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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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No. 51.   1864.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



 Am Christabend.

Heil’ger Abend ist es wieder
Und der Christbaum ist erblüht –
In das Erdendunkel nieder
Klingt des Himmels schönstes Lied;

5
Und von Neuem wird vernommen

Aus der Höhe liebereich:
„Laßt die Kindlein zu mir kommen,
Ihrer ist das Himmelreich.“

Und in tausend reichen Zimmern

10
Prangt des Christbaums goldner Schein  

Doch das schönste Bäumchen schimmern
Seh’ ich dort im Hüttchen klein.
Brennt das Bäumchen auch nur Armen,
Dürftig nur die Gaben sind –

15
Hält die Mutter doch in Armen

Selig ihr gerettet Kind.

Aus gar schwerem Krankheittraume
Ist es wieder aufgewacht,
Christus mit dem Weihnachtbaume

20
Hat Genesung ihm gebracht.

Das verfallen dunkelm Loose,
Seiner nahm der Herr sich an –
Freudig aus der Mutter Schooße
Lacht es seinen Christbaum an.

25
Freudig streckt es seine Händchen

Nach den Lichtlein arm und klein,
Zappelmann am bunten Bändchen
Will es gar so sehr erfreun.
– Heil’ger Abend – goldne Kerzen

30
Prangen hier nicht reich und schön –

Aber schau zum Mutterherzen,
Willst Du einen Christbaum sehn.
Willst Du einen Christbaum sehnF. Stolle.




Er kommt nicht.
Erzählung von Karl August Heigel.
(Fortsetzung.)

Flemming war ein schwacher, kein schlechter Mensch. Während des Aufruhrs gegen das unglückliche Mädchen heuchelte er Gleichgültigkeit in seinen Mienen, im Innern jedoch war ein Kampf von Stolz und Mitgefühl. Mitunter wandelte ihn die Versuchung an, unter die Schmähenden zu stürzen und den Nächsten Besten niederzuschlagen. Sie verdient es, beschwichtigte er sich dann. Aber es ist ein Mädchen, ist die Tochter eines braven Mannes, warf ihm sein zartes Gefühl ein. Bah, warum treibt sie ihre Liebestollheit so weit, sogar heute sich bei ihrem Buhlen zu zeigen! Sie mögen büßen! Pfui über Beide! Hinwider durchfuhr ihn der Gedanke, wie Elisen jetzt zu Muthe sein müßte, und indem ihr bleiches, leidendes Gesicht vor seine Seele trat, konnte er sich eines Seufzers nicht erwehren. Als die Aufregung auf der Straße zur Raserei stieg, begann er die gar zu engherzigen, pedantischen Kleinstädter und seine Waldkirchner Reise zu verwünschen.

Da stellte sich ein kleiner, häßlicher Mensch mit einem Höcker dicht vor Marowsky’s Ladenthür auf. Dieser Mann hielt den rechten Arm in seiner Blouse verborgen. Einige Augenblicke später sah Gustav die Hand des Mannes mit einem großen Stein blitzschnell aus der Blouse gleiten und den Stein nach dem Fenster im rothen Roß schleudern. Beim Klirren des Glases fuhr Gustav zurück, als hätte ihn der Wurf getroffen, und dann sah er, wie auf ein Signal, die aufbrüllende Menge in das Haus dringen.

Das war zu viel. Seiner Bewegung nicht mehr Meister, sprang er aus dem Laden und auf den Verwachsenen los, der sogleich die Flucht ergriff. Mit langen Sätzen eilte Gustav dem Schnellfüßigen nach.

Niemand achtete auf dies Zwischenspiel, denn Alle, welche sich durch Toben und Schmähreden an der Bewegung betheiligt hatten – Leute in groben Kitteln und Kleidern – waren im rothen Roß oder drängten sich hinein; die Müßigen, die größtentheils auf dem Trottoir dem Gasthof gegenüber standen, hielten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Ereignisse im Trauerhaus gespannt.

Erst am entgegengesetzten Ausgang des Marktplatzes holte Flemming den Verfolgten ein. Er erfaßte ihn von hinten und hob den kleinen Mann mit einem kräftigen Ruck hoch empor, die andere, stockbewehrte Hand zum Schlag ausholend. Aber die Scham, sich an einem schwachen, zwerghaften, wehrlosen Menschen zu vergreifen, [802] hielt ihn von der Züchtigung zurück. Er begnügte sich, das Kerlchen tüchtig zu schütteln, und entließ es dann unsanft zur Erde. „Danke dem Himmel,“ sagte Gustav, „daß Du mir nicht gewachsen bist!“

Der Andere – Nöldeken, der Weber, war es – raffte sich mit wuthverzerrtem Gesicht empor. Er warf einen giftigen Blick auf den schlanken, feingekleideten Jüngling und schüttelte drohend seine Faust. Dann wandte er Flemming den ungestalten Rücken, den Kopf zurückgeworfen und sich in den Hüften wiegend, als schritte er als großmüthiger Sieger davon. Gustav aber ging über den Platz zum rothen Roß zurück. Unabweisbare Sorge um das Schicksal der Geächteten beflügelte seinen Schritt.

Dicht vor dem Gasthof kam ihm der Leichenzug entgegen, der offene Sarg, der leidtragende Gatte in Begleitung des Pastors, die Bürger, die Schüler, das Volk. „Sie sind gerettet!“ sagte sich Gustav und ließ den Zug an sich vorübergehen.

Er konnte seinen Rivalen nicht ohne Stirnrunzeln betrachten. Oldenburg aber blickte weder rechts noch links, sondern hielt die Augen starr auf den Sarg und auf das rosenbekränzte, von der Bewegung zitternde Todtenhaupt gerichtet. „Er ist schön,“ sagte sich Gustav, „aber auch unglücklich!“ setzte er unwillkürlich hinzu.

Bis in die späte Nacht saß er dann in Marowsky’s Weinstube. Schweigsam, in eine Ecke gedrückt, hörte er nur mit halbem Ohr auf die Unterhaltung der übrigen Gäste. Denn sie drehte sich bald nicht mehr um Oldenburg und Elise, sondern um die Arbeitseinstellung der Weber. Als die Leute vom Begräbniß zurückkamen, war an den Tischen kein Platz mehr. In der Stube, wie im Laden, standen dann, dicht gedrängt, Waldkirchner Bürger, Gerichtsbeamte und Pachter aus der Nachbarschaft. Da Alle rauchten, hüllte ein entsetzlicher Qualm die verschiedenen Gruppen ein. Weil Alle redeten, herrschte ein ununterbrochenes Stimmengewirr. Seit den Tagen der Revolution hatte es nicht eine ähnliche Aufregung und soviel Stoff zur Aufregung in Waldkirchen gegeben: … Ein untersetzter, rothbäckiger Mann, Inhaber einer Zuckersiederei, stellte die störrischen Arbeiter als die schlimmsten Verbrecher hin; einige Grauköpfe wollten zwar keineswegs die Letzteren vertheidigen – keineswegs und durchaus nicht! – hatten aber auch gegen den Fabrikanten ihre Bedenken, der im Handumdrehen all’ seine Mitbürger überflügeln und Millionär werden wolle. „Fragen wir die Statistik! die Statistik, meine Herren!“ rief ein Referendar mit schadhaftem Scheitel und spitzer Nase und zog einen Vergleich zwischen den Lohnsätzen in Waldkirchen und Neustadt. Man behauptete, verwarf, erhitzte sich und war schließlich nur darin einstimmig, daß das Beispiel der Weber ein böses Beispiel, Hab und Gut in Gefahr und exemplarische Bestrafung die einzige Rettung wäre. Einer wagte zwar den schüchternen Zweifel, ob nicht doch zwischen dem Arbeitgeber und den Arbeitern ein Vergleich zu Stande kommen möchte, dem aber widersprach ein hastig eintretender Magistratsschreiber mit der Neuigkeit, daß zwischen dem Fabrikanten und seinen Arbeitern stürmische Auftritte stattgefunden hätten und ganz und gar nicht an Aussöhnung zu denken wäre. Diese Nachricht bestätigte ein Dritter, der Jenem auf dem Fuße folgte, und fügte hinzu, die aufständischen Weber durchzögen in hellen Haufen und mit wildem Geschrei die Straßen und Mord und Todtschlag seien zu fürchten, wenn die Fünfunddreißiger aus Neustadt nicht bald kämen.

Diese Kunde trieb die Mehrzahl der Gäste nach Hause. Der Laden wurde geschlosen und in der Weinstube Licht angezündet. Die wenigen Junggesellen, welche noch bei der Flasche saßen, begannen ein politisches Gespräch, das Flemming’s Aufmerksamkeit insofern wieder fesselte, als die Waldkirchner Morgenzeitung und ihr Redacteur mehrmals erwähnt wurden. Die Auslassungen über Oldenburg waren wunderlich, ein Gemisch von Widerwillen und Anerkennung. Neid und Stolz auf ihn. Soviel errieth Gustav zu seinem Aerger, daß Oldenburg zwar nicht beliebt, aber „eine Autorität“ in seiner Vaterstadt sei.

Als eine Pause in der Unterhaltung eintrat, hörte man plötzlich einen Trommelwirbel. Er klang zwar durch den eisernen Fensterladen nur schwach und wie aus großer Entfernung, aber Jeder hatte ihn vernommen, und die Anwesenden sahen sich mit ängstlicher Spannung in’s Gesicht. Wenige Augenblicke später lief draußen Jemand am Laden vorüber – dem Schall der Tritte nach sehr, sehr eilig – und schrie: „Feurio! Feurio!“

„Feuer?!“ Alle sprangen entsetzt empor. Und nun rief langgezogenen Tones auch das Horn vom Thurm, und die eiligen Tritte auf dem Pflaster mehrten sich …

Als Marowsky’s Gäste in’s Freie traten, war der Nachthimmel geröthet; über den Platz durch die Marktstraße liefen mit verworrenem Geschrei die Leute; an den Häusern wurden die erleuchteten Fenster aufgerissen; vom Rathhaus her rasselte die Feuerspritze.

Ein Junge rannte im Vorüberlaufen gegen den Kaufmann an. Dieser hielt ihn am Aermel fest und fragte, wo es brenne. „Um Himmelswillen, lassen Sie mich los,“ bat der Knabe. „Die Fabrik brennt, und der Principal und der Doctor sind dort beim Löschen, und gerade jetzt kommt ein Telegraph!“

„Welcher Doctor? Ein Telegramm?“

„Na, unser Doctor natürlich, und ein Telegraph für unsere Zeitung. Bitte, lassen Sie mich los!“ - - Ein Mann, der von dorther kam, wohin die Leute rannten, blieb bei der Gruppe am Laden stehen und sagte, daß der Brand bald vorüber sein werde. Eine Compagnie der wackern Fünfunddreißiger wäre just beim Ausbruch des Feuers in Waldkirchen eingetroffen und sofort zum Löschen commandirt worden. Uebrigens hätten sie die Straße gesperrt und ließen Niemanden mehr zur Brandstätte.

Trotz dieser Nachricht beschlossen die Gäste aus der Weinstube mit Ausnahme Flemming’s, sich an Ort und Stelle zu begeben. Gustav aber kehrte mit dem Kaufmann, welcher seinen Laden nicht verlassen wollte, in das Stübchen zurück. Selbst dieses Ereigniß gab seinen Gedanken, die sich immer und immer um die Scenen des Nachmittags drehten, keine andere Richtung. Er antwortete dem aufgeregten Marowsky kaum und kauerte, von unsäglicher Traurigkeit abgespannt, vor dem unberührten Glase. Das Feuerhorn war längst verstummt, auch die Unruhe auf der Straße legte sich allmählich; die Stimmen und Tritte auf der Straße kamen zurück und schallten zuletzt nur noch vereinzelt.

Endlich gedachte Gustav der Angst seiner Mutter und raffte sich gewaltsam auf. Als er langsam durch die Reihen der Jahrmarktbuden über den Platz ging, stieß er auf mehrere Gruppen von Männern, die geheimnißvoll unter sich flüsterten. Ihrer Kleidung nach schienen es Arbeiter zu sein. Das Tagesereigniß und der nächtliche Brand erklärten diese Erscheinung. Am Ausgang der Buden, dicht vor einem alten, einstöckigen Hause, der Adler’schen Druckerei, blieb Gustav stehen und schaute zum gestirnten Himmel empor. Da klangen zahlreiche Schritte hinter ihm, und sich umdrehend, sah er eine ansehnliche Truppe jener Männer sich nähern. Ehe er an einen möglichen Angriff und an Flucht dachte, war er von ihnen umzingelt, und plötzlich stand der zwerghafte Mensch vom Nachmittag ihm gegenüber. Der Vollmond beschien das häßliche Gesicht, das Hohn, Grimm und Rachelust noch mehr entstellten.

„Willst Du mich wieder schlagen, Du Hund?“ lallte der Bursche und streckte die geballte Knochenhand drohend unter Gustav’s Kinn. Diesem schoß das Blut in die Wangen; er gab dem Knirps einen leichten Stoß und that einen Schritt vorwärts. Aber Nöldeken kreischte: „Nieder mit dem Zierbengel! Er ist Einer von denen, die ernten, was wir säen; die schlemmen, während wir hungern, die uns bestehlen und doch mit Füßen treten!“ Damit klammerte er sich an Flemming’s Brust und Kehle wie ein wildes Thier fest. Zwar gelang es Gustav, ihn abzuschütteln, aber nun stürzten sich Nöldeken’s Begleiter, trunken von Branntwein, vom Feuer und ihrem Unglück, auf den Jüngling. Nach ebenso ungestümer, wie kurzer Gegenwehr, schon von Blut überronnen, ward er zu Boden gerissen, wie unter eine losgelassene Meute von Mordhunden. Nöldeken preßte ihm beide Hände auf den Mund, daß er nicht Hülfe rufen konnte. Er gab sich verloren und das Bewußtsein schwand ihm.

Dann wieder fühlte er sich emporgerichtet und sah durch Blut, Schweiß und Thränen eine reckenhafte Gestalt in lautlosem, erbittertem Kampfe mit seinen Angreifern. Und so wuchtig fiel der Arm des Fremden auf die Köpfe und Schultern der Ueberraschten, daß sie eine Secunde lang zurückwichen. Diesen Augenblick benutzte Jener, indem er den taumelnden Flemming mit sich in den offenen Flur der Druckerei riß und die Thür rasch hinter sich in’s Schloß warf. Kaum war dies geschehen, so stürzte sich die Bande mit erneuter Wuth gegen die Thür. Ein schriller Pfiff ertönte und Nöldeken’s Stimme rief: „Nieder mit dem Volksfeind, dem Ehebrecher! Nieder mit der Morgenzeitung! Reißt das Haus in den Grund!“

Obwohl sie noch im dunkeln Hausflur standen, wußte Gustav jetzt, daß der Mann an seiner Seite, sein Retter – Oldenburg war. –




[803]
4.

In wenigen Minuten waren fünfhundert Menschen auf dem Platze versammelt. Nicht die brodlosen Weber allein! Eisengießer und Maschinenbauer benachbarter Fabriken, Männer mit breiten Schultern und muskulösen Armen, hatte der Abend nach Waldkirchen gebracht, wo sie, von der allgemeinen Aufregung ergriffen, die drohende Nacht in den Straßen und Schenken des Städtchens durchwachten. Der Brand in der Baumwollenfabrik wurde von den Meisten wie ein Fanal begrüßt. Da trifft rechtzeitig ein Commando von fünfzig Soldaten ein, und das Feuer wird rasch gedämpft. Aber der Zorn und die Gier nach Gewaltthat schlagen in desto hellere Flammen aus. Die Soldaten haben die Straße vor der Fabrik besetzt. Unter den Arbeitern verbreiten sich empörende Gerüchte … Unzweifelhaft sind es Lügen, aber in diesem Augenblick wird jedes Geschichtchen, das die Wuth stachelt, geglaubt, geht von Mund zu Mund und wächst sozusagen unter Liebkosungen groß. Man erzählt sich, die Soldaten hätten mit Kolbenstößen jeden Mann im Leinwandkittel zurückgetrieben … Ein Gemeiner habe die Aeußerung gethan: „die Weber geben uns ein Feuerwerk, dafür werden wir Feuer auf die Weber geben!“ und der Officier soll zu einem Bürger gesagt haben: „Befürchten Sie nichts! Ich lasse die Mordbrenner niederschießen.“ – „Diese Handvoll Soldaten !“ bemerkte Jemand zu diesen Gerüchten; Jemand, man weiß nicht mehr wer; aber Jeder spricht es nach, höhnisch, drohend, bedeutsam: „Diese Handvoll Soldaten!“

Mit dem Ueberfall auf Flemming wandelt sich die Gährung in thätliche Wuth. Keiner kennt Flemming, allein die Meisten haben die feingekleidete, geschniegelte Puppe Nachmittags beim Kaufmann gesehen. Ein Baron, nach andern ein Spion, heißt es, mißhandelte Nöldeken; Tod und Hölle! mißhandelte unseren Nöldeken! Ihm nach! Nieder mit ihm! „O,“ schreit einer, „Oldenburg hat ihn befreit.“ „Oldenburg? Wer ist Oldenburg?“ fragen nicht Wenige. „Nun, der Mann, dessen Frau man heute begrub. Er hat sie schlecht behandelt, er ist schuld an ihrem Tod.“ „Schuld an ihrem Tod! Nieder mit Oldenburg!“

Und wieder wirft Jemand ein Schlagwort in dies Gewirre von Wahrheit und Lüge, sinnloser, und gerechter Empörung: „Oldenburg denuncirte“, sagt Einer. „Vor vier Tagen stand in der Morgenzeitung: Wir würden uns durch Ungesetzlichkeit unsern Gegnern ausliefern … War das nicht ein Fingerzeig für die Polizei, daß sie ein Auge auf uns haben sollte und daß wir etwas thun wollten? Er ist ein Angeber, ein Verräther! Nieder mit Oldenburg! Nieder mit der Morgenzeitung! Es lebe Brausewetter!“

Es ist unmöglich, diese thörichten Reden und Rufe mit der Schnelligkeit zu erzählen, womit sie unter den Massen hin und her schwirrten, Jeden überzeugten und zu Gewaltthaten trieben. Eins! zwei! drei! Der größte Haufe wirft sich gegen die Druckerei. Mit Fäusten, Steinen, Knitteln bearbeitet man die Eichenthür; wer mit der Sturzwelle nicht mit kann, schäumt gegen das Gemäuer und rüttelt an den Fenstergittern im Erdgeschoß. Hinter dieser Gruppe, deren Geheul von schrillem Pfeifen unterbrochen wird, reißen Andere das Pflaster auf; Marktbuden werden in einem Augenblick zertrümmert, die Balken auf den Weg geworfen oder als Waffe geschwungen … „Warum stürmen wir just die Druckerei?“ fragte ein jünger Arbeiter einen ältern, während sie, mit Steinen beladen, zum größeren Haufen liefen. „Wir wollen keine Worte mehr,“ schrie der Zweite als Antwort; „wir wollen Brod!“

Brod!

