die gläubigen Naturforscher ließen sich jedoch dadurch von der Unhaltbarkeit besagter Theorie keineswegs überzeugen, sie nahmen einfach an, daß der Steinbock nichts weiter als eine wilde Ziege, oder umgekehrt, daß unsere Ziege ein gezähmter Steinbock sei. So war die Unanfechtbarkeit der paradiesischen Sage gewiß und die Einheit des Menschengeschlechts wieder einmal gerettet. Leider geben die Naturforscher, welche sich der alten Sage und ihren Vertreten, gefügig zeigen, nicht folgerichtig zu Werke. Viele von ihnen wenigstens erkennen in den übrigen Steinböcken selbstständige Arten und widersprechen dadurch sich selbst; denn alle übrigen Steinböcke, welche bis jetzt in der Gefangenschaft gehalten wurden, paaren sich anstandslos und erfolgreich mit Hausziegen und erzeugen mit diesen Bastarde, welche unzweifelhaft ebenfalls fruchtbar sein werden. Der Hamburger Thiergarten besitzt gegenwärtig einen sibirischen Steinbock, welcher sich mit einer gewöhnlichen Hausziege gepaarthat und Nachkommenschaft erwarten läßt. Diese Jungen werden beweisen, daß auch sie den neuesten Erfahrungen über Bastarde nicht widersprechen; auch sie werden sich mit jeder Ziege oder jedem Steinbock und bezüglich Steinbockbastard fruchtbar vermischen.

In ihrem Betragen scheinen alle Steinbockarten übereinzustimmen. Ihr Wesen ähnelt dem unserer Ziegen außerordentlich; doch spricht sich auch in den Bastarden noch alle Kraft und Selbstständigkeit eines freigeborenen Thieres aus. Die Steinböcke sind entschieden selbstbewußter, als die Ziegen. In frühester Jugend sind alle ungemein liebenswürdig; dies ändert sich aber mit den Jahren: sie nehmen nicht, wie an Alter, so auch an Weisheit und Gnade zu, sondern höchstens an Wildheit und Ungezogenheit. Zu Anfang dieses Jahrhunderts züchtete man in Bern sehr eifrig Steinböcke. Man wies den Thieren einen Theil der Stadtwälle an, nährte sie entsprechend und erhielt mehrere Junge. Weder diese noch ihre Eltern gaben dem Menschen gegenüber Liebe oder Furcht zu erkennen. Auf den Wällen, auf welchen sie sich munter umhertrieben, machte der Bastardbock nicht selten Angriffe auf die Schildwache und wurde dadurch bald sehr verhaßt. Mehr als einmal unterbrach er die astronomischen Beobachtungen, welche von der nahen Sternwarte aus im Freien angestellt wurden. Später gefiel er sich an dem Spaziergange der guten Bürger theilzunehmen und die Leute, welche sich vergnügen wollten, in die Flucht zu schlagen. Schließlich fiel es ihm ein, die Dächer der Gebäude zu besteigen und hier die Ziegel zu zertrümmern. Zahlreiche Klagen wurden laut über eine derartige Selbstständigkeit des freigeborenen Wesens, und die hochwohlweise Behörde sah sich genöthigt, gedachten Klagen Rechnung zu tragen. Der neckische Bock wurde feierlich verbannt. Man wies ihm und seiner Gesellschaft den Abendberg bei Interlaken an. Seine Gemahlinnen, die Ziegen, fanden die eisigen Höhen bald nach Wunsch; der Bock aber glaubte den bewohnten Gürtel des Gebirges der Nähe der Gletscher vorziehen zu müssen. Er besuchte zuerst freundschaftlich die Alpenhütten, befreundete sich hier inniger mit den Ziegen, als den Sennen lieb war, und wurde zuletzt an den Sennereien ein so regelmäßiger und zudringlicher Gast, daß er sich durchaus nicht mehr vertreiben ließ, sondern von seinem starken Gehörn den ausgiebigsten Gebrauch machte. Es kam zu argen Thätlichkeiten und schließlich zu Raufereien zwischen ihm und den Sennen. Gewaltthätigkeiten und Unfug aller Art machten endlich seine Fortschaffung gebieterisch nothwendig. Vier starke Männer wurden beordert, ihn weiter hinauf in’s Gebirge zu bringen. Dies war aber keineswegs eine leichte Arbeit; denn der kräftige Bock warf oft sein gesammtes Geleite zu Boden.

