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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 6.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.





Unsichere Fundamente.
Erzählung von Otto Ruppius.


1.

Der wartende Postillon gab das zweite Signal für die noch zögernden Passagiere, und in der Thür des Posthauses erschien ein junger Mann in eleganter Reisekleidung, einen breiten Panamastrohhut über dem sonnengebräunten Gesichte, welches durch den leichten, tiefschwarzen Schnurrbart ein noch südlicheres Gepräge erhielt. „Mein Gepäck richtig untergebracht, Conducteur?“ fragte er, und in seinem Tone, wie in der Weise, den Kopf zu heben, lag, verbunden mit seiner ganzen übrigen Erscheinung, etwas, das an eine Lebensstellung mahnte, die sonst kaum eine Fahrt mit der ordinären Post erlaubt.

„Alles in Ordnung!“ war die bereite Antwort, unter welcher der Reisende langsam in den innern Raum des Wagens stieg, während sich hinter ihm die Thür schloß. Auf dem Rücksitze hatten schon zwei andere Passagiere Platz genommen, in der einen Ecke ein ältlicher, dickbeleibter Mann, der sich bereits zum Schlafen anzuschicken schien; in der andern eine dicht verschleierte weibliche Gestalt. Einen einzigen kurz musternden Blick warf der Eingestiegene über seine Reisegesellschaft, dann nahm er, wie der Nothwendigkeit folgend, den leeren Vordersitz ein – im Coupé wurde die Stimme des Conducteurs hörbar, und fort rollte der Wagen über ein Pflaster so rauh, daß vor den einzelnen Stößen sich die Hand des weiblichen Passagiers aus der leichten Umhüllung streckte, um an der Wagenthür einen Halt zu gewinnen, und wie unwillkürlich ward der Blick des jungen Mannes von diesem sich ihm neu bietenden Punkte festgehalten. Es war eine Hand, die unter dem Glacéhandschuh fast Kinderformen verrieth, und die feinen Finger schienen kaum der ihnen gestellten Aufgabe gewachsen zu sein. Aber der Wagen hatte bald die Stadt verlassen und bog in einen weichen Feldweg ein, die kleine Hand verschwand wieder, und nach einem Blicke in die bereits halb dämmernde öde Landschaft hinaus lehnte sich der junge Reisende zurück, drückte an Stelle des Strohhutes eine weiche seidene Mütze auf das dunkle lockige Haar und begann, in augenscheinlich gewecktem Interesse, mit halbgeschlossenen Augen weitere Beobachtungen an seinem Gegenüber anzustellen. Was er vor der halb zurückgefallenen Mantille entdecken konnte, war ein Oberkörper von feinen, jugendlichen Formen; ein modernes Hütchen deckte den Kopf, die Falten des Schleiers wehrten indessen jeden Blick in das Gesicht; der ganze Anzug war von einer fast gesuchten Einfachheit, in welcher dennoch das unbezeichenbare Etwas von Geschmack und Eleganz lag. Sie saß, seit der Wagen auf ebenen Weg gelangt, völlig regungslos in sich zurückgezogen, als wolle sie damit selbst jedem anzuknüpfenden Gespräche ausweichen.

Wohl über eine Stunde mochte der Wagen bei vollem Schweigen seiner Insassen den Weg verfolgt haben, und die Dunkelheit war während der Zeit mit Macht hereingebrochen, als die Frauengestalt die erste Bewegung machte, um ihren Hut abzunehmen und sich dann bequem in ihre Ecke zurückzulegen. Nur einen Moment hatte beim Vorbiegen der letzte Dämmerschein ihr Gesicht gestreift, aber es mochte genug gewesen sein, um den Beobachter zu versichern, daß er einem feinen, von üppigem Haar umrahmten Mädchengesichte gegenüber sitze; denn er richtete sich aus seiner nachlässigen Stellung auf, blickte einen Moment in’s Freie hinaus und, sagte dann, augenscheinlich nur, um das bisherige Schweigen zu brechen: „Eine wunderliche Straße nach einer Residenz; giebt es denn hier zu Lande keine Chausseen?“

Das Mädchen blieb schweigend, aus der andern Ecke aber klang die dicke Stimme des dritten Passagiers: „Sie werden weiter oben auf die Chaussee treffen, ich denke aber, es wird etwas Zeit brauchen, denn es hat hier hinauf die ganze letzte Nacht stark geregnet – das macht diese Art Communalwege immer schlecht genug!“

Der junge Reisende schien wenig geneigt, die Unterhaltung mit seinem andern Gegenüber fortzuspinnen, und das frühere Schweigen trat ein, bis nach einer halben Stunde bei völliger Dunkelheit der Wagen einem erleuchteten Wirthshause gegenüber hielt und der dickleibige Passagier mit einem „Wünsche allerseits gute Fahrt!“ den Raum verließ. In dem hereinfallenden Lichte aber ließ sich beim neuen Vorwärtsrollen bemerken, wie das Mädchen eng seine Kleider zusammennahm und sich dicht in die von ihm eingenommene Ecke schmiegte.

„Lassen Sie sich Ihre volle Bequemlichkeit, Fräulein,“ sagte der junge Mann, wie ihre Bewegung beantwortend, „ich behalte meinen jetzigen Platz; wollen Sie mir aber eine christliche Liebe erzeigen, so lassen Sie uns irgend etwas Gleichgültiges plaudern; ich gestehe Ihnen, daß ich diese kürzere Tour mit der gewöhnlichen Post nur aus einer Art Grille, um die bisherigen langen, eintönigen Extrapostfahrten zu vermeiden, genommen habe, und ich würde doch arg gestraft sein, wenn man bei diesem langsamen Vorwärtskommen sich stundenlang schweigend gegenübersitzen sollte. Sie sind in der Residenz bekannt, Fräulein?“

„Ich bin selbst dort zu Haus!“ klang es, noch wie in halber Scheu, im leichten, süßen Mezzosopran.

„O, so bin ich so glücklich, die ganze Tour mit Ihnen zu machen,“ erwiderte er, hörbar angeregt, „und Sie könnten mir vielleicht etwas über die dasigen Verhältnisse erzählen? Ich habe [82] mich wohl für längere Zeit dort aufzuhalten, bin aber so fremd im lieben Deutschland, welches doch eigentlich meine Heimath ist, daß selbst kleine Notizen mir einen Anhalt geben würden. Sie zählen vielleicht einzelne Bekanntschaften in den Familien der kaufmännischen Welt, Fräulein?“

„Ich glaube kaum, daß ich Ihren Wünschen genügen könnte, in welche Kreise sich auch meine Bekanntschaften erstrecken möchten!“ war die in einem Tone der Zurückhaltung erfolgende Antwort.

„Aber, Fräulein, wollten wir denn nicht plaudern, und ist dabei der nächste Stoff nicht der beste?“

„Ich entsinne mich nicht, daß ich irgend ein Versprechen abgegeben hätte!“ erwiderte sie wie verletzt durch die leichte, freie Weise des Reisegefährten.

Er schwieg, und erst nach einer Weile begann er in völlig verändertem, respectvollem Tone wieder: „Habe ich einen Verstoß begangen, so bitte ich, mir zu verzeihen, Fräulein; ich war so glücklich, angenehme Reisegesellschaft gefunden zu haben, daß ich vielleicht die deutsche Umgangsform verletzte.“ – Vergebens aber wartete er auf eine Gegenäußerung; sie schien ihre früher beobachtete Haltung behaupten zu wollen, und gleichfalls schweigend lehnte er sich wieder zurück.

Draußen hatte es nach einiger Zeit leicht zu sprühen begonnen; endlich schlugen schwerere Regentropfen, vom Winde getrieben, durch die offenen Fenster der Wagenthür in den innern Raum. Kaum aber hatte das Mädchen eine unruhige Bewegung gemacht, als ihr Begleiter auch schon rasch aus seiner geschützten Ecke sich erhob und das Fenster an ihrer Seite schloß. Nur ein kaum vernehmbarer Dank wurde ihm, und wortlos ging die Reise weiter. Immer schwieriger aber schien dem langsamen Fortbewegen des Wagens nach die Straße zu werden. Die aufmunternden Rufe des Postillons und einzelne Bemerkungen des Conducteurs wurden hörbar. Eine Zeitlang wiegte sich der Wagen wie ein Schiff auf bewegter See; plötzlich aber bog er sich so jäh zur Seite, daß das Mädchen mit einem halblauten Schreckensrufe von seinem Sitze auffuhr; im nächsten Augenblicke indessen stand das Gefährt still, und ein lauter Fluch des Conducteurs deutete ein besonderes Ereigniß an. Ein scharfes Anfeuern der Pferde, begleitet von dem Knallen der Peitsche, ließ sich jetzt vernehmen, aber der Wagen stand wie an den Boden geschmiedet in seiner schiefen Stellung, und der junge Mann steckte endlich, trotz des Regens, den Kopf zum Fenster hinaus. „Was ist es, Conducteur?“

„Der Teufel mag diesen Weg holen!“ klang es zurück; „wir sind in ein Loch neben der Straße gerathen, aber hier soll einmal Jemand trotz der Laterne die Straße erkennen. Die Herrschaften werden wohl aussteigen müssen. Es ist nur funfzig Schritte bis zur Schenkwirthschaft, dort wo das Licht scheint, wo ich auch Hülfe zu bekommen hoffe; aber es ist kein Fuhrwerk dort, sonst würde ich es herbeiholen!“

Das Auge des Reisenden hatte sich bei dem Worte „aussteigen“ auf den von der Wagenlaterne beschienenen Boden gerichtet, der aber nirgends etwas Anderes als eine gleichförmige Fläche von Schlamm zeigte. „Wie tief ist denn der See hier, ehe man festen Grund gewinnt?“ fragte er nach einer kurzen Pause mit durchklingendem Humor.

„O, es ist nicht so schlimm, wie es aussieht, und das Wenig Schmutz an den Füßen ist bald wieder beseitigt; nur für schwere Wagen hat der Satansboden bei Regenwetter seinen Haken!“ tönte die Rückantwort, und der junge Mann wandte sich nach seiner Reisegefährtin.

„Wir sitzen fest, Fräulein, und sollen durch ein Meer von Schlamm nach dem Wirthshaus dort drüben gehen, damit der Wagen wieder flott gemacht werden kann. Wollen Sie sich indessen einem Manne von Ehre anvertrauen, so bringe ich Sie trocknen Fußes hinüber!“

„Ich danke Ihnen, ich fürchte etwas Schmutz nicht!“ sagte sie, fast wie erschrocken sich erhebend; im gleichen Augenblick öffnete der Conducteur die Thür an dem hochstehenden Theile des Wagens, und als wolle sie jeder neuen Diensterbietung ausweichen, machte sie sich hastig zum Aussteigen fertig. Sobald sie aber die trostlose Aussicht auf die verschwundene Straße gewann und der Regen in ihr Gesicht schlug, wich sie einen halben Schritt zurück.

Ihr Reisegefährte trat indessen rasch an ihr vorüber und stieg vorsichtig in’s Freie hinaus. „Ist nicht etwa wieder ein Loch bis zu dem Hause dort?“ wandte er sich an den Conducteur, der bis über die Knöchel in dem aufgeweichten Boden stand und eben eine kleine Laterne anzündete.

„Ohne Sorge, meine Herrschaften, ich gehe voran; folgen Sie mir nur Schritt für Schritt, sobald Sie bereit sind!“

„Nun, Fräulein, Sie können hier nicht durch, und ich hoffe, Sie zieren sich nicht unnöthig,“ wandte sich der Reisende in einem Tone, der kaum einen Widerspruch zuzulassen schien, nach dem Mädchen zurück; „bitte, nehmen Sie meinen Ueberwurf um sich, Ihre Kleidung verträgt den Regen nicht, und vertrauen Sie sich dann ruhig meinen Armen – der Conducteur wartet!“

Sie antwortete nicht, aber trat wie in einem energischen Entschlusse auf den Wagentritt heraus, hier dennoch ihren Schritt wieder zögernd anhaltend. Er indessen hatte ohne ferneres Wort sich seines weiten Ueberrocks entledigt, legte diesen rasch um ihre Schultern und nahm sie dann, leicht wie ein Kind, in seine Arme. Ein Beben schien bei seiner Berührung durch ihren ganzen Körper zu gehen, und einen Moment war es, als wolle sie sich der aufgedrungenen Maßregel entziehen, er schien aber kaum ihre Bewegung zu fühlen. „ Vorwärts, Conducteur, damit wir in’s Trockene kommen!“ rief er, „und Sie, Fräulein, legen Sie Ihre Arme um meinen Hals, damit ich sichere Haltung in diesem schlüpfrigen Boden gewinne – wir stehen einmal jetzt unter dem Gesetz der Nothwendigkeit!“ und wie überwunden von ihrer Lage und seiner Bestimmtheit brachte sie ihre Hände über seine Schultern, sich damit einen festen Halt an ihm gebend.

Schritt für Schritt den Boden prüfend, dem sorgsam voranleuchtenden Conducteur nach, ward der Weg bis zu dem unweit stehenden Hause zurückgelegt, und auf der Schwelle der offenen Thür setzte der Reisende seine Last vorsichtig und discret nieder; der Conducteur hatte bereits die Thür des Zimmers geöffnet, und der Lichtschein fiel in das völlig bleiche Mädchengesicht, das außer seiner Formenfeinheit kaum etwas Anziehendes gehabt hätte, wäre ihm nicht durch ein Paar große langbewimperte Augen ein eigenthümlicher Reiz verliehen worden. Der junge Mann hatte ihr rasch seinen Ueberwurf abgenommen und deutete schweigend nach dem offenen Zimmer; da schoß indessen ein lebendiges Roth in ihre Wangen, der Ausdruck eines leichten, inneren Kampfes malte sich einen Moment in ihren Zügen, die in ihrer jetzigen Belebung einen ganz neuen Charakter von Reiz und Lieblichkeit gewannen, dann streckte sie ihm die Hand entgegen und sagte mit einem leisen Beben ihrer Stimme: „Ich bin Ihnen zu vollem Danke verpflichtet, mein Herr!“

Er berührte nur leicht ihre Finger. „Ich habe nichts gethan, als was sich von selbst verstand, Fräulein!“ erwiderte er; in seinem Tone aber lag eine Gehaltenheit, als wolle er in der bisher erlittenen Zurückweisung jetzt selbst verharren, und als er sie nach der von Gästen leeren Stube geleitet, wo sie nach kurzem Umblick einen der hölzernen Stühle am Fenster einnahm, wandte er sich nach dem Conducteur, welcher mit dem Wirthe und einem zweiten Manne bereits im lebhaften Gespräche stand. „Erhalten wir Hülfe?“ fragte er. „Wenn ein paar Thaler, auf die Hebebäume gelegt, schneller aus dem Loche helfen, so sollen sie da sein!“

„Ich denke’s schon!“’ lachte der Wirth, „es soll nicht gar zu lange dauern, ich kenne die Stelle. Damit sind Sie indessen über das Schlimmste weg und nach einer guten halben Stunde haben Sie die Chaussee.“

Und als die Drei eilig davongingen, folgte ihnen der Reisende, als sei er völlig allein, langsam bis zur Hausthür, von wo er in dem scharf sich abzeichnenden Lichtkreise der Wagenlaterne die Arbeiten zur Hebung des Wagens beobachtete, und erst, als dieser nach einer mühseligen Anstrengung der angepeitschten Pferde sich wieder in Bewegung gesetzt hatte, wandte er sich nach dem Mädchen im Zimmer zurück. „Wir werden in der nächsten Minute einsteigen können, wenn Sie sich bereit machen wollen!“ sagte er kühl, und sie wandte rasch den Kopf, die tiefdunkeln blauen Augen wie in scheuem Forschen über sein verändertes Wesen in sein Gesicht richtend. Er aber schien es kaum zu bemerken und nur dem Geräusche des herankommenden Gefährts zu horchen. „Da ist der Wagen, und wenn der Wirth Recht hat, so haben wir nichts weiter zu fürchten,“ fuhr er nach einer Pause fort, „ich bitte um Entschuldigung, wenn ich ohne Weiteres vorangehe; die Straße hat indessen zu viele Andenken an mir hinterlassen, als daß ich beim Nachfolgen damit Ihre Kleider in Gefahr bringen möchte.“ Und als jetzt vor dem Hause Peitschenknall laut wurde, [83] schritt er aus dem Zimmer, es dem eintretenden Conducteur überlassend, der Dame nach ihm in den Wagen zu helfen.

Von Neuem rollten die Passagiere, in den entfernten Ecken von einander sitzend, vorwärts, und von Neuem herrschte eine Zeit lang das frühere Schweigen. Da klang es endlich, als der Weg fühlbar besser wurde, von der Seite des Mädchens: „Ich will nicht fürchten, Sie in irgend einer Weise beleidigt zu haben.“

„Bitte unterthänigst!“ gab der junge Mann kalt zurück, „wenn ein Verstoß begangen worden ist, kann es nur von mir aus geschehen sein; ich vergesse immer noch zu oft, daß ich in Deutschland bin!“

Kein weiteres Wort erfolgte. Bald rasselten die Räder auf der harten Chaussee, und nach kaum einer Stunde wurde das Pflaster der beginnenden Residenz sichtbar. Die Pferde bogen endlich in das Gitterthor des Posthofes ein, und als der Conducteur den Kutschenschlag öffnete, erschien eine kleine, kahlköpfige Gestalt davor. „Fräulein Anna hier?“

„Ah, Willmann!“ rief das Mädchen lebendig, „ist sonst noch Jemand mit Ihnen?“

„Der Herr Papa waren zu sehr beschäftigt, aber der Wagen hält am Ausgange!“ war die Antwort, und die Angeredete beeilte sich, mit einem kurzen „Nochmals meinen Dank!“ sich gegen ihren Begleiter verneigend, den Raum zu verlassen.

Der junge Mann war ihr nachgestiegen, sah die graziöse Gestalt seiner Reisegefährtin von dem sie Erwartenden, der augenscheinlich eine Art Hausdiener vorstellte, sorgsam nach einer vor dem Gitter haltenden Equipage geleitet, dann diesen zurückkehren und einige kleine Gepäckstücke in Empfang nehmen. „So, so!“ murmelte er, als die Equipage mit dem Diener auf dem Bocke neben dem Kutscher davonrollte, „das war ein Irrthum, wenn ich auch kaum wußte, für was ich sie eigentlich nehmen sollte. Jedenfalls ein Paar prachtvolle, echt deutsche Augen! – Kannten Sie die Dame, welche mit uns ankam?“ fragte er den mit dem Ausräumen des Gepäckes beschäftigten Conducteur.