An den Fenstern der umliegenden Häuser tauchten die Lichter der geängstigten Bürger auf und verschwanden wieder. Hinter den verriegelten und verrammten Hausthüren und auf den Treppen ist ein ängstliches Flüstern und Horchen: „Hört Ihr noch nichts?“

Denn das Gebrüll übertönt den Trommelwirbel und taktmäßigen Soldatenschritt. Aber sie rücken näher und näher …

„Bah! diese Handvoll Soldaten…“




„Wir sind verloren,“ stöhnte Gustav und fuhr sich über die Stirn, welche der Angstschweiß bedeckte. Oldenburg hielt Flemming’s andern Arm krampfhaft fest und horchte.

Sie standen in einer Parterrestube, deren vergittertes Fenster auf das benachbarte Grundstück ging. Sie stieß unmittelbar an die Räume, wo die Pressen standen, und diente am Tage als Bureau. Es roch darin noch nach dem Dunst der ausgelöschten Lampe, denn Oldenburg hatte vor wenigen Minuten erst das Zimmer verlassen. Die oberen Räume des Hauses wurden vom Herrn Adler bewohnt; aber sie waren verschlossen, da der Druckereibesitzer in jener verhängnißvollen Nacht beim Bürgermeister weilte. So blieb den Bedrohten das erwähnte Hinterstübchen als einziger Zufluchtsort. Konnte die massive Thür dem wüthenden Andrang nicht widerstehen, wie leicht dann waren die Eingänge zur Werkstätte, zum Redactionszimmer erbrochen! Und was vermochten zwei waffenlose Männer dieser Menge gegenüber, welche, aller Besinnung bar, Todfeinde und Verräther in ihnen erblickte? Oldenburg’s kühner Angriff hatte sie überrascht, aber jetzt war sie um das Zehnfache gewachsen.

Aehnliche trostlose Gedanken bewegten Gustav sowohl, als Oldenburg, während das Geräusch von Stimmen, Stößen und Steinwürfen zu ihnen drang. „Mein Gott! mein Gott!“ stammelte der Erstere einige Male, wie im Versuch, zu beten; der Andere dagegen erschien gefaßter.

Und jetzt kracht die Thür, und durch das Aufjauchzen der Stürmenden hören die Bedrängten einen Thürhaspen in den Flur poltern. Gustav schlägt beide Hände über das Gesicht. „Jetzt!“ sagt Oldenburg mit dumpfer Stimme …

Doch der zweite, entscheidende Stoß erfolgte nicht. Zwar dauert das Geschrei draußen fort, aber hindurch schallt deutlich jetzt und nah, ganz nah das Wirbeln von Trommeln.

Hochauf schlug bei diesem Ton Gustav’s Herz. „Gerettet!“ rief er in wahnsinniger Freude. Oldenburg riß die Zimmerthür, auf – „Ja, Trommeln und Commandoruf!“

„Militär ist da!“ jauchzte der junge Flemming. „Man hat den Pöbel umzingelt. Ha, wie sie aufheulen vor Angst und Wuth!“ Er war in solcher Aufregung über die plötzliche Wendung, daß er mit den Füßen stampfte, die Arme in die Luft warf und, als ob er den Soldaten draußen commandirte, die Bajonnete zu fällen befahl. „Horchen Sie!“ rief er dann wieder. „Die Thür ist frei! Unsere Feinde werden angegriffen … “

„Oder greifen an,“ murmelte Oldenburg, der jetzt zum ersten Mal zitterte.

„Fällt die Bajonnete! Schießt sie nieder!“ schrie Gustav, aber Jener schüttelte ihn am Arm und sagte zornig, daß er schweigen sollte. Ob es ihm nicht genüge, gerettet zu sein? Und als Gustav verwundert ein Aber – begann, wiederholte Oldenburg geradezu gebieterisch, daß keine Ursache zu jubeln sei. Darauf schwiegen und lauschten sie wieder.

Im Geschrei der Rotte und Trommelrasseln unterschieden sie deutlich das Wogen und Drängen von Schritten, das einem Handgemenge vorherzugehen pflegt. Jählings gipfelte sich dann das Toben und Pfeifen zum langathmigen Aufschrei, welcher mehr dem Schlachtruf von Dämonen, als von Menschen glich, und gleich darauf fiel ein Schuß …

Wenn die Kugel ihn getroffen hätte, hatte Oldenburg nicht entsetzter zurücktaumeln können…

Einen Augenblick lang Stille; das commandomaßige „Vorwärts“ einer einzelnen Stimme dann; bestürztes Hin- und Herlaufen vor dem Hause, das dem Takt soldatischer Schritte weicht. Eins, zwei! - - das Geräusch entfernt sich vom Hause, mehr und mehr …

Sie schlossen die Thüre auf und traten in’s Freie. Oldenburg stützte sich auf seines Begleiters Schulter, denn die Kniee schlotterten ihm. Der Platz war von den rebellischen Haufen gesäubert, auch die Trommelwirbel ertönten nur noch aus der Ferne. Ungefähr hundert Schritte von der Druckerei aber, dort, wo die Marktbuden begannen, stand ein Kreis von Männern und Frauen. Andere eilten aus den Häusern herbei, einige mit Laterne. Auch aus den Fenstern bogen sich Neugierige … Aber dies Getriebe, diese Neugierde war merkwürdig schweigsam. Als Oldenburg und Gustav in den Kreis traten, sahen sie einen Mann in Arbeitertracht auf der Erde liegen, mit ausgestreckten Armen, das Antlitz dem Sternenhimmel zugekehrt. An seiner Brust kniete ein Weib. Sie rang die Hände, blickte wild im Kreise umher und rief: „Todt! todt!“

Dies Weib war Peter’s Frau, der Mann auf dem Pflaster aber eine Leiche. - -

Der Anblick des Erschossenen erschütterte Oldenburg mehr als alle anderen Vorgänge des verhängnißvollen Tages. Er schien jeder Willensäußerung, ja, der Sprache selbst beraubt. Auch auf [804] Gustav übte der Ernst der Stunde seinen Einfluß. Die Dankbarkeit und Theilnahme für seinen Retter war größer als seine Eifersucht gegen den Nebenbuhler. Er nahm, fast zärtlich, den gebrochenen, halb ohnmächtigen Mann und führte ihn vom traurigen Schauspiel hinweg. Als sie den Kreis, der sich von Minute zu Minute um das Opfer vergrößerte, hinter sich hatten, machte Gustav den Vorschlag, Oldenburg in das rothe Roß zu bringen, aber dieser entgegnete heftig: „Nein, nein – ich würde mich dort tödten …“ Nach einigem Nachdenken fragte Flemming, ob er – Oldenburg – den Rest der unseligen Nacht im Haus seiner Mutter verbringen wolle.

Der Wankende nahm die Einladung an, indem er sagte, daß er allerdings menschlichen Mitgefühles bedürfe, es aber gerade jetzt lieber von einem Fremden, als von Bekannten beanspruche. Da Gustav hierauf bedeutungsvoll entgegnete, daß sie einander nicht fremd seien, sah Oldenburg mit einem irren Blick in’s Antlitz und sagte: „Sie haben Recht. Diese Stunde hat uns verbrüdert.“

„Er kennt mich nicht,“ dachte Gustav und bewunderte die eigne Großmuth, womit er gegen den Todfeind Gastfreundschaft üben wollte. „Wie wird er sich schämen,“ sagte er bei sich, „wenn er erfährt, wer ihn aufnahm!“

Schweigend gingen sie dann die Straße hinab nach dem Hause Gustav’s. Da dieses am entgegengesetzten Ende der Stadt weit vom Schauplatz des Tumults und seiner gewaltsamen Beendigung lag, walteten in seiner Umgebung die Stille und der Friede der Nacht. Wenige Schritte vom Gartenthor aber verließ Oldenburg der Rest von Kraft. Er schwankte wie ein Trunkener und mußte sich auf einen Stein am Weg setzen, während Gustav in den Garten und zum Hause trat, wo im Erdgeschoß Licht schimmerte.

(Schluß folgt.)




Land und Leute.
Nr. 19. Auf rother Erde.[1]
II.
Altgeregelter Hausstand von Edelmann und Bauer in Westphalen. – Abfinden der jüngern Geschwister. – Die Tenne. – Das große Familienbett. – Das „Kürstündchen“. – Der Jahrmarkt. – Das Erntefest mit Umfahrt und Erntetanz. – „Hofbestattung“ und Leibzucht. – Der letzte Segen.

Das beglückende Bewußtsein, einen eigenen Heerd zu besitzen, verbindet sich wohl bei den meisten jungen Frauen mit dem angenehmen Gedanken, nun auch einen eigenen Willen zu haben und künftighin im Hause nach Gefallen schalten und walten zu können. Auf rother Erde ist das Loos einer Neuvermählten nicht ein solches; wenigstens ein durchaus anderes bei den Bewohnern Westphalens, die den Kern seines Adels, den Kern seines Bauernstandes bilden. Dort ist der ganze Hausstand seit Jahrhunderten ähnlich dem Räderwerk einer Uhr eingerichtet, dort sind Gesetze, ja selbst Handlungen statutenmäßig vorgeschrieben. Sowie Edelmann und Bauer bei der Wahl ihrer Lebensgefährtinnen nach festgestellten Regeln und Principien handeln müssen, so haben auch ihre rebellischsten Frauen sich dem alten Gesetz zu fügen, das sie einzig wie ein Glied in die unzerreißbare Kette jenes großen Ganzen einfügt, das sich nicht allein als eine Art chinesischer Mauer um den Boden der rothen Erde zieht, sondern auch als fester Grund- und Eckstein unter die Pfeiler gelegt worden ist, auf dem Westphalens Adel und Volk seine Schlösser und Höfe errichtet, seinen Wohlstand gegründet und seine Familien vor Ruin und Untergang geschützt hat. Nirgends wohl sind die Gesetze über das Erbrecht starrer, die Statuten über die Erbfolge eigenthümlicher, als in Westphalen.

Die Frau eines der reichsten Grundbesitzer kann, wenn sie keinen Sohn hat und ohne eigenes Vermögen ist, was meistentheils der Fall, nach plötzlichem Tode ihres Gatten ärmer als die ärmste Bauerfrau sein, weil sie verwöhnter ist! Man reißt ihr zwar nicht das Brillantdiadem, das sie lang geschmückt, vom Haupte, man ringt ihr nicht die kostbaren Juwelen des Familienschmucks mit Gewalt ab, aber sie darf von all den Schätzen nicht einen Stein, eine Perle zum eigenen Gebrauch behalten, und könnte solcher Stein, solche Perle sie auch auf Jahre vor dem Mangel schützen, vor dem das alte Familienstatut oft weder sie, noch ihre Töchter geschützt hat. Eine vierspännige Staatscarosse fährt solche Wittwe eines begüterten Edelmanns, laut Statut einzelner Besitzungen, aus den Gefilden des Reichthums und der Ueppigkeit. Sie bleibt ihr auch und ist die größte Ironie auf jenes bescheidene Jahrgehalt, das nur zur Nothdurft für sie und vielleicht einen Schooßhund ausreicht.

Meistens ist der älteste Sohn einziger Erbe des gesammten Vermögens, Erbe von Haus und Hof. Die jüngeren Geschwister werden unter Adel und Volk „abgefunden“ vom Erben, wie jene Theilung unter den Geschwistern heißt. Dies „Abfinden“ ist für den Begüterten aber ein sehr kleiner Ausfall in der Gesammtmasse seines Vermögens, oft die Revenue eines Monats, einer Woche, bei den Reichen vielleicht die eines Tages.

Der westphälische Edelmann, der den Sproß von sechzehn untadelhaften Ahnen als Gemahlin auf das Stammgut seiner Familie führt, der westphälische Bauer, der sein Weib auf den Hof seiner Väter bringt, Beide versetzen ihre jungen Frauen, trotz der neuen Welt, die sie ihnen erschließen, doch in eine alte Welt, in eine Welt, an der Nichts verändert, in der Nichts umgemodelt werden darf! Mit gleichem Stolz führen auch Edelmann und Bauer das Weib ihrer Wahl in diesen gefeiten Kreis altpatriarchalischer Gesinnung. Jener deutet stolz auf sein reines, unbeflecktes Wappenschild über dem mächtigen Portale des aus starken Quadersteinen aufgeführten Einfahrtsthores der Schloßhalle; dieser bleibt voll Triumph unter dem hohen Laubdach der alten Linden stehen und zeigt seinem jungen Weibe die moosbewachsenen Stämme, die sein Urahn dort einst gepflanzt.

Darf nun die Bäuerin im Haus auch ebenso wenig Etwas ändern, wie die Aristokratin im Schloß, so wird sie doch bald in der neuen Heimath ebenso heimisch und fleißig sein, wie auf dem Hof ihres Vaters. Erstaunen oder Verwunderung über Neues, noch nicht Gesehenes raubt ihr keine Zeit! Sowie die Wohnstube des Bauerhofes stereotyp ihren großen Kachelofen mit der hölzernen Bank darum hat, so überall im Hause, in der Tenne, in den Ställen, auf den Böden, dieselbe Einrichtung. In die Thür der Tenne kann ein mit vier Pferden bespannter, hoch mit Getreide angefüllter Wagen bequem einfahren und dort vom Manne abgeladen werden, ohne die am Heerde beschäftigte Frau zu belästigen. Jene Thür ist auch zugleich der Schornstein für allen Küchenrauch. In mächtigem Strome quillt dieser dem Eintretenden gar oft entgegen, wenn die auf dem Heerde fast ewig lodernde Flamme mit nicht völlig trocknem Holze genährt wird. Ueber dieser Flamme hängt an langen eisernen Haken bald ein Kessel, bald ein Topf, und Beides meist so groß, daß Ziege oder Schaf mit Bequemlichkeit Platz darin hätten.

Frühjahr, Sommer, Herbst dient diese Tenne dem Bauern als Aufenthalt bei seinen Mahlzeiten und in den Ruhestunden, und es genirt ihn nicht, daß der Theil seines Viehbestandes, welcher frei umherzulaufen pflegt, sich auch dort zu flüchtigen oder längeren Besuchen einfindet. Die meist mit Thon ausgestampfte Tenne ist stets sauber, und in musterhafter Ordnung hängen an den in verschiedenen Balken eingefügten Pflöcken die Ackergeräthe. An die eine Seite der Tenne grenzen die Stallungen für Pferde, Ochsen, Kühe, Schweine, und wirksam angebrachte Luken lassen diesen die freie Ein- und Aussicht in und auf den Hauptsammelplatz der Familie und jene niedern Regionen ihrer Standesgenossen, die sich dem geselligen Treiben der Menschen anzuschließen pflegen. An die andere Seite der Tenne stoßen die Milchkammern, die Wohnstube und der Alkoven, in welchem letztern ein Bett, mit Kissenbergen und Deckbetten, schwerer als das belastetste Gewissen, der ganzen Familie, sei sie noch so zahlreich, ein nach Länge und Breite ausreichendes Asyl bietet.

Knechte und Mägde schlafen auf dem Heuboden. Einem Gast, sei’s Mann oder Frau, wird aber, wenn er Nachts auf dem Hofe bleibt, jenes Familienbett ebenso freundlich und unbefangen zur Disposition gestellt, wie auf dem Edelsitz einem forschenden Heraldiker das Familienarchiv. Einem jungen reichen Bielefelder Kaufmannssohne,

[805]

Auf dem Jahrmarkt.  Westphälisches Bauernleben.   Kürstündchen.
      Die Leibzucht.   Erntetanz.   Der letzte Segen.
Originalzeichnung von Otto Günther.

