Die Gartenlaube (1864)/Heft 45
(Schluß.)
„Nun wohl … das Mittel besteht darin,“ sagte Horst, daß Sie mir behülflich sind, mich zu dem oberen Loche unsrer Thurmkappe hinauszuschwingen. Dort kann ich die Wärtersleute herbeirufen, oder, welches lebende Wesen ich zuerst erblicke. Vielleicht kann ich noch mehr thun; die Thurmkappe ruht, soviel ich von außen gesehen, auf dem viereckigen Unterbau, der mit einer Balustrade versehen ist. Man wird also umhergehen können, und es wäre wunderlich, wenn sich nicht eine Thür fände, die auf den Dachraum des Hauses führt … man muß doch einen Weg haben, auf die Thurmplattform zu kommen, für den Fall, daß Reparaturen da nöthig sind. Dann wäre uns noch rascher geholfen!“
„Aber wie wollen Sie es anstellen, sich zu der Oeffnung hinauszuschwingen?“ frug Eugenie.
„Das ist’s eben,“ versetzte Horst, „dabei bedarf ich Ihrer.“
„Ich seh’ nicht, was ich thun kann!“
„Jedenfalls mir versichern, daß Sie nicht zürnen wollen, wenn ich sage, was Sie thun können – aber was ich weit entfernt bin zu verlangen …“
„So sprechen Sie doch endlich!“
„Wenn Sie sich hier in die Mitte unter der Oeffnung aufstellen und die Hände verschränkt so halten wollen, wie es die Stallmeister machen, wenn sie einer Dame behülflich sind, zu Pferde zu steigen, dann würde ich zuerst auf Ihre Hände, sodann auf Ihre Schulter treten, dann mich zur Oeffnung hinausschnellen.“
Eugenie lachte im ersten Augenblick verlegen auf … dann zog sie ernst ihre Stirn zusammen und sagte halb beleidigt: „Das ist allerdings eine seltsame Zumuthung …“
„Ich hab’ es Ihnen vorausgesagt!“
„Das haben Sie.“
„Und es nicht etwa Ihnen vorgeschlagen, nur auf Ihr Verlangen Ihnen genannt!“
„Nun ja … und es ist das einzige Mittel?“
„Das einzige!“
„Dann,“ fiel Eugenie plötzlich entschlossen ein, „dann sei’s darum … man soll mir nicht nachsagen, ich habe aus Prüderie etwas zu thun unterlassen, was zu thun doch sehr vernünftig war … Kommen Sie … denken wir, wir seien Kinder, die einem Vogelnest nachstellen.“
„Ich wünsche nur, daß ich mir die Leichtigkeit eines Kindes geben kann,“ erwiderte Horst und warf die Stiefel aus.
Eugenie stand mit verschränkten Händen, wie Horst es angegeben hatte; dieser legte leicht die Hand auf ihren Scheitel, trat in ihre Hände, auf ihre rechte Schulter, hatte im nächsten Augenblick beide Ellbogen auf den äußeren Rand der Oeffnung gestemmt und zog nun, während Eugenie tapfer einen seiner Füße nachschob, den Körper mit der Gewandtheit eines erfahrenen Turners nach. Eugenie brach dabei in ein lautes, herzliches Gelächter aus.
„Ich glaube, Sie lachen mich aus,“ sagte er von oben her in die Oeffnung hinabsprechend, „aber desto besser, ich sehe daraus, daß ich Ihnen nicht wehe gethan! … Und da seh’ ich auch eine Thür, die auf den Dachraum führt. Ich werde mich jetzt außen niedergleiten lassen.“
„Aber mein Gott, ist denn das nicht gefährlich?“
„Nicht im mindesten.“
„O gewiß, gewiß … wenn Sie den Thurm hinabstürzten!“
„Haben Sie keine Sorge!“
„Ich habe aber Sorge, ich ängstige mich zu Tode, wenn Sie es thun … ich will es nicht!“
„Seien Sie vernünftig, Eugenie, es ist ja da unter mir eine Balustrade…“
„Sie kann morsch sein, sie kann nachgeben, wenn Sie dagegen anprallen.“
„Ich muß aber hinunter, wenn ich Sie befreien will.“
„Nein, nein, nein, lieber bleib’ ich eingesperrt hier, als daß ich es zugebe, ich will es nun einmal nicht … Sie müssen bleiben, wo Sie sind, ich muß Sie im Auge behalten, oder ich vergehe vor Angst hier; warten wir, bis Jemand sichtbar wird, den Sie anrufen können!“
„Ich will mich Ihrem Willen fügen, wenn Sie mir eines versprechen.“
„Und was?“
„Daß Sie mich freundlich aufnehmen wollen, wenn ich morgen nach Schollbeck komme.“
„Können Sie daran zweifeln?“ versetzte sie leise, fast vorwurfsvoll.
Horst also blieb in der Thurmlaterne sitzen, wo er am Rande der runden Lichtöffnung kniete, und den Arm um einen der vier schmalen Pfeiler geschlungen hielt, welche die Laterne bildeten. Nach einer Weile sah er zu seiner Freude eine Frau dem Wärterhause zugehen, welche auf ihrem Kopfe einen in ihre blaue Schürze gepackten Armvoll frischen Klees trug. Er schrie ihr aus Leibeskräften ein „He! Holla! Hier!“ zu.
Die Frau ließ vor Verwunderung ihr Bündel fallen, als sie [706] nach dem ersten Aufstarren ihren neuen Gebieter da oben in der Thurmlaterne von Falkenrieth entdeckte. Sie lief dem Hause zu und kam im nächsten Augenblick mit ihrem Manne, dem Wärter, daraus wieder hervorgestürzt.
Als die beiden Leute auf der Terrasse vor dem Schlosse waren, rief Horst ihnen hinab, was sie thun sollten. Er warf ihnen den Schlüssel zur Portalthür, den er bei sich trug, in einem geschickten Bogenwurf zu und machte ihnen deutlich, daß sie mit einem schweren Holzstück oder einer Stange wider die Klappe über der Wendeltreppe anfahren müßten, um sie aufzusprengen. Der Mann ging zurück, um einen solchen Gegenstand aufzusuchen, und kam bald darauf mit einem langen Riegelholz wieder; nach fünf Minuten vernahm Eugenie unter ihren Füßen einen formidablen durch die ganze Thurmkappe zitternden Stoß, dann einen zweiten, und die Klappe fuhr krachend aus ihrer Klemme empor. Gleich darauf wurde sie von dem Arm des Wärters ganz aufgehoben, und der Oberkörper des Mannes tauchte durch die Oeffnung auf, um Eugenie und den jetzt von oben her aus der Laterne wieder herabvoltigirenden Horst mit dem Ausdruck höchster Verwunderung anzustarren.
Es war natürlich, daß, den fragenden Augen dieses Mannes gegenüber, Eugenie die Verlegenheit doppelt fühlte, in welche sie ohnehin gerathen mußte, als sie sich mit Horst wieder in der Freiheit sah; sie eilte davon zu kommen und flog die Treppe hinab, während Horst dem Wärter ein Trinkgeld gab und ihm mit möglichst unbefangener Miene erklärte, wie er mit der jungen Dame das Schloß besichtigt habe und wie, als sie auch das Innere des Thurmes sehen wollen, die Klappe hinter ihnen niedergeschlagen sei.