„Bedauere,“ sagte dieser, die Achseln zuckend.




2.

„Ich möchte Herrn Hellmuth um ein paar Minuten Gehör bitten!“

Der alte stattliche Mann, welcher auf einem hochbeinigen, bequemen Lehnstuhl vor einem eleganten Schreibpulte saß und in eine Berechnung vertieft gewesen zu sein schien, hob den grünseidenen Schirm von der Lampe vor sich und blickte dann in das hellbeschienene Gesicht des Sprechers. Es mußte etwas in dem Tone der wenigen Worte gelegen haben, welches dem Angeredeten, dem ganzen Ausdrucke seines Gesichtes nach, aufgefallen war. „Was ist es, Herr Meier?“ fragte er nach einem kurzen Blick in das hagere, von graugemischtem Haare beschattete Gesicht des vor ihm Stehenden; „wenn nichts von besonderer geschäftlicher Wichtigkeit, so bitte ich Sie, mich jetzt nicht zu unterbrechen und mir das Nöthige morgen früh zu sagen.“

Ein eigenthümliches, unangenehmes Lächeln trat um den breiten eingetrockneten Mund des Andern. „Es wäre doch gut, wenn Herr Hellmuth mich noch heute anhörten,“ erwiderte er, die hinter dem Ohre steckende Feder fester schiebend, „morgen früh – wer kann sich immer auf das Morgen verlassen!“

Der Principal hob aufmerksam den Kopf und ließ, die Augenbrauen leicht zusammenziehend, zwei Secunden lang den scharfen Blick in den grauen Augen vor ihm ruhen, die sichtlich bemüht waren, den seinen Stand zu halten. „Was ist es?“ wiederholte er dann; „die Manier ist etwas sonderbar, Herr Meier, die Sie seit Kurzem mir gegenüber angenommen haben!“

„Ich bin immer aufrichtig und gebe mich so, wie es mir um’s Herz ist,“ war die trockene, nur von einer leichten Neigung des Kopfes begleitete Erwiderung. „Sie wissen, Herr Hellmuth, daß ich der Aelteste im Geschäft bin – nicht nur dem Alter nach, denn ich war der Erste, der hier überhaupt servirte, und es sind jetzt über zwanzig Jahre her, daß ich an demselben Pulte stehe!“

„Und wenn ich das weiß, was folgt daraus?“ fragte der Angeredete mit noch aufmerksamer werdendem Gesichte. „Sind Sie mit Ihrem Gehalte unzufrieden?“

„Das zu sagen hätte wohl Zeit bis morgen früh gehabt!“ gab der alte Commis mit seinem früheren, halb sardonischen Lächeln zurück. „Es ist mehr als dies. Trotz meiner langjährigen treuen Dienstzeit haben Sie den jungen Herrn Gruber, der kaum länger als fünf Jahr hier arbeitet, zu Ihrem Disponenten und Vertreter gemacht; mich berührt dies durchaus nicht um der Eitelkeit willen, denn ich besitze, Gott sei Dank, das Wenigste davon – indessen steht der junge Herr in einer Beziehung zu der Fräulein Tochter Anna, woraus sich erkennen läßt, daß auch die Zeit nicht mehr fern ist, in welcher er als stiller Theilhaber in die Firma Hellmuth u. Co. eintritt – und hier, Herr Principal, wird mein eigenes Interesse berührt. Wenn Jemand das Recht zu einer Teilhaberschaft hat, so ist es der alte Meier, der seine Kräfte in dem Geschäfte aufgerieben hat und ein sorgenloses Alter verlangt – ja seine Sicherstellung in dieser Beziehung noch heute Abend verlangt, Herr Hellmuth!“

Die Augen des Geschäftsherrn, mit jedem der letzten Worte größer geworden, hafteten, wie um ein kaum lösbares Räthsel zu ergründen, in dem Gesichte des Sprechenden, das jetzt mit völlig steifen Zügen, den trockenen Mund eng geschlossen, mit einer Art ruhigen Trotzes den Blick des Principals aushielt.

„Sagen Sie mir doch, Herr Meier,“ begann dieser nach einer Weile langsam, wie unsicher über die zu wählenden Worte, „Sie haben doch nun so manches Jahr sich als klarer, nüchterner Kopf gezeigt, und so werden Sie auch wohl jetzt überlegt haben, welchen Schritt Sie mit diesem eigenthümlichen Auftreten mir gegenüber gethan haben, – werden wissen, daß allein nur unser langjähriges Zusammenarbeiten mich zu Nachsicht gegen eine Sprache und Weise bewegen kann, die vielleicht einzig in einem Verhältnisse, wie das unsere, dasteht. Welches Recht haben Sie denn für eine Forderung, wie die gestellte?“

„Welches Recht?“ wiederholte Meier, ohne sein steifes Gesicht, in welchem er seine Festigkeit zu finden schien, aufzugeben; „ich könnte Ihnen das mit sehr kurzen Worten sagen – ich will Ihnen aber etwas Anderes erzählen, das Ihnen zeigen dürfte, wie wenig es gut gethan ist, mit allen Freunden und Mitarbeitern in so hohem Tone zu sprechen. – Es logirt seit vorgestern im Hôtel français ein junger Fremder, der sich Maçon, auf deutsch Maurer, nennt, von den französischen Inseln kommt und ein wirklicher Deutscher ist, so braun er auch von der Sonne aussieht, der sich bereits angelegentlich nach der Firma Hellmuth und Compagnie erkundigt hat und seinem Vater Zug für Zug ähnlich ist. – Sie entsinnen sich doch des Herrn Maurer, Herr Hellmuth?“ setzte er mit einem noch unangenehmeren Lächeln, als bisher, hinzu; „mir wenigstens steht er noch wie gestern vor Augen.“

Eine leichte Blässe hatte sich plötzlich über das Gesicht des Geschäftsherrn gebreitet, einen Moment lang blickten seine Augen starr in das Gesicht des Sprechenden; eben so schnell aber schien er auch seine frühere Ruhe zurückerlangt zu haben. „Und was hat dieser Herr Maçon oder Maurer mit Ihrer Forderung zu thun?“ fragte er.

Das Auge des Andern schien bis in die Seele des vor ihm Sitzenden dringen zu wollen. „Nichts, Herr Hellmuth, als daß ich selbst nur alle Eintragungen in die Bücher besorgt habe, ehe das Geschäft unter der jetzigen Firma mit neuen Büchern begann, daß alle Zahlen noch sehr deutlich vor meiner Erinnerung stehen, und daß ich wohl noch der einzige lebende Zeuge aus jener Zeit bin, den man nicht mit der Frage: welches Recht haben Sie für Ihre Forderung? abspeist, sondern den man selbst, aus einfacher Klugheits-Rücksicht, zum interessirten Theile macht.“

„Und wenn ich das, nicht aus Klugheits-Rücksichten, sondern aus Rechtlichkeit nicht thue, Herr Meier?“

„Sie haben allerdings Ihren freien Willen,“ erwiderte der Andere mit einem Kopfneigen, als wolle er den Ausdruck seines Gesichts verbergen; „nur werden Sie begreifen, Herr Hellmuth, daß ich, unter den bewandten Umständen, noch heute das Geschäft verlassen müßte. Ich bin, wie Sie ganz richtig voraussetzten, völlig auf die Folgen meines Schrittes vorbereitet – und so schmerzlich diese auch sein mögen, so werden Sie doch selbst die Nothwendigkeit erkennen, daß ein Mann in meinem Alter sieht, wo er einmal bleibt!“

„Ich begreife Sie vollkommen, Herr Meier!“ nickte Hellmuth, während sich ein leichtes nervöses Zucken in seinen Mundwinkeln geltend machte. Dann erhob er sich langsam und öffnete die mit grünseidenen Gardinen verhangene Glasthür. „Herr Gruber!“

[84] Nach wenigen Secunden trat ein hoher, junger Mann ein und blieb, einen raschen, ordnenden Strich durch das reiche blonde Haar thuend, der Anrede wartend, an der Thür stehen.

„Herr Meier wünscht seine Stellung zu verändern,“ sagte der Kaufherr in kühler Ruhe; „er wird heute Abend noch das Geschäft verlassen, und so wollen Sie vorläufig seine Bücher übernehmen, auch das bis heute fällige Salair auszahlen.“

Das Gesicht des jungen Mannes hob sich in sichtlicher Ueberraschung und drehte sich zweimal von dem Prinzipal nach dem Entlassenen und wieder zurück. „Herr Meier?“ fragte er dann, als wolle er sich erst Sicherheit über das Gehörte verschaffen.

„Ja, Herr Meier!“ erwiderte Hellmuth einfach, seinen früheren Platz wieder einnehmend. „Senden Sie mir Willmann, und wenn Sie mit der Uebernahme fertig sind, erwarte ich Sie selbst wieder hier.“

Meier hatte während der kurzen Verhandlung keine Miene verzogen. Jetzt verbeugte er sich steif. „Sie haben es selbst gewollt, Herr Hellmuth, mag es Ihnen nicht zum Unsegen ausschlagen!“ sagte er und wandte mit hochgehobenem Kopfe, von dem jungen Manne gefolgt, sich nach dem Ausgange.

Als sich die Thür schloß, trat Hellmuth von seinem Sitze herunter und machte einen raschen Gang durch das elegant ausgestattete Arbeits-Cabinet. Eine schwere, düstere Wolke zog über seine Stirn, aber er schien an sich selbst zu arbeiten, um klaren Geist zu gewinnen, und als die kleine Gestalt des alten kahlköpfigen Comptoirdieners eintrat, konnte er sich wieder mit der freien Würde, die seine Erscheinung vorher gekennzeichnet, nach diesem wenden. „Ich möchte eine Auskunft von Ihnen haben, Willmann,“ sagte er, stehen bleibend, „und Sie werden mir diese ohne jedes Bedenken, nach Ihrem besten Gewissen geben. Haben Sie irgend ein näheres Verhältniß zwischen Herrn Gruber und einer meiner Töchter bemerkt? Ich frage Sie, weil Sie fast mehr zur Familie als zum Comptoir gehören und die Mädchen Vertrauen zu Ihnen haben. Antworten Sie ohne Scheu, ich verlange nur eine Information!“

Die Augen des Kleinen hatten plötzlich wunderlich zu blinzeln begonnen, und der Mund zog sich wie krampfhaft in die verschiedensten Richtungen; dem Geschäftsherrn aber schienen dies seiner Miene nach bekannte Erscheinungen zu sein, die überdies auch nur einige Secunden währten; dann erwiderte der Befragte in respektvollem Tone: „Ich weiß nur, daß die lieben Fräulein sehr freundlich gegen Herrn Gruber sind, den man ja auch kaum anders behandeln kann; etwas Weiteres ist mir noch nicht vor die Augen gekommen.“

„Aber Sie haben Ihre Grimassen geschnitten, Willmann,“ sagte Hellmuth mit schärferem Blicke, „an die Sie nicht denken, wenn Sie nicht etwas aufregt. Ich will meine Frage bestimmter fassen. Haben Sie nicht Ursache, zu glauben, daß Herr Gruber sein Auge auf Anna geworfen hat und von dieser nicht gerade zurückgewiesen wird?“

„Ich kann versichern, Herr Hellmuth,“ entgegnete der Kleine jetzt eifrig, ohne daß ein Muskel in seinem Gesichte zuckte, „daß mir nicht das Geringste davon bekannt ist, daß Herr Gruber im Gegentheil oft ärgerlich wird, wenn ihm Fräulein Anna zu Zeiten die Wahrheit sagt.“

Hellmuth nickte, während von Neuem eine Wolke über seine Stirn ging. „Ich darf Ihnen nicht erst sagen, daß Sie über meine Fragen schweigen,“ sagte er nach einer Pause des Sinnens; „aber hier ist noch etwas anderes Geschäftliches. Seit zwei Tagen logirt im Hôtel Français ein Fremder, der sich Maçon nennt und über dessen Persönlichkeit wie hauptsächlich über seine Absichten in hiesiger Stadt ich etwas zu erfahren wünschte. Er soll auffällig sonngebräunt sein. Jedenfalls muß er, da er fremd hier ist, sich nach Dingen erkundigt haben, die auf den Zweck seiner Anwesenheit schließen lassen. Sie sind gewandt, Willmann, und so sehen Sie noch heute Abend, was Sie erfahren können.“

Das Oeffnen der Thür unterbrach ihn. „Durch einen Lohnbedienten, welcher auf Antwort wartet!“ sagte der eintretende junge Commis, einen Brief auf das Schreibepult legend und sich dann wieder entfernend, und Hellmuth löste rasch das Couvert, den ersten Blick auf die Unterschrift des entfalteten Schreibens werfend. Ein rascher, wenn auch nur leichter Farbenwechsel machte sich in seinem Gesichte bemerkbar; dann überflog er hastig die Zeilen und wandte sich darauf, hörbar seine Stimme zu ihrer gewöhnlichen Haltung zwingend, an den wartenden Comptoirdiener. „Es ist nicht nöthig, Willmann, daß Sie meinen letzten Auftrag ausführen, die Sache erledigt sich hiermit von selbst!“ Als aber der Diener sich entfernt, begann er nochmals den erhaltenen Brief Wort für Wort, als wolle er in jedem derselben einen geheimen Sinn auffinden, langsam zu durchlesen, und doch lautete derselbe einfach: „In der Beilage, verehrter Herr, erlaube ich mir einige Zeilen des Ihnen geschäftlich befreundeten französischen Consuls in Hamburg zu meiner Einführung zu überreichen und um Ihre freundliche Bestimmung zu bitten, zu welcher Zeit ich Ihnen meine Aufwartung machen darf.  Adolphe Maçon.“

Mit gleicher Sorgfalt durchlas er das beigelegte geschlossene Blatt, welches nichts als einen Empfehlungsbrief in gewöhnlicher Form enthielt, ergriff dann die Feder und schrieb flüchtig:

„Ich würde sehr glücklich sein, wenn Mons. A. Maçon morgen um vier Uhr sein Diner im Kreise meiner Familie einnehmen wollte,“

siegelte das Billet rasch und gab es dann zur Weiterbeförderung in das anstoßende Comptoir hinaus. „Das wird so auf jeden Fall offenes klares Spiel!“ murmelte er, als er seinen Platz wieder eingenommen hatte und die Stirn in beide Hände stützte; „mag dann auch kommen, was da wolle; Meier wird gewußt haben, was er that, aber so ohne Weiteres richtet man selbst im schlimmsten Falle nicht die Früchte eines zwanzigjährigen Fleißes zu Grunde!“

Eine geraume Weile saß er in tiefem Nachdenken, bis der junge Mann, welchem die Ablohnung Meier’s übertragen worden, die Thür des Cabinets wieder öffnete. „Legen Sie mir den letzten Special-Abschluß des Geschäfts auf mein Pult, Herr Gruber,“ sagte er, sich erhebend, „ich habe später noch zu arbeiten!“ und wie mit einem bestimmten Gedanken fertig, verließ er das Zimmer.

(Fortsetzung folgt.)




„Sie gehen nach Amerika.“

Es war im großen politischen Blüthen- und Kränzejahre 1863, gerade in den Tagen der deutschen bundesfürstlichen Wiederverherrlichung der schwarz-roth-goldnen Fahnen, als ich mit meinem Freunde L., einem ebenso lebensfrohen als patriotischen Künstler, von Mainz aus den Rhein hinabfuhr.

In Frankfurt tagten die Kronen und die Nation. Die Fürsten des Bundes, den Kaiser an der Spitze, hatten selbst die Sessel ihrer bisherigen Vertreter eingenommen und legten die hohen Hände an das Werk der Neubelebung des deutschen Reichs. Und unweit von ihnen saßen die Vertreter der Völker des Reichs zu ernstem Rath beisammen. Auch ihnen galt ein Theil des deutschen Fahnenschmucks, den die alte Kaiserwahl-, Parlaments- und Bundesstadt angelegt hatte. – Solche Gelegenheit verabsäumten auch die Rheinschiffe nicht, die alten schwarz-roth-goldnen Flaggen wieder hervorzuholen und aufzuhissen, und eine solche flatterte auch stolz auf unserem Dampfer. Wunderbare, schicksalreiche Farben, – und noch so jung, so jung! Ein Königsritt versprach ihre Erhebung zum höchsten Thron, und eine Kaiserfahrt stürzte sie in’s Verderben. Sie besiegten vom Land aus die Feindesflotte (Eckernförde!), und von der deutschen Flotte herabgerissen legten sie sich mit dem Admiral in’s Grab. Und nun sind sie wiedererstanden, und wieder wehten sie einem Kaiser entgegen – Gott beschütze sie vor abermaligem Untergang!

Was mir aber jene Fahrt so unvergeßlich machte, war nicht der deutsche Flaggenschmuck des Schiffs, sondern ein Auswandererzug, der auf dem Vorderdeck sein Lager aufgeschlagen hatte: deutsche Auswanderer – auf dem grünen Rhein, zwischen der lachendsten Herrlichkeit der ganzen deutschen Erde! Der Gedanke schon hat Kraft genug, jedem ehrlichen deutschen Mann das Auge zu trüben; aber der Anblick selbst macht doch noch empfindlicheres Herzweh.

[85]

Auswanderer auf dem Rhein.
Nach der Natur aufgenommen von H. Leutemann.

[86] „Ist’s denn möglich,“ rief mein Freund aus, als er die Gruppe mit raschem Künstlerauge gemustert hatte. – „ist’s menschenmöglich, daß Deutsche auf diesem Strome ihr Vaterland verlassen können? Wer das über sich vermag, der muß von Vaterlandsliebe keinen Funken in sich spüren!“

„Freund, nicht ungerecht! Prüfe erst, und Du wirst finden, daß wir nicht sie anzuklagen haben, die von uns scheiden, sondern die Umstände, die sie von dannen treiben. Treten wir näher, die Leute sind offenbar aus der Pfalz und aus Unterfranken, wo sie Alle nicht am Herzdrücken sterben; sie werden uns gleich reinen Wein einschenken.“

Mein erregter Freund zögerte keinen Augenblick. Mit den Worten: „hier muß man deutsches Blut zu retten suchen!“ trat er zu einer Gruppe von einigen Männern, alten und jungen, die in ernster Unterhaltung begriffen schienen. Ich machte einen Gang um das Verdeck, um mir die Leutchen im Einzelnen zu betrachten.