[806] der, von Reisen aus England und Frankreich heimkehrend, durch Landwehrpflicht zur Manöverzeit auf den Hof eines Bauern als Einquartierung kam, wurde, als er Abends die Ofenbank vorzog und die Ruhe im Familienbett ausschlug, vom Hofbesitzer freundlich gesagt: „Nu, wä Aehr wollt, Häer; aberst Platz is er nach for vier sonne Dünne, wä Aehr sihd!“ (Nun, wie Ihr wollt, Herr, aber Platz ist noch für vier so Schlanke, wie Ihr seid.) Die Wohnstube ist Aufenthalt für den Winter. Bricht der Abend ein, so zieht Jung und Alt mit seinem Spinnrade zum „Kürstündchen“ (Plauderstunde) in das Haus eines reichen Bauern. Da werden, wenn die Mädchen schnurren, „Fameltüten“ (Märchen und Sagen) erzählt und wohl Geschichten so schauerlicher Art vorgetragen, daß Alle oft bis nach Mitternacht bleiben, um nur nicht zur Geisterstunde am Friedhof vorbei zu müssen oder am Weiher, aus dem der Sage nach die dort einst eingesenkten Hexen stehend die Hände emporstrecken.

Aber nicht blos schauerliche Fameltüten erzählt man sich in der Spinnstube, nein, auch hübsche von schönen Wichtelweibchen und neckischen Ulken, und seit Gisbert von Vinke Westphalens Sagen bearbeitet, nimmt die von der blondgelockten Elfe und dem Grafen von Schauenburg namentlich einen Hauptplatz in der Spinnstube ein. Diese Lieblingssage des Sonnenthals erzählt der Verliebte der Geliebten schon deshalb so gern, weil er daran die Versicherung seiner ewigen Treue reihen kann und die andere ebenso angenehme Versicherung, daß sie noch tausendmal schöner sei, als die Elfe, um deretwillen der Graf sein Weib verlassen. Das Mädchen läßt bei solchen Worten das Rad still stehen, vielleicht auch, um den ihrer Liebe nicht günstig gesinnten Vater nicht zu erwecken, der stets zu ihrem Schutz mitgeht, sich dicht neben den jungen Burschen setzt, in der warmen Spinnstube aber bald in den tiefen Schlaf des Gerechten versinkt und, die Zipfelmütze weit über die Ohren gezogen, die Füße lang von sich gestreckt, glücklich die schwerste Sorge seines Lebens verschnarcht, Vater einer schönen Tochter zu sein. Die Freuden der Spinnstube läßt sich Keiner gern entgehen. Da giebt’s außer Sagen und Märchen gebratene Aepfel und trockene Birnen, um die Weihnachtszeit Nüsse und Honig, und keine Hofmutter geizt, trifft sie das Loos auch noch so oft, Spinngäste zu haben.

In den einfachen Lebensgang der Dorf- und Hofbewohner bringt eine Messe oder ein Jahrmarkt reiche Abwechselung. Im Sonntagsstaat zieht der junge Bauer mit seinem Weibe in die Stadt, um in den Schätzen zu schwelgen, welche die Budenreihen bieten. Wo ein Sohn Abrahams auf bescheidenem Bret die buntesten Tücher ausgelegt, weilt die hübsche Frau am längsten und liebsten. Daß sie sich aber je von dem beschwatzen ließe, der da Moses und die Propheten zu Zeugen anruft: „wie er nur ihr das Tuch zu so billigem Preis verkaufe,“ dafür ist dem Hans bei seiner Grete weniger bange. Sie ist eben so klug, wie sie hübsch ist, und nicht lange wird es währen, so kehrt sie dem Händler den Rücken, während ihr Hund sich eifrig und immer eifriger jenem kleinen Knaben nähert, der da inmitten des Marktgewühls ein Plätzchen gefunden, wo er sein bescheidnes Diner, eine einfache Wassersuppe verzehrt. Plötzlich gewahrt Grete Bekannte! – Sind’s auch nur Schweine – so doch ihre Schweine, die so schön fett geworden und nun vom Knecht auf den Jahrmarkt getrieben wurden! Jetzt folgen sie schon ihrem neuen Herrn, denn sie sind verkauft und ein gut Stück Geld ist für sie eingekommen. –

Spinnstube mit Sagen und Märchen, Aepfeln und Nüssen, Jahrmarkt mit Budenreihen und glücklich abgesetzten Schweinen – was sind diese Freuden eines Kindes der rothen Erde aber gegen die Lust eines Erntereigens! Ein Triller, eine Coloratur der Patti, eine Pirouette von Lucile Grahn, was sind sie gegen den Geigenstrich einer Dorffidel, gegen den Luftsprung eines glücklichen Bauern am Erntefest! Kein Vergnügen, kein Entzücken des Vornehmen kommt der Freude und dem Jubel gleich, das den Bauern jene Musik, jener Tanz vor der Tenne um den Erntebaum bietet.

Wenn des Feldes letzte Garben in Scheunen und auf Böden untergebracht sind, denkt der Hof- oder Grundbesitzer daran, den Fleiß seiner Leute und Tagelöhner zu belohnen. Wenn auch der reichste Bauer wissentlich vielleicht hat keinen Halm umkommen lassen, dem Grummet dieselbe Sorgfalt geschenkt, wie der ersten Heuernte, so knausert er wiederum nicht, wenn die starken Ackergäule vor dem Leiterwagen stehen, um sein Weib mit der Großmagd zur Besorgung der Einkäufe für das Erntefest nach der Stadt zu fahren. Er, der den Pfennig zusammenhält, achtet dann nicht des entfliehenden Goldes, und ist der Festestag da, stehen Bier- und Branntweinfässer in der Tenne, hat die Hofmutter gebacken und gebraten, dann giebt’s kein froheres Antlitz, als das des Hofbesitzers, wenn er den kommenden Gästen an der Pforte das Willkommen bietet und sie zum Hause geleitet.

Die Erntefeier beginnt gewöhnlich um zwei Uhr mit der „Umfahrt“ über die Felder, die dem Besitzer ihren Segen gespendet haben. Die Leiterwagen sind dazu schon am Morgen von den Knechten und Mägden des Hofes mit grünen Kränzen behangen, die Pferde an den Köpfen mit mächtigen Blumensträußen und flatternden Bändern geschmückt, und in der Mitte des ersten Wagens thront auch der aus Garben geflochtene, mit den Blumen des Feldes und der Wiesen verzierte Erntebaum. Seine Krone, auf der ein künstlich nachgebildetes Huhn sitzt und von deren unterem Reif lange bunte Bänder herabhängen, wird in der Tenne als eine Art von Trophäe nach beendetem Feste aufgehangen und behält den Platz, bis eine frische sie ersetzt. Auf dem ersten Wagen sitzt das Dorforchester vorn an, und um den Erntebaum, den der Großknecht und die Großmagd abwechselnd halten und unablässig heben und senken, schaaren sich die zum Hof gehörigen Leute, drängt sich Jeder, sobald noch ein Plätzchen frei, denn auf diesem Wagen zu stehen ist Ehrensache.

Unter dem Hurrah der Vorreiter, die, wie auch ihre Pferde, mit Blumen verziert, selbst mit Kränzen geschmückt sind, unter den Tönen einer fröhlichen Musik, die weniger harmonisch ist, als laut, setzt sich der Zug in Bewegung, fährt über Feld und Wiese mit Singen und Lachen und kehrt, noch lauter jubelnd, auf den Hof zurück. Wer an klaren Herbsttagen, wie sich ihrer Westphalen um jene Jahreszeit immer erfreut, solchem Erntezuge in den Feldern begegnet, ihn in den roth und goldnen Laubmassen eines alten Eichenkamps mit all seinem bunten Festesputz und farbenreichen Kränzeschmuck verschwinden sieht, der wird den Anblick gewiß zu den poetischsten und lebensvollsten Bildern rechnen, die er erschaut.

So fleißig, so ernst Westphalens Volk ist, eben so lustig und munter kann’s bei seinen Festen sein, und den jungen Burschen und Dirnen hängt mit dem ersten Geigenstrich nicht nur der Himmel – nein, die ganze Welt voller Geigen. Ehrbar wie Mönche und Nonnen stehen sie aber bei der Heimkehr von der Umfahrt in der Tenne um den Hofbesitzer, wenn dieser Gottes Güte preist, ihm dankt für Segen und Gedeihen und Cantor und Schulze dann den Choral anstimmen, der dieser Rede folgt. Die Rede eines Hofbesitzers könnte manchem Dorfpfarrer Ehre machen, und sie ist in ihrer schlichten Einfachheit und dem schmucklosen Gewande oft ergreifender, als wenn die glänzendsten Blüthen der Rhetorik sie zierten. Bringt der Großknecht aber nach beendetem Choral das Wohl des Hofbesitzers aus, so bricht in buntem Hurrah die Fröhlichkeit wieder an. In diesem Lärm wirken die erschreckten Thiere des Hofes stets mit, nicht nur die der Tenne, nein, auch die Hunde bellen, die Gänse schnattern, die Enten kommen aus dem Teich und selbst die Hühner, die Nachmittags schon in das ihnen eigne stille Sinnen versinken und nachdenklich auf den Leitersprossen sitzen, fliegen behende auf und flüchten gackernd auf den Boden, den auch die Hauskatze an dem Tage der Tenne mit all ihrer Unruhe vorzieht. Nach dem Kaffee beginnt der Erntetanz unter den Linden vor der Tenne. Alt und Jung strömt hinaus, wenn der erste Reigen um den Erntebaum eröffnet wird. In froher Lust umspringt ihn die Reihe der Hofburschen und Hofmägde; die Rockschöße und Zipfelmützen fliegen nach rechts und links, die Bänder und Schürzen der Mädchen flattern – bewundernd hängen die Blicke der Zuschauer an den kühnen Sätzen, die dem Aufschnellen der Gummibälle an Höhe oft nicht nachstehen.

Wie fröhlich auch das Treiben ringsum, zwei Gäste werden inmitten alles Troubles stets ihre Würde zu wahren wissen: der dicke Gerichtsschulze und der magere Dorfschullehrer. Politisirend, das Wohl der Staates und Völker berathend, schreiten sie in dem engen Raume, zwischen Entenpfütze und Brunnen, auf und ab, den die Tanzlust nicht mit Beschlag belegt. Die Tanzenden lassen sich in ihrer Lust durch nichts stören, sie tanzen und tanzen, sie jubeln, singen und lachen, und zu den Ausbrüchen ihrer Heiterkeit spielt das Dorforchester den Dessauer Marsch in einem Tempo, welches ebenso glücklich wie genial eine beliebige Mitte zwischen Walzer und Galopp hält. Solchem Dorforchester wird die Tribüne gewöhnlich unter einem der Lindenbäume erbaut und das gebrechliche [807] Gerüst, das der korpulente Paukenschläger schon allein in’s Krachen bringen kann, ist gewöhnlich der Magnet für eine Knabenschaar, die an dem häufigen Zuspruch ihres Cantors bei seiner Schnupftabaksdose den Barometer seiner guten Laune hat und somit keinen Verweis fürchtet.

Gegen Abend hat die vielfach mißhandelte Geige meistens nur noch eine Saite, das Waldhorn und die Trompete keinen einzigen reinen Ton mehr, und die Clarinette piept wie eine müde Grille in öder Haide. Die Alles überbietende Pauke dauert aber aus, und je schwächer das Reich der übrigen Töne, desto kräftiger die jenes Instruments, bei dessen Bearbeitung der ausübende Künstler, gewöhnlich der Böttiger des Dorfs, mehr und mehr in eine Art von Berserkerwuth verfällt.

Die Tanzenden stört Nichts, sie hopsen und springen weiter, auch wenn das Orchester schweigt und an den gebratnen Hühnern der Hofmutter sich erquickt und den Bierfässern mehr zuspricht, als Kunst und Natur vertragen können. Es ist ja aber auch nur einmal Erntefest im Jahr! Das denkt auch zuletzt der junge Bursch, den Eifersucht aus dem Kreise der Tanzenden vertrieben und der sich in seiner bösen Laune zu den Alten gewendet, welche in friedlicher Ruhe vor der Tenne sitzen. Er stürzt sich dann wieder in den Reigen, nachdem der erste Zorn verraucht, und seine Zipfelmütze fliegt bald ebenso lustig, wie sie wenige Secunden zuvor verdrossen über ein Ohr gezogen worden, als seine Lise zum dritten Mal mit dem Großknecht des Hofes tanzte. – So lang der Hofbesitzer und sein junges Weib noch mit zu den Fröhlichsten im Erntereigen gehören, so lang ist’s noch gute Zeit für sie. Sind sie aber erst in die Jahre gekommen, wo das „Ehrentänzchen“ kaum mehr Freude macht, dann wird’s schlimm und schlimmer und es rückt allgemach die „böse Zeit“ näher, wo nicht allein sie daran denken, ihren Hof zu „bestatten“ d. h. an den Sohn abzutreten, sondern wo auch der Sohn öfter in sie dringt, die schöne Leibzucht zu beziehen und sich zu pflegen. Die Leibzucht ist ein mit auf dem Hofe stehendes kleineres Wohnhaus, in das sich die alten Bauern bei zunehmendem Alter zurückziehen. Endlich thut man aber den schweren Schritt, theils weil die Kräfte nicht mehr ausreichen, theils um auch den Sohn selbstständig zu machen, der jetzt als „junger Hofbesitzer“ bei der reichsten Bauerntochter anfragen kann, ohne einen Korb zu riskiren.

Ist nun die Einrichtung auf der Leibzucht getroffen, so findet sich das alte Bauernpaar christlich in den Wechsel und freut sich des Glücks ihres Sohnes. Dann aber leben Beide noch einmal auf, wenn der Ehe ihres Kindes ein neu Geschlecht erblüht. Entgegengesetzt wie einst, giebt nun der Alte auf der Leibzucht der Enkeltochter den Vorzug vor dem Sohne, denn das kleine Mädchen leistet ihm Gesellschaft, während der wilde Knabe sich in Feld und Wald tummelt. Der Großmutter Liebling ist aber der Enkel. Um des Mädchens willen bleibt sie ruhig bei ihrer Arbeit des Kartoffel- oder Rübenschälens für den Hof. Die Kleine weiß das auch schon, und ihr Weg ist stets zum Großvater; wie gern dieser auch seinen Kaffee allein trinkt, für die kleine Anne-Marie ist immer eine Tasse da. Die Rüstigkeit der Jugendjahre entfaltet die Alte auf der Leibzucht dann noch einmal, wenn der treue Gefährte ihres Lebens erkrankt, „benaut is“, wie das heißt. Den Doctor holt sie zwar nicht, denn an des Arztes Wissenschaft ist der Glaube auf rother Erde nicht groß; aber alle Theesorten, die sie Zeit ihres Lebens für den bösen Fall gesammelt, kocht sie auf, und geduldiger denn ein Hiob schluckt der Patient all das schlecht schmeckende Gebräu. „Bekrigt“ (erholt) er sich darnach nicht, so eilt sie in die Haide, wo allemal ein altes Zigeunerweib wohnt, die „Wunder“ verrichten kann. Jenes Weib hat ihr in der Jugend einmal die Karten gelegt und ihr Schicksal prophezeit, sie hat ihre Hühner besprochen, daß sie fleißig Eier legten, hat ihre Katze gesund gemacht, als der Hund sie gebissen – wie sollte solche Zauberin also nicht Krankheit und Tod bannen können! Die Zigeunerin kommt zu den Kranken auch stets mit einer Miene, als sei sie der liebe Gott selbst; tritt aber trotz ihrer Heil- und Wundertränke, trotz ihrer Zauberformeln der Tod an’s Lager, so reiten Sohn und Knechte spornstreichs nach der Stadt zum Arzte. Lebt der Patient bis zu dessen Ankunft oder stirbt er, wenn ihn der Jünger Aesculap’s kaum angesehen und den Puls befühlt hat, so wäscht die Zigeunerin bei dem Tode ihre Hände in Unschuld und deutet seufzend an, wie schädlich das Einschreiten solches Mannes! Nicht allein sie ruft: „Gott, Gott! warum holtet ihr den Doctor!“ nein, das ganze Dorf sagt: „Wär’ dä Doctor nich kümmen, so left he nach hunnert Jahr.“

Die alten Doctoren der rothen Erde kennen dies ihr Loos, als der leibhaftige Todbringer betrachtet zu werden, und finden sich darein; die jungen machen ab und zu Versuche die Leute in solchen Fällen zu bestimmen, sie künftig früher holen zu lassen. Vergeblich! die Bauern denken: „läen künnen vär vun sülmenst un for’s Stäern hatt är nie no was habt.“[2]

Auf dem Hofe, wo ein Todter liegt, ist’s oft lebendiger, als bei einer Hochzeit. Alt und Jung, Groß und Klein, kommt von Nah und Fern und drängt sich zur Leiche. So lange wie der Sarg offen, umsteht den Todten eine Menschenmenge, in der bald das Urtheil laut wird: „wech schöner Dode! oder: „wech leiger Dode!“[3] Das Erscheinen des Pastors, dem in gebeugter Haltung der Küster mit Sterbemiene folgt, beendet die Leichenbelagerung. Er segnet den Todten, und der Sarg wird geschlossen. Es naht der schrecklichste Augenblick im Leben der alten Hofmutter, wenn nun Der, der sie einst auf diesen Hof geführt, über die Schwelle des Hauses getragen wird nach dem kleinen Friedhofe, über dessen eingesunkene Hügel er sie zum Altare geleitet. Hunderte von Bauern und Bäuerinnen folgen dem Sarge. Am Grabe hält der Pastor eine Rede, in der er die Verdienste und Tugenden des Verstorbenen so ausführlich erwähnt, daß der Tiefbetrübteste im Gefolge beim Schluß seiner Worte sagt: „Nä, nu wär es än Schanne, nach to flennen, nachdem dä Häer Passter ihn so niederträchtig beprediget.“ [4]