Horst nahm dann noch das Buch vom Boden auf und eilte Eugenie nach. Er erreichte sie nicht eher, als bis sie schon unten auf der Brücke war.
„Ich will Ihnen das Buch morgen bringen,“ sagte er, „darf ich?“
„Ach, das Buch,“ versetzte sie mit bewegter Stimme, „es ist an Allem schuld! Ich hatte mich heute beim Ausreiten daran erinnert, daß ich es in Falkenrieth liegen lassen und daß ich, da Falkenrieth nun Ihnen gehöre, es zurückholen müsse; ich ging dann durch die Zimmer, um von ihnen für immer Abschied zu nehmen … da sah ich plötzlich Sie auf der Brücke … schon auf der Terrasse, an der Thür … zu Tode erschrocken beim Gedanken eines Zusammentreffens mit Ihnen, nahm ich die Flucht, aber Sie, Sie folgten mir, Sie fürchterlicher Mensch …“
„Haben Sie es mir jetzt nicht vergeben? Was soll ich thun, um Alles das, was ich verschuldet, was ich durch meine sträfliche Unbesonnenheit verbrochen, wieder gut zu machen?“
„Nichts, nichts,“ rief sie hastig und vor Aufregung zitternd aus, „als mich jetzt allein lassen … Sie sollen mich allein heimreiten lassen … gehen Sie jetzt, gehen Sie gleich … der Wärter wird mir mein Pferd halten!“
„Nun, wenn Sie es befehlen,“ versetzte Horst gedehnt und unangenehm betroffen.
„Ja, ja, adieu … bis morgen!“
Horst verstand dies heftig geäußerte Verlangen Eugeniens, mit sich und Allem, was in ihr stürmte, allein zu sein, nicht, und darum fühlte er sich ein wenig gekränkt und niedergeschlagen dadurch; aber er fügte sich gehorsam in ihren Willen; er ließ ihr das Pferd vom Wärter vorführen und halten; sie schwang sich auf und ritt im Galopp davon… Horst war von dem Augenblick an, wo sie das letzte Wort zu ihm gesprochen, für sie gar nicht mehr dagewesen.
Er sah ihr lange nach … und dann, dann war es ihm, als ob ihn etwas zurückhielte in Falkenrieth; es widerstand ihm, sich davon sogleich zu trennen … er ging noch lange mit dem Wärter umher und hörte ihm schweigend zu, während der Mann ihm auseinandersetzte, wo und was für die Reparatur dringend nöthig zu thun sei.
Mehrere Stunden nachher … es war Abend geworden und Horst wieder daheim; er saß in seinem Zimmer im Armsessel ausgestreckt, die erloschene Cigarre in der lässig niederhängenden Hand und tief in Träumen verloren durch die Fenster in die Dämmerung draußen blickend, als plötzlich die Thür aufgerissen wurde und Allmer hereintrat, sehr bleich, sehr aufgeregt aussehend und sehr unceremoniös sich Horst gegenüber in einen Sessel werfend.
„Ich bedaure, daß ich gezwungen bin, eine letzte Unterredung mit Ihnen zu suchen, Herr Baron,“ sagte er, „aber beruhigen Sie sich, sie wird desto kürzer sein.“
„Sie nehmen sehr cavalière Manieren mir gegenüber an, mein Herr Allmer,“ versetzte der junge Mann überrascht und gereizt. „Sie haben eine Forderung von mir angenommen, und ich begreife nicht, wie Sie diesen brüsken Ueberfall damit verträglich finden.“
„Ei was Forderung!“ rief Allmer unwillig aus, „ich habe nicht das geringste Interesse mehr, mich mit Ihnen zu schlagen … schießen Sie immerhin den albernen Vetter über den Haufen, Sie werden mir noch mehr Vergnügen damit machen, als sich selber!“
„Und was hat Ihre Entschlüsse so schnell und so vollständig verändert?“
„Ich bin Ihnen keine Rechenschaft darüber schuldig, glaub’ ich … worüber ich Ihnen Rechenschaft schuldig bin, ehe wir aus einandergehen, das ist etwas Anderes, und die komme ich Ihnen zu geben!“
„Rechenschaft, mir? Ich glaubte …“
„Rechenschaft über Ihre Statue, Ihre Flora, an der Sie so gewaltig hängen!“
„Ach, die Flora!“ sagte Horst … „in der That, ich gab Ihnen den Auftrag zu forschen …“
„Es bedarf nicht langen Forschens. Die Flora hat der alte Schollbeck. Der alte Mensch hat mich verführt, sie ihm zu überlassen, ohne mir im geringsten anzudeuten, welchen eigentlichen Werth solch ein Kunstwerk habe … Ich ahnte ihn nicht … was versteh’ ich von Kunstwerken! Er gab mir hundert Thaler dafür. Ich nahm sie gern. Ich hatte Drainirungen vorzunehmen und die Cassen waren leer; ich glaubte allen Dank zu verdienen, daß ich hundert Thaler mehr hineinschaffte für die alte Scharteke. Jetzt, wo ich erfahren habe, daß solch ein Ding zehnmal mehr werth ist, daß der alte Spitzbube mich auf’s Ruchloseste überlistet hat, zwingt mich mein Gewissen, Ihnen den wahren Sachverhalt mitzutheilen … Sie werden jetzt sofort Schollbeck auf Herausgabe anklagen, Sie werden den Proceß unbedingt gewinnen; ich war gar nicht autorisirt, zu der Veräußerung, und ich bin zu jedem Zeugniß in Ihrem Interesse erbötig …“
„Sie sagen mir da seltsame Dinge, Allmer,“ versetzte Horst ruhig in die erhitzten Züge des Mannes blickend. „Also Herr von Schollbeck hat die Flora … und ich soll einen Proceß darum beginnen … Sie wollen mein Zeuge sein … in der That, Sie haben einen fürchterlichen Haß auf die Familie meines Nachbars geworfen … Sie haben mir alles mögliche Schlechte von ihnen mitgetheilt, Sie haben mir gerathen, durch den Ankauf von Falkenrieth einen Lieblingswunsch von Fräulein Eugenie zu zerstören … jetzt soll ich den alten Herrn noch durch einen Proceß verfolgen … und dazwischen erbieten Sie sich doch wieder zum Champion für Herrn von Ambotten … seltsam das in der That, und Sie werden es wohl natürlich finden, daß ich einige Aufklärung wünsche, bevor ich mich von Ihnen zum Werkzeug der Absichten machen lasse, die Sie ohne jeden Zweifel bei alledem haben…“
„Das ist eine sehr beleidigende Voraussetzung,“ fuhr Allmer auf; „ich habe Ihnen immer ehrlich gesagt, was meine Ueberzeugung war.“
„Gestatten Sie mir, mein werthester Herr Allmer, daß ich daran zweifle,“ fuhr Horst in seiner kühlen Ruhe fort. „Ich habe aus zufälligen Unterredungen, die ich mit Herrn von Ambotten und mit Fräulein von Schollbeck hatte, den Schluß gezogen, daß Sie beflissen gewesen sind, mir falsche Vorstellungen von meinen Nachbarn zu machen, und daß Sie in einem andern Verhältniß zu denselben stehen, als Sie vorgeben.“
„Es kann mir sehr gleichgültig sein, welche Schlüsse Sie ziehen,“ versetzte Allmer aufspringend; „ich habe Ihnen gesagt, was ich Ihnen noch sagen wollte …“
„Aber ich nicht das, was ich Ihnen noch sagen wollte, deshalb verweilen Sie noch einen Augenblick … Sie haben von meinem heutigen Abenteuer mit Fräulein Eugenie gehört, das hat Sie beunruhigt, und deshalb haben Sie es für an der Zeit gehalten, Ihre letzte Karte auszuspielen, mich in einen Proceß wider Schollbeck zu hetzen – ist es nicht so?“
„Von einem Abenteuer … das Sie mit Eugenie gehabt, hab’ ich nichts gehört,“ fiel Allmer heftig ein, „aber ich rathe [707] Ihnen,“ setzte er mit einer furchtbar ausbrechenden Leidenschaftlichkeit hinzu, „keine weiteren Abenteuer mit dieser Dame zu suchen, sonst jag’ ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf, so wahr ich Allmer heiße!“
„In der That?“ sagte Horst bitter auflachend; „so habe ich recht gesehen – das ist des Pudels Kern. Nun wohl, da ich ebenso große Lust habe, Sie für Ihre Verrätherei zu strafen, so kann ja uns Beiden geholfen werden … haben Sie jetzt die Güte, mich zu verlassen … ich bin Ihrer Sendung mit Vorschlägen des Wann? und Wo? gewärtig. Gehen Sie.“
„Sie werden von mir hören,“ sagte Allmer und ging. – Am andern Morgen, als Horst das Frühstück gebracht wurde, meldete ihm der Bediente, daß der Herr Administrator in der Frühe abgereist sei, mit der Aeußerung, er werde nicht wieder zurückkehren.