Ein starker Gemsjäger, welcher nun mit besonderer Vorliebe die Aussicht über das Steinwild übernahm, hatte auch seine Noth; denn namentlich der Bock schien von Dankbarkeit keinen rechten Begriff zu haben. Einmal forderte er seinen Hüter zu einem Zweikampf heraus, welchen dieser wohl oder übel annehmen mußte, weil sich der Vorfall hart am Rande eines Abgrundes zutrug und der Bock die entschiedenste Lust bezeigte, seinen Herrn und Gebieter da hinabzustürzen. Der Mann mußte eine volle Stunde mit dem Thiere ringen. Bald machte der Bock auch in jenen Höhen sich wieder furchtbar. Er wurde zum Schrecken aller Sennen; sein Freiheitsdrang litt keine polizeiliche Beaufsichtigung. Wenn es ihm behagte, ging er wieder in die Tiefe herab, und wenn ihn der Gemsjäger glücklich wieder hinauf gebracht hatte, war er gewöhnlich schneller wieder unten als jener. Dann stieß er mit seinem mächtigen Gehörn die Thüren in den Ställen ein, falls er hier Ziegen gewittert, und wurde zuletzt so übermüthig, daß allmänniglich vor ihm flüchten mußte. Seine Thätigkeit war in einer Hinsicht von dem besten Erfolge gekrönt. Besagter Bock hatte nach kurzer Zeit eine zahlreiche Nachkommenschaft mit den Hausziegen der Alpen erzeugt und diesen viele von seinen Tugenden vererbt. Daß Blut „ein ganz besonderer Saft“ ist, erwies sich auch hier. Die Nachkommen unseres

[221]

Steinwild in den norischen Alpen.
Nach der Natur gezeichnet von F. Pausinger.

[222] Bockes liebten das Erhabene; sie erkletterten die höchsten Spitzen, verführten die sittsamen Hausziegen zu ähnlichen Streichen und verwandelten schließlich die Milch der frommen Denkungsart dieser Thiere und ihrer Herren oder Herrinnen in eitel gährend Drachengift. Von Neuem wurde die höhenbewohnende Menschheit klagbar, und eine neue Versetzung des Bockes war die Folge. Man wies ihm die Grimselalpe an; aber auch hier blieb er sich treu, und so wurde schließlich ein hochnothpeinliches Halsgericht über ihn verhängt und der freiheitsdurstige, urkräftige Gesell laut Richterspruch vom Leben zum Tod gebracht.




Erinnerungen an einen Jüngstgeschiedenen.

An einem Sommerabend des Jahres 1843 trat ich in eine jetzt nicht mehr vorhandene Restauration der innern Dresdner Straße zu Leipzig. Zu der Gaststube fand ich, außer dem Wirth, nur zwei junge Männer von ziemlich gleichem Alter. Machte der eine durch seine zierliche elegante Erscheinung, sowie durch seine gewählte Ausdrucksweise sofort den Eindruck des weltmännischen Gelehrten, so verrieth dagegen der andere durch sein über die Gebühr langes Haar, durch seine nichts weniger als salonmäßigen Gebehrden und Bewegungen, zugleich aber auch durch seine geistreich-originelle Sprache den genialen Sonderling.

Die beiden Herren unterhielten sich über Musik. Aus den Aeußerungen des Erstern ging hervor, daß er, obschon Musikfreund von feinem Geschmack, doch nicht eigentlicher Musikkenner war, während man dagegen an den Bemerkungen des Zweiten sofort hörte, daß man es in ihm nicht blos mit einem begeisterten Freunde der Musik, sondern auch mit einem gründlichen Kenner, ja vielleicht mit einem ausübenden Jünger dieser Kunst zu thun hatte. Nachdem sie so eine lange Weile miteinander disputirt, bemerkte der Eine, es sei doch eigentlich wohl schade, einen so schönen Abend in der Stube zu versitzen, und der Andere erklärte sich sofort bereit, noch einen Spaziergang um die Promenade herum oder, wie wir Leipziger sagen, „um’s Thor“ zu machen.

Beide empfahlen sich demgemäß freundlich grüßend, und mein Erstes war natürlich, mich bei dem Wirth nach den Namen dieser beiden interessanten Persönlichkeiten zu erkundigen, denn sein cordiales Benehmen gegen sich ließ mich vermuhen, daß sie zur Zahl seiner Stammgäste gehörten. Mit einem gewissen Stolz theilte der Wirth – in seiner Art ebenfalls ein Original – mir mit, der kleinere, elegantere der beiden Herren sei der Privatgelehrte Dr. W., der andere dagegen, der langhaarige Sonderling, der Dichter Otto Ludwig. Dr. W. war mir, wenn auch nicht persönlich, doch aus Bücheranzeigen bereits als schon damals geschätzter Orientalist bekannt, von einem Dichter Otto Ludwig aber hatte ich bis dahin eben so wenig gehört, wie die ganze übrige Welt, mit Ausnahme einiger Journal- und Theaterdirectionen.

Auch ich verließ die Restauration sehr bald und machte in gleicher Weise einen Gang „um’s Thor“. In der Nähe des sogen. Thomaspförtchens angelangt, wollte ich hier in die Stadt einbiegen, als ich, auf einmal die beiden Herren vor dem Bachdenkmale stehen sah, welches vor etwa einem Jahre au dieser Stelle errichtet worden. Beide schienen abermals in einem freundschaftlich-humoristischen Streit begriffen zu sein, welcher sich um die Vorzüge und Mängel des fraglichen Denkmals drehte. Otto Ludwig war trotz seiner Brille ungemein kurzsichtig und wohl überhaupt nicht der Mann, der ihm gleichgültige Personen sonderlich scharf in’s Auge faßte. Doctor W. dagegen erkannte mich, als ich näher kam, sofort wieder, drehte sich lachend nach mir herum und sagte: „Da sehen Sie, Ludwig, hier kommt der Herr, der uns heute Abend schon einmal zugehört hat. Soll ich ihn bitten, unser Schiedsrichter zu sein?“

„Ich bin’s schon zufrieden,“ entgegnete Ludwig in seinem thüringischen singenden Dialekt, indem er sich zugleich das Haar aus den Augen schüttelte.