So traurig wie der Zug gekommen, so fröhlich tritt er oft den Rückweg zum Trauerhause an, wo es Kaffee und Kuchen giebt. Der Küster legt sein Antlitz in die Falten frommer Gottergebenheit und sagt mit solcher Sicherheit zur tiefbetrübten Wittwe: „Ihr Seliger ist nun im Himmel!“ als wenn er selbst dem Verstorbenen die Pforten des Paradieses erschlossen hätte. Trocknen sich nach dem Zuspruch noch nicht die Thränen, so ruft er im Hinblick auf das bereits Kaffee trinkende Gefolge, ein wenig ungeduldig: „Na gute Frau, wie lange wird’s dauern, daß wir Euch auch hinaustragen! tröstet Euch daher.“

Damit hat er sich erschöpft; nun wendet er sich zur jungen Hoffrau, die den Kaffee in Tassen füllt. Hat er ein Dutzend Tassen getrunken, so schließt er sich dem Gespräch von Neuem an, dessen einziges Thema der Todte ist. Bei einbrechender Nacht verlassen die Gäste das Haus, und still wird’s, immer stiller auf dem friedlichen Hofe, wo vordem ein so reges Leben geherrscht. Nur in den Kronen der Linden endet nicht Flüstern noch Rauschen, und fast ist’s, als theilte Blatt um Blatt sich die Kunde mit, daß abermals Einer von Denen, der unter ihrem Schatten gespielt, fort und abberufen sei und nimmer wiederkehre. Still, ganz still ist’s nun im Herzen der einsamen Frau. Ruhig und ergeben legt sie sich auch nieder, und wenn der neue Morgen ihr neues Leid bringen will, findet er sie gefaßt und die Worte des Küsters werden ihr immer größerer Trost, jene Worte: „Wie lang’ wird’s dauern, daß wir auch Euch hinaustragen!“

Wie lang es auch dauert – ewig nicht! Geschlechter kamen, Geschlechter gingen durch das blühende Land Westphalens. Geschlechter werden kommen und gehen über den Boden der rothen Erde, so lange die Welt steht. Wie Viele aber auch kamen, wie viel Tausende schon dahinzogen über jene lichten Fluren Germaniens hin zur dunkeln Pforte des Todes – die Menschen wechselten, doch ihre Gesinnung nicht.

Die Gesinnung des Volkes der rothen Erde erhob sich von jeher auf der festesten Basis des Bestehenden, der Ehre, und die mächtigen Pfeiler, die sie fort und fort schützten vor dem Wogenandrang der Geschicke, waren Treue, Glauben, Recht und Wahrheit. Diese Gesinnung wurzelt fest in ihnen, wie die alten Eichen im Boden ihrer Wälder, und so wird man immer von Westphalens Volke sagen können:

Wo sich der Thorweg hebt, von Rauch gebräunt,
Von grünem Eichkamp sassisch noch umzäunt,
Wo des Gehöftes Halmendächer ragen,
Da fest und stark ein altes Volk noch steht,
Das ewig neu der alte Geist umweht,
Der Geist der Treu’ aus alten Heldensagen.

[808]
Aus den Erinnerungen eines Gefängnißinspectors.
1. Nur aus Nachlässigkeit.

Es war bereits zehn Uhr Abends, als die Klingel an der äußern Thür des Gefangenenhauses drei Mal heftig und in rascher Folge gezogen wurde. Das war das Zeichen, durch welches der Director seine Ankunft meldete, wenn er nicht selbst den Schlüssel zur Thür bei sich trug. Sein Erscheinen zu dieser Stunde ließ allemal auf etwas Ungewöhnliches schließen. An jenem Abend mußte ich das um so mehr annehmen, als ein schauerliches Wetter und eine fast undurchdringliche Finsterniß den Aufenthalt außerhalb seiner vier Pfähle höchst unangenehm machten. Ich beeilte mich daher auch, an die Thür zu kommen und diese zu öffnen.

Der Director war nicht allein. An seiner Seite befand sich ein Mann, den ich nicht kannte, der einige fünfzig Jahre alt sein mochte und leicht, aber anständig gekleidet war. Der Director ließ ihn zuerst in das Haus eintreten. Aus der Art und Weise, wie das geschah, konnte ich annehmen, daß der Mann nicht freiwillig gekommen war, daß er vielmehr ein Bewohner des Hauses werden sollte. Und die Anwesenheit des Directors war ein sicheres Zeichen dafür, daß ich eine Person von „Distinction“ vor mir hatte. Ich sollte darüber nicht lange in Zweifel bleiben. Bei dem Eintreten in das Haus sagte der Director: „Ich drücke Ihnen, Herr von S., nochmals mein Bedauern aus, daß mich die Nothwendigkeit zwingt, Sie hier zurückhalten zu müssen; ich wünsche und hoffe aber zuversichtlich, daß dies nur von kurzer Dauer sein, daß die Untersuchung Ihre Unschuld zweifellos herausstellen wird.“

Herr v. S. erwiderte nichts. Er schien gar nicht gehört zu haben, was der Director gesagt hatte, er starrte in den langen Gang hinein, welcher zu den Gefängnißräumen führte und ihm in seiner halben Beleuchtung unheimlich erscheinen mochte. Ich stand dicht an seiner Seite und sah, daß ein leises Zittern seinen Körper überlief. Vielleicht war das eine Folge der Kälte, denn S. war nur leicht gekleidet. Es konnte aber auch der Ausdruck von Furcht sein; ist doch das Gefängniß ein Ort, der manche Schrecknisse in sich birgt.

„Sie übernehmen den Herrn v. S.,“ wendete sich der Director zu mir, „und behandeln ihn mit aller Achtung, die Sie seiner Stellung schuldig sind.“

Diese Mahnung war eigentlich unnöthig. Aber der Director liebte es, in Gegenwart Dritter Weisungen zu ertheilen und sich so als Mann der Milde und Humanität zu geriren, während er dem Beamten gegenüber den gestrengen Herrn spielte und auch das geringste Abweichen von den zahlreichen Instruktionen unnachsichtlich, manchmal sogar unbarmherzig, ahndete. In diesem Falle sollte die Mahnung indeß nur eine Verlegenheit zudecken, welche das Schweigen des Herrn v. S. hervorgerufen hatte. Denn unmittelbar darauf verließ der Director nach einem kurzen „guten Abend“ das Haus.

Ich war nun mit Herrn v. S. allein. Vor der Einschließung mußten noch einige lästige Förmlichkeiten beseitigt werden. In der Regel geschah das durch einen Aufseher, in diesem Falle mußte ich aber selbst thätig sein, damit die Achtung nicht verletzt würde, auf welche der neue Gefangene Anspruch hatte. In meinem Zimmer war es angenehm warm. Außerdem hatte ich mir eine Tasse Thee bereiten lassen. Da Herr v. S. noch nicht als Gefangener eingeschrieben war, so durfte ich noch Rücksichten nehmen. Ich stellte ihm einen Stuhl in die Nähe des Ofens, machte eine Tasse Thee zurecht und bat ihn, diese anzunehmen. Zu meinem Befremden wurde Beides abgelehnt. S. war stolz, er wollte von mir nichts annehmen und blieb unfern der Thür stehen. Es war eine imponirende Figur, groß, stark und kräftig, mit einem feinen, aber blassen Gesichte, das von einem vollen dunkeln Barte eingefaßt wurde. Der Ausdruck des Gesichts war ruhig und ernst, ich möchte sagen würdevoll; nichts verrieth Schwäche oder Niedergeschlagenheit, Alles wies auf Festigkeit und Vertrauen hin. Als ich ihn darum bat, nannte mir S. seinen vollständigen Namen, sein Alter und seinem Stand. Erst als er mir den Grund der Verhaftung angeben sollte, da wollten die Worte nicht über die Lippen; ich mußte die Frage wiederholen.

„Man giebt mir schuld,“ sagte er dann hastig, „Cassengelder veruntreut zu haben.“

Er sagte nicht, daß er unschuldig sei; er wollte sich jedenfalls mir gegenüber nicht rechtfertigen. Aber er preßte die Lippen fest zusammen und vermochte mich nicht anzusehen.

„Sie müssen,“ versetzte ich, um ihm nicht wehe zu thun, mehr bittend als befehlend, „bis auf die Kleidung, welche Sie tragen, Alles, was Sie bei sich führen, herausgeben und an mich abliefern.“

S. rührte sich nicht.

„Ich darf keine Ausnahme eintreten lassen,“ fuhr ich fort, „es ist unerläßlich, daß Sie das thun.“

Auch diese Bemerkung blieb unbeachtet.

„Wenn Sie mein Verlangen nicht freiwillig erfüllen,“ sagte ich etwas erregt, „so nöthigen Sie mich zu einer Durchsuchung, die ich gern vermeiden möchte.“

Erst hierauf leerte S. seine Taschen und legte die verschiedenen Gegenstände hastig und trotzig auf den Tisch, er behielt nur seine Uhr und zwei Ringe, einen großen Siegelring und einen einfachen Goldreif mit einem blauen Steine.

„Sie müssen auch die Uhr und die Ringe zurücklassen.“

„Die Uhr?“ fragte er und fügte, noch ehe ich antworten konnte, hinzu: „ja, und auch den Siegelring. Aber den zweiten Ring lassen Sie mir.“

„Es thut mir unendlich leid, ich muß auf meiner Forderung beharren.“

„Aber,“ rief S. heftig, „ich habe diesen Ring seit einundzwanzig Jahren an meiner Hand, ich habe ihn nie abgelegt und gelobt, ihn nie abzulegen; ich kann mich von demselben nicht trennen, die theuersten Erinnerungen sind damit verbunden.“’

„Und dennoch darf ich den Ring nicht in Ihrem Besitze lassen. Ich bitte, legen Sie denselben zu den übrigen Sachen auf den Tisch.“

„Herr Gott!“ schrie S., fast weinend, „was ist aus mir geworden ! ich kann ihn nicht freiwillig hergeben; ich muß Ihnen überlassen, den Ring mir – wegzunehmen.“

Ich ergriff die Hand des Gefangenen, zog den Ring ab und legte ihn auf den Tisch. S. leistete keinen Widerstand, aber die Hand zuckte, und als ich ihm zufällig in das Gesicht sah, bemerkte ich, daß der große, starke Mann weinte. Ich mußte ihm unendlich wehe gethan, ihn tief gekränkt haben. Jedenfalls war dieser Ring der Schlußstein, auf welchen vieljähriges Familienglück sich gründete, und bei der gewaltsamen Wegnahme desselben mußten die vielfachen Freuden, welche jenem Glücke entsprossen waren, ihm vor das Auge getreten sein und dies genäßt haben.

Das Maß der Leiden war damit aber noch nicht voll. Die Eintragung in die Liste war erfolgt. Eben so hatte ich die Asservate verzeichnet und dies Verzeichniß anerkennen lassen. Ich konnte nun Herrn v. S. in meinem Zimmer nicht mehr zurückhalten, ich mußte ihn einschließen. S. mußte mir vorausgehen. Er folgte willig, aber schweigend. Ich führte ihn in die zweite Etage des Hauses, in welcher sich die Zellen für die Untersuchungs-Gefangenen befanden. Dieselben waren sämmtlich gleichmäßig groß und unterschieden sich nur dadurch von einander, daß ein Theil nach Mittag, der andere dagegen nach Mitternacht zu gelegen war. S. sollte eine nach Mittag gelegene Zelle bewohnen. Bei dem Ueberschreiten der Thürschwelle stutzte derselbe; er zog den bereits erhobenen Fuß wieder zurück, wendete sich mir zu und sagte dann: „Wollen Sie die Güte haben, zuerst einzutreten und Licht anzuzünden? Vielleicht, daß der Aufenthalt mir dann weniger schrecklich ist.“

„Sie erhalten kein Licht,“ entgegnete ich.

„Was?“ fragte er erschreckt, „gar kein Licht?“

„Nein,“ erklärte ich bestimmt, „es ist das ausdrücklich verboten.“

„Das ist ja schrecklich,“ rief er voller Entsetzen. „Jetzt im November von vier Uhr Nachmittag bis acht Uhr Morgens ohne Licht, also geistig todt, das muß ja einen vernünftigen Menschen wahnsinnig machen!“

„Sobald Sie geistig oder körperlich krank werden sollten,“ versetzte ich tröstend, „erhalten Sie Licht, wenn der Arzt dies für nöthig findet. Bis dahin darf Ihnen keins verabreicht werden.“

„Das ist entsetzlich, das ist fürchterlich!“ sagte S. dumpf in sich hinein, indem er die Schwelle hastig überschritt.

[809] Das Gefängniß war etwa zwölf Fuß lang und sechs Fuß breit. In der einen Ecke befand sich auf dem Fußboden ein Strohsack, darüber ausgebreitet ein weißes leinenes Tuch und eine wollene Decke; auf der andern Seite ein kleiner Tisch und eine Bank, welches Beides auf dem Fußboden befestigt war.

„Sie müssen,“ sagte ich zu dem Gefangnen, nachdem ich ihm die Einrichtung gezeigt hatte, „jetzt die Kleider ab- und geordnet auf die Bank legen und dann Ihr Lager aufsuchen. Da Sie sich im Dunkeln nicht werden zurechtfinden können, so werde ich das Licht hier an der Thür stehen lassen, nach fünf Minuten aber zurückkehren. Ich erwarte, daß Sie dann fertig sein werden.“

Der Gefangene erwiderte nichts. Als ich die Zelle verließ, bemerkte ich, daß er beide Hände an seinen Kopf legte, sonst aber sich nicht rührte. Der Mann that mir leid, er mußte unendlich viel leiden. Sein Stolz wurde gebeugt, sein Trotz gebrochen und ihm eine Wunde geschlagen, welche unheilbar sein und für die ganze Lebenszeit fortbluten mußte. Der Schmerz war tief in das Innere hineingedrungen, hatte sich hier festgesetzt und wühlte nun in der Brust, ohne einen Ausgang finden zu können. Solche Schmerzen thun zehnfach wehe.

Nach etwa zehn Minuten war ich wieder bei S. Er stand noch genau ebenso, wie ich ihn verlassen hatte. Ich durfte das nicht dulden.

„Herr v. S.,“ sagte ich ernst, „ich habe Ihnen statt fünf zehn Minuten Zeit gelassen. Sie haben meine Weisung nicht befolgt. Jetzt fordere ich Sie auf, dies sofort zu thun, damit Sie sich keine Verlegenheiten bereiten.“

Er schreckte zusammen, als er mich sprechen hörte, die Hände fielen schlaff herab, und seine großen, braunen Augen starrten mich wie abwesend an. Nach einer kleinen Pause sagte er langsam und in tiefer Bewegung: „Aber, mein Herr, ich will mich nicht legen, ich will auf meinen Füßen bleiben. Das werde ich doch thun dürfen?“

„Ich bedauere,“ entgegnete ich, „Ihnen bemerken zu müssen, daß der Gefangene in diesen Mauern keinen Willen hat. Nach der Hausordnung ist es unstatthatt, daß der Gefangene während der Nacht angekleidet bleibt und nicht auf seinem Lager zubringt. Es geschieht dies, um Fluchtversuche zu verhindern, weshalb bei Verdächtigen die Kleider während der Nacht auch außerhalb der Zelle verwahrt werden. Sie sind nicht verdächtig, Herr v. S., ich werde Ihnen daher Ihre Kleider belassen; aber auskleiden und niederlegen müssen Sie sich auf jeden Fall.“

Ich sagte das Letztere mit erhobener Stimme, damit S. nicht zweifelhaft sein konnte, daß er folgen müsse. Er that das auch. Aber ich werde in meinem Leben den Ausdruck seines Gesichts nicht vergessen. Ich hatte und habe nie etwas Schmerzlicheres gesehen. Und als er fertig war, als er sich auf den Strohsack niederwarf, da gewahrte ich, wie seine Brust keuchte und wie er das laute Aufschreien unterdrückte. Mir ging das so nahe, daß ich an seiner Stelle hätte weinen mögen. Auch der Gefängnißbeamte weiß den wahren Schmerz zu würdigen. –

Die Nacht war vorüber. Mich drängte es, S. aufzusuchen. Ich fand ihn noch unangekleidet auf seinem Strohsacke sitzen. Als ich eintrat, sprang er auf.