„Desto besser!“ sagte Horst, diesmal sehr beruhigt und ohne jeden Anflug von Selbstvorwürfen.
Als er ein paar Stunden später in den Hof hinabging, um satteln zu lassen und den Weg nach Schollbeck anzutreten, kam er an der offenen Thür von Allmer’s Zimmer vorüber, aus dem eine Magd den Staub fortkehrte; in dem Kehricht lagen zerrissene Stücke eines Billets … Horst nahm sie auf und indem er sie zusammenfügte, las er die Worte: „Nach einer längeren Erörterung, die ich eben mit meiner Tochter hatte, sehe ich mich zu meinem Bedauern gezwungen, Sie zu bitten, Ihre Besuche in meinem Hause nicht fortsetzen zu wollen. Seien Sie dagegen überzeugt, daß in der bewußten Angelegenheit mich nichts zu einem Schritte führen kann, der Sie compromittiren würde. Achtungsvoll von Schollbeck.“
„Der ritterliche alte Herr!“ sagte Horst lächelnd, „wie besorgt er ist, diesen Lügner nicht zu compromittiren! Und dies also ist der Schlüssel zu Allmer’s Geständniß und Absichten von gestern Abend … Wie kann die Leidenschaft einen ehrlichen Menschen zum Schufte machen!“
Nach einer starken halben Stunde hatte er die Brücke vor Haus Schollbeck erreicht. Der Mann im Wächterhäuschen nickte diesmal, ehe er noch eine Frage nach der Herrschaft ausgesprochen, bejahend zu, und Horst überließ ihm die Sorge für sein Pferd.
Dann schritt er der Eingangsthür zu; ehe er sie erreicht, trat ihm Eugenie im Morgenanzug, ein Körbchen mit Arbeit in der Hand, entgegen, sie wollte sich zu dem Platze im Schatten des alten Thurmes begeben. Als sie Horst erblickte, übergoß eine dunkle Röthe ihr Gesicht bis unter die Haarwurzeln. Ebenso verlegen, wie sie, streckte ihr Horst die Hand entgegen, die sie leise drückte.
„Sie kommen früh,“ sagte sie, „der Vater ist noch in seinen Zimmern.“
„Ich komme früh, weil ich Ihnen viel zu sagen habe,“ versetzte Horst……es ist mir so, als hätte ich den ganzen Tag dazu nöthig und würde doch darin nicht fertig.“
„In der That,“ antwortete Eugenie rasch mit wachsender Verlegenheit, „Sie haben gewiß viel, recht viel zu erzählen … und wir dagegen haben Ihnen viel, recht viel zu zeigen; der Vater wird Sie nicht entlassen, ohne daß Sie alle seine Herrlichkeiten bewundert haben … kommen Sie, ich will Ihnen einen Vorgeschmack davon geben … es ist zwar grausam, daß ich den Vater um einen Theil seines Vergnügens bringe, aber … ich möchte Ihnen etwas zeigen, das Sie gleich sehen sollen … kommen Sie hierhin, die Treppen hinauf!“
Horst war an Eugeniens Seite in das Haus eingetreten, in einen Flur, wo seltsame Geweihe von Dam- und Elenthieren über den dunkelgebohnten Thüren prangten. Eine Treppe mit schwerem Geländer aus Eichenholz führte in den ersten Stock, und der Treppenraum, der Corridor, zu welchem die Stufen führten, Alles zeigte, daß man sich im Hause eines Sammlers befand. In Schränken, auf Consolen, an den Wänden standen ausgestopfte Thiere aller Art; große Uhus und Raubvögel schwebten an Drähten aufgehängt von der Decke nieder; alte Bilder hingen über den Thüren.
Als Eugenie eine von diesen öffnete, trat Horst in ein Cabinet, welches zur Hälfte eine Sammlung von Oelgemälden sehr verschiedenen Werths, wie es Horst bei einem flüchtigen Ueberblick schien, einnahm, während an der gegenüberliegenden Wand Schränke standen, die mit Terracotten, Majoliken und altem Porzellan aller Art angefüllt waren.
„Und setzen Sie bei mir die Stimmung voraus, Fräulein Eugenie, daß ich das jetzt ansehen, bewundern soll?“ fragte Horst, seine Blicke zu dem jungen Mädchen zurückkehren lassend und ihr Auge suchend.
„Nein,“ versetzte sie, „Sie dürfen es jetzt nicht bewundern, da muß erst der Vater dabei sein, folgen Sie mir hierhin, in diesen Saal, in die eigentliche Kunsthalle, wie der Vater sagt.“
Horst schritt ihr folgend durch die offene Seitenthür in die „Kunsthalle“. Es war ein Saal mit drei Fenstern, angefüllt mit Gemälden, mit schönen alterthümlichen Möbeln von vortrefflicher Schnitzarbeit, mit einer Menge kostbaren Alterthums, und dem mittleren Fenster gegenüber in einer Nische auf ihrem marmornen Sockel stand die Flora in ihrer ganzen Schönheit.
„Ihr Vater muß ein großer Verehrer der Kunst sein,“ sagte Horst der Statue näher tretend, „daß sein Herz von einem Bildwerk so erwärmt wird, um ihm den Ofen zu ersetzen, der in andern Häusern diese Stelle einnimmt!“
„Und das ist Alles, was Sie dazu sagen?“
„Was soll ich sagen … es ist meine Flora!“ versetzte gleichmüthig Horst.