Doctor W. trug mir nun die von ihm in sophistisch-satirischer Weise angeregte Streitfrage vor, Ludwig suchte mit einigen treffenden und zugleich grundehrlich-gutmüthigen Bemerkungen den von ihm eingenommenen Standpunkt zu rechtfertigen, und ich strebte mich dadurch aus der Affaire zu ziehen, daß ich eine ausweichende Antwort gab, welche gleichwohl beide Theile amusirte und zufrieden stellte. Doctor W. fragte mich hierauf, ob ich geneigt sei, mit ihm und seinem Freunde, den er, eben so wie sich selbst, mir in kurzen Worten vorstellte, noch ein Stündchen in einem nahegelegenen Kaffeegarten zu verplaudern.

Mit Freuden nahm ich den Vorschlag an und noch heute ist mir der mir dadurch gewordene interessante Abend unvergeßlich. Dies war der Anfang einer Bekanntschaft und spätern innigen Freundschaft, welche uns beinahe zwei Jahre lang tagtäglich zusammenführte und die nur durch äußere Ereignisse unterbrochen ward. Doctor W. habilitirte sich an der Universität zu Berlin und bekleidete später einen diplomatischen Posten in Syrien, von welchem er erst vor wenigen Jahren mit einer reichen Ausbeute an Schätzen der orientalischen Linguistik nach Preußen zurückgekehrt ist. Otto Ludwig fand die Ebene von Leipzig auf einmal unerträglich und geisttödtend und begab sich nach einem im Triebischthale bei Meißen romantisch gelegenen Dörfchen, wo er schon früher einmal einige Monate verlebt. Ich blieb in Leipzig.

Otto Ludwig war, wie er mir erzählte, eigentlich zum Kaufmann bestimmt gewesen, hatte sich aber, nachdem er einen trefflichen Schulunterricht genossen, durch Selbststudien immer weiter ausgebildet. Schon als Knabe ein bedeutender phantasiereicher Pianist, hatte er sich später vorgenommen, Componist zu werden, und nach sorgfältigen theoretischen Studien sich auch praktisch vielfach versucht. Der Herzog von Meiningen hatte, durch Kenner und Kunstfreunde auf den genialen Jüngling aufmerksam gemacht, ihm eine für bescheidene Bedürfnisse hinreichende Jahresrente ausgesetzt, um ihm ein geregeltes und systematisches Studium der Tonkunst unter einem bewährten Meister zu ermöglichen. So war Ludwig nach Leipzig gekommen, um sich unter Mendelssohn-Bartholdy für den erwählten Beruf auszubilden.

Wie lange, mit welchem Eifer und welchem Erfolg Ludwig den Unterricht des berühmten Regenerators der Leipziger Gewandhausconcerte benutzte, kann ich nicht angeben, ich weiß blos, daß er zu der Zeit, wo ich ihn kennen lernte, der Musik als Lebensaufgabe gänzlich Valet gesagt und sich ausschließlich der Dichtkunst, namentlich der dramatischen, zugewandt hatte. Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß er nicht noch mit Liebe an der edlen Musica gehangen, oder die ausübende Fertigkeit verloren gehabt hätte. So oft er zu mir kam, lenkte er mit der Frage: „Ist es erlaubt?“ aber ohne die Antwort darauf abzuwarten, seine Schritte zunächst nach dem Flügel, öffnete denselben, setzte sich, oft ohne Hut und Ueberzieher abzulegen, und begann zu phantasiren, daß ihm der Schweiß von der Stirne troff, ohne daß es ihm in seinem Eifer eingefallen wäre, sich der ihm unter solchen Umständen so beschwerlichen Kleidungsstücke zu entledigen. Machte man ihn endlich darauf aufmerksam, so blickte er erst unwirsch, dann gutmüthig lachend empor, warf die schweißtreibenden Hemmnisse ab und stürzte sich mit frischer Kraft in die Wogen der Töne. Stundenlang habe ich ihm oft so zugehört und, während mir dieser Genuß beschieden war, zugleich innig beklagt, daß diese herrlichen, oft meisterhaft durchgeführten musikalischen Gedanken im engen Bereiche meines Zimmers verhallten und für die ganze übrige Welt verloren gingen.