„Nun muß ich wieder aufstehen und mich ankleiden,“ sagte er ruhig, „nicht wahr? Ich bin ja hier nicht mehr als eine Maschine. Sie sehen, ich bin heute viel ruhiger, als ich diese Nacht war. Und wissen Sie, mein Herr, wodurch ich das geworden bin? Ich habe mein Leben Schritt vor Schritt verfolgt und mich so überzeugt, daß ich das nicht gethan habe, was man mir schuld giebt. Aber noch mehr, ich könnte mit einer seltenen Gedankenschärfe die Ursachen aufsuchen, welche zu meinem Mißgeschicke Veranlassung gegeben haben. Und ich bin auch so glücklich gewesen, auf einen Umstand zu stoßen, der mir meine Freiheit wiederbringen muß. Ich bitte, mein Herr, melden Sie dem Herrn Director oder, wenn dieser behindert sein sollte, dem Herrn Untersuchungsrichter, daß ich so bald als möglich vernommen zu werden wünsche, weil ich im Stande wäre, die Differenz aufzuklären.“

„Da werden Sie sich doch wohl noch einige Stunden gedulden müssen,“ versetzte ich. „Der Rapport geht erst acht Uhr ab. Außerdem haben Sie heute Vormittag Ihr Verhör zu gewärtigen, also Gelegenheit, sich auszusprechen. Eine besondere Meldung darf ich in diesem Falle nicht erstatten, weil derselbe nicht zu den besonders schleunigen gehört.“

„Ich werde warten,“ entgegneie S. ruhig, „bis ich gerufen werde.“

Gegen elf Uhr wurde er zum Verhör vorgeführt. Er ging aufrecht mit festen Schritten, mit erhobenem Kopfe, nicht wie ein Schuldiger. Das Auge strahlte in seltenem Glanze, wie das eines Siegers nach glücklich beendetem Kampfe. Und doch hatte er noch nicht gesiegt, er wollte erst für seine Freiheit kämpfen. Gegen ein Uhr kehrte er zurück, betrübt und niedergeschlagen.

„Man hat mir nicht glauben, mich nicht freigeben wollen.“ Das war Alles, was er mir sagte. Er hatte sich getäuscht, wie das so häufig geschieht. Die Criminal-Justiz läßt Den nicht so leicht wieder los, welchen sie einmal gefaßt hat. Nach etwa sechs Wochen, in welcher Zeit sich S. fügsam, willig und anspruchslos, aber auch stets schweigsam zeigte, wurde derselbe vor die Geschworenen gestellt. Ich erfuhr nun, daß er achthundert Thaler nicht zu der von ihm verwalteten Casse gebracht und ebenso die Eintragung in die Bücher unterlassen habe.

S. gestand das zu, bekannte sich aber nicht für schuldig und behauptete, daß der Fehler blos aus Vergeßlichkeit geschehen sei. Unmittelbar nach der Abgabe des mit der Post eingegangenen Geldcouverts sei eine entfernt wohnende Schwester unvermerkt bei ihm eingetreten. In der Freude über diesen Besuch habe er sich nicht die Zeit genommen, das Geld in die Casse zu bringen und den Eingang in das Cassenbuch einzuschreiben; er habe den Geldbrief eiligst in ein auf seinem Arbeitstische liegendes Actenheft gesteckt und damit weggelegt. An diesem Tage sei er nicht wieder in sein Arbeitszimmer gekommen und bei der Revision am Nachmittag des folgenden Tages sich in der Bestürzung nicht erinnern können, wo das Geld geblieben sei; erst in dem Gefängnisse sei ihm das wieder in das Gedächtniß gekommen.

Obgleich das Geld an der bezeichneten Stelle unentsiegelt gefunden worden war, so führte der Staatsanwalt in einer längeren Rede doch aus, daß das Nichtzurcassebringen ein Beiseiteschaffen und die unterlassene Eintragung in das Cassenbuch eine unrichtige Buchführung darstelle; daß auf den Nachweis des Geldes nichts gegeben werden dürfe, weil dieser Nachweis erst das Ergebniß der Verhaftung sei, und daß mithin das Schuldig ausgesprochen werden müsse.

Der Vertheidiger war ein geschickter Mann. Er sprach klar und faßlich. Zuerst wies er nach, daß von den Erfordernissen, welche die Anwendung des Strafgesetzes voraussetzten, hier nichts dargethan sei, und dann wußte er mit wenigen ergreifenden Worten auf das Gefühl der Geschworenen einzuwirken, indem er die bisherige Unbescholtenheit und Reinheit des Angeklagten vorhielt und diesen Eigenschaften das Ungeheuerliche der Strafe gegenüberstellte. Sein Antrag lautete: Nichtschuldig.

S. behielt unverändert seine Ruhe. Noch am Schlusse der Verhandlung erklärte er laut und fest, daß er nicht im Entferntesten daran gedacht habe, das Geld bei Seite zu schaffen und die Eintragung in die Bücher zu unterlassen, daß dies vielmehr aus Nachlässigkeit unterblieben sei, die er allerdings zugeben müsse.

Die Geschworenen blieben nur kurze Zeit in ihrem Berathungszimmer. Sie hatten dem Angeklagten Glauben geschenkt, denn ihr Obmann erklärte: „Nein, der Angeklagte ist nicht schuldig.“

S. kehrte nicht wieder in das Gefängniß zurück. Er hat die eine Nachlässigkeit schwer büßen müssen und trägt vielleicht jetzt noch daran, obgleich seitdem bereits mehr als zehn Jahre verstrichen sind.




Die Amazonen.

Unter all den schönen Sagen, welche die Dichter des Alterthums berichten, ist kaum eine, die ein gleiches Interesse und kopfschüttelndes Staunen erregt, wie die Sage von den Amazonen. Die schönen Leserinnen sind stolz darauf, daß zu den schwersten Arbeiten, die der Zorn einer Göttin für den Helden Hercules ersann, die gehörte, einer Frau das Wehrgehenk zu entreißen; daß der tapfere Perseus sich unter allen seinen Thaten keiner so sehr rühmte, als daß er einer Dame, der Medusa, den Kopf abgeschlagen; [810] daß der Welteroberer Cyrus, der in so vielen Schlachten gesiegt, gegen ein Heer von Frauen schmachvoll unterlag. Zu andern Gedanken dürfte die lesende Männerwelt angeregt werden. Sie dürfte meinen, daß das Amazonenthum ja auch heute noch nicht ganz ausgestorben sei, wenn es auch statt des Wehrgehenkes der Hippolyta nur den Gürtel des Liebreizes trage und statt mit Bogen und Pfeil oder mit Pistolen und Dolch, wie das jüngste sarmatische Amazonenfräulein Wustowoitoff, nur mit dem scharfen Schwerte der Zunge kämpfe; daß vielleicht unsere modernen Amazonen von der Feder, die man so höchst ungalant „Blaustrümpfe“ nennt, viel fürchterlicher seien, als selbst die schlangenhaarigen Gorgonen, und daß ohne Zweifel noch heute mancher Frauenkopf mehr Unheil unter der Männerwelt anrichte, als das versteinernde Haupt der Medusa. In einem Punkte aber werden Leser und Leserinnen übereinkommen, in dem Entsetzen über den Amazonenstaat, von dem die alten Dichter reden. Man denke sich einen Staat von lauter Frauen, von Frauen regiert, von Frauen vertheidigt, wo die Männer höchstens geduldet werden, um die Kinder zu hüten, namentlich die Säuglinge mit der Milch der Heerden zu ernähren! Am ausgebildetsten soll dieser Weiberstaat bei den Amazonen Kleinasiens und Afrikas bestanden haben.

Dort, wird erzählt, sei nie ein Mann in das Land gelassen worden und nur zur Erhaltung des Staates habe man mit den Männern benachbarter Völker Umgang gepflogen. Nur die weiblichen Kinder seien erzogen, die männlichen entweder getödtet oder den Vätern zurückgeschickt worden. Die Mädchen aber habe man von Jugend auf in den Waffen geübt und ihnen sogar die rechte Brust ausgebrannt, weil man sie für ein Hinderniß im Kriege gehalten habe. Das Unnatürliche, Widerspruchsvolle, das in einem solchen kriegerischen Gemeindewesen von lauter Weibern ohne Männer liegt, dessen Hauptstreben doch auf die Vertilgung des ganzen Männervolks gerichtet sein mußte, hat selbst die guten Alten, welche sonst im Glauben an Unglaublichkeiten nicht eben sehr engherzig waren, zu gerechten Zweifeln veranlaßt. Die meisten alten Geschichtsschreiber erklären geradezu das Ganze für eine Fabel, der vielleicht nur das eine Wahre zu Grunde liege, daß einmal Frauen, die von ihren Männern verlassen oder von Unwillen über die Feigheit und unkriegerische Schwäche ihrer Männer erfüllt waren, zu den Waffen griffen und die Bedränger ihres Volkes siegreich zurückschlugen. In ähnlicher Weise wird in der That der Ursprung der pontischen Amazonen von einem Scythenstamme hergeleitet, der sich in Cappadocien niedergelassen und, nachdem der größte Theil der Männer im Kampfe gefallen, durch die Weiber gerettet und zu großer Macht erhoben wurde. Andere wollten das Amazonenthum auf die unter den scythischen Völkern vielfach verbreitete Sitte zurückführen, daß die Weiber mit den Männern in den Kampf zogen. Sie sollen darum auch durchaus nicht so von den Männern abgeschieden gelebt haben, wie es von den pontischen und afrikanischen Amazonen erzählt wird, sondern sich nur als Lohn ihrer Tapferkeit einen Antheil an den Beschäftigungen der Männer, namentlich auch an der Leitung der Volksangelegenheiten, errungen, vielleicht auch zuweilen über jene ein strenges Pantoffelregiment geführt haben. Ein großer Theil alter Schriftsteller und besonders die neuern Philosophen haben sich auch damit nicht begnügt; sie wollen den Amazonen überhaupt keine andere Existenz gönnen, als höchstens eine symbolische.

Solchen Zweifeln gegenüber bleibt den alten Amazonen die einzige Rettung durch die noch jetzt lebenden Amazonen. Ich meine damit nicht die crinolinenumhüllten, federschwingenden Amazonen Europas, sondern die wirklichen, Wehr und Waffen schwingenden, freilich schwarzen Amazonen Afrikas. Hier in dieser Welt der Menschenfresser, der geschwänzten Menschen, der Einhorns etc. ist auch das Amazonenthum noch nicht ausgestorben. Es lebt fort in den Amazonenheeren der Fürsten von Dahome und Ashanti. Diese Länder sind der Sitz des entsetzlichsten und blutigsten Despotismus, der je auf der Erde geherrscht hat, und namentlich Dahome ist in unserer Zeit vielfach genannt worden wegen der gräßlichen Menschenopfer, mit denen die Thronbesteigung jedes Königs gefeiert wird. Hier ist der König der unbeschränkte Eigenthümer alles Grund und Bodens und aller seiner Unterthanen. Ihm allein gehören alle Frauen des Landes, und er verkauft sie alljährlich den Männern, wenn er nicht Einen oder den Andern als Zeichen seiner Gunst oder als Lohn für große Verdienste damit beschenkt. Jeder muß das Weib nehmen, das der König ihm zutheilt, ob auch seine Laune einmal einem jungen Manne dessen Mutter oder gar Großmutter als Frau octroyiren mag. Dieser despotische Fürst wird gleichwohl von Frauen vertheidigt. Frauen bilden den kräftigsten und tapfersten Theil seines Heeres und sind in Zeiten ernster Gefahr seine beste Schutzwehr. Dieses fast durchweg mit Musketen bewaffnete Frauenheer, das gegenwärtig etwa fünftausend Köpfe zählen soll, ist vortrefflich organisirt und hat unter seinen eigenen weiblichen Officieren in allen Kriegen Dahome’s die wichtigste Rolle gespielt; seiner Tapferkeit und Ausdauer verdankte der jetzige König die Rettung seines Lebens bei einem der letzten unglücklichen Angriffe auf Abeokuta.

Es kann auf den ersten Blick befremden, daß dieses Amazonenthum, welches doch eine gewisse Anerkennung des weiblichen Geschlechts, wenigstens seiner Kraft und seines Muthes, einschließt, gerade in den despotischsten Ländern Afrika’s besteht, wo bekanntlich das Weib in der tiefsten Erniedrigung lebt. Aber dieses Räthsel löst sich bei näherer Betrachtung. Das Weib ist es in Afrika, dem alle Arbeit aufgebürdet wird; es hat nicht blos für Haus und Küche, sondern auch für das Vieh und den Feldbau zu sorgen, hat die Häuser zu bauen und auf Reisen oft schwere Lasten zu tragen, während der Mann nur seinem Vergnügen nachgeht und höchstens mit Jagd und Krieg sich beschäftigt. Bei der großen Trägheit der Männer kann es daher wohl geschehen, daß sie den Weibern auch noch die wichtigste und fast nie ruhende Arbeit, den Krieg, überlassen. Dazu aber kommt bisweilen noch ein anderer Umstand. Während der Mann in Folge seines Müßigganges und seiner Ausschweifungen in Schwäche und Unmännlichkeit verfällt, schöpft die Frau aus ihrer beständigen Arbeit, sofern diese nicht übertrieben wird – und dafür sorgt der natürliche Reichthum des Landes – Kraft, Gewandtheit, Regsamkeit. Es kann leicht der Fall eintreten, daß sich das Verhältniß der Geschlechter geradezu umkehrt, daß das Weib nicht mehr als die schwächere Hälfte des Menschen erscheint, und es bedarf nur der Erkenntniß dieser Ueberlegenheit, um auch die Herrschaft des Weibes, den Amazonenstaat, zu begründen. So hätten wir eine doppelte Gestalt des Amazonenwesens: einmal ein tapferes Heer kriegerischer Frauen, aber doch im Dienste der Männer, wie in Dahome; dann ein Frauenregiment, gegründet auf die erworbene geistige und physische Ueberlegenheit des thätigen Weibes über den faulenzenden Mann. Auch für diese letztere Gestalt des Amazonenthums, das uns an die pontischen und libyschen Amazonenstaaten der griechischen Dichter erinnert, hat es in Afrika nicht an Beispielen gefehlt.

Die tiefe Stellung des Weibes bei den Negern, die ihm selbst das Eigenthumsrecht bestreitet, schließt nämlich keineswegs aus, daß es bisweilen zu den höchsten Ehren und zur absolutesten Machtstellung zugelassen wird. Livingstone hat in Südafrika vielfach weibliche Häuptlinge gefunden, die durch Erbfolgerecht diese Stellung erlangt hatten und die denselben blinden Gehorsam, dieselbe abgöttische Verehrung fanden, ja dieselbe Furcht erregten, wie nur je ein männlicher Fürst des Landes. Sie durften freilich nicht heirathen, da ihre hohe Stellung sich mit der Unterwerfung unter einen Mann nicht vertragen hätte, und Livingstone erzählt ein rührendes Beispiel von einer jungen Fürstin, die, nachdem sie die Freuden des Herrscherlebens gekostet, aus freien Stücken ihnen entsagte, um der Liebe ihre Huldigung darzubringen. Wenn eine solche afrikanische Despotin aber zum vollen Bewußtsein ihrer Macht gekommen, so könnte ihr wohl die Versuchung nahe treten, einmal Rache zu nehmen an den Bedrückern ihres Geschlechts und an der eigenen Herrschaft die Mitschwestern theilnehmen zu lassen. Daß es in der Regel freilich bei dem bloßen Versuche bleiben wird, dafür sorgt schon die Natur, und dazu bedarf es kaum noch des Widerstandes der Männer. Einen solchen Versuch zur Gründung eines Amazonenreichs erzählt Reade von einer jungen Fürstin der Dschagas am Kongo. Tembandumba – so hieß diese Königin, vielleicht eine der grausamsten und blutgierigsten ihres Geschlechts – gerieth auf den Gedanken, die Welt um sich in eine Wildniß zu verwandeln. Alle Thiere sollten getödtet, alle Wälder, alles Gras vernichtet werden, damit ihre Unterthanen gezwungen würden, allein von Menschenfleisch und Menschenblut zu leben. Alle männlichen Kinder, alle Zwillinge, alle Kinder insbesondere, denen die oberen Zähne vor den unteren hervorbrechen und gegen welche in ganz Afrika ein merkwürdiges Vorurtheil besteht, sollten umgebracht werden. Nur die weiblichen Kinder sollten aufgezogen und in kriegerischen Dingen unterrichtet werden. So sollte in der [811] That ein Amazonenreich gegründet werden, dem nur das Ausbrennen der Brüste fehlte, um ganz dem einer Myrina oder Hippolyta oder Penthesileia zu gleichen. Indeß das blutige Project scheiterte an dem natürlichen Instinct der Frauen, die alle ihre angeborne List hervorsuchten, um das Mordedict ihrer Königin zu umgehen. Sie sah sich selbst gezwungen, ihre Befehle zurückzunehmen und das Gebot der Tödtung allein auf die im Kriege gefangenen Kinder zu beschränken. Später soll sich diese männermörderische Fürstin für das Scheitern ihrer Pläne dadurch entschädigt haben, daß sie sich zahlreiche Liebhaber hielt und, wenn sie deren überdrüssig geworden – verspeiste.

Daß Afrika heutzutage das gelobte Land der Amazonen ist, giebt uns eine Andeutung, daß zur Zeit, als jene Damen lebten, von denen die großen Dichter der Griechen singen, die Heldinnen, die nur von Halbgöttern besiegt wurden, die Cultur Europa’s wohl kaum auf einer höheren Stufe stand, als die der heutigen Neger von Dahome oder vom Kongo – ein Wink für unsere emancipationslustigen Damen, daß, was sie erstreben, nicht einen Culturfortschritt, sondern einen Culturrückschritt bedeutet. Die einzigen würdigen Amazonen unserer Zeit sind nicht die Gorgonen, aber auch nicht die Blaustrümpfe, sondern die mit dem Gürtel der Anmuth eine weit dauerndere Herrschaft über die Männerwelt erkämpfenden Frauen.
Otto Ule.  