Da war Alles vorhanden, was einer kleinen Gemeinde Leben und Gedeihen sichern konnte: frische, kräftige Buben, spielende kleine Kinder, alte Mütterchen, junge Frauen und Mädchen, Jünglinge mit dem ersten Keim von Bart bis’ zum Mann mit Greisenhaaren.

Das Gepäck der Auswanderer bildete einen hohen, mit Stroh überdeckten Haufen, der fast bis zur Schiffsglocke reichte. An der andern Seite des Verdecks hergehend, kam ich zu einem blutjungen, hübschen Pärchen, das sich um die ganze Umgebung nicht zu kümmern schien. „Geschwister?“ flüsterte ich grußnickend ihnen zu. Beide wurden roth und schüttelten schweigend die scheu geneigten Köpfe, aber wirklich „unter Thränen lächelnd“.

Die Stimme meines Freundes war indeß immer lauter geworden; sie war über das anfängliche Durcheinander des Widerspruchs von mehreren Stimmen allein Sieger geblieben. Er war eben im Zuge, dem Völkchen, offenbar um es im Vaterlande zurückzuhalten, von den Schicksalen der ersten deutschen Auswanderer zu erzählen, die nach Amerika gegangen sind. „Ihr könnt stolz darauf sein,“ sagte er, „es waren auch Pfälzer, und das ist schon über anderthalbhundert Jahre her. Es giebt kein Pfälzer Kind, welches nicht von den Verwüstungen gehört hätte, welche der französische König Ludwig XIV. über die Pfalz verhängte; die Trümmer des Heidelberger Schlosses stehen noch heute als das Denkmal seiner Schandthaten. Damals trieb die bittere Noth die ersten Pfälzer über die See. Der berühmte William Penn hatte sie hinübergelockt, aber der Mann war brav, die deutschen Ansiedelungen gediehen, und er hat es verdient, daß das einst von ihm verwaltete Land noch heute ihm zu Ehren Pennsylvanien genannt ist.

Ihr wißt, daß auf die französischen Verwüstungen die Protestantenverfolgungen in der Pfalz kamen. Die kurfürstlichen Jesuiten trieben’s fast noch ärger, als die Franzosen; diese hatten Städte und Dörfer verheert, und jene jagten nun auch den besten Theil des Volks aus dem Lande. Zur selben Zeit sahen die englischen Gouverneure in Nordamerika, wie Penn’s Provinz durch den Fleiß der Pfälzer so herrlich aufblühte. Da schickten sie denn ihre Lockvögel her in’s Land und versprachen den vielen heimathlosen Protestanten der Pfalz goldene Berge in Amerika. Sie sollten nur nach London kommen, dort sei Alles für ihre Ueberfahrt vorbereitet. Nun hört! Nahe an 33,000 Pfälzer und Rheinländer folgten der Lockung, ganze Gemeinden mit Pfarrer und Schulmeister, und fuhren hinüber nach London. Und was fanden sie da? Nur ein kleiner Theil dieser großen Schaar fand Platz in den Schiffen, die nach Nord-Carolina bestimmt waren; die anderen behandelte man nicht besser, als gekaufte Sclaven. Einen Theil derselben brachte man nach Irland, einen anderen auf uncultivirte englische Inseln, einen dritten in englische Bergwerke – als Arbeiter. Da hatten sie ihre goldenen Berge! Nur 7000 von diesen euren Vorfahren kamen arm und elend in die Heimath zurück! Wer weiß, ob nicht Eure eigenen Voreltern darunter waren, Ihr braven, guten Landsleute! laßt ihr Schicksal Euch zur Warnung dienen und bleibt im Vaterland!“

„Lieber Herr,“ entgegnete ihm ein Alter, der auch auf dem Schiff den gewohnten Büchsenranzen nicht ablegte – „damals waren andere Zeiten, und unsere Altvordern haben’s selbst verschuldet, weil sie, in ihrem Jammer freilich, blind in die weite Welt hineinliefen. Aber wohin kamen denn die Pfälzer, die zu Schiff gegangen waren?“

„Diese wurden theils in New-York, theils in Nord-Carolina ausgeschifft. Wie viel sie, die armen, aus der Heimath vertriebenen, in der Fremde schutzlosen Deutschen unterwegs zu leiden hatten, davon ist damals wohl kein Laut über das Meer herübergedrungen, aber vom Vater zum Sohn vererbte sich die Klage und schürt noch heute in Kindeskindern den Haß gegen die Engländer. Hört weiter! Auch am Lande hatte ihr Elend noch lange kein Ende. Zwar erhielten sie große Strecken Bodens angewiesen, aber weiter nichts; alle übrigen Versprechungen waren Lug und Trug; Nichts war für sie vorbereitet, kein Vieh, kein Geschirr, kein Geräthe – da standen sie mit ihren hungernden Weibern und Kindern und mit den bloßen Händen auf dem seit der Erschaffung der Welt wüsten Boden und im Urwalde. Alles, was ihnen der Raub von der Heimath bis hierher noch übrig gelassen, mußten sie dran wenden, um nur das Unentbehrlichste um die höchsten Preise herbeizuschaffen, und dann ging’s an eine Riesenarbeit. Ihr wißt, was ein Pfälzer schaffen kann. Aber dem Gouverneur ging’s dennoch nicht geschwind genug. Die Nachrichten von den reichen Früchten des deutschen Fleißes in Pennsylvanien ließen ihn nicht schlafen; er konnte die Zeit nicht erwarten, um dieselben Früchte zu ernten, natürlich für sich, und darum drangsalirte er die Pfälzer auf’s Aeußerste, bis ihnen die Geduld riß, und zwar die deutsche Geduld, und das will was heißen! Hundertundfünfzig Familien verließen plötzlich das Land, das sie mit unsäglicher Arbeit bereits fruchttragend gemacht hatten, sie unterwarfen sich all den Gefahren und Mühseligkeiten eines neuen Wanderzugs über hundert Meilen weit in’s Innere hinein, um bei den heidnischen Wilden die friedliche Stätte zu finden, die sie bei den christlichen Engländern vergeblich gesucht hatten. Sie kauften dem freien Indianerstamm der Irokesen ein großes Gebiet ab und begannen die Ausrodungsarbeit von Neuem. Zehn Jahre lang lebten sie so, mit den braven Indianern in Frieden und Eintracht und gediehen und hatten schon den größten Theil ihrer Ländereien in ein fruchtbares, lachendes Gefilde verwandelt, als die englische Habsucht abermals über sie herfiel. Derselbe Gouverneur von New-York ersah jetzt die Zeit seiner Rache und seiner Ernte. Er behauptete, das Land der Pfälzer sei englisches Eigenthum, sie hätten kein Recht gehabt, dasselbe anzubauen; er habe es anderweit verkauft, die deutschen Colonistcn hätten auch keinen Anspruch auf Entschädigung für etwaige Culturkosten, sondern wer den Boden nicht sofort räumen wolle, müsse dafür sorgen, daß er ihn von den neuen gesetzlichen Eigenthümern in Pacht erhalte. Himmelschreiend war das Unrecht, das den Pfälzern geschah, aber wo war der Richter, der ihnen Recht sprach? Und der Himmel ist so hoch! – Die armen Deutschen hatten keine Hoffnung, mit Gewalt gegen die Gewalt zu siegen; doch ehe sie vor ihr sich beugten, sagten sie lieber zum dritten Male der Frucht ihres Schweißes Ade und zogen mit aller fahrbaren Habe zur ersten amerikanischen Heimathstätte der Pfälzer, nach Pennsylvanien. Dort leben ihre Nachkommen noch heute in den Thälern am Susquehannah, soweit der jetzige Bürgerkrieg sie noch nicht aufgefressen hat.“

Die Thränen der Frauen waren längst in Fluß, sie blickten zagend zu den Männern hin, deren Augen dafür um so zürnender sich auf den Sprecher wandten. Es war ein derber Ausbruch dieses Unwillens zu befürchten, dem jedoch der Alte vorbeugte, der auch das Schicksal der in Carolina gelandeten Pfälzer zu wissen verlangte.

„Diesen,“ fuhr mein Freund fort, „ist das traurigste Loos gefallen. In Carolina stand es damals um Ackerbau und Gewerbe noch schlimmer, als in New-York. Der größte Theil des Bodens gehörte großen Grundbesitzern, die unsere Pfälzer wie Bettler, wie eine Last empfingen. Viele gingen an der Hartherzigkeit dieser Menschen aus Noth zu Grunde. Dem Rest wies man endlich öde Landstrecken an den äußersten Grenzen der Provinz an, wo Leben und Gut keinen Tag vor den Angriffen der Indianer sicher waren. Und als die Pfälzer dennoch den Wald rodeten, Blockhäuser bauten und die Saat bestellten, drangen die Wilden mit Uebermacht heran und erschlugen Alles, was da lebte. Nur wenige Frauen und Kinder sollen sie gefangen mit sich fortgeschleppt haben. Von diesen Pfälzern ist keine Spur mehr dort zu finden.“

Hier hielten die Frauen das laute Schluchzen, aber auch die jüngeren Männer den lauten Zorn nicht mehr zurück. „Sind Sie deshalb vom ersten Platz zu uns daher gekommen,“ rief einer der jungen Männer den Künstler an, „um uns durch Ihre Märchen [87] die Weiber wieder zu verderben, dann wär’s besser, Sie wären drüben geblieben! Nun haben wir das ganze Geflenn wieder da, das kaum verwunden war!“ – Die Uebrigen stimmten murrend bei, die Frauen seufzten: „Ja, so sind die Männer!“ – und die Jungen schrieen vom Gepäckhaufen herunter: „Vivat, wir gehen doch nach Amerika!“

„Ruhig, Kinder!“ fiel ein älterer Mann dazwischen, der bisher schweigend am Mast gelehnt halte, – „der Herr meint’s gut, er hat kein böses Wort gesprochen, und daß er uns die Geschichte unserer Altvordern in Amerika erzählt hat, dafür haben wir uns zu bedanken. – Aber, lieber Herr, Ihr Abmahnen von unserem Vorhaben lassen Sie sein, wer gerüstet ist, wie wir, der kehrt nicht wieder um.“

„Und wenn Ihr mich todtschlagt,“ eiferte mein Freund, – „ich kann’s nicht anders, ich muß meinen Schmerz darüber aussprechen, daß abermals so herrliche Kraft dem deutschen Vaterlande verloren geht. Was soll aus Deutschland werden, wenn das Auswandern so fortgeht, wie bisher? Bedenkt doch: nur in den sechs Jahren von 1846 bis 1851 haben uns über sechshalbhunderttausend Menschen verlassen, sie haben wenigstens ein baares Vermögen von 115 Millionen Thalern mitgenommen! Das macht über neunzehn Millionen jedes Jahr! Welch ein Verlust für das deutsche Volk!“

„Wenn’s zum Rechnen kommt, lieber Herr,“ – nahm da der Alte wieder das Wort, „so hätt’ ich freilich ein ganz anderes Exempel zu stellen. Wie viel kosten denn dem deutschen Volke seine vielen Armeen? In einem Jahre mehr, als die Auswanderung in zehn Jahren!“

„Aber das Geld bleibt doch im Lande!“ entgegnete mein Freund.

„Das ist eine falsche Rechnung“ – sprach der ältere Mann. „Sie berechnen nicht, lieber Herr, wieviel die Hunderttausende von fleißigen Händen erwerben könnten, wenn sie nicht in den Casernen brach liegen müßten. Und Alles, was diese nicht verdienen, das müssen wir dem Auslande zu verdienen geben. Wie viel Land liegt noch wüste, das reiche Frucht tragen könnte, wie viele Millionen liegen noch unter dem Boden! Wir brauchten dem Engländer kein Pfund Eisen abzukaufen, wenn wir unsere Schätze aus der deutschen Erde heben könnten. Warum geschieht’s nicht? Weil uns die Mittel und die Arme dazu fehlen. – Die stehenden Armeen sind unser Unglück, wahrlich nicht die Steuern, die drücken keinen fleißigen Main, aber die Verwendung zum Soldatenwesen, das ist’s! Herr, es sieht prächtig aus, wenn ein Regiment durch die Straße in Parade marschirt; aber nur wir Eltern wissen, wie viel Sorgen und Seufzer hinterdrein gehen. Die Jungen sind Einem an’s Herz gewachsen, und man muß sie hingeben und weiß nicht, wie man sie wieder bekommt.“ – Er stockte, die Stimme versagte ihm, er mußte einen tiefen Schmerz zu verwinden haben. Dann fuhr er fort: „Und glauben Sie, Herr, es ist ein Entschluß, das Auswandern! Wenn’s nicht die Liebe zu den Kindern thäte, man brächt’s nicht über das Herz. Nur wer ein Bauer ist, weiß, was es heißt, sich von dem Boden zu trennen, auf dem die Ureltern ihren Schweiß vergossen haben und den man lieb gewinnt, als wär’s ein Stück von uns, und von den Ställen und dem Vieh, und von Hof und Haus, und von der Kirche und vom Gottesacker! O, es ist ein Entschluß! Und wenn der gefaßt ist, Herr, so reißt ihn kein Sturm um, geschweige ein fremdes Menschenwort!“

„Ja, so ist’s!“ rief der junge Mann, der vorhin zuerst aufbrauste, und reichte meinem Freund die Hand. „Sie sind ein rechter, braver Deutscher, und darum sag’ ich Ihnen, daß wir’s auch sind und bleiben werden, so lange wir leben. Wir hätten’s wohlfeiler haben können auf der Eisenbahn und auf dem geraden Wege zum ersten besten Hafen. Aber wir wollten unsern lieben Rhein noch einmal recht anschauen und ein Stück von Deutschland dazu, ehe wir ihm vielleicht auf ewig Ade sagen. Wir wollen erst in Köln auf die Eisenbahn. Es wird uns später nicht gereuen, daß wir’s so gethan haben. Und nun kommen Sie, ich will Ihnen meine Frau und meine Kinder zeigen. Sagen Sie ihnen ein schönes Wort, das ihnen Muth macht. Sie können’s, und ich werd’ es Ihnen nie vergessen.“

Beide gingen Arm in Arm zu den Frauen auf der andern Seite des Schiffes. Ich wandte mich an den Alten. „Als erfahrene und, wie es scheint, meist wohlhabende Männer,“ redete ich ihn an, „haben Sie doch wohl alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, um nicht wegen der Ueberfahrt in unreine Hände zu fallen?“

„Unser Plan ist, uns in Michigan niederzulassen, und unser Vorsatz, nur in einem deutschen Hafen uns einzuschiffen. In Köln treffen noch Verwandte zu uns, und dort wird’s entschieden, ob wir nach Bremen oder nach Hamburg gehen. Zu übereilen brauchen wir nichts, und darum haben wir auch keine Verbindlichkeit im Voraus eingegangen.“

„Dann,“ sagte ich, „lassen Sie sich für Bremen wie für Hamburg, besonders aber für letzteres, auf folgende nöthige Vorsicht aufmerksam machen. Hüten Sie sich vor indirekter Beförderung durch leider dazu noch immer concessionirte Firmen. Verstehen Sie mich? Es giebt nämlich dort zweierlei Beförderung, die directe, wo Sie in Bremen oder Hamburg ein deutsches Schiff besteigen und in demselben die ganze Fahrt bis hinüber abmachen. Diese ist allein zu empfehlen, Sie sind unterm Schutz von deutschen Landsleuten und haben meist nur Deutsche zu Reisegenossen. Nun giebt es aber auch Leute, die ein Geschäft daraus machen, deutsche Auswanderer für englische Schiffe anzuködern. Der Auswanderer wird dann nur nach England befördert und dort in ein Schiff gepackt, in dem er sich in der Regel mit dem Auswurf Irlands zusammengeworfen sieht, nachdem er vorher in jeder möglichen Weise geplündert worden ist. Wie viel Aerger und Ungemach Sie dann auch erdulden, wie viel bitteren Verlust Sie leiden mögen, eine nachträgliche Klage hilft Ihnen nichts und schadet den aalglatten Herren nichts, die Sie an die Engländer verschachert haben. Es ist traurig, daß es so ist! Aber es ist so! Also Vorsicht!“

„Dank, lieber Herr! Das war ein guter Rath.“ Mit den Worten reichte der ältere Mann mir die Hand. „Wir versprechen Ihnen hiermit, daß wir ihn befolgen, aber auch allen unseren Freunden, die sich vielleicht später noch auf denselben Weg machen, mittheilen wollen. Und seien Sie versichert, daß wir in Haus und Herzen treue, redliche Deutsche bleiben! Der liebe Gott wird uns ja vor dem traurigen Geschick unserer Altvordern, das uns der gute Herr so schön erzählt hat, bewahren, er verläßt ja keinen braven Deutschen! Die schwarz roth-goldene Fahne aber wird auch drüben unser Dach zieren. Und sollte wieder einmal eine so böse Zeit kommen, wo sie in Deutschland nicht mehr, wie heute, öffentlich flattern darf, dann denken Sie daran, daß sie doch noch flattert und nimmermehr von der Erde verschwindet.“

Wir sagten Lebewohl; meinen Freund mußte ich aus der Gruppe der Frauen und Kinder abrufen, die ihn ganz umringt hielten. Es war ein Abschied, wie von uralten, lieben Bekannten. Lebt wohl! Lebt wohl!

„Aber nun, Liebster,“ bat ich meinen kunstreichen Freund, „jetzt den Stift heraus! Bis zur Station ist gerade noch Zeit genug, diese prächtigen Auswanderer sammt und sonders in Dein Skizzenbuch zu werfen.“ Und wahrlich, er that’s, und das Herz half ihm den Stift führen. Es ist ein liebes, köstliches Bild geworden, so schön wie die Erinnerung an das Zusammentreffen mit diesen braven deutschen Auswanderern auf dem Rhein. Als wir das Schiff bei Koblenz verließen, winkte unsers Künstlers neuester Freund ihm vom Gepäckhaufen noch einen fröhlichen Gruß mit dem Weinpokal zu. „So sollst Du auch gerade so verewigt werden,“ lachte mein Freund, und so war das Bild vollendet.

Es war ein langes Grüßen und Winken mit den Tüchern, als das Schiff dahinfuhr und bis es unsern Blicken entschwand. Den Rhein hinab – aus dem Vaterland! Ja, es ist ein Entschluß! Der Himmel gebe, daß Ihr glücklich drüben gelandet und fröhlich angewurzeli seid auf dem Boden Eurer neuen Heimath! Gott sei mit Euch!