„Deren Verlust Sie so in Harnisch brachte, daß Sie einen Gypsabguß zum Fenster hinausschleuderten und mein Vater fürchtete, Sie würden ihn erwürgen, wenn …“
„In welchem Lichte mag dieser … dieser Allmer mich Ihnen dargestellt haben!“ sagte leise und fast flehend zu Eugenien aufblickend Horst.
„Es ist Ihre Flora,“ fuhr Eugenie fort, „und Sie“ – ihre Lippe zitterte vor Bewegung, als sie weiter sprach – „Sie werden sie jetzt zurückverlangen.“
Horst blickte in ihr Auge, das mit eigenthümlicher Spannung an seiner Lippe hing.
„Hängt Ihr Vater so sehr daran?“
„Mit seiner ganzen Seele!“
„Wie Sie an Falkenrieth, Eugenie … ebenso sehr? Antworten Sie mir, ebenso sehr?“
„Und weshalb bringen Sie das damit in Verbindung?“
„Weil ich Ihnen dann einen Handel vorschlagen möchte.
Nehmen Sie Falkenrieth zum Geschenke von mir an, und dagegen erspart mir Ihr Vater den Verdruß, die Flora wieder in meinem Hause sehen und mich täglich an eine Handlung kindischer, kläglicher Leidenschaftlichkeit erinnern zu müssen!“
„Mein Gott,“ sagte Eugenie zitternd, „wie können Sie im Ernste glauben …“
„Daß Sie Falkenrieth von mir annehmen würden … in der That, Eugenie, es gehört eine große Verwegenheit dazu, es zu hoffen … Sie hielten mich für einen bösen Menschen, und ich mußte Ihnen ja nicht nur erst beweisen, daß ich ein guter und harmloser bin, sondern Sie mußten mir vorher auch ein wenig gut werden … und das, das hab’ ich freilich nicht um Sie verdient, und es wird mir dabei vielleicht auch nichts helfen, wenn ich Ihnen eben das Alles sage, was so lang ist, daß ich in einem Tage nicht damit fertig zu werden meine …“
„Nun,“ sagte Eugenie ihm lächelnd die Hand hinstreckend, „so versuchen Sie’s einmal … wir haben ja Zeit!“
Er zog leidenschaftlich ihre Hand an seine Lippen, die sie ihm anfangs ruhig überließ; aber mit einem leisen Schrei entzog sie ihm dieselbe plötzlich und rief aus: „Mein Vater!“
Eine Seitenthür hatte sich geöffnet, und Herr von Schollbeck war eingetreten. Der alte Herr war offenbar sehr erschrocken, Horst vor seiner Flora zu sehen.
„Eugenie!“ rief er vorwurfsvoll aus … und zugleich maß er mit verwunderten Blicken die Gruppe der beiden jungen Leute, die beide eine gewisse Bestürzung nicht verkennen ließen; Eugenie flog auf ihn zu und warf sich in einer Weise an seine Brust, die durch die Situation gar nicht motivirt erschien.
Horst war unterdeß dem alten Herrn ebenfalls näher getreten.
„Wir haben von der Statue geredet, Herr von Schollbeck,“ sagte er verwirrt … „und ich habe gewagt, Fräulein Eugenie einen Handel vorzuschlagen, bei dem es Ihrer Genehmigung …“
„O Sie wollen am Ende, ich soll für die Flora mein Kind hergeben,“ rief Herr von Schollbeck halb bestürzt halb gerührt aus.
„Nein, so viel ist die Flora nicht werth,“ fiel Horst rasch ein … aber Fräulein Eugenie hat mir Hoffnung gemacht, daß Sie die Statue behalten würden, wenn ich erst alles das gesagt, was sie mir versprochen hat anzuhören!“
[708] „Mußte ich das nicht?“ sagte Eugenie, zu Horst aufblickend und dann das Auge wieder senkend … „Sie haben eine so fürchterliche Energie, sich Gehör zu verschaffen … “
„Nun, ich höre schon,“ fiel hier Schollbeck lächelnd und gerührt ein – „am Ende ist’s doch so wie ich eben sagte – und ich will meine Genehmigung geben, wenn Sie mir versprechen, mein Kind nie wieder in eine Thurmkappe einsperren zu wollen, Sie böser Nachbar … aber nun kommen Sie herab, zum Frühstück in den Garten, wir müssen sehen, was Vetter Florens zu dem Allen sagt.“
Horst reichte Eugenie den Arm, um Schollbeck, der vorauf ging, zu folgen. So gelangten sie zu dem Frühstücksplatze im Garten, wo Florens von Ambotten ihnen mit einer etwas unsicheren Haltung entgegen kam. Horst bot ihm die Hand dar, indem er mit der wärmsten Offenheit sagte:
„Sie sehen mich ein wenig beschämt vor sich stehen, Herr von Ambotten – werden Sie mir verzeihen, wenn ich Ihnen sage, daß ich mein Unrecht einsehe?“
„O, ich glaube nicht, daß Sie so sehr Unrecht hatten,“ stammelte Florens verlegen.
„Wir hatten Alle ein wenig Unrecht,“ fiel Herr von Schollbeck ein. „Da aber die Hauptschuldigen ihre Verbrechen durch eine strenge Haft im Thurm von Falkenrieth bereits gehörig gebüßt haben, so wollen wir die Vergangenheit ruhen lassen und unsere Gläser füllen auf das Wohl der Zukunft!“
„Und ich,“ sagte Horst, „werde das meine leeren auf das Wohl – der Herrin von Falkenrieth!“
Von H. Beta.
Andere Stadtleute begeben sich aus der Straßen quetschender Enge und durch die Thore hinaus, hinaus, um in’s Freie zu kommen und Luft zu schöpfen; in London machen sie’s für den gewöhnlichen Bedarf umgekehrt und gehen, fahren und reiten stadteinwärts in freie, frische Luft, auf lachende Rasenteppiche, unter tausendjährige, jugendfrische Baumgruppen an großen, lachenden, fließenden Zierteichen und deren Inseln und Wasserpflanzenranken entlang. London – längst keine Stadt mehr, sondern die höhere Einheit und Verschmelzung der Vorzüge von Stadt und Land, nachdem es auf den zwanzig deutschen Geviertmeilen, die es einnimmt, eine große Zahl von Dörfern und Städtchen verschlungen und schöner wiedergeboren hat – schwelgt jetzt alle Tage innerhalb seiner 3500 Straßen „im Freien“, auf dem Lande, und zwar viel schöner und gesunder, als unsere Dorfbewohner. Man hat den Schmutz und die Bäuerischkeit der londonisirten Dörfer weggeräumt und nur deren ländliche Schönheit geläutert in die Urbanität oder Stadtcultur aufgenommen.
Dies ist einer von den vielen Vorzügen, durch welche sich London und andere englische Hauptstädte vor deutschen auszeichnen. Die mannigfachen Parkoasen, deren sich London erfreut, halten wir unbedingt für das Schönste, was die britische Metropole aufzuweisen hat und vor Allem eines Besuches unserer Leser und Leserinnen werth, damit sie sehen, wie weit und breit und sonnig und luftig sich hier die Bewohner aller Stände und Classen täglich hunderttausendweise mitten in London gesunder Lebenslust, grüner Bäume und Plätze und wonnigen Lichtes gelaben.