Ein Merkstein katholischen Zusammenwirkens.

Wir Deutschen gefallen uns oft darin, den Franzosen ihren Mangel an geographischen Kenntnissen vorzuwerfen. Erzählt man doch, daß Goethe 1807 in Erfurt die vom Standpunkt französischer Höflichkeitsregeln unverzeihliche Grobheit begangen habe, zu Napoleon dem Ersten zu sagen: „Sire, das Charakteristische Ihrer Nation ist theils die Urbanität und Geistreichheit, theils die Unwissenheit in der Geographie!“

Gleichwohl dürfte es vielen Deutschen schwer fallen, sich vor gleichen Vorwürfen der Unwissenheit zu wahren, wenn sie über die Geographie Frankreichs befragt würden. So glaube ich, daß eine Menge unserer Leser heute zum ersten Mal von der merkwürdigen Stadt Le Puy hören, welche doch eine Hauptstadt des früheren Landes Velay oder der südlichen Auvergne, jetzt des Departements der oberen Loire ist. Mir wenigstens, ich gestehe es frei, war diese Stadt fast nur aus den Schriften der Geologen, besonders Lyell’s, bekannt, welche berichten, daß sich daselbst jene vulcanischen Erscheinungen, welche das ganze Gebirg der Auvergne berühmt machen, in besonders interessanten Vorkommnissen finden und daß man dort in vorsündfluthlichen Kalklagern, noch unterhalb uralter Lavaströme, auch Menschenknochen, den sogenannten „fossilen Menschen von Denise“, aufgefunden und aufbewahrt habe.

Als ich im heurigen Sommer die erloschenen Vulcane der Auvergne und ihre aufblühenden Thermalbäder (Vichy, Mont d’Or, Royat etc.) besuchte, las ich am Schlusse meines vortrefflichen Reisebuches die Aeußerung: „Wenn man einmal so weit gereist sei, solle man nicht versäumen, das in seiner Art einzige Panorama von Le Puy zu sehen.“ Da ich nun ohnedies nicht gern denselben Weg rück- wie hinwärts mache, so beschloß ich, die Eisenbahn zu verlassen und quer durch das Land mit Post von der Endstation Brioude über Le Puy nach St. Etienne zurückzureisen. So geschah’s. Ich fuhr hoch oben auf der Banquette der Diligence, dem einzigen Platz, von wo man nicht nur das ganze Land schaut, sondern auch den Charakter des Volks am besten kennen lernt. Denn im Coupé und in den ersten Classen der Eisenbahnen ist der heutige Franzos ein höchst schweigsamer, ängstlich zurückhaltender Reisegefährte, welcher jedes Gespräch kurz abbricht oder am liebsten ganz vermeidet.

Wir waren soeben bei dem auf riesigem, schroffem Basaltfelsen prangenden alten Stammschlosse der Fürsten Polignac vorbeigefahren, als ich meine Reisegefährten fragte, ob nicht hier in der Nähe ein Dorf Namens Denise liege. Man belehrte mich, daß Denise kein Dorf sei, sondern ein Berg, und zwar der, auf welchem unser Wagen eben hinfahre. In der That zeigte sich bald, was ich suchte. Der Berg besteht aus zwei hohen Schichten, von denen die obere eine schwarze, säulenförmige Lavamasse, die untere eine milchweiße Kalkbildung ist. Beide sind, dicht neben der Chaussee, durch einen gleichzeitig oben und unten betriebenen Steinbruch erschlossen, und der unten lagernde Kalkstein ist vermuthlich derselbe, in welchem der „fossile Mensch“ gefunden worden, welchen ich Tags darauf in dem Museum von Le Puy besichtigen konnte. Im Weiterfahren belehrten mich meine Reisegefährten, daß wir jetzt zur „Grotte des Eremiten“ kämen. Dies war weiter nichts, als eine Schlucht oder ein Engpaß, gebildet durch eine zweite, neben dem Berge Denise emporstrebende kuppelförmige Lavamasse. Aber indem wir durch diese Schlucht herumbogen, eröffnete sich plötzlich das wirklich überraschende und nach meinem Reisehandbuche „einzige“ Panorama, welches ich dem Leser in beifolgender Abbildung vorführe.

Die Stadt Le Puy (das heißt der Pik, daher man sagt: je vais au Puy, je viens du Puy etc.) liegt auf einem flachpyramidalischen Berge terrassenförmig aufsteigend, inmitten eines doppelten Kessels erst niedrigerer, dann höherer Berge, beide stellenweise mit vulcanischen Kegeln oder scharfabgeschnittenen Lavafelsen besetzt. Der Gipfel des Berges ist seit mehr als tausend Jahren ausschließlich von der Geistlichkeit besetzt, welche daselbst eine Menge von Kirchen, Klöstern, Hospitälern etc. inne hatte und noch inne hat. Den untern Berg und seinen Fuß nimmt die Handel- und gewerbtreibende Bürgerschaft ein. Beide Stadttheile sind seit alten Zeiten in Sitten, Rechten und Ansprüchen, oftmals sehr scharf, geschieden gewesen. Eine große Kathedrale krönt den Gipfel. Aber hoch über den Thürmen derselben ragt noch eine grauschwarze vulkanische Felsmasse empor, der „Felsen oder Dyck von Corneille“ genannt, welche eben den Namen „Le Puy“ veranlaßt hat. Eine andere solche Felsmasse oder Dyck[5], noch grotesker und völlig zuckerhutähnlich geformt, ragt unterhalb des Berges aus einer Vorstadt empor und ist mit einer dem Erzengel Michael gewidmeten Kirche besetzt, woher sie den Namen „Aiguille de St. Michel“ erhält; im Heidenthum war hier ein Mercur-Tempel. Die alten Heidenbekehrer haben an die Stelle dieses geflügelten Götterboten in der Regel und klugerweise den ebenfalls geflügelten Erzengel gesetzt.

Der näher um die Stadt herumziehende niedrigere Bergkreis ist zur größeren Hälfte von Weinbergen, mit zahlreichen Land- und Winzerhäuschen, malerisch besetzt, und an seinem Fuß schlängelt sich die hier noch kleine Loire. Auf der anderen Seite bilden Wälder, Felder, Villen, Dörfer etc. eine belebte Aussicht. Im Hintergrunde sind dann die dunkleren höheren Berge mit ihren Kuppen. Das Ganze giebt daher, verbunden mit dem grotesken Anblick der schwärzlichen Felszähne oder Dycks, ein eigenthümliches Bild, mit dessen Beschreibung ich jedoch den Leser nicht ermüden will.

Dasjenige aber, was neben diesen Naturschönheiten sofort den Blick des Reisenden auf sich zieht und dauernd fesselt, ist ein Menschenwerk, nämlich ein riesengroßes Standbild, welches auf der Spitze des obengenannten „Dyck von Corneille“, also hoch über allen Kirchthürmen in den Himmel hinausragt. Dies ist die Riesenstatue der Himmelskönigin, seit fünf Jahren dort oben aufgerichtet, weit und breit im Lande als „Notre Dame de France“ berühmt und verehrt, in künstlerischer und kulturgeschichtlicher Hinsicht merkwürdig, aber gleichwohl, soviel mir bekannt, von unseren deutschen Blättern bisher noch gar nicht in Betracht gezogen. Sie ist ein Merkstein, theils für den Einfluß der Geistlichkeit im heutigen Frankreich, theils für die Höhe seiner Technik, theils für die Regentenklugheit seines Kaisers.

Der Erste, welcher die Idee einer solchen Schöpfung öffentlich aussprach, war ein Abbé Combolat, der in einer am 27. Juli 1850 zu Puy gehaltenen Predigt darauf aufmerksam machte, wie schön sich auf dem kahlen, vordem als Festungswerk benutzten Felsenkegel Corneille eine Statue der heiligen Jungfrau ausnehmen würde. Der Bischof von Puy, Monseigneur de Morlhon, ergriff diesen Gedanken mit Energie. Er ernannte am 5. März [812] 1852 eine Commission aus den angesehensten Bürgern der Stadt, um das Project zu prüfen. Dasselbe ward gebilligt, Geld zusammengeschossen, Preise für die besten Modelle ausgesetzt und ein Aufruf an alle Künstler Europas erlassen. Darauf hin wurden, vierundfünfzig Modelle eingesendet: aus Paris, Neapel, Brüssel, Köln, Speier, Straßburg, Lyon etc. Den ersten Preis erhielt der Bildhauer Bonnassieux aus Paris, den zweiten Rimm aus Speier, die folgenden vier Montagny, Ramus, Fabisch und Lavigne. Also unter Sechs doch zwei Deutsche! Bonnassieux’s Entwurf ward zur Ausführung gewählt.

Die Stadt Le Puy in Frankreich.

Inzwischen hatte der Bischof einen Aufruf zu Beiträgen an alle Gläubigen erlassen und selbst 10,000 Francs gezeichnet. Der Kaiser Napoleon der Dritte war der nächste Subscribent. Er zeichnete für sich und die Kaiserin 12,000 Francs, bemerkte aber nebenbei sehr richtig: es werde zu kostspielig und langaussehend werden, wenn man das Werk in Bronze ausführen wolle; auch sei dies Metall zu werthvoll, daher z. B. in Kriegs- oder Revolutionszeiten der Plünderung ausgesetzt: er schlage daher Gußeisen vor und werde für das Material sorgen. Wirklich schenkte er der Stiftung unterm 20. April 1856 eine Masse von den inzwischen bei Sebastopol eroberten eisernen Kanonen, 150,000 Kilogramm (= 300,000 Zollpfund) an Gewicht, zur Ausführung des Gusses. Und damit stempelte er das Werk zu einem Siegesdenkmal für den Krimfeldzug, während es im Sinne seiner Stifter zur Verherrlichung der inzwischen von den Kirchenfürsten proclamirten unbefleckten Empfängniß dienen sollte. „Durch diese Nationalisirung des Unternehmens,“ wie mein klericaler Gewährsmann Franciske Maudet in seinen „Monuments historiques de la haute Loire etc.“ ausdrücklich zugesteht, „hat der kluge Kaiser dasselbe möglich, leicht und volksthümlich zu machen gewußt.“ Er hat es verstanden, mit einem Federzug die zwei wichtigsten Factoren des heutigen französischen Staatslebens zu befriedigen: die Geistlichen mit ihrem Anhang und die nationale Partei. Er hat damit den Glanz des ausgeführten Riesenwerkes abgelenkt von dem theologischen Dogma auf die nationale Glorie, von dem Vatican auf die Tuilerien.“ – Die Unterzeichnungen nahmen nun einen raschen Gang. Bald überstieg die Summe der Beisteuer 300,000 Francs, wovon ein Drittel allein aus dem Departement der oberen Loire.

Am 16. Mai 1856 schloß die oben erwähnte Commission einen Vertrag mit einem der größten Eisengießer Frankreichs, Herrn Prenat zu Givors bei Lyon, wodurch derselbe sich verpflichtete, für eine Summe von 190,000 Francs (etwa 50,000 Thaler) die Statue zu formen, zu gießen und auf dem Felsen Corneille aufzustellen. Am 15. September schickte Bonnassieux sein zwei und zwei Drittel Meter hohes Modell ein. Nach diesem ward die Riesenstatue erst in Thon bis in die feinsten Details ausgeführt; über den Thon ward dann eine Gypsmasse geschlagen, alsdann der Thon herausgegraben und so eine gypserne Hohlform gewonnen, in welche wieder Gyps gegossen wurde. Letztere stellte nun das eigentliche Modell (40,000 Kilogramm –= 80,000 Zollpfund schwer) dar, welches nach abermaliger sorgfältigster Ausarbeitung jeder Einzelnheit in soviel (etwa hundert) Theile zersägt wurde, als einzelne Stücke gegossen werden mußten; darüber wurden wieder Hohlformen gemacht und in diesen der Guß vollzogen. In allen diesen Operationen mußte die größte Umsicht und Genauigkeit angewendet werden, wenn nicht das Ganze verunglücken sollte. Fast noch mehr Schwierigkeiten machte der Transport dieser schweren Eisenmasse nach Puy und auf den Felsen hinauf. Ungeheure Gerüste mußten errichtet, gewaltig kräftige Maschinen in Gang gesetzt werden, um solche kolossale Massen aus dem Abgrund hinauf auf die schwindelnde Höhe längs der zackigen Felswandungen emporzuziehen. Der steinerne Sockel, auf welchen die Statue zu stehen [813] kam, war inzwischen durch eine Sou-Steuer der in den Schulen der „Doctrine chrétienne de la France“ unterrichteten Kinder aufgebaut worden. Derselbe hat sieben Meter (= zehn und eine halbe Elle) Höhe und kostet 15,000 Francs, was also, da jedes Kind nur vier Pfennige beisteuerte, auf eine Zahl von 300,000 Kindern hinweist, welche dem Orden anvertraut sind.

Das Standbild, welches ich hierbei unsern Lesern in treuer Abbildung zeige, ist nach meinem Geschmack eins der lieblichsten Erzeugnisse der modernen Plastik. Dasselbe stellt die Mutter mit dem Jesuskinde auf dem Arme dar, welches letztere seine Hand segnend über das Land ausstreckt. Das gesammte Denkmal macht einen Eindruck von Majestät, Festigkeit, Milde und Ruhe. Um von den Größenverhältnissen einen Begriff zu geben, dienen folgende Angaben. Die gesammte Statue wiegt 80,000 Kilogramm (= 160,000 Zollpfund) an Gußeisen; das Jesuskind allein 13,000 Kilogramm (= 26,000 Pfund). Die ganze Statue ist sechszehn Meter (= 24 preußische Ellen) hoch, also fast ebenso groß, wie die Bavaria bei München (26 Ellen), aber kleiner als die Borromäus-Statue bei Arona am Lago maggiore (33 Ellen). Sie ist innen hohl und mittels einer Wendeltreppe, die durch einzelne Fensterchen erleuchtet ist, zu besteigen.

Die Himmelskönigin (Notre Dame de France.
Standbild auf dem „Dyck von Corneille“ bei Le Puy.

Der Vorderarm, welcher das Kind trägt, ist drei und dreiviertel Meter lang, in seiner Höhlung können drei Männer der Länge nach, d. h. Kopf an Fuß, liegen. Wir standen drei Herren nebeneinander in dem Kopf, mit den Füßen oberhalb der Augenbrauen, und schauten über die stark vergoldete Krone, deren Spitzen aus Platin als Blitzableiter dienen, in das von solchem Standpunkt besonders herrliche Panorama hinaus, hoch wie Adler in der Luft schwebend.

Am 29. Juli 1859 waren die ersten Gußstücke aus Givors im Puy angekommen, und schon am 26. September desselben Jahres konnte die Enthüllung und Einweihung des Standbildes, welches den Namen „Notre Dame de France“ erhielt, stattfinden. Ich übergehe die Beschreibung der Festlichkeiten, welche sich nebst allen amtlichen Einzelheiten über das gesammte Unternehmen in einer besondern Broschüre des Herrn Charles Calemard de Lafayette, Präsidenten der Ackerbau- und Wissenschafts-Gesellschaft zu Puy, mitgetheilt findet. Auch will ich dem Leser nicht ausführlicher von der Stadt Le Puy erzählen, von ihren einzelnen mittelalterlichen Häusern, Mauern und Thürmen, ihrer alten geplünderten Kathedrale, ihren modernen Plätzen und Anlagen, besonders der Place du Breuil mit dem schönen Springbrunnen, wozu ein Bürger, Crochaquiers, nicht nur die Zeichnung, sondern auch das ganze Geld zur Herstellung geschenkt hat, ferner von dem großen neuerbauten Museum für Natur- und Kunstgegenstände, wozu ebenfalls schlichte Bürger die meisten Fonds gespendet haben. Alles das sieht sich besser in Person an und findet sich in den Reisehandbüchern.

Aber ich kann nicht ohne eine Nutzanwendung schließen, welche an meine eigenen Gesinnungsgenossen, an die Männer der naturwissenschaftlichen Schule, gerichtet ist. Die Geistlichkeit von Le Puy und ihr Zusammenwirken bei dieser Verherrlichung der Himmelskönigin giebt uns ein wohlzubeherzigendes Beispiel. Ich meine nicht, daß wir unsere ganz analogen Streitfragen über die Gültigkeit der Generatio aequivoca oder der Darwinschen Schöpfungslehre in ähnlicher Weise durch einen Machtspruch hoher Würdenträger unserer Wissenschaft ein für allemal entscheiden lassen sollen. Nein, aber beachten und bewundern sollen wir die bienenhafte Betriebsamkeit, mit welcher der Clerus das Werk der Dame de France ergriffen, gefördert und binnen wenig Jahren ausgeführt hat. Der Höchste und der Niedrigste, der Priester und der Lehrer, der Welt- und Ordensgeistliche, wie ihre Diener- und Laienschaft, haben brüderlich und eifrig dem gemeinsamen Zweck gedient, geschickt einander die Hände geboten und ohne persönlichen Vortheil zusammengearbeitet. Was bewegt diese Leute dazu? was befähigt sie zu solchen Anstrengungen und Erfolgen? Gewiß kein Machtgebot, sondern der Geist der Genossenschaft (esprit de corps), der Glaube an die Zukunft ihrer Sache, die Ueberzeugung, zur Weltherrschaft berufen zu sein, und der Wille, diesen Beruf mit allen Mitteln durchzusetzen. Dies sind die Motive, wie ich glaube, welche einen großen Theil der katholischen Cleriker beseelen – und in dieser Hinsicht sollten wir Naturforscher von ihnen lernen.