Und nun kommt das Bildchen sammt der Erinnerung an Euch gar in die Gartenlaube! Ihr kennt ja dieses deutsche Blatt noch von daheim. Vielleicht kommt’s auch jetzt einmal in Eure Hände, denn wenn’s auch in Preußen verboten ist, so wird’s doch blos noch auf der ganzen Erde gehalten. Dann erinnert Euch Eurer beiden Friedensstörer auf Eurer Rheinfahrt in Liebe! Der deutschen Fahne aber wünschen wir, daß sie nicht in Eurem Walde ihre Zukunft zu suchen brauche, sondern feststehe und immer höher und mächtiger sich entfalte im lieben allen Vaterlande!
F. H. 
[88]
Aus der „guten alten Zeit“.[1]
Eine Erinnerung von Ernst Förster.

Ich war im Jahre 1820 Student an der Berliner Hochschule, hörte die Vorlesungen von Schleiermacher, Hegel, Ermann, Tölken u. A. und war Mitglied des philologischen Seminars. In letzterer Eigenschaft ward ich für eine philologische Abhandlung „De expeditione Bacchi in Indiam“ mit dem großen Preis beehrt; er betrug außer der Belobung ein Geschenk von dreißig Thalern, eine für meine Verhältnisse und Lebensgewohnheiten nahebei kolossale Summe. Ueber ihre vernünftigste Verwendung war ich nicht lange im Zweifel. Das Sommersemester war zu Ende; eine ausgedehnte Ferienreise entsprach so sehr meinem Verlangen, Deutschland nach allen Richtungen kennen zu lernen, daß ich sogleich einen Plan entwarf, und – da ich bereits Rhein und Schweiz besucht – Salzburg und Tyrol als Ziele aufstellte. Den Ranzen mit Kleidern, Wäsche, Schreib- und Zeichen-Materialien auf dem Rücken, trat ich meine Wanderung an einem schönen Augustmorgen an und ging zunächst, um meine Mutter zu besuchen, nach Altenburg. Zu Leipzig war ich mit den jungen Fürsten Schwarzenberg zusammengetroffen, deren Einer (der bekannte „Landsknecht“) mich nach wenig Tagen durch eine Depesche – welch’ ein Aufsehen in damaliger Zeit! – einlud, in seiner Gesellschaft nach Prag zu reisen. Er ging als Courier, und selten habe ich einen Weg von solcher Länge in angenehmeren Verhältnissen zurückgelegt. Abgesehen von dem Vorausgefühl einer Eisenbahnfahrt, an die damals noch Niemand denken konnte, war mir die Beseitigung aller Paß- und Mauthplackereien eine hohe Annehmlichkeit, und die heiterste Laune und gutes Wetter machten die Reise zur Spazierfahrt.

In Prag fand ich den jungen Grafen Franz Colloredo-Mannsfeld, den ich von früherher kannte, und da auch er eben im Begriff war, eine Reise nach Salzburg und Tyrol anzutreten, war er rasch entschlossen, mit mir zu gehen, obschon sein Reisewagen gepackt stand und ich auf Fußwanderung drang. Er ließ seinen Gouverneur im Reisewagen nach Linz fahren und ging mit mir und noch einem Prager Studenten, C. Pichler, auf der Budweiser Straße durch’s Böhmerland, auf welchem Wege wir mehrfach Gelegenheit hatten, die verschmitzte Brutalität des czechischen Landvolks, sowie die Bornirtheit der Polizeibehörden kennen zu lernen. Mußten wir doch in einem Dorfwirthshause Strafe zahlen, weil wir die Wirthin gegen Gewaltthätigkeiten der Bauern in Schutz zu nehmen versucht: 25 fl., in die sich vor unsern Augen Schulze und Bauern theilten! Ja, in Budweis wurde mir gar die Aufnahme einiger architektonischer Ornamente im Kreuzgang eines Klosters von Polizeiwegen verwehrt! Aber bald sollten wir von österreichischer Polizei noch andere Annehmlichkeiten erfahren.

In Linz verlangte der Polizei-Commissär von Colloredo, er solle mit seinem Gouverneur weiterreisen, und erst auf die Drohung des Grafen, er werde dies sogleich seinem Vater (dem Generalfeldzeugmeister in Wien) melden, erhielt er die Erlaubniß, die Reise mit mir fortzusetzen. Der Gouverneur aber, ein alter, schwächlicher Herr, trat – nachdem er seinen Zögling mir auf die Seele gebunden – seinen Rückweg nach Prag an.

Es folgten nun Tage der seligsten Reisezeit. Begünstigt vom herrlichsten Wetter, voll jugendlicher Empfänglichkeit für alles Schöne, Große und Gute, schwelgten wir in den Gaben, welche die wunderreiche Natur des Salzkammergutes bietet. Wir durchschifften die Seen, erstiegen die Alpen, fuhren in die Schachte der Salzbergwerke, lernten das Leben in den Sennhütten kennen, kletterten mit den Jägern den Gemsen nach und kehrten immer wieder nach Gmunden am Traunsee zurück, wo wir von den Bewohnern des Städtchens uns wie liebe Freunde und Verwandte behandelt und selbst zu Familienfesten gezogen sahen.

Auf Sonnenschein folgt Regen! Er sollte auch uns nicht ausbleiben. In Salzburg angekommen, erfuhr ich vom Polizeicommissär, mein Paß laute auf Salzburg, hiermit sei meine Reise zu Ende. Ich reiste auf einen kgl. preuß. Ministerialpaß, in welchem Salzburg als Richtung der Reise, aber mit einem „und weiter“ angegeben war. Ohne neue Visa eines österreichischen Gesandten konnte ich nicht weiter, und so entschloß ich mich, um diese zu erlangen, nach München zu gehen, und versprach meinen Reisegefährten, nach fünf Tagen mit ihnen in Berchtesgaden zusammenzutreffen. Es war eine hübsche Aufgabe, vier Tage nacheinander je zehn Meilen, dazwischen am Münchner Rasttag eine große Anzahl Gänge zu machen zur Erlangung der Visa! Sie ward gelöst, die Reise von Berchtesgaden aus gemeinschaftlich über den Hirschbüchl in’s Pinzgau fortgesetzt.

Unsere Absicht war, über die Naßfelder Tauern in’s Pusterthal zu gehen; allein in Gastein erfuhren wir zu unserem Leidwesen, es sei so tiefer Schnee gefallen, daß ein Uebergang unmöglich wäre. Wir mußten umkehren und wandten uns nun von Lend aus westlich durch’s Pinzgau nach Kriml. Wir kamen im Dorfe zeitig genug an, um noch den nahen großen und schönen Wasserfall aufzusuchen. Hier hatten wir ein kleines Abenteuer, das uns lächerlich genug dünkte. Während wir der scheinbar in weiten Gewandfalten über die Felswand ausgebreiteten Wassermasse und ihrer sanften Bewegung zusahen, trat aus dem Gebüsch ein Polizeisoldat vor und an uns heran und frug nach unsern Pässen. Ich reichte ihm den meinigen, bemerkte aber sogleich, daß er ihn nicht las, oder lesen konnte, denn er hielt ihn verkehrt. Dann sagte er, ohne die andern Pässe in die Hand zu nehmen, mit pfiffiger Miene: „Hab’ schon die Ehre zu kennen, von Linz her,“ und ging weiter. Wir waren zu harmlose Wanderer, um uns dabei etwas Besonderes zu denken; nur als ich im Wirthshaus auf meine Frage an den Wirth, ob der dasige Gensd’arm kürzlich in Linz gewesen, eine verneinende Antwort erhielt, kam mir ein flüchtiges Bedenken.

Doch unsere Gedanken nahmen sehr bald eine andere Richtung, als wir die Bekanntschaft einiger Viehtreiber machten, die den Vorsatz hatten, am nächsten Tag mit einer Heerde Hornvieh über die Tauern zu gehen. Natürlich schlossen wir uns an; denn gerade auf die Alpenhöhen und einige Beschwerden und Fährlichkeiten war unser Sinn vornehmlich gerichtet. Letztere waren nicht groß; aber an Beschwerden hatten wir keinen Mangel. Wer mit einer Anzahl Viehtreiber eine Nacht in einem Tauernhaus zugebracht, wird davon zu erzählen wissen, wenn ihm auch nicht im Schnee das Schuhwerk erweicht worden und von den Füßen gefallen sein sollte, wie mir damals. Aber alle Leiden waren vergessen, als uns das liebliche Pusterthal aufgenommen, in welchem wir nun mit immer wachsender Lust hinabwanderten, mit der frohen Hoffnung, in Botzen und Meran halbitalische Luft und Landschaft und süße Trauben in Fülle zu finden. Wir wurden unsanft aus unsern Träumen aufgeweckt!

Am 27. September, am Abend eines der schönsten Herbsttage, die den Himmel auf die Erde zu bringen scheinen, waren wir in Clausen angekommen und hatten im Gasthof zum weißen Rössel freundliche Aufnahme gefunden. Gegen Mitternacht wurde ich aus dem Schlaf aufgerüttelt. Ein Herr in Uniform trat in Begleitung einiger andern Männer an mein Bett, erklärte mich nebst meinen Reisegefährten „auf höhern Befehl“ für Gefangene, nahm alle Reiseeffecten von uns zu sich, und ließ, nachdem er den Thatbestand zu Protokoll gebracht und sich entfernt hatte, sechs Mann Wache bei uns zurück.

Wir waren in der That wie aus den Wolken gefallen, und Keiner von uns konnte nur im Entferntesten einen Grund der über uns verhängten Maßregel errathen. Harmlosere Wanderer konnte es nicht geben; wir waren glücklich in Wanderlust, im Genuß der herrlichen Natur, in gegenseitiger Freundschaft und Erheiterung, waren mit keiner Seele in Streit gekommen, hatten auch nirgend politische Gespräche geführt und waren den Paßvorschriften auf’s Pünktlichste nachgekommen. Nur eine Vermuthung blieb offen: ich hatte die malerische Ansicht des Klosters Seben bei Clausen und seiner Umgebung in mein Skizzenbuch gezeichnet, und in Erinnerung an das Verfahren der Budweiser Polizei tauchte in uns der Verdacht auf, daß hier der Frevel durch mich geschehen sei, der uns um unsere Freiheit brachte. Es war ein Irrthum.

[89] Am andern Morgen wurden wir in’s Verhör geführt, aber abgesondert vernommen. Auch nun kam keinerlei Anklage zum Vorschein; die an mich gerichteten Fragen waren großentheils durch den Paß beantwortet. Nur zwei derselben gingen weiter und deuteten auf Veranlassung unserer Gefangennahme: ich sollte angeben, mit welchen Personen wir auf der Reise zusammengetroffen und was wir mit ihnen und unter einander gesprochen. Letztere Frage war so albern, daß der Landrichter – das war auch der uniformirte Herr der Nachtscene – selber lächeln mußte; die erstere ließ sich natürlich auch nur unvollständig beantworten, da der Personen so viele, aber meist (für unser Gedächtniß) namenlose gewesen, mit denen wir in gewöhnlichen Reiseverkehr gekommen. Alle diese Fragen erwiesen sich auch sehr bald als leere Formalität, und der Landrichter, ein humaner und verständiger Mann, dem die Verhandlung offenbar peinlich war, äußerte mir geradezu: „Ich sehe, man hat mir eine sehr unangenehme Arbeit und Ihnen eine ganz unnöthige Störung Ihrer Reise gemacht. Ich bin aber nur eine Vollzugsbehörde und muß höhern Befehlen gehorchen. Diese lauten dahin, daß Sie Ihre Reise nicht nach Botzen fortsetzen dürfen, daß Sie vielmehr auf dem kürzesten Wege nach Innsbruck gehen, nicht aber in Gemeinschaft wie bisher. Graf Colloredo und H. Pichler werden noch heute dahin abreisen; Sie werden Clausen erst morgen verlassen. Aber ich erlaube mir, Sie Nachmittag zu einem Spaziergang einzuladen, da Sie Freund von landschaftlichen Schönheiten zu sein scheinen.“ Auf meine wiederholte Anfrage nach dem Grund des gegen uns eingeschlagenen Verfahrens erfuhr ich nichts Anderes, als „es geschehe auf höheren Befehl“; dieser selbst aber ward mir nicht gezeigt, noch mitgetheilt, von wem er ausgegangen.

Ein kurzer Abschied ward den drei Freunden gestattet; er war – nach so froh verlebten Tagen herzlicher Gemeinschaft – bitter genug. Der Nachmittagspaziergang (ins benachbarte Kapuzinerkloster) war sehr schön; der Landrichter benahm sich durchaus gut, stellte auch keine Wache mehr vor meine Thür im Wirthshaus, und so hoffte ich das Schwerste hinter mir zu haben.

Am andern Morgen wurde ich noch einmal aufs Landgericht geladen. Der Landrichter eröffnete mir, ich würde – da ich es wünschte – meine Reise zu Fuß machen, ein Diener in Civil würde mich begleiten und meine Sachen tragen. Mein Einverständniß damit hatte ich durch meine Unterschrift kund zu geben. Man ließ mir meinen mineralogischen Stock und meine Zeichenmaterialien, dazu die Landkarte und ein Buch zum Lesen, nicht aber meinen Paß; „ihn hat der Führer,“ hieß es. Die Reise ging trefflich von statten; das Wetter war günstig und der Führer ein ganz ordentlicher Tyroler. In Brixen ward ich aber nicht, wie ich wünschte, in den „Elephanten“, sondern ins Polizeigebäude geführt und, nach stundenlangem Stehen in einem Vorraum, endlich von einem alten Männchen durch dunkle Klostergänge – in ein Wirthshaus? nein! – in ein Gefängniß gebracht. Es war ein kleiner Raum von etwa 6 Fuß im Quadrat, mit einer Pritsche an der einen Wand, einem halbzerbrochnen Wasserkrug daneben, einem ganz zerbrochenen, aber vergitterten Fenster darüber. Mein altes Männchen nahm mir „auf höheren Befehl“ Alles ab, was mir der Landrichter in Clausen noch gelassen hatte, wünschte mir freundlich „Lebewohl“ und verschloß und verriegelte meine Thüre.

Auf diese Anwendung des seinem Wortlaut nach ganz unverfänglichen Spruches des Clausener Landgerichts war ich nicht gefaßt. Nachdem man mich etwa eine Stunde oder länger meinen Gedanken überlassen, kam das alte Männchen mit einem (wohl seinem) alten Weibchen und einer Schüssel Wassersuppe, die sie mich einluden, mit „gutem Appetit“ zu verzehren, wozu ich mich bereit finden ließ, da eine Wahl mir nicht gelassen war. Es waren gutmüthige Leute, die mir durch ihre Gesellschaft wenigstens eine Stunde lang die Kerkerhaft erträglicher machen wollten. Wieder allein hinter Schloß und Riegel, streckte ich mich aufs Lager und suchte im Schlaf Vergessen der widrigen Gegenwart. Durch’s offene Fenster tönte Tanzmusik und gab mir mit der Vorstellung fröhlicher und freier Menschen angenehme Traumbilder, die mich bis zum Morgen umgaukelten. Da wecke mich Kettengerassel vor meiner Thür. „Wo kommt er hin?“ hörte ich fragen, und die Antwort: „nach Innsbruck aufs Zuchthaus!“ Mir ward nicht wohl dabei zu Muthe; denn wo hatte ich Aussicht auf irgend einen Beistand? Die Kerkerthür ward geöffnet, aber sogleich wieder geschlossen: ich war nicht die gesuchte Person. Eine Stunde später ward ich zur Weiterreise abgeholt, die unter den Verhältnissen, wie von Clausen aus, stattfand. Der Weg war eben so erfreulich durch landschaftliche Schönheiten, als interessant durch geschichtliche Erinnerungen an den Krieg von 1809, den mein Führer als Tyroler „Aufständischer“ mitgemacht.

Schon Tags zuvor hatte ich bemerkt, daß ein Wagen mit zwei Personen in einiger Entfernung mir und meinem Begleiter gefolgt war. Heut fuhr er vor uns her, und bald sah ich, daß der eine der Passagiere in Ketten war. Es war der für das Innsbrucker Zuchthaus bestimmte Arrestant, ein – wie mein Führer mir sagte – verurtheilter, seiner Haft entsprungener und wieder eingefangener Strauchdieb. Ich sollte bald seine nähere Bekanntschaft machen.

In Sterzing, im Polizeigebäude – von einem Wirthshaus war keine Rede mehr – um 11 Uhr Vormittags angelangt, drang ich sogleich auf Weiterreise, da das Wetter unvergleichlich schön war und ich sehnlichst wünschte, aus der höchst unangenehmen Lage, in die ich ganz unverschuldet gekommen, mich befreit zu sehen. Meine Bitten und Vorstellungen fanden kein Ohr. Neben dem Zuchthäusling stand ich vor dem tauben Polizeicommissär, und als ich endlich noch einmal ihn eindringlich frug: „Ist’s wahr, daß ich heute nicht weiterreisen soll?“ antwortete er: „das wird Er gleich sehen!“ zog die Klingel, und nun traten zwei baumstarke, riesige Urtyroler ein mit Schlüsseln und Stöcken und commandirten „Arrestanten! Marsch!“ und so wurde ich mit dem Verbrecher zugleich abgeführt. Nachdem dieser untergebracht worden, geleiteten mich die Polizeiknechte durch einen langen, dämmerigen, feuchten Gang bis vor eine kleine vergitterte Thüre, schlossen diese auf, stießen mich in das dahinter befindliche Loch, und verwahrten alsbald wieder die Thüre mit Riegeln und Schlössern. Dafür also hatte ich mich nach den Tyroler Bergen und seinem Kernvolk gesehnt; dafür hatte ich den Bacchuszug nach Indien mit Aufwand all meiner Gelehrsamkeit und mit gutem Erfolg beschrieben, um hier hinter feuchten Gefängnißmauern Betrachtungen anzustellen über die Ergötzlichkeiten einer Reise durch kaiserliche Lande! Zuerst war von meinen Sinnen nur die Nase in Anspruch genommen durch den in dem Loche herrschenden pestilenzialischen Geruch, der kaum zu athmen gestattete. Als sich das Auge etwas an das Dunkel um mich gewöhnt, nahm es eine Art Lager wahr. Ich versuchte mich darauf zu strecken; aber im Augenblick wurde ich von gierigem Ungeziefer derart überfallen, daß ich in aller Hast mich flüchten mußte. Wohin ich jedoch trat, empfing mich nur größeres Ungemach, der Kerker war – vielleicht seit undenklichen Zeiten nicht gereinigt – durch den in einer Ecke stehenden überlaufenden Kübel zu einem Kothloche geworden.