Noch tiefere Trauer beschlich mich über den Verlust eines so seltenen musikalischen Schöpfungstalentes, als Ludwig mir bei dem ersten Besuche, den ich ihm machte, seine Compositionen zeigte. Es waren dies, außer einer Menge kleinerer Piècen, wenigstens acht bis neun vollständig ausgearbeitete Opernpartituren. Die Texte dazu hatte er sich ebenfalls selbst geschrieben. Erstaunt fragte ich ihn, ob er diese Arbeiten noch nicht einer Theaterdirection oder einem Musikalienhändler vorgelegt habe. Dr. W., der dabei zugegen war und schon oft seinen Freund angestachelt hatte, seine Arbeiten zu verwerthen, drang auch jetzt wieder vereint mit mir in ihn; aber Ludwig schüttelte blos sein langhaariges Haupt und sagte:

„Nein, es geht net. Die Sachen gefallen mir net mehr. Ich müßt’ sie erst noch mal umarbeiten und dazu Hab’ ich kei’ Lust.“

Was aus diesen Compositionen, den Erzeugnissen von hunderten durchwachter Nächte, die jedenfalls den Grund zu Ludwigs [223] schon damals zu ernsten Besorgnissen Anlaß gebender Kränklichkeit gelegt hatten, geworden ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat er sie, wie so manches andere seiner Geistesproducte, das ihm selbst nicht genügte, in einer Anwandlung von Spleen in’s Feuer geworfen. Dagegen beruhte seine ganze Hoffnung auf Ruhm und Erwerb damals auf seinen dramatischen Arbeiten. Er hatte deren seit einiger Zeit zwei vollendet und war so freundlich, sie mir zum Lesen zu geben.

Die erste war ein fünfactiges Schauspiel, welches unter dem Titel: „Der Engel von Augsburg“ die bekannte Geschichte der Agnes Bernauer zum Gegenstand hatte. In blühender, edler Sprache geschrieben und an poetischen Schönheiten fast überreich, war es meiner Ansicht nach würdig, den besten Erzeugnissen, welche unsere Literatur auf diesem Gebiete besitzt, beigezählt zu werden. Auf Antrieb des Dr. W., der überhaupt unablässig bemüht war, Ludwig zu einer energischeren Geltendmachung seines eigenen Werths aufzurütteln, hatte dieses Schauspiel schon bei einigen Bühnendirectionen die Runde gemacht, allein Niemand wollte von dem „Engel von Augsburg“ etwas wissen. Wer war auch Ludwig? Und wie konnte er erwarten, daß man mit den Erstlingen eines begabten Dichters experimentire, so lange das deutsche Theater noch von seinen gleichsam fest angestellten Lieferanten mit dein beliebten Mittelgute versorgt ward?

Ein gleiches Schicksal hatte das zweite Stück, ein Lustspiel unter dem Titel: „Hans Frei“. Es war eine in wunderschönen gereimten Versen geschriebene reizende Idylle, welche, gut dargestellt, die Gunst und den Beifall des Publicums unbedingt im Fluge hätte erobern müssen. Ebenso aber, wie der „Engel von Augsburg“, kehrte auch „Hans Frei“ von seinen Wanderungen stets wieder heim, ohne irgendwo gastliche Aufnahme gefunden zu haben. Oft sah man an der innern Verpackung des Manuskripts ganz deutlich, daß es gar nicht geöffnet und folglich auch nicht gelesen worden war. Einer jetzt, nach Ludwig’s Tode, veröffentlichten Zeitungsnotiz zufolge ist dieses Stück von einer Stelle, an die es ebenfalls versendet worden, gar nicht wieder zu erlangen gewesen und somit wohl als für immer verloren zu betrachten. Es ist mir, als sähe ich es jetzt noch vor mir liegen. Es war von einem Kalligraphen sehr sauber auf ganze Bogen abgeschrieben und in graumarmorirte Pappe gebunden.

Einen höchst eigenthümlichen Anblick bot Ludwig stets, besonders aber dann dar, wenn man ihn bei der Arbeit überraschte. In eine fast undurchdringliche Wolke von Tabaksdampf gehüllt, saß er tief über den Tisch gebeugt, mit einem um Stirn und Hinterkopf geknüpften Bindfaden, weil sonst sein lang herabfallendes Haar ihn am Sehen gehindert und das Geschriebene fortwährend verwischt haben würde. Dabei arbeitete er höchst unregelmäßig, zuweilen wochenlang gar nicht, oder kaum eine Stunde des Tages, wie nun eben sein körperlicher Zustand es gestattete.

Eines Tages, als ich gegen Abend bei ihm eintrat, saß er unbeweglich auf einem in der Mitte des Zimmers frei stehenden Stuhle und rief mir flüsternd zu, daß ich nicht näher kommen, sondern an der Thür stehen bleiben möchte. Da ich seine wunderlichen Launen kannte, so kehrte ich mich natürlich an dieses Verbot nicht, sondern ging stracks auf ihn zu. Mit im ersten Augenblick unwilliger, dann aber sofort wieder freundlicher Miene erhob er sich und sagte, nun hätte ich den Zauber gestört und es sei ihm dies gewissermaßen selbst lieb. Er hätte nämlich, setzte er hinzu, seit länger als sechs Stunden so dagesessen, weil plötzlich eine Schaar von Liliputern oder winzigen Gnomen aus der Diele hervorgekommen, an seinen Füßen und Beinen emporgeklettert sei und sofort begonnen habe, auf seinen Knieen einen Thurm zu bauen, der bei meinem Eintritt schon ziemlich bis an die Decke des Zimmers emporgereicht habe. Natürlich habe er, um das Werk nicht zu stören, weder Hand noch Fuß zu rühren gewagt.