Auch wir dienen einer Sache, welche berufen ist, alle denkenden Köpfe zu erobern und durch sie die Welt zu beherrschen. Naturwissenschaftliche Kenntniß und Methode müssen in Zukunft jeden menschlichen Wissenszweig durchdringen, Kenntniß des wirklich Seienden und seiner Gesetze muß jedem Gebildeten zu eigen werden. Naturwissenschaftliche, beziehentlich statistische Thatsachen und Forschungsmethoden müssen in jeder Wissenschaft, sogar in den idealsten, im Geschichts-, Rechts-, Kunst- und Religionsgebiet, zu Grunde gelegt werden. Nichts Un- oder Übernatürliches darf in den Köpfen oder Schriften auf Kosten thatsächlicher Kenntnisse herrschen wollen. Was am Probestein der exacten Forschung nicht stichhaltig ist, muß aus dem Verzeichniß menschenwürdiger Kenntnisse gestrichen werden, darunter eine Menge abergläubischer, theils heidnischer, theils mittelalterlicher Vorstellungen, welche heutzutage noch allenthalben in den Köpfen, in Sprache und Schrift für baare Münze gelten.

Daß dies unsere Zukunftsaufgabe ist, werden wenige Naturforscher oder Aerzte im Allgemeinen leugnen. Aber diesem Berufe gemäß zu wirken, wie wenigen von ihnen fällt dies bei! Da sitzt der eine bei seinen Käfern, der andere bei Steinen, der dritte im Laboratorium, der vierte an den Krankenbetten; keiner kümmert sich um den andern, viel weniger um das Ganze, am wenigsten um die weltgeschichtliche Geisterbewegung. Schaut so Einer ja aus seinen archimedischen Kreisen heraus, so ist es nach einer besseren Professur oder Gehaltsvermehrung, einer akademischen Ehre, einem Orden oder einer sonstigen, für den Naturforscher ganz gehaltlosen menschlichen Gunstbezeigung. Die Bestrebungen, das Volk für die Naturwissenschaften zu gewinnen – was doch der einzige Weg ist, um letztere zur Weltherrschaft zu bringen – gelten bei vielen dieser Käuze als flache, einen echten Gelehrten unwürdige Rede- und Schreib-Uebungen. Die Mehrzahl der eigentlichen, d. h. der wirklichen Akademiemitglieder, Geheimenräthe etc., hält sich von solchen Bestrebungen ganz zurück; viele scheuen sich, die Consequenzen ihrer eigenen Forschungen zu ziehen oder, von Anderen gezogen, anzuerkennen. Wie ganz anders müßte Das sein, wenn in jedem Naturforscher und Arzt das Bewußtsein unseres Weltberufs, der Drang für die naturwissenschaftliche Aufklärung des Menschengeschlechts zu wirken, mächtig wäre; wenn jeder sich verpflichtet fühlte, nach seinen Kräften mitzuarbeiten an der Erlösung der Menschenseelen aus tausendjähriger Verdummung und Abergläubigkeit! In dieser Hinsicht möge uns Allen der Eifer und Gemeingeist der Klerikalen von Puy zum nachahmenswerten Beispiel dienen.

Dr. H. E. Richter in Dresden. 
[814]
Zwei Weihnachtsabende.

In jener prachtvollen Straße der reichen Kaufmannsstadt, wo sich die geräumigen, wohnlichen Häuser an Eleganz zu überbieten scheinen, gewahrt man heute an vielen Fenstern hellen Lichterglanz. Riesige Christbäume mit zahllosen Kerzen verbreiten einen Schimmer, der selbst durch die dichten Gardinen dringt und den Vorübergehenden eine Ahnung giebt von der Pracht und dem Reichthume, die sich heute dort entfalten mögen.

Nur eines der palastähnlichen Häuser ist finster und die wenigen erleuchteten Fenster geben Zeugniß, daß man dort auch heute in nichts von der täglichen Gewohnheit abgegangen ist. Das Haus gehört einem Manne, dessen Reichthum ein fürstlicher genannt werden kann. Er bewohnt das weitläufige Gebäude nur mit seiner Gattin und der Dienerschaft, aber es ist ein finsterer Geist, der in jenen Räumen waltet. Der reiche Mann scheint den Freuden des Lebens entsagt zu haben, finster ist sein Blick, gebeugt sein Gang, die bleichen Lippen mögen des Lächelns schon längst entwöhnt sein; nur ein bitter höhnischer Zug spielt zuweilen um seinen Mund. Auch des reichen Mannes Gattin, eine würdige Matrone, muß schon schwere Sorgen in ihrem Leben ertragen haben; ihr Haar ist gebleicht und die kummervollen Falten des edlen Antlitzes erzählen von den schweren Leiden eines gekränkten Mutterherzens. Die matten Augen mögen wohl unzählige Thränen geweint haben, aber den Zug unendlicher Güte konnten sie aus den sanften Blicken doch nicht verwischen. In Gegenwart ihres Gatten zwingt sich die Matrone, heiter und gefaßt zu erscheinen; sie möchte so gern seinen Kummer heilen, den sie so lange getheilt hat und der noch immer schwer ihr Herz bedrückt.

Die beiden alten Leute stehen allein, ganz allein in der Welt, und nie mag wohl eine solche Einsamkeit drückender auf Herz und Seele lasten, als am Christabend, wo Jubel und Freude überall zu herrschen pflegen.

Einstens freilich war es anders in diesem Hause. Vor zehn Jahren herrschte auch hier ein freudiges Leben und das jetzt so stille und trübe Elternpaar schwelgte im Vollgenusse eines Glückes, das durch ihr einziges Kind, die liebliche Gertrud, begründet wurde. Wie es kam, daß dieses schöne Glück mit einem Schlage für immer zertrümmert ward – wir wollen es hier nicht des Breitern erzählen. Es ist kalt heute auf der Straße, und die Geschichte, die da drinnen in dem reichen dunklen Hause just vor zehn Jahren am Weihnachtsabend spielte, ist eine heiße, glühende Geschichte, wie sie nur im Herzen der Menschenbrust geschrieben steht. Unter den heißen Thränen eines schönen Mädchenauges, unter Bitten und Flehen eines jungen, aber armen Mannes und dem zürnenden Fluche eines Vaters wickelt sich hier ein trübes, erschütterndes Drama ab, dessen Schlußact mit der Zerstörung eines schönen Familienglückes endet. An jenem Weihnachtsabend brannten umsonst die Lichter des Tannenbaums, umsonst waren all’ die reichen Gaben für das geliebte Kind in dem Salon aufgestapelt, umsonst das Warten der Eltern – das einzige Kind, um dessenwillen alle Pracht aufgebaut war, erschien nicht am Weihnachtstisch, und statt ihrer kam nur ein Brief mit Worten des Abschieds und Bitten um Verzeihung, daß sie mit dem geliebten Mann hinausgezogen – fort von dem zürnenden Vater, der dem armen Liebling ihres Herzens die Anerkennung versagte.

Was an jenem Abend des gestörten Christfestes in dem Hause vorging, übergehen wir mit Stillschweigen. In den Ausbrüchen des wüthenden Zorns warf der Vater der fliehenden Tochter Verwünschungen nach, die das Herz der armen Mutter erbeben machten. All’ ihr Bitten und Flehen prallte am eisernen Willen des beleidigten Vaters ab. Selbst als die erste Nachricht von der glücklichen Ankunft des jungen Paares in London eintraf, als die junge Frau mit der ganzen Gluth der jungen Liebe ihr Glück schilderte, dem nur noch die Verzeihung des Vaters fehle, um die sie mit aufgehobenen Händen flehe – selbst da wies der Zürnende jede Vermittelung zurück und befahl seiner Frau Stillschweigen, als sie immer und immer wieder für das einzige Kind bat.

Aufgebracht, wie er war, schrieb er damals sofort an den Verführer, daß ihn seine ganze, tiefste Verachtung treffe, Gertrud aber möge versuchen, ob sie, belastet mit dem Vaterfluche, im Stande sei, an der Seite ihres Verführers zu vergessen, daß ihre eigenen Eltern den Tod herbeisehnten, um von der Schande befreit zu werden, die ein mißrathenes Kind über ihr Haupt gebracht hätte.

Die jungen Leute hatten sich hierauf, wiewohl mit schwerem Herzen, hinüber nach Amerika gewandt, von wo aus Gertrud noch einigemal versuchte, den harten Sinn ihres Vaters zu erweichen. Alle ihre Briefe aber blieben ohne Antwort, denn der alte Herr öffnete niemals einen derselben, sondern übergab sie ungelesen den Flammen. Er hatte das Bild seiner Tochter ganz aus dem Herzen verbannt, wenigstens versicherte er dies oft kalt seiner Gattin, wenn diese in Klagen um ihr verlorenes einziges Kind ausbrach. Unter solchen Verhältnissen wird man leicht begreifen, daß gerade das Fest allgemeiner Freude – Weihnachten, für jenes alte Ehepaar immer ein sehr trauriges war. An diesen Tagen flossen der Mutter Thränen im Geheimen endlos um die Tochter, von deren Schicksal sie schon seit Jahren nicht das Mindeste erfahren hatte. Der Vater dagegen bemühte sich, in dieser Zeit womöglich noch kälter und verschlossener zu sein, als es gewöhnlich der Fall war.

Der Weihnachtsjubel war verbannt aus jener Stätte des Reichthums, doch unterließ die würdige Matrone es nie, am Christfeste wohlthätige Spenden an Bedürftige nach allen Seiten hin auszutheilen, und wenn dann die Armen kamen, um ihr dankerfülltes Herz vor ihrer Wohlthäterin auszuschütten, sagte sie beim Abschied heimlich zu den Beglückten: „Betet für mein armes Kind, das vielleicht so arm wie Ihr in der weiten Welt umherirrt; dies ist der einzige Dank, den ich von Euch verlange.“

An dem Abend, von dem im Eingang unserer Erzählung die Rede war, am zehnten Jahrestage von Gertrud’s Flucht aus dem elterlichen Hause, konnte sich die alte Mutter einer tiefen Wehmuth nicht erwehren. Sie hat an eine Menge Armer die gewohnten Wohlthaten vertheilt, womöglich noch reichlicher, als früher. Aber auch ihrem tiefgebeugten Gatten wollte sie eine Freude bereiten. So Manches, wodurch sie ihn zu erfreuen glaubt, hat sie eingekauft und dazu auch einen mächtigen Tannenbaum, den ersten, der seit jenem Schreckensabend wieder in das Haus der Trauer gekommen ist. Wieder hat sie unter Thränen der Erinnerung im Prunkzimmer den Weihnachtstisch geordnet und die Gaben für ihren Gatten darauf ausgebreitet. Sie will jetzt die Kerzen des Baumes anzünden. Da mitten in die Vorbereitung fällt ihr ein, daß diese Ueberraschung vielleicht den Gatten unangenehm berühren könne; sie beschließt deshalb, ihn lieber auf die beabsichtigte Feier vorzubereiten.

Drüben im Nebenzimmer sitzt der alte Herr vor dem Kamine und blickt finster in die lustig emporleckenden Flammen.

„Guter Ferdinand,“ sagt seine Frau, sich ihm nähernd und die Hand schmeichelnd auf seine Schultern legend, „darf ich Dir wohl einen Vorschlag machen?“

„Warum nicht? sprich nur,“ entgegnet gleichgültig der alte Herr, ohne seine Stellung zu verändern.

„Du weißt, wir haben so lange kein Weihnachtsfest mehr gefeiert,“ beginnt zaghaft die Matrone.

„Ich dächte, das letzte vor zehn Jahren wäre ein so mißlungenes gewesen, daß Dir wohl auf Lebenszeit die Lust dazu hätte vergehen müssen,“ unterbricht sie der Gatte heftig.

„Ich möchte Dir gern auch wieder einmal eine Freude bereiten,“ fährt die Gattin im sanftesten Tone fort, als überhörte sie jene bittere Anspielung. „Ich habe Dir einige Kleinigkeiten gekauft, auch habe ich, soweit es meine blöden Augen erlaubten, selbst etwas für Dich gearbeitet, worüber Du Dich gewiß freuen wirst. Drüben liegt Alles bereit, darf ich die Kerzen des Christbaumes anzünden?“

„Frau, wenn Du mich noch ein klein wenig lieb hast und wenn Du willst, daß ich Dir nicht gram werden soll, so sprich mir kein Wort von Weihnachten und vom Christbaume. Fort, fort, in das Feuer damit!“

So poltert, heftig aufspringend, der alte Herr und durchmißt mit großen Schritten die Stube.

„Aber Ferdinand, willst Du mir denn nicht diese kleine Liebe erweisen?“ bittet die gute Frau, die sich schon ihrer Thränen nicht mehr erwehren kann.

[815] „Keine Silbe mehr, oder – ich laufe zum Hause hinaus,“ ruft im höchsten Zorn der aufgebrachte Mann und achtet es selbst nicht, als seine Gattin laut schluchzend das Zimmer verläßt. Es ist, als ob sich der Groll der verflossenen zehn Jahre in ihm auf einmal Luft machen wollte. Erst nach geraumer Zeit findet er seine Ruhe und Fassung wieder und nimmt seinen gewohnten Platz am Kamine ein.

Die bekümmerte Gattin aber ist hinübergegangen in das Prunkzimmer und läßt dort ihren Thränen freien Lauf. Wie wenig entsprach der Erfolg der geringen Freude, die sie vom heutigen Abend gehofft hatte! Mit tiefbekümmertem Herzen nahm sie die für ihren Gatten so liebevoll gewählten Geschenke wieder von dem Tische und verbarg sie in dem untersten Winkel eines Schrankes, damit die zufällige, spätere Entdeckung der schönen Sachen durch ihren Gatten die Heftigkeit desselben nicht noch einmal wach rufe.

Während dieser traurigen Beschäftigung hat, unbemerkt von ihr und von dem mühsam beruhigten Manne, ein Wagen unten vor dem Hause gehalten, Thüren sind leise geöffnet worden, und bald darauf tritt Martin, der alte Diener, vorsichtig, aber mit freudig überraschten Blicken in das Prunkzimmer, wo die Matrone noch am Weihnachtstische beschäftigt ist. Es wären Fremde da, meldet mit leiser Stimme Martin und bittet die Herrin, sich nur auf wenige Augenblicke in das untere Stockwerk hinab zu bemühen. Verwundert folgt die Frau dieser Aufforderung, und nicht lange währt es, so hört man von unten herauf einen mühsam unterdrückten Ruf der Freude, dem ein langes, verhaltenes Schluchzen mehrerer Stimmen folgt.

Der alte Herr hat nichts von dem bemerkt, seine trüben Gedanken machen ihn unempfindlich für die Einwirkungen der Außenwelt, und dennoch scheint es zuweilen, als hätte er alle Kraft nöthig, um eine aufkeimende Rührung seinem Zorne unterzuordnen.

Eine halbe Stunde mag vergangen sein, da wird plötzlich leise die Thür seines Zimmers geöffnet und zwei liebliche Kinder, ein Knabe von neun Jahren und ein etwa siebenjähriges Mädchen, treten ebenso leise ein. Der alte Herr gewahrt sie anfangs gar nicht und fährt erschrocken zusammen, als sich der Knabe durch ein freundliches „guten Abend“ bemerkbar macht.

„Was wollt Ihr hier?!“ fährt der Ueberraschte auf.

Die Kinder erschrecken über diese barsche Frage und zumal das Mädchen will sogleich die Flucht ergreifen, allein der Knabe, dessen ganzes Wesen schon große Entschlossenheit zeigt, faßt seine Schwester beim Arm und hindert sie, davon zu laufen.

„Schämst Du Dich nicht?“ flüstert er ihr zu, „Mama hat Dir doch gesagt, daß Großpapa ein ganz guter Mann wäre. Habe nur keine Furcht und stocke nicht in Deinem Verschen.“

„Wer hat Euch hier eingelassen?“ fragt der alte Herr noch einmal ziemlich heftig. Anstatt aller Antwort schiebt der Knabe seine Schwester, die ein Blatt Papier in der Hand hält, jetzt noch weiter vor, und das kleine, liebe Mädchen spricht mit vor Angst zitternder, aber so recht zum Herzen dringender Stimme:

Vergieb, daß einst die Tochter Dir
So schweren Kummer zugefügt;
Ihr Kind ist’s, das zu Füßen hier,
Verzeihung flehend, vor Dir liegt.

Bei den letzten Worten knieet die Kleine nieder und will dem finstern Manne das Blatt überreichen. Auch der Knabe knieet jetzt neben der Schwester hin und hält ebenfalls ein Blatt empor.

„Was soll mir diese Komödie?“ ruft aufspringend und zornig der alte Herr. „Ich kenne Euch nicht und mag Euch nicht kennen; wehe Demjenigen, der Euch hier eingelassen hat!“

Das Mädchen bricht bei diesen harten Worten in Thränen aus, der Knabe aber verliert nicht so rasch seine Fassung. Mit einem Sprunge steht er wieder aufrecht da.