Nach einer Stunde kamen die beiden Polizeiknechte, mich „zum Essen“ abzuholen. Sie führten mich in ein tiefer liegendes Gefängniß. Da fand ich den Zuchthäusler in Ketten auf faulem Stroh; vor ihm stand ein hölzerner Napf mit einem – Hundefutter. Das sollte ich mit ihm gemeinschaftlich genießen. Abgesehen davon, daß der Mensch nicht nur den Stempel des ganz gemeinen Verbrechers, als welcher er verurtheilt worden, auf seinem Gesichte ausgeprägt trug, so war auch sein Anblick so ekelerregend durch die Zeichen der scheußlichsten Krankheit um Mund und Nase, daß ich entsetzt zurücktrat und zum Commissär geführt zu werden verlangte. Dies ward mir verweigert oder für unmöglich erklärt, aber als ich entschieden mich widersetzte, mit jenem Mitgefangenen aus demselben Napfe zu essen, gestattet, in meinem Kerker aus einem besonderen Napfe die Mittagskost zu nehmen. Es war ein Mahl, um das mich kein verhungernder Hund beneidet hätte, und ich habe zum Andenken daran den getrockneten Teig eingesteckt, den man mir als Brod zum Wasser gereicht.

Bald war ich wieder allein in meinem Kerkerloch. Der Gang vor demselben lag unterhalb der Straße und erhielt einiges Licht durch eine Art Kellerfenster. Ein Schimmer davon drang auch in mein Verließ und erzählte mir von der Lieblichkeit der Nachmittagsonne und der Pracht der von ihr überglänzten Alpenlandschaften. Zuweilen hörte ich die Tritte der auf der Straße Vorübergehenden; im Hause aber herrschte Todtenstille. War es die Phantasie, die mich auf den Schwingen verstohlen eindringender Lichtstrahlen in’s Freie trug, auf die sonnigen Felsenhöhen, zu rauschenden Waldbächen, grünen Matten und schneeigen Gipfeln und allen Naturschönheiten [90] des Landes meiner Sehnsucht; war es der ungeheure Contrast zwischen dieser Sehnsucht und der Lage, in die sie mich geführt, oder das Bewußtsein gänzlicher Schuldlosigkeit – da mir auch nicht das Geringste, nicht das lumpigste Polizeivergehen, etwa die Unterlassung einer Polizeivisa oder dergleichen vorgeworfen werden konnte, noch vorgeworfen worden war – gegenüber einer brutalen, aber ganz unangreifbaren Gewalt: kurz, mich durchdrang plötzlich eine innere Freudigkeit, vor der das Dunkel meines Verließes schwand und seine Mauern wichen. Ich mußte mir Luft machen im Gesang, und nachdem ich Luthers „Feste Burg“ mit aller Inbrunst durchgesungen, holte ich meinen ganzen Liederschatz hervor, geistlich, weltlich, Kriegslieder, Volkslieder, Studentenlieder, von „Lützow’s Jagd“ bis zum „Bursch von echtem Schrot und Korn“ und dem „Käfer, der auf dem Zaune saß“, und fand gar kein Ende; denn zu meiner eigenen Ueberraschung fiel mir immer wieder ein neues ein.

Endlich – es war längst stockfinstere Nacht geworden – schien doch die Natur erschöpft und verlangte Ruhe. Das Strohsacklager mit seinem lebendigen Inhalt hatte keinen Reiz für mich; ich tastete mich in den dem Kübel entgegenstehenden Winkel, quetschte mich stehend in die Ecke und verlor bald die wirkliche Welt aus dem Bewußtsein. Aber nach einiger Zeit mochte ich auch das Gleichgewicht verloren haben: ich erwachte, am Boden in einer Schmutzlache sitzend. Zugleich vernahm ich, wie draußen an die Gangfenster heftige Regengüsse anschlugen und der Wind durch die Straße pfiff. Es war Morgen geworden, und bald hörte ich das Gerassel der Schlüssel, die meine Kerkerthüre öffneten. Nach dem Genuß einer Suppe, wie der gestrigen, ward ich hinabgeführt.

Vor dem Polizeigebäude hielt ein Karren, auf welchem bereits der mehrgenannte Sträfling angekettet saß. „Aufgesessen!“ herrschte der Polizeiknecht mich an. „Das thue ich nicht!“ war meine Antwort. „Ich setze meine Reise nach Innsbruck zu Fuß unter Begleitung eines Führers fort. Das allein habe ich unterschrieben. Mir ist nicht das Geringste zur Last gelegt, und Ihr wollt mich wie einen gemeinen Verbrecher behandeln. Ich verlange den Herrn Commissär zu sprechen.“ Statt aller Antwort that einer der Polizeiknechte einen Pfiff; Beide aber packten mich mit Gewalt, hoben mich auf den Karren und setzten mich neben den Sträfling. Im selben Augenblick wurde aus dem obersten Stockwerk des Gebäudes eine Kette geworfen, und ehe ich mich’s versah, war sie mir um’s Bein gelegt und mit dem andern Ende an den Karren befestigt.

So war ich denn ohne Anklage und ohne Spruch, ja selbst nicht einmal nach einer Voruntersuchung, in eine Lage gebracht, die mich einem schweren Verbrecher oder einem eines schweren Verbrechens Angeklagten gleichstellte. Das ist aber die nothwendige Folge einer illiberalen Staatsraison, die – wenn noch so anständig in den obern Regionen ausgeübt – in den Händen der Beamten in untern Schichten aus bloßem Diensteifer zur rohesten Gewalt ausartet. Es war diesen gemeinen Polizeiknechten nicht genug, mich mit meinem ohnmächtigen Widerstand verlachen zu können: sie mußten ihr Müthchen noch weiterhin kühlen. Der Himmel ergoß sich in strömendem Regen; die Dachrinnen von Sterzing spieen ihre Wasser aus Drachenköpfen von oben und von beiden Seiten auf die Mitte der Straße. Das gab den Polizeiknechten die erwünschte Gelegenheit, ihren auf den Karren angeschlossenen Gefangenen, indem sie uns immer unter die Traufe führten, ein kaltes Sturzbad zu bereiten, woran sie ein um so größeres Vergnügen empfanden, je unangenehmer, ja, je schrecklicher die Wirkung auf uns, namentlich auf mich, war. Ich hatte nur leichte Sommerkleider an und bereits keinen trockenen Faden mehr auf dem Körper, als wir Sterzing hinter uns hatten; dabei regnete es unaufhörlich und war empfindlich kalt, und auf dem engen Karrensitz dicht an den Sträfling geschlossen, fühlte ich so zu sagen seine nasse Haut auf der meinigen. Von der ekelhaften Krankheit, die ihm im Gesicht stand, sprach ich schon; man kann denken, wie mir um’s Herz war: das Singen von voriger Nacht war mir vergangen. Auf der Höhe des Brenners ließ der Regen nach, und nun kam uns ein eisiger Nordwind entgegen, der Wäsche und Kleider auf dem Leibe trocknete. Ich fühlte deutlich eine schwere Krankheit wie durch eine offene Thür eintreten.

Es war Mittag geworden, als wir in Steinach ankamen. Die Leute im Dorfe waren mit Abernten der Aepfel- und Nußbäume beschäftigt, und als ich eine Familiengruppe, an der wir vorscherfuhren, grüßte, weil sie theilnehmend auf mich zu blicken schien, erhielt ich einen so freundlichen Gegengruß, daß ich mich doch wieder unter Menschen fühlte. Vor der Steinacher Obrigkeit gab’s keinen Unterschied mehr zwischen mir und meinem aufgedrungenen Reisegefährten: wir wurden in ein Gefängniß gesperrt und bekamen die Mittagkost in einer Schüssel vorgesetzt. Bereits fehlte mir die Lust oder die Kraft, mich zu widersetzen; aber es ward auf andere Weise für mich gesorgt. Am Gitter der Gefängnißthür erschien ein allerliebster Mädchenkopf und winkte, und als der Sträfling sich nahte, sagte der Kopf: „Nein, der Andere!“ Und so ging ich an das Gitter, und das Mädchen – es gehörte zu der von mir gegrüßten Familiengruppe – reichte mir einige Aepfel, Nüsse und ein Stück Brod, sagte kein Wort und – verschwand. Andächtiger habe ich nie zu Mittag gegessen.

Beim Eintritt in ein Gefängniß war mir in der Regel abgenommen worden, was man bei mir in den Taschen und Händen fand; beim Austritt erhielt ich’s zurück. In Sterzing aber hatten meine beiden sehr schönen Taschenmesser soviel Verdacht erregt, daß ich sie nie wieder zu Gesicht bekam. Als der Commissär von Steinach im Begriff war, mir das eben Abgenommene wiederzugeben, und vorher noch meine Reisekarte von Deutschland aufschlug, brach er in die Worte aus: „Da haben wir’s! Das ganze Deutschland auf einem Blatt! Das ist die offenbare Revolution!“ und damit behielt er die Reisekarte zurück, und nie habe ich sie wieder gesehen.

Es war gegenüber dem Schicksal des vorigen Tags eine große Vergünstigung, daß ich desselben Tags noch ein Tyroler Gefängniß kennen lernen sollte. Wir wurden auf’s Neue auf einen Karren gesetzt und fuhren bis Matrey. Die Schönheit des Abendhimmels und der wundervollen Landschaft unter ihm hatten mir die Hoffnung erregt, auch zu mildern Menschen zu kommen und meine Lage sich besser gestalten zu sehen. Die Enttäuschung ließ nicht auf sich warten. Ich bat den Commissär in Matrey, der uns in Empfang nahm, unter kurzem Reisebericht, er möge mir die Kette wieder abnehmen, mit welcher Hand und Fuß zusammengeschlossen waren. „Meine Instruction verlangt,“ antwortete er, „die Arrestanten so zu behandeln, wie ich sie bekomme,“ und zum Hohne seiner eigenen Worte ließ er mich mit dem Sträfling in ein Gefängniß sperren und uns durch eine Kette zusammenschließen. Natürlich auch wieder nur ein Napf mit Brodsuppe, aber wirklich zwei Löffel! Ich erlangte von meinem Mitgefangenen die Gunst, daß er mir gestattete, erst allein einige Löffel der schwarzen Kost zu mir zu nehmen, worauf ihm das Uebrige zu behaglichem Genuß verblieb. Aber schwierigere Aufgaben blieben zu lösen, daran ich noch jetzt nach mehr als vierzig Jahren nicht ohne Schaudern denken kann. Für die eine fehlt mir das Wort, mit dem ich nicht das Gefühl der Leser verletzen möchte. Wie aber sollte es mit dem Schlafen werden, für das es für uns ohnehin zusammengeketteten Menschen nur eine Stelle gab? Zum Glück hörte ich eine Thurmuhr schlagen. Ich machte deshalb meinem Gefährten den Vorschlag, die Bettstelle – eine Pritsche mit Strohsack – derart zu benutzen, daß wir abwechselnd darauf liegen sollten, Einer immer zwei Stunden, während dessen der Andere daneben sitzen und nach Verlauf der Zeit ihn wecken sollte. Der Vertrag ward geschlossen; ich machte den Anfang, schlief wider Erwarten ruhig zwei Stunden und überließ nun für den übrigen Theil der Nacht das Lager meinem Mitgefangenen. Das Gefängniß war reinlich, auch frei von Ungeziefer; dennoch war die Nacht peinlicher fast, als die Sterzinger, die ich zum großen Theil mir weggesungen. Ich habe aber dabei erfahren, daß ein junger und gesunder Mensch viel aushalten kann, und darauf scheint die österreichische Polizei gerechnet zu haben.

Waren wir von Sterzing her auf Armesünderkarren von Pferden geführt worden, die besser zum Abdecker gehörten, so bekamen wir in Matrey wenigstens ein gutes Fuhrwerk und ein gutes Pferd davor, so daß wir zeitig des Vormittags in Schöneberg eintrafen. Auch hier berief sich der Commissär, den ich bat, meine Fesseln zu lösen, auf seine „Instruction“, und bedauerte zugleich, meinem zweiten Verlangen nach sofortiger Weiterreise nicht entsprechen zu können, da er vor morgen kein Gefährt zur Verfügung habe.

„Wenn Sie zu Fuß nach Innsbruck gehen wollen –“

„Ja, mit Vergnügen,“ erwiderte, ich; „dann fallen die Ketten ja wohl von selber.“

[91] „Bedaure sehr,“ war die Antwort.

„Nun denn in Gottes Namen, auch in Ketten! Es muß in Innsbruck doch anders werden!“

Und so marschirte ich, zusammengeschlossen mit dem Sträfling, ich die Kette an der Hand, er am Fuß, von Schöneberg nach Innsbruck, einen Gensd’arm vor uns, einen hinter uns, und einen an jeder Seite; allerdings zu nicht geringem Erstaunen der Menschen, die uns begegneten. Unmittelbar vor der Stadt ging ein Mann an uns vorüber, den einer der Gensd’armen grüßte und dann gegen seinen Cameraden mit Namen nannte. Beim Klang dieses Namens erinnerte ich mich, daß ich ihn auf der Reise schon gehört, ja – daß ich einen Auftrag an ihn hatte. Im Salzkammergut nämlich hatte sich eines Tags ein Reisender zu uns gesellt, der sich als einen Mönch (ich glaube aus Kloster Admont) zu erkennen gab. Er botanisirte, und da ich mich auch um die Alpenflora bekümmerte und zugleich etwas mineralogisirte, so waren wir bald näher bekannt worden, so daß es ihm sehr bitter ankam, uns nicht auf der weitern Wanderung begleiten zu können. Beim Abschied aber bat er mich, wenn ich nach Innsbruck käme, seinen Bruder, der dort Regierungsrath wäre, zu besuchen und herzlich zu grüßen. Dazu schrieb er mir ein paar Worte an ihn mit seinem Namen auf ein Zettelchen, und wir sagten uns herzlich und schmerzlich Lebewohl. Dies Zettelchen fiel mir jetzt ein, und daß ich es in meine Westentasche gesteckt hatte. Wunder über Wunder! es war allen Polizeidurchsuchungen entgangen und stak noch darin. Ich bat sogleich einen der Gensd’armen, den Hrn. Regierungsrath – ich finde leider seinen Namen in meinem Gedächtniß nicht mehr, und die Tagebücher der Reise bis Clausen, worin er stand, habe ich nie zurückerhalten – zu fragen, ob ich ihn sprechen könne. Ich sah deutlich die verneinende Miene des Regierungsrathes, worauf ich ihm den Zettel seines Bruders durch den Gensd’arm einhändigen ließ. Darauf stutzte der Mann, sah mich einen Augenblick an und kehrte rasch um, nach der Stadt zurück, ohne ein Wort an mich zu richten.

Er war aber offenbar nach der Polizei gegangen und hatte dort Anordnungen bewirkt, die ich sogleich wahrnehmen sollte. Es kam mir nämlich schon im Vorsaal des Polizeiamtes ein Cominissär entgegen, ließ mir sogleich die Kette abnehmen, begleitete mich unter vielen Entschuldigungen mißbrauchter Gewalt der Unterbehörden in ein ziemlich elegant eingerichtetes Zimmer und frug nach meinen besondern Wünschen. Für ein gutes Abendessen wurde Sorge getragen, ein ordentliches Bett stand bereit, und die Bestimmung meiner Abreise wurde mir freigestellt. Ich hatte zunächst zwei Wünsche: erstlich, zu wissen, aus welcher Ursache meine Reise die erlebte Störung erfahren, sodann am Morgen das Grabmal Kaiser Maximilian’s sehen zu dürfen.

„In Betreff Ihrer ersten Bitte thut es mir sehr leid,“ sagte der Commissär, „aus eigner Unkunde die Antwort schuldig bleiben zu müssen. Ihre Verhaftung ist „auf höheren Befehl“ erfolgt – so steht’s im Act – weiter weiß ich nichts. Die zweite Bitte bin ich leider eben so wenig im Stande zu erfüllen. Sie dürfen das Haus nur verlassen, um weiter zu reisen, und zwar an die bayrische Grenze. Es wird morgen früh ein Wagen bereit sein, Sie in Gesellschaft eines Polizeibeamten in Civil bis an die Scharnitz zu führen; dort wird man Ihnen Ihre Reiseeffecten einhändigen und Sie vollkommen in Freiheit setzen.“

Nach Allem, was ich in den letzten Tagen erduldet, und gegenüber einer völlig unnahbaren Macht, mußte ich meine neue Lage beneidenswerth finden, wenn mir auch dabei kein Verlangen aufstieg, eine zweite Reise nach Tyrol zu machen. Der Commissär hielt Wort, ein anständiger Reisewagen mit einem anständigen Begleiter brachte mich nach der Scharnitz. Hier erhielt ich nebst meiner Freiheit meinen Reisebündel, aber ohne meine Tagebücher und statt meines preußischen Ministerialpasses einen von der Innsbrucker Polizei ausgefertigten. Den mir damit gespielten perfiden Streich zu pariren, war mir unmöglich gemacht, da mein polizeilicher Begleiter natürlich nichts anders geben konnte, als was ihm für mich übergeben war, und so mußte ich, mit dem Verdacht behaftet, legitimationslos in Tyrol gewesen zu sein, die bayrische Grenze überschreiten.

Ich hatte indessen nicht viel Zeit und Kraft zum Nachdenken mehr. Ich fühlte mich ziemlich schwach, und in Mittenwald zeigten sich deutlich die ersten Zeichen der Krankheit, die ich mir auf der Fahrt über den Brenner geholt. Zu Fuß, das sah ich, konnte ich die Reise nicht fortsetzen, ebensowenig die Erschütterung im Wagen aushalten. Da boten sich Flößer an, mich mit nach München zu nehmen, und so schwamm ich denn auf der lieblichen Isar der bayrischen Hauptstadt zu. Bereits war ich so kraftlos, daß mir bei der Ankunft die Füße versagten, und meine mitleidigen Flößer hoben mich von ihrem Fahrzeug und trugen mich in das Wirthshaus von Bögner im Thal, wo ich gastliche Ausnahme fand, unter der Aufregung des eintretenden Fiebers aber nicht dazu kommen konnte, mich meiner wiedererlangten Freiheit zu freuen und von den dargebotenen Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten Gebrauch zu machen.

Ich weiß nicht, wie meine Ankunft bekannt oder besprochen worden sein mag. Kurz, ich erfuhr während der zwei Monate, die ich schwer krank in München lag, die größte Theilnahme von Jung und Alt, selbst von den bedeutendsten Männern der Münchener Gelehrtenwelt. Ja, ein junger Maler aus Hamburg nahm mich gastfreundlich in seine Wohnung auf. Endlich um Jahresschluß, im harten Winter und tiefen Schnee, trat ich meine Rückreise nach Berlin zu Fuß an. Heute noch ist mir unbegreiflich, wie ich’s ohne Nachtheil für meine Gesundheit zu Stande gebracht habe!