Wir gehen in den Hyde-Park, von dem fast jeder gehört, den Tausende von uns gesehen haben, ohne daran zu denken, daß dies der Haupttriumph des Gesundheits- und Schönheitssinnes von London ist, der größte Juwel des ländlichen Schmuckes, der alle Stadttheile des Ungeheuers verschönt. Hyde-Park lag einst auch weit außerhalb Londons. Aber das freie Volk erlaubte der rascher und rascher zunehmenden Menge von Bewohnern nicht, sich Häuser darauf zu bauen. Und dies nicht allein. Von der eigentlichen Mitte der Weltstadt, von Charing-Croß und Trafalgar-Square aus, streckt sich St. James-Park nach dem großen Parke der Königin am Buckingham-Palaste auf dem freien, weiten Constitutionshügel, der sich unmittelbar an den baum- und rasenreichen Green-Park anschließt. Dieser führt nun unmittelbar in den Hyde-Park, jenseits welches die Kensington-Gärten die Schönheiten aller drei Parke vereinigen und weiter hinaus nach Westen dehnen. Diese Oase von immergrünem Rasen, wundervollen Bäumen, fließenden Teichen und duftigen Inseln – allein groß genug für das ganze Berlin – lacht und sonnt sich und die Menschen mitten in der Westendstadt. Keinem Angebote, keinem Speculanten, keiner Intrigue gelang es, diese immer kostbarer gewordenen Plätze zu kaufen und als Baustellen auszuschlachten. So mußte sich das Westend jenseits derselben westlich, südlich und nördlich darum herumlegen und hat dafür nun täglich das Vergnügen, aus seinen kostbaren Palästen und umgarteten Villas stadteinwärts zu reiten und zu fahren und sich – während der Parlamentszeit – in der sonnigsten, gesundesten Frühzeit seiner Fahr- und Reitcorsos zu erfreuen.
Aehnliche Schonung von Bäumen und offenen Plätzen und deren Verschönerung zu Parks machen sich in allen andern Theilen Londons geltend, in ganz England, wo kein öffentlicher Baum ohne besondere Parlaments-Majorität umgehauen werden darf. Der erste Industrie-Ausstellungs-Palast von 1851 mußte für viele Hunderttausend Thaler mit dem großen Mittel-Transeptgewölbe versehen werden, weil die noch jetzt stehende mächtige Ulme mitten auf der Baustelle vom Parlamente in Schutz genommen ward, so daß der riesige Baum mitten im Glaspalaste stehen bleiben mußte.
Nachdem wir durch St. James- und Green-Park uns schon frisch gewandert, nähern wir uns mit empfänglicheren Sinnen der Hyde-Park-Ecke, dem Hyde-Park Corner. Ich habe berühmte Touristen gesprochen, die alle städtischen Großartigkeiten vom Newsky Prospect in Petersburg bis zur Puerta del Sol in Madrid kennen und natürlich auch die an sich classische Schönheit des Brandenburger Thores in Berlin, aber sie sagen, es gäbe nichts Malerischeres, Kaleidoskopischeres und Moussirenderes von Scenerie und Leben, als Hyde-Park-Corner. Häßlich und lächerlich reitet allerdings Wellington hoch oben quer über den noblen, großartigen Thorbogen mit den Meisterstücken nie gebrauchter gußeiserner Riesenportale, reitet er, in sein eisernes Bettlaken gewickelt, ewig zum Scandale des englischen Geschmacks; allein wir denken nicht daran, uns den Nacken zu verrenken, um dieses Monstrum in Augenschein zu nehmen. Die großartig heitern Eingangscolonnaden locken uns hinüber über die wimmelnd, reitend und fahrend belebte Straße, hinein in die unabsehbare Sonnigkeit auf grünem Riesenteppich mit den malerisch verstreuten und gruppirten Bäumen, der glänzenden Mannigfaltigkeit von Lustequipagen, den Pferden, den Damen und Herren zu Pferde, dem bunten Geschiebe und Getriebe von Menschen, die sich hier wirklich amüsiren, erholen wollen und nicht mit gespannten Gesichtern und fliegenden Rockschößen vom Geschäft getrieben und geschoben werden, wie weit im Osten, in der City. Vor uns die unbegrenzte Herrlichkeit englischer Parknatur mit dem reichsten Lebens- und Lustgewoge, die stolzesten Paläste an der einen Seite, die Achillesstatue und vieles Andere, hinter uns die immer frischen Reize des Green-Parks und doch mitten in London mit seinen glänzendsten, reichsten Theilen; denn jenseits dieses Parkes und weit und breit darum herum liegen, prangend und sich weiter und weiter streckend, die Westendprachtvorstädte – ohne daß wir im ganzen Hyde-Parke nur eine Ahnung von denselben bekommen.
Die meisten Herrschaften um Hyde-Park herum haben, glaub’
[709][710] ich, doppelte und dreifache Equipagen und ein Reitpferd für jedes Familienmitglied – männliches und weibliches – und noch Reitpferde für die „grooms“, die stupiden Reitknechte hinter den berittenen Amazonen. Und da die Dienerschaften in einem solchen herrschaftlichen Hause bis auf zwanzig steigen, auch „Tattersalls“ die Centralpferderennen-Wettbörse Englands, sich in der Nähe versteckt; da endlich auch eine erstaunliche Menge junger, unverheiratheter Damen (oft von niedrigster Herkunft) unweit davon fürstlich mit Pferden, Equipagen und Dienerschaften in eigenen Palästen residiren und blühen, ohne daß sie nähen oder spinnen oder irgend etwas Nützliches thun (und die jungen und alten Lords ernähren sie doch, so lange sie als Lilien blühen), und auch aus fernen Theilen Londons sich die Roués und höheren Tagediebe aller Nationen, Tausende von Neugierigen und fremden Besuchern hier zwischen zwei bis fünf Uhr englischen Vormittags zum täglichen Reit- und Fahrcorso einfinden – unter solchen Umständen, Umgebungen und Zusammenflüssen darf man sich nicht wundern, daß wir dieses Hyde-Park Saison-Rendez-vous etwa um drei Uhr etwas märchenhaft und zu dicht und weit ausgedehnt für unsere Seh- und Fassungskraft finden. Es gilt deshalb, sich vor allen Dingen zu beschränken und gleichsam selbst einzurahmen, um ein abgeschlossenes Bild zu gewinnen. Unsere Abbildung, deren Zeichner sich ebenfalls doppelt beschränken mußte und zwar auf einen Augenblick und einen bestimmten Raum, kann uns dabei nur behülflich sein. Wozu brauchen wir auch die ganze schattige, luftige Länge von Rotten-Row, die sich gleich links im Hyde Park entlang streckt, um uns ein Bild von diesem täglichen Reitcorso zu verschaffen?