„Wie? Du willst uns nicht kennen und doch bist Du unser Großpapa,“ spricht unerschrocken der Knabe. „Ich heiße Ferdinand Bernhard; die Mutter sagte mir immer, Du hießest auch Ferdinand und Dir zu Liebe wäre ich so genannt. Das hier ist meine Schwester, Marie Bernhard. Wir sind aus Amerika herübergekommen, weil die Mutter so große Sehnsucht nach Dir hat. Der kleine Vers, den Marie Dir gesagt, steht dort auf dem Blatt; Mama hat ihn gedichtet und meine Schwester hat ihn selbst geschrieben. Und hier auf meinem Blatte habe ich das Haus gezeichnet, worin wir in Amerika wohnten. Diese beiden Blätter sollen das Weihnachtsgeschenk sein, das wir Dir bringen. Da nimm, Großpapa!“

Dieser aber hat sich während der Erzählung des Knaben abgewandt. Kalt und unwillig kehrt er den beiden Kindern den Rücken zu. Nur einmal war es, als wolle ihn die Rührung übermannen und versöhnlichere Gedanken bei ihm einkehren; doch plötzlich fuhr er rasch mit der Hand über die Augen, stampfte heftig mit dem Fuße und rief, ohne sich umzusehen, den kleinen Geschwistern zu: „Fort von hier, ich will Euch nicht länger hören. Sagt nur Euerer Mutter, daß ich sie längst aus meinem Herzen und aus meinem Gedächtnisse verbannt habe. Jetzt, wo wahrscheinlich die verdiente Noth sie drückt, denkt sie wieder einmal an den reichen Vater. Das hätte Euere Mutter aber schon heut vor zehn Jahren thun sollen. Geht nur hin, sagt ihr das und – bettelt dann vor anderen Thüren!“

„Betteln? Wir brauchen nicht zu betteln,“ entgegnete stolz der kleine Ferdinand. „Wir haben in Amerika so schöne Zimmer gehabt, als dieses hier ist, und Papa hat selbst oft gesagt, daß er weit mehr Geld verdiene, als er brauche. Mama hat aber so lange geweint und gebeten, bis Papa sagte: ,Gut, wir wollen die Reise machen, Gott gebe ihr nur Erfolg!’ Und dann erst ist Mama wieder froh geworden und hat uns von Dir erzählt, daß Du ein guter lieber Mann wärest; aber Mama hat uns belogen; Du bist kein guter Mann!“

Dann ergreift der Knabe seine noch immer auf den Knieen liegende und heftig weinende Schwester und zieht sie sanft in die Höhe. „Komm, Marie,“ tröstet er sie, „weine nicht mehr. Mama hat uns ja gesagt, daß wir nach Amerika zurückfahren würden, wenn Großpapa noch immer böse sei. Komm, Schwester, Großpapa will uns ja nicht einmal ansehen; wir reisen wieder nach Amerika!“

Bei diesen Worten hat der kleine Ferdinand die weinende Schwester bis zur Thüre gezogen. Der Großvater ist aber in seinen Stuhl zurückgesunken und bedeckt im heftigen Gemüthskampfe sein Gesicht mit beiden Händen. Und schon sind die beiden Kinder an der Thür angekommen und die ängstliche Schwester greift nach der Thürklinke, da dreht sich der Junge noch einmal um nach dem Großvater. Er sieht den alten Mann, wie er in sich geknickt dasitzt, das Gesicht mit beiden Händen bedeckt – still weinend. Mit einem Sprunge ist er zurück und reißt die beiden Hände des Alten herunter. „Großvater!“ ruft er und hält die Hände des Greises gefaßt, „lieber, guter Großvater…“

Da endlich löst sich die eisige Rinde vom Herzen des strengen alten Vaters, stärker rollen die Thränen und vor Schluchzen bringt er kaum die Worte hervor: „Bleibt bei mir, Kinder! bleibt bei mir!“

Kaum aber ertönt diese Botschaft des Friedens, so öffnet sich die Thür, und die alte Mutter und Gertrud mit ihrem Gatten an der Hand treten herein und werfen sich um Verzeihung flehend zu den Füßen des Vaters nieder. Worte vermag der alte Herr nicht hervorzubringen, die Thränen hindern ihn daran, aber segnend legt er die Hände auf die Häupter der vor ihm Knieenden – der Vaterfluch ist vergessen, alles Unrecht verziehen.

Endlich nimmt die Matrone ihren Gatten bei der Hand. „Darf ich nun die Christbescheerung eröffnen?“ fragt sie schmeichelnd den Gatten.

„In Gottes Namen!“ antwortet dieser, unter Thränen lächelnd, indem er Kinder und Enkel freudig umfaßt.

Die Thüren des Prunkzimmers fliegen auf, und jetzt strömt von dort her auch der altgewohnte Lichterglanz. Neben den wieder ausgebreiteten Geschenken für den Großvater und dicht vor dem Lichterbaum sitzt aber auf dem Tische noch ein kleiner, prächtiger Knabe von vier Jahren, der aus voller Kehle ununterbrochen ruft: „Vivat Großvater und vivat Großmutter! Juchhe! Nun gehen wir nicht wieder nach Amerika!“

A. B. 
[816]
Blätter und Blüthen.

Alte Vorurtheile. „Der Rhein verliert sich im Sande.“ So wurde uns in der Schule gelehrt und so stand es in den geographischen Lehrbüchern, und was der Lehrer sagt, muß wahr sein. Ich habe später die Angabe des schnöden Endes unseres Rheins noch mehrmals gefunden und finde sie eben wieder in einem Romane eines geschätzten Schriftstellers aus der neuesten Zeit. Wenn es nun auch möglich gewesen wäre, daß seit der Zeit der Normannen und der Hansa der Rhein sein Bette geändert habe und endlich wirklich im Sande verlaufe (wie denn unsere ganze politische Entwicklung seit jener Zeit im Sande versiechte), so hat man doch in neuester Zeit wiederholte Versuche einer direkten Seeschifffahrt von Köln aus gemacht; in den vierziger Jahren kam eine Dampf-Yacht der Königin von England direct von London nach Köln, man fährt auf allen Rheinschiffen direct nach Rotterdam und von dort auf einem andern Schiffe nach London. Indessen die alte Lehre klebt uns noch immer an, und bis auf die neueste Zeit wird der Rhein mit der Verleumdung heimgesucht, daß er sich im Sande verliere.

Das wahre Sachverhältniß ist dieses. Bald nach seinem Eintritt in Holland theilt sich der Rhein in zwei Arme. Der südliche Arm bekommt den Namen „Waal“, nimmt dann die Maas auf, theilt sich und vereinigt sich wieder und diese verschiedene Arme heißen dann: „neue Maas“, „alte Maas“, „Marve“ u. s. w. Zuletzt fällt die Wassermasse in mehreren Mündungen in die Nordsee. Der nördliche Arm behält noch eine Zeit lang den Namen Rhein, giebt einen Theil seiner Wasser durch den Drususcanal an die Yssel ab und theilt sich dann abermals. Der südliche Arm heißt nun „Leck“, der nördliche „krummer Rhein“. Noch einige Theilungen bringen dann noch die Namen „alter Rhein“, und „Vecht“ hinzu. Der krumme Rhein und der alte Rhein sind wenig mehr als todte Gräben, die nur vermittelst Schleußen fahrbar sind. Hier hatte sich allerdings, da sieben Achtel der Wassermasse an Waal und Leck abgegeben waren und für den alten Rhein nichts mehr übrig blieb, die Mündung in die See verstopft. Allein seit länger als 50 Jahren ist auch diese Mündung wieder geöffnet. Demnach verliert sich der Rhein nicht im Sande.

Daß man den verschiedenen Armen, in die er sich theilt, andere Namen gegeben hat, thut nichts zur Sache. Vielleicht mochte es, damit man sich zurechtfinden könne, nothwendig sein, die verschiedenen Arme, die sich namentlich durch Verbindung mit der Maas bilden, mit verschiedenen Namen zu bezeichnen. Daß man den Namen des Hauptstromes aufgab und dafür den Namen des Nebenstromes Maas annahm, gehört zu den Ungeschicklichkeiten, die mehrfach vorkommen. So muß der schöne und stärkere Missouri in Amerika bei seiner Vereinigung mit dem Mississippi auch seinen Namen aufgeben und ihn in dem letzteren verlieren. Daß nur die letzten todten Ausläufer des Rheins den alten eigentlichen Namen beibehalten, ist ebenso eine Ungeschicklichkeit, die sich vielleicht dadurch erklären läßt, daß der Rhein früher den Haupttheil seiner Gewässer wirklich in diesen Armen ergoß und daß sich das im Laufe der Jahrhunderte geändert hat. Denn der Rhein hat sein Bette vielfach verändert, und noch heute giebt es große Strecken von trockenen Flußbetten, in denen sonst der Rhein strömte. So lagen Rheinberg und Cleve früher unmittelbar am Rhein und liegen jetzt eine, resp. zwei Stunden von ihm entfernt.

Der alte eigentliche Rhein verläuft sich nicht im Sande, sondern theilt sich nur in mehrere Arme, die dann andere Namen bekommen. Er bringt seine grünen Wellen endlich dem deutschen Meere zu und trägt ehrlich die Schiffe aus der See und in die See.




„Ein technisches Räthsel“ in Nr. 42 dieses Jahrganges der Gartenlaube hat zu einer Menge von Zuschriften Veranlassung gegeben, welche wir nicht mit Stillschweigen übergehen wollen, trotzdem wir in keiner derselben eine hinreichende Lösung des Räthsels haben auffinden können. In den allermeisten der kleinen Aufsätze, die zum Theil mit vielem Geschick, alle aber mit dem lebhaftesten Interesse für die Sache abgefaßt sind, finden sich Gründe angeführt, welche schon in der ursprünglichen Notiz widerlegt worden sind. Ein „einfacher Eisenarbeiter“ will die Lösung des Räthsels mit den Worten gefunden haben: „Der Grund der Erscheinung liegt in den Wärmegraden“; wie wenig diese nicht weiter ausgeführte Erklärung überhaupt eine Erklärung genannt werden kann, liegt auf der Hand. Ein „Goldarbeiter“ hält für die Hauptursache des Phänomens „eine ausstoßende Bewegung gegen alles Fremde oder gegen alle feste Körper, welche die Kugelbildung stören.“ Nach ihm ist es außerdem der Strom der durch die Hitze aus dem festen Eisen ausgestoßenen Lufttheilchen, welcher das letztere auf der Höhe hält. Wenn wir recht verstehen, ist mit der „Kugelbildung“ die gegenseitige Anziehung der Theilchen des flüssigen Eisens gemeint, welche das Eindringen des festen Eisens in die flüssige Masse verhindert. Auch diese Ansicht, sowie die von dem Luftstrom, sind in dem Artikel der Nr. 42 nicht nur erwähnt, sondern auch widerlegt. Eingehender beschäftigt sich mit unserer Frage ein aus Schöningen eingesandter Aufsatz, welcher die Erscheinung „auf das einfache physikalische Gesetz der Scheidung der Körper nach dem specifischen Gewichte“ zurückzuführen versucht. Nach dem Verfasser „dehnt sich das flüssige Eisen im Momente der Erstarrung so stark aus, daß es sich beim weitern Erkalten nicht wieder auf die Dichtigkeit des flüssigen Zustandes zusammenzuziehen vermag“. Dieser Behauptung widerspricht ganz entschieden die Erscheinung des Schwindens, obgleich der Verfasser dieselbe mit seiner Behauptung folgendermaßen in Einklang zu setzen bemüht ist. „So lange das Eisen in der Form flüssig ist,“ sagt er, „erfüllt es diese vermöge seiner Molecularwirkung nur unvollständig.“ Dies ist allerdings richtig, aber vor dem Erstarren füllt doch das flüssige Eisen die Form immer noch bei weitem vollständiger, als das fest gewordene Gußstück. Nur an solchen Stellen, wo das Modell nicht abgerundet ist, wo es scharfe Kanten und dergleichen hat, füllt die flüssige Eisenmasse wegen der Molecularwirkung die Form nicht ganz aus; ja, ich behaupte, wenn das Modell eine Kugel ist, füllt das flüssige Eisen die Form ganz vollständig aus. Und doch findet auch in diesem Falle die Erscheinung des Schwindens statt. Daraus folgt mit mathematischer Gewißheit, daß festes Eisen immer einen kleineren Raum einnimmt als flüssiges Eisen von demselben Gewicht, d. h. daß festes Eisen specifisch schwerer als flüssiges ist. In dem specifischen Gewicht liegt daher die Lösung unseres Räthseln nicht. Schließlich erwähnen wir noch einer Beobachtung, welche uns in einem mit dem Stempel der Stadtpost Leipzig versehenen Schreiben mitgetheilt wird. Darin wird eine Erklärung der vielbesprochenen Erscheinung durch die Strömungen gegeben, welche in jeder sich abkühlenden heißen Flüssigkeit entstehen. Auch diese Erklärung ist in unserer Notiz schon durch den Einwand beseitigt, daß nach neueren Erfahrungen in flüssigem Eisen die obern Schichten die kälteren, die untern aber die wärmern sind. Dieser Erfahrung stellt der Einsender seine eigenen Beobachtungen an flüssigem Platin entgegen. Wollen wir nun auch den Schluß nicht anfechten, vermöge dessen derselbe aus seinen Beobachtungen folgert, daß bei flüssigem Platin die obern Schichten und nicht die untern die wärmern sind, so steht doch so viel fest, daß Platin kein Eisen ist und daß eine Beobachtung am Platin nicht eine Erscheinung am Eisen zu erklären vermag.
R. H. 




Rebus-Spiel. Als sehr passendes Weihnachtsgeschenk für Kinder reiferen Alters, ja selbst für Gesellschaftskreise Erwachsener empfiehlt sich das bei Hermann Fries in Leipzig soeben erschienene Rebus-Spiel, erfunden von Roderich Benedix, mit Zeichnungen von Robert Kretschmer. Dieses Spiel besteht aus 150 kleinen Bildern, aus denen sich durch Beschreibung einzelner Buchstaben an 2000 Wörter bilden lassen. Aus diesen lassen sich durch Hinzufügen einzelner Wörter Tausende von Rebus oder Bilderräthseln zusammensetzen. Dieses Spiel ist mehr als ein gewöhnlicher Zeitvertreib, denn es schärft den Verstand und weckt die Erfindungsgabe. Bei der großen Vorliebe, die in unserer Zeit für Rebus und Räthsel besteht, wird es Vielen willkommen sein, sich auf die einfachste Weise eine unendliche Menge von Rebus bilden zu können, und indem man dieselben Andern zum Errathen vorlegt, entwickelt sich eine gar anmuthige Gesellschaftsunterhaltung. Die Ausstattung ist hübsch und elegant.




Carl Maria von Weber’s Leben. Noch zur rechten Zeit, um unter die Christspenden aufgenommen werden zu können, erscheint soeben der langerwartete zweite Band der Biographie Carl Maria von Weber’s aus der Feder seines auch den Lesern unsers Blattes durch manchen geist- und farbenreichen Artikel rühmlichst bekannten Sohnes. Damit ist dies gründliche und vortreffliche Werk zum Abschlusse gediehen, wenigstens so weit es das Leben des unvergeßlichen Tondichters erzählt; ein dritter Band wird nur noch die seither in den verschiedensten Blättern zerstreut gewesenen ästhetisch-kritischen und musiktheoretischen Aufsätze Weber’s vereinigen. Schildert der gerade vor Jahresfrist veröffentlichte erste Band die Lehr- und Kampfjahre des Componisten, so stellt der zweite die Meister- und Leidensjahre desselben dar mit der Pietät des Sohnes, aber zugleich mit der vollen objectiven Unparteilichkeit des gewissenhaften Autors. Dies als vorläufiger Fingerzeig, da wir in Kurzem unsere Leser eingehender mit dem Buche bekannt zu machen gedenken.


Zur Nachricht!

Mit Nummer 52 schließt das vierte Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das erste Quartal des neuen Jahrgangs schleunigst aufgeben zu wollen.

Leipzig, im December 1864.
Ernst Keil. 

Nicht zu übersehen!

Für diejenigen Abonnenten, welche sich die Gartenlaube einbinden lassen, sind durch uns auch zum Jahrgang 1864 höchst

geschmackvolle Decken

nach eigens dazu angefertigter Zeichnung zu beziehen. Alle Buchhandlungen sind in den Stand gesetzt, dieselben zu dem billigen Preise von 13 Ngr. zu liefern. – Zu den Jahrgängen 1854 bis 1863 stehen ebenfalls Decken zu dem gleichen Preise zur Verfügung.

Die Verlagshandlung. 

  1. S. Nr. 32, S. 502 d. Jahrg.
  2. Leben können wir allein, und für’s Sterben hat er noch nie Etwas gehabt.
  3. Leidend, häßlich aussehender Todter.
  4. Nein, nun wär’s eine Schande, noch zu weinen, nachdem der Herr Pastor ihn so freundlich besprochen.
  5. Unter Dyck oder Dyke versteht man in jenen Gegenden (Auvergne, Cantal, Belay) gewisse scharfabgeschnittene, einzelnstehende Felskegel oder Würfel, aus vulcanischem Gestein, meist Lavaconglomeraten gebildet, welche, wie man vermuthet, inmitten großer Auswaschungen stehen geblieben sind. Sie sind, meist mit alten Ritterburgen oder Kirchen besetzt, weithin sichtbar.