In Berlin machte mein Erlebniß einiges Aufsehn. Minister v. Altenstein lud mich zu sich und ließ sich ausführlichen Bericht erstatten. Das auswärtige Ministerium nahm sich meiner an. Es verlangte Auskunft in Wien, zu wiederholten Malen, und erhielt immer dieselbe Antwort, man werde Erkundigungen einziehen. Nie aber ist eine erklärende Antwort erfolgt, und nachdem ich im Jahre 1823 Berlin verlassen, ist wohl nie wieder davon die Rede gewesen, um so weniger, als man damals in Preußen die studirende Jugend kaum anders behandelte, als in Oesterreich.

Inzwischen sollte ich doch noch, wenn auch spät, einen Aufschluß erhalten, der freilich den Vorgang nicht erbaulicher erscheinen läßt. Im Jahre 1826, auf meiner ersten Reise in Italien, traf ich unvermuthet, in den Uffizien zu Florenz, mit meinem alten Freunde, Franz Colloredo, wieder zusammen. Ich hatte ihm nicht geschrieben, er mir nicht, um jeder Verdächtigung durch Spione und Angeber den Weg zu verlegen, und so war dies Wiedersehen die erste Berührung nach der Trennung in Clausen. Unsere gegenseitige Freude war groß, und wir saßen bald bei einer Flasche Aleatico traulich beisammen. Natürlich kam sogleich unser Abenteuer zur Sprache. Er hatte von meiner Mißhandlung nur oberflächliche Kunde, von meinen oder vielmehr den preußischen Bemühungen um Aufklärung der Sache gar keine. „Weißt Du denn,“ frug ich, „den Zusammenhang?“

„Wohl weiß ich ihn,“ antwortete er, „und die Geschichte ist infam genug. Erinnerst Du Dich des Linzer Gensd’arm am Krimler Wasserfall? Der gehört schon hinein. Entsinnst Du Dich der Hindernisse, die der Linzer Polizei-Commissär meiner Weiterreise in den Weg gelegt? Der – hat uns auf dem ganzen Wege verfolgt und Schlingen gelegt. Dieser Polizei-Commissär war Jäger bei meinem Vater und wurde wegen Diebereien von diesem mit der Peitsche aus dem Hause gejagt. Da hat er meinem Vater Rache geschworen, ist zur Polizei gegangen, hat sich als Spitzel anwerben lassen und ist bald wegen seiner Verdienste mit dem Polizeicommissariat Linz belohnt worden. Ich bin ihm wie gefunden in die Hände gefallen; Du als deutscher Student gabst die bequemste Handhabe zu Verdächtigungen. Um zu verhindern, daß Du mich verleitetest, mit Dir zu den Revolutionären nach Neapel zu gehen, erließ er den Befehl, uns aufzuheben, und hat sich damit in Wien besonders schön und breit gemacht. So hängt die Geschichte zusammen.“

„Ich gestehe,“ sagte ich, „die Auflösung übertrifft das Räthsel an Unfaßlichkeit, und wärst Du’s nicht, ich könnte es kaum glauben. Nun aber liegt’s hinter uns, ich bin gesund; die Begebenheit hat mich – was ich Dir ein ander Mal erzählen will – aus der Bücherwelt in die Künstlerlaufbahn getragen; ich bin hundertfältig beglückt und im nächsten Monat tausendfältig selig – vor dem Altar! Und nun laß uns heitern Muthes vergangener Leiden gedenken!“

Seitdem ist wieder manches Jahr vergangen, doch meine denkwürdige Lustreise durch’s Tyrol lebt noch ungebleicht in meinem Gedächtniß. Hoffen wir, daß für keinen unserer Leser je ähnliche Spaziergänge im Buch des Schicksals und der – Polizei verzeichnet stehen!

[92]
Eine auf- und niedertauchende Insel.

Im mittelländischen Meere bereitet sich zur Zeit ein Phänomen vor, welches die allgemeine Aufmerksamkeit in hohem Grade auf sich zieht, und zu dessen näherer Beobachtung zahlreiche naturwissenschaftliche Wallfahrten in’s Werk gesetzt werden. Eine neue Insel ist im Begriff sich zu bilden. Mitten aus dem Wasser heraus wächst der Grund des Meeres, so daß er in kurzer Zeit über den Spiegel hervorragen wird. Die Stelle, wo dies geschieht, liegt in der Straße zwischen Sicilien und der afrikanischen Küste, und wird auf der Karte ziemlich genau durch den Mittelpunkt der Verbindungslinie bezeichnet, welchen man zwischen der sicilianischen Stadt Sciacca und der kleinen Insel Pantellaria ziehen kann.

Wenn man die Verhältnisse jener Gegend kennt, so weiß man, daß diese ein großes vulcanisches Gebiet darstellt, welches im Norden Siciliens durch die liparischen Inseln, mit dem ewig brennenden Stromboli und der Insel Ustica, im Osten durch den altehrwürdigen Aetna, im Süden durch die schon genannte Insel Pantellaria begrenzt wird, deren Fundament aus lauter Laven und vulcanischen Schlacken gegründet ist. Die Südwestküste Siciliens mit den reichen Schwefellagern Girgenti’s und den um Sciacca zahllos entsprudelnden heißen Quellen giebt den sprechendsten Beweis, daß auch hier, wie im Norden und Osten, die Aeußerungen der gewaltigen unterirdischen Kräfte ihre Endschaft noch nicht erreicht haben. Nur treten sie für gewöhnlich nicht so großartig zu Tage wie dort. Die Decke, welche im Laufe der Zeit sich über ihren Heerd gespannt hat, hat die Verbindungscanäle mit dem Innern, wo die Gluth die Lava in ewigem Fluß erhält, geschlossen, während wir in dem weithinab reichenden Kraterschlund des Stromboli die feurig geschmolzene Masse in fortwährend auf- und absteigender Bewegung erblicken, und durch die wenn auch seltenen Ergüsse des Aetna erinnert werden, daß das große Sicherheitsventil der Insel Sicilien ihr Bestehen in statu quo garantirt. Allein so fest sich auch scheinbar im Südwesten Siciliens der Boden über das feurige Innere gebildet hat, er vermag doch nicht immer den entstehenden Spannungen das Gleichgewicht zu halten. Wenn dieselben ihn auch nicht jedesmal zu zersprengen vermögen, so können sie doch Auftreibungen und blasenförmige Anschwellungen an der Oberfläche bewirken. Zwischen Sciacca und Pantellaria nun steigt jetzt eine Erdblase so rasch empor, daß in kurzer Zeit die Geographen ihre Karten des mittelländischen Meeres wieder werden ändern müssen, wieder, weil es genau an dieser Stelle schon früher und, wie es scheint, zu wiederholten Malen eine Insel gab, die abwechselnd in das Meer versank und wieder emportauchte.

Unter den Schiffern Malta’s lebt eine Tradition von dem früheren Bestehen eines solchen Eilandes, dasselbe findet sich auch auf alten Karten verzeichnet; noch andere Nachrichten erzählen, daß auch zu Anfang des letzten Jahrhunderts hier eine Insel gestanden habe. Alle diese Berichte haben aber für uns ein weit geringeres Interesse als diejenigen, welche sich auf ein Ereigniß zu Anfang der dreißiger Jahre beziehen, weil die Vorgänge von damals gewissermaßen das Programm aufstellen, nach dem das jetzt erwartete Phänomen verlaufen wird.

Man hatte zu jener Zeit keine andere Meinung, als daß das Meer zwischen Pantellaria und Sciacca eine durchschnittliche Tiefe von 5 – 600 Fuß habe. Messungen in den zwanziger Jahren hatten dies bestätigt, und nur östlich von der Linie eine weniger tiefe Stelle, die Bank Nerita, wahrnehmen lassen, auf welcher seit langer Zeit trapanische Schiffer Korallen zu fischen pflegten. Da erblickte am 8. Juli 1831 der Führer der sicilianischen Brigantine H. Gustavo, Namens Francesco Trefiletti, welcher am 6. Juli Malta verlassen hatte und sich auf der Fahrt nach Palermo befand, über jener Tiefe ein eigenthümliches Schauspiel. Bald nach Mittag nämlich bemerkte er in dritthalb (engl.) Meilen Entfernung und nordwestlich von dem Schiffe eine große sich erhebende Wassermasse, auf welche er lossteuerre, um sich zu überzeugen, ob er auch richtig sehe. Als er der Erscheinung bis auf drei Viertelmeilen sich genähert hatte, vernahm er ein donnerähnliches Getöse. Gleich darauf stieg ein schwärzlich gefärbter Wassersprudel empor bis auf eine Höhe von mehr als 80 Fuß und von einer Breite ansehnlicher, als die eines Linienschiffes. Nach etwa zehn Minuten sank das Wasser, dafür aber entwickelte sich aus ihm eine dicke Rauchmasse, welche den ganzen Horizont einhüllte. Alle Viertel- bis halbe Stunden wiederholte sich der Ausbruch; die Erschütterung des Wassers war auf dem Schiffe bemerkbar, und auf der Oberfläche schwammen zahlreiche todte und sterbende Fische.

In Sciacca, der oben erwähnten nächstgelegenen sicilianischen Stadt, wußte man von dem Ereignisse noch nichts, ein trüber Horizont verhüllte die Aussicht auf das Meer. Erst am 12. Juli sah man eine große Menge kleiner Lava- und Bimssteinstückchen auf dem Wasser schwimmen; die Fischer, welche in See gingen, mußten sich weiter hinaus selbst mit dem Ruder durch sie Platz machen. Mit nicht geringerer Verwunderung begegneten sie einer Menge frisch getödteter großer Fische, von denen sie viele aufsammelten und nach Sciacca zum Verkauf brachten. Niemand konnte sich die Ursache erklären, bis man am 13. Juli früh von der Küste aus am Meereshorizonte eine hoch aufsteigende Rauchsäule gewahrte, in welcher sich, als es dunkel wurde, Feuererscheinungen zeigten. Jetzt wurde es Gewißheit, daß sich ein neuer Vulcan im Meere gebildet habe.

Zu derselben Zeit befand sich der berühmte, leider bald darauf inmitten seiner jugendlichen Kraft verstorbene deutsche Geognost Friedrich Hoffmann, dessen classischen Berichten wir diese Thatsachen entnehmen, auf einer wissenschaftlichen Reise durch Italien. Er empfing die Nachrichten von den wunderbaren Ereignissen in Palermo und reiste augenblicklich mit seinen Gefährten ab, um die Erscheinung genauer zu erforschen. Am 20. Juli kam er in Sciacca an. Zwar hatte er schon viele Meilen vorher auf der höher gelegenen Landstraße die Rauchsäule im Meere bemerkt, an der Küste fand er die Schlackenstückchen, welche den feinen Sand des Strandes mit einer dicken Schicht bedeckten, aber keiner von den Schiffern getraute sich, die Gesellschaft zu der merkwürdigen Stelle selbst zu führen.

Die Bevölkerung der Stadt versammelte sich in den kühlen Abendstunden auf der frei gegen das Meer gelegenen Terrasse, welche das Piano di San Domenico bildet, und die Blicke nach der von Feuer durchzuckten Rauchsäule gerichtet, horchten sie in ahnungsvoller Stille nach dem herüberschallenden Donner, dessen Rollen oft eine Viertelstunde und darüber anzuhalten pflegte. Die Unbequemlichkeiten einer kleinen Seereise zu unternehmen, um sich über die Beschaffenheit der Vorgänge am Ausbruchsorte zu unterrichten, oder auch nur die Neugierde über einen Gegenstand zu befriedigen, über den so unendlich viel geschwatzt wurde, dazu fühlte sich Niemand angeregt. Endlich gelang es den deutschen Forschern, einen jener kleinen Küstenfahrer, Schifazzi genannt, zu miethen, welche von den muthigen Trapanesen geführt werden, und am 24. Nachmittags erreichten sie den Ort, wo die Rauchsäule dem Meere entstieg. Mit Erstaunen erblickten sie hier eine neue Insel, plötzlich aus dem Meere emporgewachsen, deren Umfang sie bei genauerer Untersuchung auf 3000 Fuß, und deren höchste Höhe auf 60 Fuß schätzten. Ununterbrochen erhoben sich aus ihr ungeheure Dampfmassen, die in große Kugeln geballt mit Heftigkeit emporwirbelten und durch ihr im Sonnenschein fast blendend weißes Ansehen den in tausendfältigen Abstufungen durcheinanderwogenden Dunstmassen etwas ungemein Malerisches gaben.

„Prachtvoll entfalteten sich,“ schreibt Hoffmann, „geräuschlos hervorgleitend diese Nebel wie große Schneemassen oder wie Ballen frischer Baumwolle übereinander gehäuft und bildeten locker aneinander gekettet die riesengroße Säule, welche ununterbrochen den Ort ihrer Entstehung bezeichnete. In Zeitabständen von zwei und drei Minuten fuhren durch die glänzend weiße Hauptmasse, mehr oder minder hoch, schwarze Schlackenwürfe. Die durcheinander getriebenen Dampfwolken ballten sich heftiger und schienen in sehr ansehnlicher Breite bis zur Oberfläche des Meeres wieder herabzurollen. Verschwunden war die Insel, und die aufwallende Wasserfläche schien mit den stürmisch durcheinander rollenden Dämpfen und den Schlackenwürfen in ununterbrochenem Zusammenhange, bis die Bewegung des Windes sie wieder auseinander brachte.

Majestätisch erhob sich dann wieder die lichte Rauchsäule wohl bis zu 2000 Fuß in den blauen Himmelsraum, und schon war die Rede davon, das kleine Boot auszusetzen, um die frischaufgetauchte Küste dieser neuen Schöpfung zu betreten, an welcher die Wogen sanft und gleichmäßig brandeten. Da änderte sich plötzlich [93] das Bild. Dicken Dampfwolken folgten sehr schnell schwarze Aschenwürfe, und ununterbrochen hervorschießend arbeiteten sich Schlacken-, Sand- und Steinwürfe bald empor bis zur Bildung einer drohend dastehenden schwarzen Säule, deren Höhe reichlich 600 Fuß über dem Meere betragen mochte. Stets neue Schüsse drangen durch das Dunkel dieser furchterregenden Hauptmasse. Wie Raketenbüschel verbreiteten sie sich garbenförmig am oberen Ende. Vorn schossen, durch größere Schwungkraft getrieben, die schweren Schlacken- und Steinstücke, und ein dunkler breiter Sandstreifen bezeichnete die Bahn ihrer Wurflinien. Stets wie die großen Sand- und Aschenmassen von dem Scheitelpunkte, bis zu welchem sie geschleudert worden, sich zurückbogen, um als dichter schwarzer Regen dann in’s Meer oder auf die Abhänge zu fallen, entwickelten sich aus den umgebogenen Rändern ihrer Würfe überaus herrlich jene schneeweißen wogenden Dampfmassen, und der Anblick der schwarzen Säule mit weißen Kronen war auf dem dicht verdunkelten, von grauem Nebel gefärbten Hintergrunde unglaublich prächtig. Durch die schwarze Aschenwolke fuhren hellleuchtende Blitze, denen jedesmal ein lang anhaltender Donner folgte.“

Die Insel Ferdinandea am 23. September 1831.

So wuchs die Insel durch die regelmäßig sich wiederholenden Auswürfe von Tag zu Tag und änderte mit ihren Dimensionen ihr Aussehen.

Der heftig wehende Westwind trieb das leichte Material nach Nord-Osten; dadurch hatte sich auf dieser Seite eine Erhöhung gebildet, während auf der Südwestseite die Einfassung der nach unten reichenden trichterförmigen Oeffnung kaum über die Wasserfläche emporstieg. Hoffmann schätzte den höchsten Punkt (Mitte Juli) zu 60 Fuß.

Am 2. August war er bereits 100 Fuß hoch, und die höchste Höhe, bis zu welcher er im Laufe der ersten Hälfte dieses Monats noch anstieg, betrug gegen 180 Fuß. Die Südwestseite, welche anfänglich noch dem Meereswasser Zutritt zu dem Rauchfange des Vulcans gestattet hatte, erhob sich bis gegen 50 Fuß hoch, und das Ganze erhielt das Ansehen eines oben eingesunkenen Berges, dessen in so kurzer Zeit vom Grunde des Meeres emporgewachsene Höhe bald gegen 800 Fuß betrug.

Solche Veränderungen der scheinbar festgegründeten Erde bewirkt heute noch die vulcanische Gewalt.

Noch waren nicht drei Wochen seit der ersten Nachricht vergangen, die Insel war noch gar nicht fertig, als die Engländer (2. August) nach allen Formen des Seerechtes von dem Eilande Besitz nahmen, obgleich dasselbe innerhalb sicilianischen Inselgebietes dem Meere entstiegen war. Gegen Ende September besuchte Hoffmann zum zweiten Male die merkwürdige Stelle, zu gleicher Zeit traf eine französische Brigg dort ein mit dem Akademiker Prevost und dem Maler Joinville an Bord. Mittlerweile (seit dem 12. August) hatten die Auswürfe aufgehört. Die Zufuhr neuen Materiales aus der Tiefe war beendet, aber damit war keine Ruhe über das kleine Land gekommen. Mitten im Meere gelegen und ganz dem Andrange des Windes und der Wellen ausgesetzt, konnten die losen Bestandtheile den vereinten Bestrebungen der Elemente nicht widerstehen. Das Werk der Zerstörung war im vollen Gange. Ausschüttungen und Unterwaschungen verursachten Abstürze, und im Vorüberfahren sahen die Reisenden fortwährend große, neuabgelöste Sandmassen von den angegriffenen Anhängen herabrollen und theilweise ins Meer stürzen, theilweise als Staub von dem wirbelnden Scirocco in die Luft getragen werden. Der nahezu kreisförmige Umfang der Insel betrug im September höchstens noch 2000 Fuß, und der Flächeninhalt hatte sich demnach zu dieser Zeit schon um die Hälfte vermindert. Ende October war der Umfang nur noch 1600 Fuß, von Tag zu Tag wurde die Insel kleiner, endlich war sie ganz wieder verschwunden, und mit dem Schluß des Jahres 1831 rollten wieder die Wogen ihr wechselndes Spiel, und das klare Mondlicht fiel fragend auf die Stelle, wo kurz vorher unterirdische Kräfte ein Merkzeichen ihres unberechenbaren Wirkens aufgebaut hatten.