Stellen wir uns dicht an das Eisengeländer und lassen sie alle hin und her, auf und ab – fast immer wie dichte, kostbare, lebendige Pferde-, Reiter- und Reiterinnen-Ströme – an uns vorbeigaloppiren und kokettiren, carrieren und traben. Doch der Rahmen, wovon wir am Geländer einen Theil bilden, ist auch nicht zu verachten. Kenner behaupten sogar, er sei malerischer, als das Bild selbst mit seinen gar zu vielen schwarzflatternden Reithabits. Wir stecken mitten in einer Gruppe der ärgsten Dandies, getreuen, wenn nicht übertriebenen Copieen der absurden Modemagazin-Abbildungen. Früher meint’ ich immer die abgebildeten und colorirten männlichen Modemagazin-Scheusale seien Caricaturen und Verhöhnungen des stutzernden Geckenthums. Aber hier erkannt’ ich meinen Irrthum. Solche abgebildete Beinkleider werden also wirklich getragen! Und diese fabelhaften Westenmuster pressen hier eine ganze Menge lebendiger Taillen. Auf diesen erhabenen Hacken stehen Wesen, die man nicht nur zu den vernunftbegabten, sondern wohl gar zu den obersten Zehntausenden rechnet. Und diese riesigen „Whiskers“ oder Backenbärte, deren jeder fashionable Stockengländer zwei trägt, auf jeder Backe einen so groß, wie einen Handfeger! Solche Bürden von Uhrketten, noch belastet mit durchlöcherten Münzen und massiven Kleinodien (auch verbrecherischen Miniatur-Stereoskopen)! Und in welchen bretsteifen Vatermördern sie ringsum mit den Köpfen stecken! Dazu brillante Cravatten und Nadeln und Ringe – es müssen doch sehr reiche hocharistokratische Gentlemen sein!
Wirklich? „Mind your pockets!“ (Nehmen Sie Ihre Taschen in Acht!) flüstert mir ein wohlwollendes Mitglied der geheimen Polizei in’s Ohr. Natürlich, es sind Taschendiebe. Ein echter englischer Gentleman trägt nie Gold und Mode zur Schau, und selbst seine Lorgnette darf nicht in Gold, sondern muß in Horn gefaßt sein. Die andern Herren und Straßenjungen, die zum Theil mit fabelhafter Gymnastik auf den Eisengeländern balanciren – welche Physiognomien, Mienenspiele, Trachten, Ausrufe! Vor lauter Wunder und Stoff kann ich selbst in keine ruhige Construction kommen. Liebe Leser und Leserinnen, es werden lauter Interjektionen und abgebrochene Sätze. Eben wollt’ ich classisch, elegant zu schildern anfangen, und ich kann wieder nur ausrufen: Diese Ladies! O, diese Ladies – wirkliche Ladies! Wie majestätisch sie ihre Crinolinenriesenkörbe dahinschieben! Welch blumige Gesichter und brillante, große, ruhige Augen! Herzoginnen, Marquisen, Lordstöchter, nicht wahr? Im Rahmen hier und in solchen Hühnerkörben? Erlauben Sie mir, Sie wieder auf einen kleinen Irrthum aufmerksam zu machen. Ich habe mir diese Corsos zehn Jahre lang gelegentlich immer von Neuem angesehen und weiß ziemlich genau, daß diese Damen nicht zu den Herzoginnen und dergleichen, sondern wo anders hin gehören, daß ihre Blume vom Gin, Wachholderbranntwein, auf die Gesichter getreibhaust ward und daß nach Muster der Königin und ihres Hofes die Crinolinen schon seit Jahr und Tag von den Hüften wirklicher Ladies verbannt wurden.
Doch fehlt es natürlich auch nicht an Vertreterinnen weiblicher Tugend, Schönheit und Vornehmheit. Selbst die Häßlichkeit ist stark vertreten zu Fuß und zu Pferde; warum es leugnen? Schönheiten und alle kokette Vogelscheuchen in superlativen Toiletten, einige „armselig“ an der Seite getrauter und ungetrauter Herren aller Art, andere stolz und fürchterlich allein heran- und vorbeirauschend, feindlich blickend wie Kriegsschiffe, gefolgt von riesigen, gepuderten, wadenausgestopften „Fußmännern“ (Lakaien), deren Blicke vom stolzen Bewußtsein des Glanzes und der Größe ihres Vortrabs strahlen; aber auch lustige, lachende, übermüthige Kindermädchen, Bonnen, Ammen mit beispiellosen Schönheiten rosiger, lockiger Kinder, die weit weg, der Serpentine und dem täglichen Fahrcorso zu, auf dem sonnigen Rasenteppiche umherjubeln und springen wie Gummibälle um allerhand Erwachsene herum, die in allen möglichen Positionen auf dem duftigen Grase liegen. Und dann die geputzten Tagediebe, die „swells“, manchmal ihrer drei oder vier Arm in Arm hinter dem Menschenrahmen weg hinlavirend; strenge, hochkirchlich orthodox blickende Duennen und Erzieherinnen, denen gottlose alte Sünder, jugendlich aufgekratzt, frech in die frommen Gesichter stieren; dazwischen auch einzelne Lumpen- und Jammergestalten, aus fernen, furchtbaren Winkeln des Proletariats und der Verbrechen hervorgekrochen, um durch Grauen und Entsetzen Mitleid und kleine Münze zu erringen und den tiefsten Schlagschatten zu dem massenhaften Glanze und Reichthume zu Fuß und zu Pferde zu bilden!
Ja, wie der goldene, blitzende Regen von Sonnenstrahlen zugleich auf diese Jammerbilder und die reizenden reitenden Amazonen durch die lustig rauschenden Baumkronen herabschießt! Diese Amazonen, Danaës, Aspasien, Phrynen, Lais etc. (wie man diese höchste Aristokratie der zahlreichen weiblichen Wesen ihrer Classe zu tituliren für anständig findet) mitten unter den tugendhaften Töchtern und Frauen des Oberhauses und der „obersten Zehntausend“ in oft überstrahlender Schönheit auf den schönsten Pferden haben selbst die Zeitung des Hofes und der höchsten Kreise zu moralischen Leitartikelstrafpredigten entrüstet; aber es half nichts. Was sie rügte, gilt noch als Recht und Regel, so daß es wahr geblieben ist, was sie als die Krone alles sittlichen Verderbens geißelte. Das ist die Sitte junger Amazonen aus den tugendhaftesten Aristokratenfamilien, sich die Freiheiten der Aspasien und Danaës, denen das Gold reicher Roués in den Schooß regnet, zum Muster zu nehmen, um ebenfalls liebens- und anbetungswürdig zu werden. Es ist daher auch kein Wunder, daß sie, zu Hause Musik und Deutsch lernend (sie lernen meist Alle Deutsch und sprechen’s oft reizend), nicht selten mit dem deutschen Musik- oder Sprachlehrer die Sprache der Liebe reden lernen und durchgehen. Auch Italiener und Franzosen werden leicht gewonnen, diese Rolle zu spielen, da die englischen Liebhaber im Vergleich zu diesen foreigners (Ausländern) oft „auf beiden Händen links sind“.