Dergleichen sonderbare Marotten, welche Jedem, der ihn nicht kannte, Zweifel an seinem Verstand eingeflößt haben würden, waren bei ihm nichts Seltenes, ohne jedoch für die Klarheit seines Denkens auch nur die mindeste nachtheilige Wirkung zurückzulassen. Mir, dem an regelmäßige Thätigkeit und bestimmte Arbeitsstunden Gewöhnten, kamen seine oft zu sehr außerordentlichen Tageszeiten stattfindenden Besuche zuweilen ein wenig ungelegen. Ich sah mich deshalb nothgedrungen, einmal eine kleine Andeutung hierüber fallen zu lassen. Diese aber genügte vollkommen, und nie setzte er seinen Fuß wieder über meine Schwelle zu andern Zeiten als solchen, wo er wußte, daß er mich nicht störte. Niemand konnte ängstlicher als er bedacht sein, der persönlichen Freiheit und den Lebensgewohnheiten eines Andern nie den mindesten Zwang anzuthun.

Eine ganz besondere Vorliebe besaß er für witzige Anekdoten und war im Erzählen solcher geradezu unerschöpflich. Ich hatte früher geglaubt, auf diesem Felde ebenfalls etwas zu leisten, mußte aber, nachdem ich Ludwig kennen gelernt, mir selbst gestehen, daß ich ihm auch in diesen Allotriis, wie man zu sagen pflegt, nicht das Wasser reichte. Oft machten wir, Dr. W. und ich, es uns zum Spaß, bei irgend einem Gegenstände der Unterhaltung ihn zu fragen: „Wie war doch gleich die Anekdote, die Sie einmal hierüber erzählten?“ Es war dies natürlich von unserer Seite blos ein harmloses Vorgeben, um ihn in Verlegenheit zu bringen. Dies gelang uns aber nie, denn nach kurzem Besinnen sagte er allemal: „Ach, das wird die gewesen sein!“ und dann erzählte er eine Anekdote über den fraglichen Gegenstand, mochte derselbe nun sein, was für einer es immer wollte.

Sein geistiges Schaffen war schon damals in der Idee als abgeschlossen zu betrachten, wenigstens hat er in der Folgezeit nichts gedichtet, was mir nicht nach seinen natürlich nur in großen Umrissen gemachten Miltheilungen noch vor der Ausarbeitung bekannt gewesen wäre. Zu Allem, was ihn später auf einmal so bekannt und berühmt machte, zu dem „Erbförster“, dem Roman „Zwischen Himmel und Erde“, zu den „Malkabäern“, den „Thüringer Naturen“ etc. trug er die Entwürfe bereits fertig mit sich im Kopfe herum, und Dr. W. wird sich, wenn er dies lesen sollte, jedenfalls noch recht wohl erinnern, wie oft diese Entwürfe der Gegenstand unserer Unterhaltung mit dem genialen Freunde waren.

Nach seinem Weggange von Leipzig besuchte ich ihn einmal in seinem geliebten Triebischthale. Es war gegen zehn Uhr Morgens, als ich die Hammermühle, in der er seine Wohnung genommen, erreichte. Ich fragte die Arbeiter, die jedenfalls schon seit vier oder fünf Uhr auf den Füßen waren – es war im Monat Juli – nach seinem Zimmer. Die rußigen Gesellen fletschten lachend die weißen Zähne und sagten, ich würde ihn jedenfalls noch im Bett finden. Und so war es auch. Er lag, als ich bei ihm eintrat, in festem Schlaf und nachdem ich ihn geweckt und von ihm, wie immer, freundlichst bewillkommnet worden, erzählte er mir, daß er am Abend vorher nach seiner Gewohnheit in Wald und Flur umhergestreift sei, dann die Nacht hindurch gearbeitet und sich mit Tagesanbruch zu Bett gelegt habe. Sein körperliches Befinden hatte sich, wie auch sein Aussehen bewies, bedeutend gebessert. Da ich ihn nur wenige Stunden widmen konnte, so begleitete er mich zurück bis auf das Buschbad und hier schieden wir auf lange Zeit.

Erst nach elf Jahren, im Sommer 1856 sah ich ihn wieder. Er hatte sich mittlerweile verheirathet und seinen Wohnsitz in Dresden genommen. Auf mein Klingeln in seiner abgelegen in einem Garten der Vorstadt stehenden Wohnung ward mir die Thür von einem blühenden, etwa sechsjährigen Knaben geöffnet, den ich wenigstens nicht erst zu fragen brauchte, ob Otto Ludwig hier wohne, denn seine Züge waren ganz die des Vaters.

Der Knabe führte mich in ein kleines Zimmer, in welchem ich über eine Viertelstunde warten mußte, ehe mein alter Freund zum Vorschein kam. Sein Aussehen war, als er endlich eintrat, von der Art, daß ich förmlich darüber erschrak. Obschon erst ungefähr zweiundvierzig Jahr alt, machte er doch den Eindruck eines Siebzigers. Mit völlig ergrautem Barte, skeletartig abgemagert, krumm und gebeugt, schaute er mich hinter seiner Brille hervor aus seinen hohlen Augen mit einem Ausdruck an, der mir in’s tiefste Her schnitt.