Die vier Culturnationen, Italiener, Deutsche, Engländer und Franzosen, hatten die Wellenschaumgeborene in charakteristischer Weise begrüßt. Die Einen durch eine neugierig scheue Menge mit offenen Mäulern und langen Hälsen, die Andern durch einen ihrer größten Forscher, edlen Ernst und schöne Begeisterung, die Franzosen, um sie zu malen, die Engländer, um sich einen möglicherweise festen Punkt zu sichern. Alle, nur der Deutsche nicht, hatten für sie geschwind irgend einen oder mehrere Namen bei der Hand.

Der Capitain, welcher die englische Flagge aufpflanzte, nannte die Insel Graham-Island, ein Anderer Hotham-Island, nach dem auf Malta stationirten englischen Admiral, wieder Andere wollten die erste Entdeckung dem Capitain Corrao zuschreiben und gaben der Insel den Namen Corrao; weil sie im Juli emporgetaucht war, tauften sie die Franzosen Julie oder Isola Giulia; bei den Sicilianern aber hieß sie Nerita, fälschlicherweise, denn sie ist nicht auf der gleichnamigen Korallenbank entstanden, oder Isola Ferdinandea, zu Ehren ihres Königs Ferdinand’s II. Von allen diesen Namen wurde der letztere endlich fast allgemein angenommen, bis mit dem Wiederversinken der Insel auch er vergessen wurde. Wem fällt dabei nicht des Sängers Fluch ein? Das einzige Denkmal, an dessen Entstehung keine fluchwürdige That jenes Königs sich knüpfen läßt, dessen Nennung keine Verwünschung auf die Lippen treibt – das wusch das Meer hinweg.

Aehnliche Vorgänge wie im Jahre 1831 haben wir jetzt wieder zu erwarten. Ob sich der Krater wieder öffnen wird, ob dauernde Ausbrüche daraus erfolgen werden, ist eine Frage, welche die Naturforscher lebhaft beschäftigt. Die Untersuchung dieses merkwürdigen Phänomens muß werthvolle Resultate für die Geschichte der Erde liefern. Deswegen und weil höchst wahrscheinlich die Zeit der Beobachtung wiederum nur eine kurze sein wird, erregt das langsame Erscheinen der vielnamigen Insel unser hohes Interesse. Nicht durch einen gewaltigen Ausbruch hat sie sich diesmal angekündigt, sondern durch ein langsames, aber stetiges Heben des Grundes, welches seit einiger Zeit von den Schiffern beobachtet worden ist. Eines Tages wird derselbe über die Oberfläche emporragen und die Engländer zu einer wiederholten Besitzergreifung einladen. Aber wie die Insel kommt, so wird sie auch wieder gehen – eine Undine, welcher höhere Mächte erlauben, dann und wann auf kurze Zeit im wärmenden Strahle der Sonne sich zu freuen.




Aus jüngstvergangenen Tagen.
4. Charakterköpfe aus der deutschen Abgeordneten-Versammlung in Frankfurt.
1.
Sigmund Müller – Rudolph v. Bennigsen – Wilhelm Löwe – Ludwig Häusser.
Vom Verfasser des Artikels „Die Fürsten des Fürstentags“.


Es giebt auch Bußtage im Leben einer Nation, und mich dünkt, die deutsche Abgeordneten-Versammlung vom 21. December ist ein solcher nationaler Bußtag gewesen. Ein Freudentag war es jedenfalls nicht. Die Stadt Frankfurt versteht sich doch gewiß auf Fest- und Freudentage; aber diesmal: keine Fahne, kein Triumphbogen, kein Kanonendonner, kein Schall der Festmusik – man hat uns ernst und still willkommen geheißen. Und hätte es anders sein können? Vor 15 Jahren tagte hier ein vollberechtigtes, verfassunggebendes Parlament, das an demselben 21. December die Grundrechte des deutschen Volkes endgültig feststellte, [94] dem ein verantwortliches Reichsministerium zur Seite stand, das als anerkannte Macht mit den deutschen Regierungen verkehrte; heute fanden sich in schwerer Zeit 500 deutsche Abgeordnete zusammen, ohne Mandat, ohne Executivgewalt zur Seite, verleugnet, und beargwöhnt von fast allen Regierungen, auf nichts gestützt als auf den Widerhall, den ihre Beschlüsse etwa im Volke finden würden. Vor 15 Jahren war keine Frage des deutschen Verfassungsrechtes so weitreichend, daß sich das Parlament nicht hätte dafür zuständig halten dürfen; heute wurde aus der eigenen Mitte der Versammlung Verwahrung eingelegt gegen einen Antrag, der nichts weiter wollte, als einen ständigen Ausschuß bestellen, als „Mittelpunkt der gesetzlichen Thätigkeit“ für Schleswig-Holstein. Sind das die Fortschritte, die wir gemacht?

Es ist nöthig, auch einmal diese, die peinliche Frage zu stellen; denn über dem Festjubel und Festgepränge von Frankfurt, La Chaux de Fonds und Leipzig droht uns der Maßstab verloren zu gehen für das, was wir haben und was wir haben sollten. Die großen Feste sind vorüber gerauscht, aber das deutsche Elend ist geblieben, und nun, da der Tag der Noth gekommen, strecken wir nach wie vor die Hände in die leere Luft. Ein unersetzliches Kleinod soll aus unserer Reichskrone herausgebrochen, der tüchtigste und treueste deutsche Stamm soll auf’s Neue seinem Erbfeind überliefert werden; uns schnürt es das Herz zu bei den flehentlichen Hülferufen, das Ausland aber höhnt uns und schlägt uns in’s Angesicht, in den Cabineten treibt gar der blanke Verrath sein offenes Spiel – und fünf lange Wochen müssen verstreichen, ehe die Vertreter der großen deutschen Nation ein Gesammtwort abgeben können. Und was ist’s denn nun weiter mit diesem Gesammtwort der deutschen Volksvertreter? Haben sie ein Heer über die Elbe, eine Flotte in die Ostsee schicken, haben sie die Landesverräther vor ihr Gericht stellen können? O nun, nichts von alledem! Dies Gesammtwort gab ja kein Parlament, es gaben es nur 500 Abgeordnete aus den Einzelstaaten ab, die das äußerste Maß ihrer polizeilich gestatteten Zuständigkeit schon erschöpften, wenn sie – einen Centralausschuß niedersetzten für Schleswig-Holstein.

Es hat viel trübere Tage in der jüngsten deutschen Geschichte gegeben. Als die würtembergischen Truppen das Parlament auseinander sprengten, als in Rastatt die blutigen Exempel statuirt wurden, als in Kurhessen die Kriegsgerichte ihr schauerliches Amt verwalteten, als ein preußisch-österreichisches Heer die schleswig-holsteinische Armee entwaffnete, und alsdann nach all diesen Erntetagen des neuesten deutschen Soldatenruhmes es stille ward im deutschen Laud, ganz stille – gewiß, da war eine viel trübere Zeit. Aber wenn dies Trauertage waren für unser Volk, so bleibt deshalb doch der 21. December ein nationaler Bußtag. An diesem Tage, wo die Vertreter unseres Volkes rathlos und machtlos in derselben Stadt sich zusammen fanden, in der schon vor einem halben Menschenalter ein deutsches Parlament getagt, an diesem Tage, wo auch die aufrichtigste Einmüthigkeit nicht den kleinsten Theil der organisirten Macht uns wieder zurückgeben konnte, die wir vordem von Rechtswegen besaßen, an diesem Tage haben unsere Parteien Buße dafür thun müssen, daß sie in den Tagen des Glückes mit dem deutschen Erbfehler gesündigt, bittere Buße für die frühere Uneinigkeit über die obersten Lebensfragen unserer Nation. Ich weiß, es hat ihnen beiden am Herzen gebrannt, als sie nun da saßen, die „Großdeutschen“ und die „Kleindeutschen“ und mußten sich beide ihre Ohnmacht gestehen; aber wie hart die Strafe auch war und wie sehr wir zu Gott hoffen, daß nicht die Unschuld darunter leiden werde verdient war diese Strafe. Diesen Beweis der Folgen ihrer Sünden gerade an der liebsten und theuersten Ehrensache, mußten unsere Parteien erst erhalten, wenn ihnen die Augen über sich selbst und über einander aufgehen sollten.

Das sind herbe Worte, wie sie nur der demüthigende Gang einer solchen nationalen Ehrensache abpressen und nur die völlige Gleichmäßigkeit des Vorwurfs rechtfertigen kann. Ich leugne und verkleinere darum ebensowenig irgend einen der Schritte, die wir seit fünf Jahren wieder vorwärts gemacht, wie ich die hohe politische Bedeutung des Frankfurter Tages unterschätze. Wir haben in Frankfurt einen Wechsel auf die Zukunft gezogen, und der Tag wird kommen, wo wir ihn zur Zahlung präsentiren. Die Zukunft aber, sie gehört dem Volke und reift unter unablässiger mühevoller Arbeit der edelsten Kräfte unserer Nation heran. Denn das ist eben der tröstende Zug wiederkehrender nationaler Gesundheit an unserer tief bewegten deutschen Gegenwart, daß neben der officiellen Thätigkeit unserer Regierungen leise und unscheinbar, aber in der Gesammtwirkung bereits deutlich erkennbar, viele Hunderte von Männern ohne Amt und Titel auch ihr Werk verrichten und im wahren Geist der Nation die Entwickelung unseres Volkes fördern helfen. Diese nationalen Freiwilligen, wie ich sie nennen möchte, waren es, die auch in Frankfurt zu gemeinsamer Arbeit versammelt waren. Wer weiß, was die Zukunft für sie bringen wird? Vielleicht daß dem Einen oder dem Andern von ihnen noch einmal in fremdem Land als Flüchtling das Herz bricht; vielleicht auch, daß ihnen das Geschick gestattet, recht bald im berufenen Amt die Sache des Volkes zu führen und zu vertreten. Wer mag es wissen, wie heute die Dinge im deutschen Lande liegen? Noch aber sind sie unser als echte nationale Freiwillige, und deshalb bringe ich hier die Bilder von einigen der Besten, wie ich sie zufällig auf und neben der Rednerbühne aufgelesen.

Am Präsidententische sitzt ein Mann, der die Fünfzig wohl überschritten haben muß; zwar schlank, jedoch nicht von allzukräftiger Haltung, das regelmäßige, offene, Vertrauen erweckende Gesicht etwas abgemagert, die Stimme leicht angegriffen, denn sie klingt gedämpft und füllt bei aller Anstrengung kaum den Raum des großen Saales. Das ist Dr. Sigmund Müller, Advocat und Notar der freien Stadt Frankfurt, vieljähriger Präsident ihrer gesetzgebenden Versammlung und in weiteren Kreisen besonders bekannt geworden als Vorsitzender des Ausschusses für das große deutsche Schützenfest. Was ist es doch, was an dem schlichten Mann mit dem ungesuchten anspruchslosen Auftreten so anzieht? Vor dreißig Jahren, als diese hellen blauen Augen im ersten Jugendfeuer glänzten, als diese jetzt noch so vollen braunen Locken in noch üppigerer Fülle um die freie heitere Stirn fielen, als diese schlanke Gestalt in voller elastischer Kraft sich bewegte, vor dreißig Jahren hätte uns wohl das Aeußere allein bestechen können. Heute ist dieser Jugendschmelz natürlich abgestreift; aber Charakter und innerer Gehalt haben dafür einen anderen dauerhafteren Schmelz über den Mann gegossen. Sigmund Müller ist ein charakteristischer Beleg dafür, wieviel eine Persönlichkeit Reiz gewinnen kann, die in voller Unbefangenheit, nicht von Ehrgeiz, sondern nur von Pflicht- und Rechtsgefühl getrieben, jeder Aufgabe gegenüber nichts weiter als ihre volle Schuldigkeit hat thun wollen. Sigmund Müller ist kein Gelehrter, kein hinreißender Redner ersten Ranges, keine tief angelegte staatsmännische Natur; aber – er glaubt auch dies Alles nicht von sich. Ihn haben niemals hochfliegende Pläne gequält, noch hat er früher je von sich geglaubt, daß sein Name einmal durch ganz Deutschland genannt werden würde. Ruhig und gelassen ist er stets weniger an die öffentlichen Fragen herangetreten, als vielmehr diese an ihn; von nichts Anderem getrieben, als von dem, was das innere Pflichtgefühl ihm gebot, war er allezeit zufrieden mit dem Erfolg, den sein klarer, gesunder, im Leben gewiegter Verstand und seine hingebende Selbstverleugnung ihm gewannen. Und gerade darum, weil er so selbstlos auftrat und sich nirgends ungestüm als besonders berufen vordrängte, gerade darum fürchtete man für keine Sache, wenn er sie in die Hand nahm, und trug ihm bereitwillig mit der Zeit nur um so mehr entgegen. Sigmund Müller ist einer von den wenigen glücklichen Menschen, die selbst im scharfen Zugwind des Parteilebens ohne Neider und ohne Feinde geblieben sind, in seinem ganzen Verhalten das Bild eines Mannes, wie wir sie in Deutschland leider noch nicht allzuhäufig treffen, das Bild eines pflichttreuen freien Bürgers im besten Sinne des Wortes.

Rechts von Sigmund Müller am Präsidententische sitzt fast unbeweglich, aber mit gespanntester Aufmerksamkeit auf Alles achtend, ein um mindestens zehn Jahre jüngerer Mann, mit kräftig schlanker Gestalt, voll Energie und doch fein und gewandt in allen Bewegungen; der runde, schön geformte Kopf ist von kurzem, dunkelem Haar bedeckt, das Gesicht von einem vollen braunen Bart eingerahmt, die Stirne hoch, breit und entwickelt, das braune Auge liegt etwas vor und ist bei außerordentlichen Gelegenheiten, wie diesmal, mit der Brille bewaffnet, die auf der etwas kurz ausgefallenen und, wie es scheint, auf der Hochschule leicht beschädigten Nase nicht recht haften will. Aus dem ganzen Gesicht spricht Festigkeit, Verstand und Entschiedenheit, und wir wissen – wenn auch nicht von heute – daß der breiten gewölbten Brust eine klare, wohlklingende Stimme mit norddeutschem Accent entspricht. Es ist Rudolf v. Bennigsen, der Präsident des Nationalvereins.

[95] Man vergißt das Gesicht Bennigsen’s nicht leicht wieder, obwohl es nicht besonders schön und noch weniger häßlich ist. Das macht die breite hohe Stirn, deren geistiger Ausdruck das ganze Gesicht adelt und von der man beim ersten Blick ablesen kann, daß wir es mit einem Manne zu thun haben, der bei klar durchblickendem Verstand vor allen Dingen weiß, was er will. Und so ist auch wirklich der Mann. Nicht gerade verschwenderisch reich ist diese Natur ausgestattet, aber es ist ein vollgewogenes Pfund bis auf den letzten Bruchtheil verwerthet. Bennigsen’s größte Gabe ist vielleicht seine Selbstbeherrschung, die ihm gestattet, in jedem Moment seine volle Kraft sich zu Gebot zu erhalten, weil er sich niemals vor der Zeit völlig ausgiebt. Er hat offenbar vor Allem sich selbst fest in die Hand genommen, und man fühlt es dieser straff in sich gefügten Natur an, daß er den Menschen zum Gegenstand nicht seines wenigst eifrigen Nachdenkens gemacht, denn soviel überlegte Ruhe wird nicht angeboren, wo so viel warmes inneres Leben damit Hand in Hand geht, sie wird in strenger Selbstzucht anerzogen. Aber gerade so fest wie sich, nimmt er auch die Anderen in die Hand, und nur sein natürliches, offenes, männliches Wesen macht es ihm möglich, die sich ihm Nähernden gerade so nahe wieder an sich heranzuziehen, als er sie sich fern zu halten weiß.

In dieser seltenen Mischung von bewußter Zurückhaltung und Vertrauen erweckender Offenheit beruht vor Allem sein großer persönlicher Einfluß und sein natürlicher Beruf zum politischen Führer. Sein bekanntes bedeutendes Talent für die formelle Behandlung organisatorischer Fragen stelle ich wenigstens hierbei erst in die zweite Linie. Auch in der Rede spricht sich derselbe Charakter aus. Es sind kurze klare Sätze, in denen Bennigsen spricht; sie gehen überall direct auf das Ziel los, und auch wo er einen Seitenweg einschlägt, ist es immer die gerade Linie, in der der Gedanke fortarbeitet. Blumen und rednerische Figuren kommen in seiner Rede fast gar nicht vor, und selbst das Gefühl, wo es einmal herausbricht, giebt sich in streng bemessener Form. Man hört es wohl heraus, daß er stets nur das sagt, was er sagen will; aber dies sagt er auch so rund, klar und vollständig, daß er selbst bei dem, der es bemerkt, einer Mißdeutung niemals ausgesetzt ist. Bennigsen ist offenbar weit weniger durch eine ausgezeichnete Naturanlage zum sicheren Redner geworden, als vielmehr dadurch, daß er es werden wollte. Er hat sich aber auch hier fest in die Hand genommen. Noch vor fünf Jahren sprudelte seine Rede im raschesten Fluß, heute geht der Strom schon weit langsamer, und er wird noch langsamer sprechen lernen, wenn er es für gut finden sollte – wenn er eben will.

Aus einer alten angesehenen Familie hervorgegangen, der Sohn eines hohen Militärs, würde Bennigsen, wenn er nicht im Jahre 1857 als Staatsanwalt seinen Abschied gefordert, vielleicht schon heute eine einflußreiche Stellung im hannoverschen Ministerium einnehmen. Ihm selbst ist dies vielleicht noch weniger zweifelhaft als uns. Er hätte dazu nur Eins nöthig gehabt – für Viele seiner Standesgenossen eine unbedeutende Kleinigkeit – er hätte den Welfenstaat Hannover und ganz Deutschland als die natürliche Domäne zweier bevorrechteter Menschenrassen behandeln müssen: des hohen und des niederen Adels. Wenn er, gestützt auf ein nicht überreiches Vermögen, auf diese Ehren und Vortheile verzichtete und, statt seine politische Ueberzeugung zum Opfer zu bringen, lieber als Führer der hannoverschen Opposition und als einflußreicher Leiter der liberalen deutschen Bewegung seine reiche Kraft verwerthete – wer lohnt ihn für diese Selbstverleugnung? Vielleicht außer dem, was jeden Ehrenmann schon in seinem Innern reichlich selbst belohnt, einmal eine große staatsmännische Wirksamkeit, deren Millionen Deutsche segnend gedenken, jedenfalls aber schon jetzt eine unbegrenzte Hochachtung der besten Männer Deutschlands und des ganzen hannoverschen Volkes. So ist nie ein Fürst in den reichen Marschen der Niederweser und die Weser entlang von Bremerhaven bis Bremen geehrt worden, wie Bennigsen, als er im Juli 1861 vom Seebad Borkum nach Hause reiste. Zu festlichem Zug, zu Wagen und zu Pferd, geleiteten ihn die Bauern der Lande Hadeln, Wursten und Budjading von Ort zu Ort, die Schiffe auf der Weser und im Bremerhaven flaggten und salutirten ihm zu Ehren, und Kanonendonner erschallte, als er den Boden der freien Stadt Bremen betrat. Ein alter Bauer hatte seine fünf Enkel an ihn herangeführt, um ihnen den Mann des Volkes zu zeigen: „Seht, Kinder, das ist Bennigsen.“ Ob ein Staatsrath oder Minister von Bennigsen wohl auch den Bauerkindern im Lande Hadeln gezeigt worden wäre?