Aber wir freuen uns hier blos der unvergleichlichen berittenen Scenerie und moralisiren nicht. Die Sommersonne scheint in vollster Blüthe der Saison mit unparteiischer Glorie auf Gerechte und Ungerechte, und das Ganze ist so bezaubernd schön. Wozu also ausmerzen? Die Phantasie kann sich’s aus „Tausend und Eine Nacht“ nicht märchenhafter ausmalen. Wie die grünen Bäume im würzigen Winde oben drüber rauschen und sich lustig verbeugen und die zahmen Vögel dazu herabzwitschern! Der Himmel wölbt sich hoch oben und die Sonne blickt mit unermüdlicher Freude und Neugier durch die vom Winde zerrissenen Baumschatten auf diese Massen auf- und abcourbettirender heiliger Cäcilien und unheiliger Phrynen. Diese Lady Cavaliere und Pferde-Gardistinnen kommen nur einmal in der Welt so massenhaft und regelmäßig zu solchen Lebensbildern zusammen, und neben diesem Rotten-Row giebt es kein zweites in der Welt. Bois de Boulogne, Course in Calcutta, Cascinen in Florenz, Prado in Madrid, Prater in Wien, Atmeidan in Constantinopel – ihr alle vereinigt bringt mit der höchsten Anstrengung nicht so viel graciöse Pferde und Gracien darauf zusammen, wie sich hier im Mai und Juni täglich von drei bis fünf Uhr ganz von selbst einfinden. Auch machen alle eure Plätze zusammen noch lange keinen Hyde-Park. Rotten-Row ist ein wirklicher Peri-Garten schöner Mädchen und Frauen [711] zu Pferde, trotz der oft sehr stark vertretenen Häßlichkeit und Ueberbeleibtheit unter ihnen.
Sieh nur, sieh, wie die sich auf den glänzenden Pferderücken wiegenden Sylphiden immer hin und her vorbeifliegen in ihren bezaubernden Reithabiten mit den glatt anschließenden Taillen und dem reichen Gewoge nach unten! Und unter diesen berauschenden Hüten ihre wallenden kastanienbraunen und goldblonden Locken! Einige fühlen sich glücklich und scheu unter den orthodoxen cylindrischen Biberhüten und weithin flatternden Schleiern, andere verrathen ihren Uebermuth unter schalkischen, kleinen Baretts, oder sie fordern die Welt noch kecker heraus mit ihren halb aufgekrempelten Cavalierhüten und grünen Federn. Auch fehlt es nicht an beinahe Pariser Mode-Angströhren auf dem reichen Haar mit dem modigen Zopfsacke hinten. Kurz, in Hüten und Haaren sucht man sich mit aller Lust und Laune für die Einförmigkeit des Reitkleides zu entschädigen. Und indem nun die glänzende Cavalcade immer so still und staublos auf dem feuchten Sande unter den Bäumen vorbeiströmt und die Herren bald hier, bald da anzukommen und erotische Worte oder pikanten Klatsch zuzuflüstern suchen, hat der muthwillige Wind manchmal sein Spiel und bläst die decente Länge des Reithabits über den Fuß herauf, als wollt’ er selbst mit dem niedlichen, koketten, kleinen Stiefel und Fuße kokettiren und mit den militärischen Häckchen und den dicht anschließenden Reithöschen. Die Herren am Geländer bewundern dann wohl ganz laut den himmlischen Fuß und thun dabei, als ob sie blos vom Pferdebeine so entzückt wären. Auch fehlt es nicht an wirklichen andächtigen Kennern, die für nichts Auge und Sinn haben, als für diese unvergleichliche, massenhafte Aristokratie von Pferden. Vielleicht ist auch Rotten-Row für Hippologen ein höherer Genuß, als für Aristokraten- und Aspasien-Anbeter. Die Aristokratie der Menschen gedeiht in England immer noch besser, als irgendwo, obgleich ihre Köpfe und ihre diplomatischen Künste immer jämmerlicher werden; aber der alte Ruhm von den besten, theuersten, schnellsten und graciösesten Rossen hält sich in voller Glorie. Die Menschen-Aristokratie geht als politische Macht in den gauklerischen beiden Cliquen der Palmerstonianer und Derby-Disraeliten sichtlich zu Grunde, um den gesunden Männern richtiger Volkswirtschaft und des Friedens und der Freiheit mit allen Völkern Platz zu machen.
Dann wird die Zeit kommen, daß sich Deutsche und Engländer, jetzt durch politischen Schimpf gegen einander entfremdet und erbost, in ihren vielen Gegensätzen, die sich einander ergänzen, wieder erkennen und freudig von einander importiren und Vorzüge einbürgern. Im wahren Kerne des englischen Lebens ist viel mehr echt germanisches Leben zur Ausbildung, Blüthe und Frucht gekommen, als unter beschränkteren Verhältnissen in Deutschland. Wir müssen dieses unser Eigenthum von dort aus importiren lernen, wie sich die gebildeten Engländer durch Einbürgerung deutscher Vorzüge längst von der Stockengländerei zu befreien angefangen haben.
Herzzerreißend ist sicherlich für eine Mutter der Anblick ihren ächzenden und wimmernden oder laut aufschreienden, bewußtlos und in Krämpfen daliegenden Kindes. Und doch entspricht sehr oft die Ursache dieses Krampfzustandes, – bei dem das Kind mit starren oder schielenden Augen, verstörter Miene, rückwärts gezogenem Kopfe und bei Verzerrung der Glieder ganz ungewöhnliche Bewegungen oder Zuckungen macht, – diesen schrecklichen Krankheitserscheinungen durchaus nicht. Ja es liegt diesen Krämpfen gar nicht selten eine sehr geringfügige Störung in diesem oder jenem Organe des Kindeskörpers zu Grunde. Deshalb brauchen auch die Mütter, wenn ihre kleinen Kinder von Krämpfen heimgesucht werden, durchaus nicht gleich die Hoffnung auf Wiederherstellung derselben zu verlieren. Sie können sich ferner noch zu ihrem Troste und zur Beruhigung dem Gedanken hingeben, daß ein Kind in den ersten Lebensjahren, wegen des unentwickelten Zustandes seines Gehirns, noch kein Selbstbewußtsein besitzt und deshalb Schmerzen, die bei ähnlichen Krämpfen von Erwachsenen empfunden werden, gar nicht hat und nicht fühlen kann; sowie daß, wenn doch Schmerzempfindung wirklich schon vorhanden sein könnte, die Ursache des Krampfzustandes in der Regel eine solche ist, welche auch das Empfindungsorgan betäubt und darum ein Schmerzgefühl nicht aufkommen läßt. Wenn die Mütter meinen, daß bei einem kranken kleinen Kinde das Schreien und Strampeln mit Armen und Beinen durch Schmerz veranlaßt würde, so irren sie; das geschieht ganz automatisch und ohne Zuthun des Gefühls und Willens des Kindes, ebenso wie ein Chloroformirter, ein durch Fall oder Schlag Betäubter oder ein Schlafender nicht selten die zweckmäßigsten Bewegungen, ohne nur das Geringste davon zu wissen, ausführt (z. B. eine Fliege von seinem Gesichte jagt, sich an einer kranken Hautstelle kratzt). Man nennt, wie wir später sehen werden, solche unwillkürliche Bewegungen „Reflexbewegungen“.