„Kennen Sie mich noch?“ fragte ich, ihm die Hand bietend.

Er sah mich, noch eine Weile forschend an und rief dann mit freudigen Ausdruck: „Ah, das ist ja der Kretzschmar! Na, da kann ich gleich erst mei’ Pfeif’ holen.“

Und mit diesen Worten ließ er mich stehen und entfernte sich, um bald darauf mit der ihm nun einmal unentbehrlichen Tabakspfeife wiederzukommen. Wir setzten uns und begannen traulich zu plaudern, wie in alten Zeiten. Ich war damals kürzlich von einer Reise nach England und Frankreich zurückgekehrt und wußte daher mancherlei zu erzählen, was ihn, interessirte. Sein reger Geist und sein liebenswürdiges Gemüth schienen, so viel ich aus seinem Gespräch abnehmen konnte, durch die Leiden des Körpers [224] nicht beeinträchtigt worden zu sein. Später aber, als er nur endlich gestattete, seine zeitherigen Erlebnisse zum Gegenstand des Gesprächs zu machen, klagte er sehr, daß ihm das Arbeiten schwer, ja oft längere Zeit geradezu unmöglich werde.

Meine Frage, ob er nicht Lust habe mich auf einem Spaziergang durch die Stadt oder sonst wohin zu begleiten, beantwortete er lächelnd mit Nein und erklärte, daß er seine Wohnung fast gar nicht mehr verließe. Selbst ins Theater, wo man ihm einen ihm völlige Ungestörtheit bietenden Freiplatz eingeräumt hätte, käme er nicht. „Ich kann’s net vertragen,“ waren die Worte, wodurch er diesen Verzicht auf allen Umgang mit der äußern Welt motivirte.

Als ich nach etwa zweistündigem Verweilen bemerkte, daß – obschon er in seiner grenzenlosen Gutmüthigkeit es nicht gestehen wollte – ihm nicht blos das Sprechen, sondern auch das Hören beschwerlich fiel, erhob ich mich und schied mit dem Versprechen, ihn bald wieder zu besuchen. Ich habe ihn aber nicht wiedergesehen. Doctor W., der nach seiner Rückkehr aus Syrien unsern alten Freund ebenfalls besuchte, theilte mir auf der Durchreise durch Leipzig mit, daß er ihn, wie ich, nicht blos körperlich, sondern auch in einem gewissen Grade an geistiger Stumpfheit leidend gefunden. Er sei deshalb überzeugt, daß man ihm keine größere Wohlthat erzeigen könne, als wenn man ihn völlig ungestört ließe, denn selbst die Freude über den Anblick eines lieben Gesichts müsse bei seiner überaus großen Schwäche nachtheilig auf ihn wirken.

Oft bin ich seit jenem Tage wieder in Dresden gewesen, aber nie mehr mochte ich Ludwig in seiner Abgeschiedenheit stören. Ich zog es vor, mich durch dritte Personen nach seinem Befinden zu erkundigen. Die Nachricht von seinem Heimgang erschütterte mich tief, dennoch aber pries ich das Geschick, das dem edlen hohen Geiste endlich die Fesseln irdischen Siechthums abgenommen hatte.

Nur wenige sind der Werke, die dem Dichter zu schaffen vergönnt waren, diese wenigen aber sind in ihrer Art unübertroffene, glänzende Perlen unserer Literatur.[3]
August Kretzschmar.


Blätter und Blüthen.