Der Sitz links von Sigmund Müller für den zweiten Vicepräsidenten ist leer. Sein Inhaber, der Freiherr Gustav von Lerchenfeld aus Bamberg, hat ihn verlassen, weil ihm nach dem Antrage auf Niedersetzung eines ständigen Ausschusses ein längeres Zusammengehen mit der Mehrheit der Versammlung nicht mehr möglich erschien. Ueberlassen wir es der Partei, deren Führer seither Herr von Lerchenfeld war, sich wegen dieses Schrittes mit ihm auseinander zu setzen, und gehen auch wir, wie die Versammlung es that, dem treffenden Worte Ludwig Seeger’s entsprechend, „rasch über diesen Mißton hinweg“. Dr. Wilhelm Löwe aus Berlin war es, der diesen ehrenrettenden Antrag begründete. Fassen wir uns daher ihn statt des Herrn von Lerchenfeld in’s Auge. Es ist Löwe-Calbe, der letzte Präsident des deutschen Parlaments, der vor uns steht. Die gedrungene Gestalt ungebeugt, das Gesicht voll und blühend, Haar, Kinn und Schnurrbart dicht und schwarz, das dunkle Auge voll Feuer, die tiefe, weiche Stimme im reinsten Wohllaut weithin die Gedanken tragend, die unter der edel geformten Stirn vorher entstanden – ist das ein Flüchtling, den das Leben in seinen erbarmungslosen Armen gewiegt? Und doch ist es so. Und wenn wir der Rede des Mannes so recht aufmerksam folgen, dann erfahren wir auch noch mehr, dann hören wir auch aus seiner feinen Auffassung und ernsten Denkweise heraus, daß nicht etwa ein unverwüstlicher Leichtsinn, nein, daß ein tiefes Gefühl, ein reiches Seelenleben den Mann bewegt, der so frisch, so mild, so unverbittert nach zehnjährigem Flüchtlingsleben in die Heimath zurückkehrte.

Löwe steht heute noch auf demselben politischen Boden, auf dem er im Parlament gestanden, wenn auch der Gang der neuesten Geschichte Deutschlands und die Erfahrungen, die er in Amerika und England gemacht, sein Unheil hier und da berichtigt haben mögen. Nur der rastlose Eifer in der Förderung alles öffentlichen Lebens ist ganz und gar derselbe geblieben und hat in seiner vielseitigen Bildung, seiner ungemeinen Arbeitskraft und seiner außerordentlichen rednerischen Begabung der preußischen wie der deutschen Sache eine nicht hoch genug zu schätzende agitatorische Kraft wieder zugeführt. Ich habe nur wenige Redner gehört, die einen gleich wohlthuenden Eindruck auf den Zuhörer machen, wie Löwe-Calbe. Wie auf geistigen Armen faßt er unsere Gedanken mit seiner weichen, wohlklingenden Stimme auf und trägt uns schaukelnd weiter und weiter, bald hoch uns hinaushebend in die Höhen der Dialektik, bald tief uns hinabtauchend in die Fluthen der Gefühlswelt, so sicher, so stetig, mit so fester Hand uns führend, daß wir es unwillkürlich bedauern, wenn er am Schluß seiner Rede uns wieder auf die eigenen Füße stellt. Löwe ist ein geborener Redner in Moll, aber ich zweifle nicht, daß er unter dem Eindruck eines überwältigenden Gefühls auch die Duraccorde der Leidenschaft – und dann mit erschütternder Gewalt – zu greifen versteht.

„Ich gehöre nicht zu Denjenigen, die aus der demokratischen Partei hervorgegangen, ich gehöre entschieden zu Denjenigen, die aus den gemäßigten Meinungen herausgewachsen sind, aber ich bekenne, die schleswig-holsteinische Frage hat mich die bittere Kunst des Mißtrauens gelehrt seit dem Tage von Malmoe, und ich habe mir ein feierliches Gelübde gethan, in dieser Sache, selbst wenn zweifelhaft, nicht wieder zu sündigen durch Unterlassung.“ Im Munde eines Anderen wären diese Worte wahrscheinlich den gewöhnlichen Betheuerungen zugezählt worden, im Munde Ludwig Häusser’s aus Heidelberg waren sie ein Ereigniß. Mit diesen Worten bekannte einer der ältesten und bedeutendsten Führer der gothaischen Partei offen und unumwunden vor ganz Deutschland einen verhängnißvollen früheren Parteiirrthum. Vor 15 Jahren hätten sich Ludwig Häusser – wenn er im Parlament gesessen – und Löwe-Calbe in der schleswig-holsteinischcn Frage wahrscheinlich als entschiedene Gegner gegenüber gestanden, heute reichte Häusser in derselben Frage dem früheren Gegner ohne allen Rückhalt die Hand zur Verständigung. Ich wiederhole, das ist ein Ereigniß, in dem sich zwar der ganze Jammer einer langen Reihe trüber Tage für Deutschland und Schleswig-Holstein wiederspiegelt, an das aber auch die Hoffnung auf die Gesundung unserer Parteien mit vollem Recht ihre Knospen wieder ansetzen mag. Aber auch zur Charakteristik des Mannes selbst, der dies Bekenntniß ablegte, sind diese Worte von Bedeutung; denn wer einmal vor Ludwig Häusser gestanden, [96] der weiß auch, selbst wenn er seine „deutsche Geschichte“ nicht gelesen und sein entschlossenes Auftreten als Parteimann von 1847 an in der „Deutschen Zeitung“, in der „Zeit“, in der „Süddeutschen Zeitung“ nicht verfolgt, daß er weder obenhin eine Meinung sich bildet, noch auch leichthin eine einmal gefaßte Meinung aufgibt. Der Mann sucht zwar nicht den Kampf, aber er fürchtet ihn auch nicht. Er hat, wie seine ganze zähe, opferfreudige Partei, zu lange nach rechts und nach links mit scharfen Waffen Front gemacht, um des bloßen lieben Friedens wegen zu schweigen oder gar zuzustimmen. Ludwig Häusser ist ein unverwerflicher Zeuge dafür, daß man ein „Gothaer“ und ein „deutscher Professor“ obendrein und doch „jeder Zoll ein Mann“ sein kann. Ohne gerade durch bedeutende oder durch regelmäßig schöne Züge zu bestechen, zieht doch die feste, selbstbewußte Haltung des kräftigen Körpers und der fast bis zur Strenge gesteigerte sittliche Ernst in dem geistig durchwehten Gesicht unwillkürlich an. Diese graublauen Augen, die hinter der Brille hervor Einem scharf entgegen blicken, diese breite, entschlossene Stirn, diese etwas vorstehende Unterlippe über dem festgeformten Kinn verrathen uns, daß wir trotz des stubengebleichten, glatt rasirten Gesichtes keinen gewöhnlichen Stuben- und Alltagsmenschen vor uns haben. Wenn Löwe-Calbe vielleicht als Arzt durch den Anblick des körperlichen Menschenelends mild und nachsichtig geworden, so scheint Ludwig Häusser durch das Studium der Geschichte und der darin auftretenden sittlichen Mängel des Menschengeschlechtes einen angeborenen Sinn für Recht und Pflicht noch geschärft und den kategorischen Imperativ zu seinem leitenden Princip erhoben zu haben. Bei aller gewinnenden Freundlichkeit im geselligen Verkehr bricht diese Seite seiner inneren Natur doch jederzeit in seinem Beruf, in seinen Schriften, in seinem öffentlichen Wirken hervor. Dieser Ernst, den jedoch Gemüth und Geist in Verbindung mit einem reichen gesättigten Wissen gleich sehr vor der Gefahr des Pedantismus schützen, beherrscht auch seine Reden. Wenn ich Löwe-Calbe einen Redner in Moll genannt, so ist Ludwig-Häusser ein geborener Redner in Dur, selbst dann, wenn er als echtes, blondes Kind der fröhlichen Pfalz in liebenswürdigem, geistvollem Humor bei Tischreden überschäumt. Darin unterstützt ihn freilich auch eine der klangvollsten tiefen Männerstimmen, die ich je gehört. Wie der Ernst und die klare Ruhe seiner Gedanken, so versetzt auch schon der mächtige, melodische Ton seiner Stimme den Zuhörer in eine gehobene, fast möchte ich sagen, feierliche Stimmung, und mich wenigstens überkommt es bei seinen Reden fast regelmäßig so, als wenn ich die Feiertagsglocken der Heimath in meinem Innern widerklingen hörte.

Als akademischer Lehrer hat Ludwig Häusser zwar fast täglich Gelegenheit, seine Redegabe zu üben, er ist jedoch dabei auch durch seine Stellung gezwungen, in besonders gewiesener, belehrender Form zu sprechen. Aber so reich und kräftig ist dieser Geist, daß er als Redner gegenüber großen Massen jede Erinnerung an den gewohnten Ton zurückzudrängen vermag, ohne der eigenen, wie der Würde der Sache irgend etwas zu vergeben. Es giebt Volksredner, die mit enthusiastischerem Beifall belohnt werden, aber es giebt ihrer wenige, die es wie Häusser verstehen, ihre Zuhörer so zu sich herauf zu heben. Er wiegt uns nicht, wie Löwe-Calbe, auf weichem Arm, er faßt uns wie mit starker Hand fest an und zwingt uns durch den sittlichen Ernst seiner Gedanken ihm mit unseren Gedanken zu folgen. Und wir folgen ihm gern; denn er giebt zugleich mit voller Hand und immer frisch aus Geist und Phantasie gequollen, und so viel er uns auch giebt, wir haben doch nie das Gefühl, daß er nun zu Ende sei, wir glauben vielmehr, daß er noch immer tiefer hinunter langen und immer neue Schätze heraufholen könne aus der reichen Vorrathskammer seines Wissens und seines Gemüthes.




Blätter und Blüthen

Das unterirdische Berlin. In früherer Zeit waren die Keller in Berlin nichts weiter als Räume zur Aufbewahrung verschiedener Lebensmittel und angenehmer Getränke. Die zunehmende Bevölkerung hat ihnen eine andere und höhere Stellung angewiesen, indem sich die Keller allmählich in Wohnungen für Tausende von Menschen verwandelten. Andere erhoben sich sogar zu dem Range von beliebten Vergnügungslocalen und Frühstücksstuben. Die Keller emancipirten sich und wurden ein gesuchter Artikel von großer socialer Bedeutung. Freilich ist zwischen Keller und Keller noch immer ein großer Unterschied, wie zwischen einem strahlenden Brillanten und gemeinen Kieselstein. Auch hier berühren sich die äußersten Gegensätze der Gesellschaft, die jammervollste Armuth und der glänzendste Luxus. Es giebt in Berlin Kellerwohnungen, bei deren Anblick den Menschenfreund ein tiefer Schauder erfaßt, elende feuchte Löcher ohne Luft und Licht, von deren Wänden das Wasser herniederläuft, deren Boden mit Pilz und Schimmel bedeckt ist, bewohnt von traurigen, hinfälligen Gestalten, von scrophulösen Kindern, blödsinnigen Greisen, oder der Hefe des Lasters. Hier herrscht Jahr aus Jahr ein Noth, Hunger und Krankheit, der gräßliche Typhus und das Heer der epidemischen Krankheiten. Einige Stufen höher steht der Keller des armen Handwerkers, der eine bessere Wohnung noch nicht bezahlen kann. Vorzugsweise liebt der poetische Flickschuster die unterirdischen Räume, aber auch andere Gewerbe haben eine besondere Neigung für Kellerwohnungen, wie die Barbiere und Fleischwaarenhändler, unter denen Einzelne in den bescheidenen Räumen ein nicht unbedeutendes Vermögen mit der Zeit zusammensparen. Ebenfalls zu dem Geschlecht der Kellerwürmer gehört der „Budiker“ oder Victualienhändler, der meist ein glänzendes Geschäft mit den ersten Lebensbedürfnissen macht und öfters aus seinem Keller in die erste Etage emporsteigt, um als Rentier sein Leben zu beschließen. Gewöhnlich aber zieht er es vor, bis zu seinem Ende Käse, Butter und Heringe zu verkaufen, seine Kunden zu bedienen, trotzdem er Hauseigenthümer geworden ist und sein Geld auf sichere Hypotheken ausleiht. —

Zahllos ist das Heer der Frühstücks- und Speisekeller in ihren verschiedenen Abstufungen und Schattirungen, Die niedrigste Stellung nimmt hier der sogenannte „Bumskeller“ ein, der von den Arbeitern, Tagelöhnern und Bummlern fast ausschließlich besucht wird. Man findet daselbst wunderbare Getränke von zweifelhaftem Geschmack und Farbe, die unter dem Namen Kaffee oder Chocolade für 6 Pfennige die Tasse verabreicht werden, Diners zu 21/2 Silbergroschen, Coteletten und Beefsteaks von höchst verdächtiger Natur und als Compot jene riesigen sauren Gurken, deren bloßer Anblick schon hinreicht, gelinde Anfälle von Cholera hervorzurufen. Die Hauptsache ist jedoch weniger das Essen als das Trinken, worin von einzelnen Stammgästen in der That das Außerordentlichste geleistet wird. Die ganze Atmosphäre duftet nach saurem Weißbier, dem Berliner Nektar, und nach Nordhäuser Korn, der zur besseren Verdauung des Weißbiers nicht immer mäßig genossen wird. Unter solchen Umständen ist es nicht zu verwundern, wenn sich die Gemüther leicht erhitzen und Handgreiflichkeiten vorkommen, die meist mit der Herausbeförderung des Ruhestörers zu enden pflegen. Dieser hat dabei den Vortheil, die Kellertreppe statt hinuntergeworfen heraufgeworfen zu werden.

Einen glänzenden Contrast zu dem Bumskeller bildet der feine Delicatessenkeller, in dem sich besonders nach dem Theater die bessere (?) Gesellschaft einzufinden pflegt. Derselbe ist stets höchst elegant, zuweilen luxuriös eingerichtet, mit Sammttapeten, schwellenden Divans, Rococospiegeln, Gemälden und strahlenden Kronleuchtern versehen. Außer dem gemeinschaftlichen Salon giebt es hier eine Reihe von einzelnen Cabineten für besondere Gesellschaften, welche allein für sich bleiben wollen. Manche Mysterien werden hier gefeiert, mancher kleine Roman abgespielt, obgleich die Polizei die Geheimnisse der besonderen Cabinete nicht länger dulden wollte und zu diesem Zwecke die Thüren aushoben und durch leichte Vorhänge zum Leidwesen so mancher zärtlichen Paare ersetzen ließ. Dennoch fehlt es nicht an kleinen Abenteuern, heimlichen Rendezvous, und noch immer bieten die Delicatessenkeller in Berlin dem Novellisten einen reichen Stoff und manches piquante Kapitel für seine socialen Studien. —

Den Schluß bilden die „Verbrecherkeller“, von der Polizei geduldete Vergnügungslocale für notorische Diebe, Strolche, liederliche Dirnen und ähnliche gefährliche Individuen. In diesen unterirdischen Höhlen, von Fusel und mephitischen Ausdünstungen erfüllt, hält das Laster ungeschoren seine Orgien. Bei den Klängen eines wüsten Leierkastens oder einer verstimmten Violine dreht sich im wilden Taumel der Auswurf der Gesellschaft, die Elite der Verbrecherwelt. Hier feiert der berüchtigte Gauner seine Triumphe und freut sich der Anerkennung seiner Standesgenossen, hier macht der junge Anfänger auf der Verbrecherbahn Bekanntschaften, die für sein ganzes Leben entscheiden, hier findet er Freunde, Helfer und die Geliebte, für die er stiehlt und im Nothfalle mordet. Es herrscht eine bacchantische Wildheit, eine unbeschreibliche rohe Lust und Ausgelassenheit in diesen Räumen, wüstes Geschrei, toller Lärm, dazwischen das Jauchzen der ausgelassenen Dirnen, der gröhlende Gesang der Männer, unterbrochen durch einen plötzlichen Streit, wobei die Messer blitzen und nicht selten schwere Verwundungen vorkommen. Mitten in dem höchsten Wirrwarr wird es plötzlich todtenstill, die Musik verstummt, Alles flüchtet nach der Thür und zu den verborgenen Ausgängen, die jedoch von der Sicherheitspolizei besetzt sind. Es findet eine Razzia statt, um einige gefährliche Verbrecher auszuheben. Dazu dienen diese Keller, wo man sicher ist, die ganze saubere Gesellschaft anzutreffen. Wenige Augenblicke später werden eine Anzahl von Dieben, die sich bisher allen Nachstellungen zu entziehen gewußt, unter bewaffneter Begleitung und mit den nöthigen Handschellen versehen, aus dem Tanzlocal nach der Hausvoigtei abgeführt. In dem Verbrecherkeller ist es dunkel geworden, und nur in der Nähe sieht man noch einige verdächtige Schatten, die vor dem dämmernden Morgenlicht verschwinden und in ihre heimlichen Spelunken sich verbergen.



  1. Mit dem Verfasser, dem in München lebenden bekannten trefflichen Künstler und Kunstschriftsteller, glauben wir bei der im Augenblick von Neuem so rüstig vorschreitenden Reaction die Mittheilung dieser interessanten Erinnerung an die Metternich’sche Polizeiperiode zwar ganz an ihrem Platze, hegen aber doch noch nicht die Befürchtung des Autors, daß eine Wiederkehr von Zuständen, wie die hier geschilderten, noch möglich ist.
    D. Red.