Diebskerzen und Diebsfinger. Wie die Zeitungen berichten, ist zu Ellerwald bei Elbing in der Sylvesternacht ein grauenhaftes, fast unglaubliches Verbrechen begangen worden. Ein Arbeiter brachte mit kaltem Blute ein Frauenzimmer um, schnitt ihr Stücke Fleisch aus dem Leibe, schmorte dieselben und machte sich aus dem gewonnenen Fett eine Kerze. Die sogenannten „Grieben“ zehrte er auf. Man erkennt auf den ersten Blick, daß bei dieser Bestialität der furchtbarste Aberglaube im Spiele ist. In Wirklichkeit spukt, trotz der vielgerühmten Aufklärung unsers Jahrhunderts, noch so mancher finstere Wahn in den Köpfen, und namentlich hat es noch nicht gelingen wollen, den Aberglauben aus denselben auszutreiben. Es kann sonach nicht fehlen, daß hin und wieder selbst ein Verbrechen nicht gescheut wird, um zu dem abergläubischen Zwecke zu gelangen, wie in dem vorliegenden Falle. Eine weitverbreitete Sage ist, daß Derjenige, welcher ein aus Menschenfett gefertigtes Licht mit sich führe, unsichtbar werde; auch soll sich Derjenige, welcher Menschenfleisch, namentlich ein gekochtes Menschenherz ißt, unsichtbar machen können. Diese Sage ist uralt und tritt in mancherlei Varianten auf. In der Regel werden zu den Zauberkerzen die Finger neugeborener Kinder verwendet. Diese geben, angezündet, eine Flamme, welche „alle Leute im Hause schlafend erhält“. Sie machen also nicht gerade unsichtbar, sondern bewirken nur, daß diejenigen Personen, bei welchen der Dieb einbricht, nicht aus dem Schlafe erwachen. Auch wurden sie von Eingeweihten benutzt, um sich „fest zu machen“. In Bautzen wurden zu Anfange des siebzehnten Jahrhunderts zwei Mörder hingerichtet; diese hatten – natürlich auf der Folter – ausgesagt, daß sie, um sich fest zu machen, „neugeborener Kindlein Finger sich verschafft, in Bier gethan und sich gegenseitig zugetrunken“. Ferner graben die Hexen die Leichen kleiner Kinder aus und schneiden ihnen die Finger ab, um damit Zauberei zu treiben. Am 7. August 1619 wurde in Sorau ein Landsknecht mit glühenden Zangen gepeinigt, gerädert und noch lebend auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Dieser Landsknecht hatte – natürlich wieder auf der Tortur – bekannt, daß er drei Frauen ermordet und aus ungeborener Kindlein Därmen, die er über Breter gespannt und abgedörrt, sowie auch aus ihren Fingern Zauberdrähte zubereitet, diese mit Wachs von Altarkerzen überzogen und im Namen aller Teufel zu einer Kerze geformt habe. Einige dieser Zauberkerzen hatte er dem Koche auf dem Schlosse zu Sorau gegeben, der damit, wie die Chroniken melden, „erschreckliche Thaten“ verrichtete. Dieser Koch bekannte, peinlich befragt, daß er sieben Mordthaten begangen, und wurde auf wahrhaft kannibalische Weise hingerichtet. Glimpflicher kam ein Maurer in Ober-Haynewalde (Lausitz) davon, der einen Diebsdaumen von einem in Böhmen Gehenkten besaß, dies aber freiwillig auf dem deshalb von Edelleuten, Geistlichen und Schöppen abgehaltenen Gerichtstage eingestand; er wurde zwar zum Feuertode verurtheilt, aber später zu einer Woche Halseisen, Kirchenbuße und Geldstrafen begnadigt. In Böhmen findet sich die Sage von den Diebskerzen in folgender Gestalt: „Ein Dieb schneidet einem todten Kinde einen Finger ab und läßt ihn so lange trocknen, bis er sich anzünden läßt. Bei diesem Lichte kann er stehlen, so viel er will, ohne daß Jemand aufwacht und ihm das Handwerk verdirbt.“ Sodann: „Die Finger eines im Mutterleibe gestorbenen Kindes sind die besten Kerzen der Diebe: sie geben ihnen Licht und machen sie unsichtbar.“ – Das bei der früher erwähnten Art, Diebeskerzen anzufertigen, unerläßliche Menschenfett spielt in der Geschichte des Aberglaubens eine bedeutende Rolle. In Böhmen z. B. kommt es bei einem Aberglauben vor, bei dem es sich um die Erlangung der Fähigkeit handelt, zwölf Meilen in einer Stunde zurückzulegen. „Zur Erreichung dieser Macht wählt man einen Tag vor dem heiligen Johann dem Täufer. Zur Nachtzeit gehe an einen abgelegenen Ort, welcher dir für deine Zauberei gelegen zu sein scheint, und halte ein Holz zum Feuer machen bereit. Wenn es elf Uhr schlägt, mache um dich einen Kreis mit geweihter Kreide, zünde das Holz an und stelle darauf einen neuen, noch ungebrauchten Topf. Nun nimm Menschenfett und eine Eidechse, welche du früh vor Sonnenaufgang gefangen hast, und Kreuze machend wirf Beides mit den Worten in den Topf: ,Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, seid mir, ihr Geister des Windes, behilflich, daß mir meine Arbeit gelinge!’ Nach diesen Worten verharre im Schweigen, nach keiner Seite dich umschauend, es geschehe um dich, was da wolle, bis zur zwölften Stunde, wo, wenn dir die Arbeit gelungen ist, das Feuer plötzlich verlöschen muß. Wenn du dich mit Weihwasser besprengt hast, kannst du furchtlos aus dem Zauberkreise heraustreten. Mit der Flüssigkeit, welche im Topfe verblieben ist, beschmiere längliche Stücke von Gemsenleder, und hast du ein solches wunderwirkendes Pflaster auf den bloßen Leib gelegt, so wirst du wie ein Pfeil durch die Straßen fliegen und in jeder Stunde zwölf Meilen machen.“

Auch die Medicin schrieb dem Menschenfett außergewöhnliche Wirkungen zu. Es wird erzählt, daß im Jahre 1540 in Rochlitz ein Mordbrenner gehängt und sein Leichnam von anwesenden fremden Aerzten sceirt wurde. Nun war damals eine Rochlitzer Bürgersfrau schon lange Jahre hindurch an den Füßen dermaßen gelähmt, daß sie nur kümmerlich an Krücken im Hause umhergehen konnte. Diese bat die Aerzte, welche neben ihrem Hause in der Herberge lagen, sie möchten ihr doch etwas verordnen und von ihren Leiden helfen. Die Aerzte gaben ihr die Schienbeine von dem Leichnam und ließen ihr sagen, sie solle dieselben an den Ofen lehnen und ein sauber Geschirr untersetzen; was daraus herabtriefen werde, das solle sie gebrauchen und sich damit bei der Wärme schmieren. Die Frau thut es, meint aber, unter „gebrauchen“ sei „einehmen“ zu verstehen; sie solle also die eine Hälfte innerlich, die andere äußerlich anwenden. In diesem Sinne wurde denn auch zur Ausführung geschritten und die eine Hälfte mit Hülfe von Warmbier dem innern Menschen übergeben. Und siehe da! „Wie solches geschehen, Hilft ihr Gott, daß sie folgenden Tages ohne Krücken zu den Herren Aerzten gegangen kömmt und ihnen für die gepflogene Cur herzlich dankt, und ist sie seit dieser Zeit stets gesund geblieben und wie ein anderer Mensch ohne Krücken überall hingegangen.“ – Die Verwendung des Menschenfettes zu Diebeszwecken macht sich noch in der Geschichte der deutschen Räuberbanden von 1806-1813 bemerkbar, und in Oesterreich grassirt noch heute der Aberglaube, daß Jemand, der Menschenfett esse, am ganzen Leibe scheckig werde, als wäre er von einer ekelhaften Krankheit befallen; auf diese Weise könne ein junger Mann bei der Assentirung dem Militärdienst entgehen.




Ehrenrettung der amerikanischen Frauen. Die deutsche Presse, auch die Gartenlaube, hat sehr oft Veranlassung genommen, die Unthätigkeit der amerikanischen Frauen und deren Schlaraffenleben tadelnd zu schildern. Darauf Bezug nehmend, theilt uns ein seit mehr als zehn Jahren in New-York ansässiger Deutscher die folgenden Einzelheiten mit, die allerdings mit dem Bilde von den amerikanischen Frauen, wie es bei uns bis jetzt als Typus gegolten hat, scharf contrastiren.

Nach „Gutkow’s Unterhaltungen“ – schreibt der genannte Deutsch-Amerikaner – besckränkt sich die Aussteuer einer jungen amerikanischen Dame auf einen Rocking-Chair (Wiegenstuhl), und in ihrer Ehe hat die junge Dame nichts zu thun, als sich in besagtem Schaukelstuhl zu wiegen und Romane zu lesen.

Aehnliche Ideen habe ich oft in Deutschland, selbst von gutunterrichteten Leuten aussprechen hören; lassen Sie uns deshalb selbst einmal in ein amerikanisches Haus gehen und sehen, wie es darin aussieht.

Wir besuchen zu dem Ende eine Familie von mittlerem Wohlstand, die fast stets ein Haus allein für sich bewohnt; wir finden dieselbe äußerst comfortabel eingerichtet, Zimmer und Treppen mit Teppichen, die Hausflur und Küche mit Wachstuch belegt. Alles im Haus hat einen Anstrich von Behaglichkeit und was Reinlichkeit betrifft, die versteht sich beim Amerikaner von selbst. Haben wir das Haus von oben bis unten durchstreift, so finden wir acht bis neun Zimmer, Küche und Keller, die in Ordnung zu halten sind und, wie wir uns überzeugt haben, auch gehalten werden. Eine Hausfrau wird sich sehr schnell vorstellen können, was in einem solchen Haus zu thun ist. Dienstmägde sind anmaßend und kostspielig hier, und deshalb findet man selten mehr als eine Magd in mittelgroßen Familien.

Wer besorgt nun die Arbeiten des Haushalts? Gütige Feen oder Heinzelmännchen kommen in einem so prosaischen Lande, wie Amerika es ist, nicht fort, die Hausfrau und die Töchter sitzen den lieben langen Tag im Wiegenstuhl und lesen Romane – also bleibt der Arbeit nichts übrig, als sich selbst zu thun!


  1. Unsere Illustration ist nach einem Bilde des genialen Malers H. Plüdemann entworfen, das derselbe für die Stände der preußischen Rheinprovinz in Oel und in etwas veränderter Gestalt später auch für das Album des Königs von Preußen als Aquarell ausgeführt hat. Die Gartenlaube verdankt dem trefflichen Künstler bereits mehrere vorzügliche Illustrationen, so den Tod Andreas Hofer’s, Kauser Heinich IV. in Conossa, Otto von Wittelsbach und die päpstlichen Legaten.
    D. Red.
  2. Unser großer Seher, welcher von allen seit Shakespeare und Milton aufgestandenen Dichtern, obgleich oder vielmehr weil er ein Idealist war, am meisten historischen Sinn besaß, hat gegenüber dem geistes-mechanischen Zufallsglauben die weltgeschichtliche Logik schön erkannt und anerkannt, indem er seinen Wallenstein sagen ließ:

    „Es giebt keinen Zufall,
    Und was uns blindes Ungefähr nur dünkt,
    Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen.“

  3. In der nächsten Zeit werden wir ein ausführliches Lebensbild des Dichters mit dessen Portrait veröffentlichen. D. Red.