Um einzusehen, wie leicht kranke und krampfhafte Bewegungen bei kleinen Kindern zu Stande kommen können, muß der Leser zuvörderst einige Einsicht in die elektrische Nervenmaschinerie des menschlichen Körpers bekommen. Er denke sich die Sache etwa so: von allen Punkten unseres Körpers gehen feine elektrische Drähte (Fäden, Nerven) zu einem Apparate, den man den Mittelpunkt des Nervensystems nennt, der aus dem Gehirne (in der Schädelhöhle) und Rückenmarke (im Wirbelsäulencanale) besteht und den Ausladeplatz für elektrische Fünkchen bildet, welche hier aus den sogen. centralen Enden dieser zuleitenden (centripetalen) Drähte herausschlagen. In demselben Apparate nun, in welchem die zuleitenden Nerven endigen, nehmen aber auch elektrische Drähte ihren Anfang, welche sich aus diesem Apparate heraus zu den Bewegungsorganen (Muskeln) aller Körpertheile hinziehen, wegleitende (centrifugale) Nervenfäden genannt werden und für bestimmte Bewegungen bestimmter Bewegungsapparate in passende Gruppen geordnet dicht nebeneinander liegen.
Wird ein zuleitender Faden irgendwie und irgendwo in seinem Verlaufe veranlaßt elektrische Fünkchen im Centralapparate (Gehirn, Rückenmark) auszuladen (man pflegt zu sagen „gereizt“, so können diese Fünkchen unter gewissen Umständen im Centralapparate selbst (besonders im Gehirne) verbraucht werden, häufig schlagen sie aber auf die dem funkenliefernden centripetalen Faden zunächst liegenden centrifugalen Fäden über, reizen dieselben und veranlassen so in demjenigen Bewegungsapparate, zu welchem sich jene Fäden hinziehen, diejenige Bewegung, für welche sie gerade von Natur bestimmt sind. Z. B. würden die von der Hand zum Centrum leitenden Nerven gereizt, so fände die Übertragung dieser Reizung zunächst auf die den Arm bewegenden Muskeln statt und daher kommt es, daß man die Hand, die zufällig an den heißen Ofen trifft, sofort wegzieht, selbst in dem Falle, daß man ganz bewußtlos ist. Nur dann würde dies nicht geschehen und die Hand könnte dabei total bis zur Kohle verbrennen, wenn die zuleitenden Nerven ihre elektrischen und im Centrum auszuladenden Fünkchen zu liefern nicht mehr im Stande (d. h. die Nerven gelähmt) wären.
Mit einigen der zuleitenden elektrischen Fäden (oder den centripetal leitenden Nerven) hat es nun aber noch eine ganz besondere Bewandtniß. Diejenigen derselben nämlich, welche sich in dem Theile des Gehirns endigen, welcher vorzugsweise dem Gefühle vorsteht, veranlassen, wenn sie gereizt werden, Empfindungen, jedoch immer nur dann, wenn sich das Gefühlsgehirn schon gehörig entwickelt hat (was beim kleinen Kinde eben noch nicht der Fall ist), und wenn es nicht außer Thätigkeit gesetzt, betäubt (gefühllos) wurde, was beim Chloroformiren und dergl. vorkommt. Man nennt diese Art der zuleitenden Fäden auch Empfindungsnerven. Sie veranlassen, wenn sie ungewöhnlich stark gereizt werden, oder wenn das Gefühlsgehirn krankhaft reizbar ist, widernatürliche und bisweilen äußerst schmerzhafte Empfindungen. Sie können gleichzeitig aber auch dadurch, daß ihre elektrischen Fünkchen, die sich entweder in Folge der stärkeren Reizung in größerer Menge und mit mehr Heftigkeit entladen, oder auch wegen des reizbaren (leitungsfähigeren) Gehirns über eine größere Strecke ausbreiten, auf die Wurzeln von Bewegungsnerven überschlagen und so neben abnormen Empfindungen auch noch abnorme Bewegungen der verschiedensten Art veranlassen. Das Ueberspringen elektrischer Fünkchen (der Reizung) [712] von Empfindungs- auf Bewegungsnerven nennt man in der Wissenschaft „Reflex, Ueberstrahlung“, und die so ohne und gegen den Willen erzeugten Bewegungen „Reflexbewegungen“. Die Kinderkrämpfe sind in sehr vielen Fällen solche Reflexbewegungen; bisweilen werden sie natürlich auch durch Krankheiten im Nervencentrum veranlaßt.
Daß nun aber bei kleineren Kindern häufig Reflex-Krämpfe auftreten, hat seinen Grund darin, daß in dem noch sehr weichen Gehirne bei nur einigermaßen heftigerer Reizung der zuleitenden Nerven das Ueberspringen jener elektrischen Fünkchen auf eine große Anzahl auch entfernt von einander liegender Bewegungsnerven leichter vor sich geht, als bei Erwachsenen. So sah Verfasser beim eigenen Kinde mehrtägige sehr heftige allgemeine Krämpfe in Folge einer starken Reizung des Gehörnerven (durch einen Dampfwagenpfiff) eintreten. Deshalb kommen bei Würmern im Darme, bei leichten Reizungen der Haut, beim Zahnen etc. oft schreckenerregende Krämpfe bei Kindern zum Vorschein, die aber sehr bald und ohne Anwendung irgend eines Arzneimittels wieder verschwinden. Allerdings gesellen sich solche Krämpfe nicht selten auch zu nicht ungefährlichen Krankheiten, besonders im Athmungs- und Verdauungsapparat, aber auch diese Reflexkrämpfe haben keine so gefährliche Bedeutung wie die Krämpfe, deren Ursache im Schädel sitzt. Glücklicher Weise sind diese letzteren (centralen) Krämpfe seltener als Reflexkrämpfe.
Wenn Verfasser nun durch diese Darlegung eines Theils die Angst der Mütter bei vorkommenden Krämpfen ihrer Kinder in Etwas zu beschwichtigen gesucht hat, so möchte er andern Theils aber auch noch vor dem vielen Mediciniren bei Kinderkrämpfen warnen. Man bedenke doch nur, daß der Arzt bei diesen Leiden in den allerwenigsten Fällen die Ursache der Krämpfe mit Sicherheit ausfindig machen kann und daß es gewissenlos ist, auf gut Glück hin wirksam einzugreifen. Verf. würde es niemals über das Herz bringen können, kleinen Krampfpatienten Blutegel an den Kopf zu setzen und das scheußliche Calomel einzugeben, ja er ist sogar der festen Ansicht, daß schon manches mit Krämpfen behaftete Kind nicht diesen, sondern den Mitteln unterlegen ist. Leider nur zu oft öffnete Verf. Kinder, welche unter Krämpfen gestorben waren, bei denen das Gehirn widernatürlich blutarm gefunden wurde, obschon im Leben mit Energie gegen Blutüberfüllung und Entzündung des Gehirns gekämpft worden war. Man möchte wahrlich, selbst als Feind der ganz unwissenschaftlichen homöopathischen Heilkünstelei, doch bei Kinderkrämpfen, wenn es denn durchaus nicht ohne Arzt und Arznei geht, einen Homöopathen mit seinen Nichtsen in Streuküchelchen und Tröpfchen empfehlen.
Ein vernünftiges diätetisches Verfahren bei diesen Krämpfen richtet sein Augenmerk darauf, daß die natürlichen Functionen im kindlichen Körper gehörig in Ordnung gehalten werden. Man lasse den kleinen Patienten in guter, reiner, mäßig warmer Luft athmen und in weichem, trocknem, warmem Lager ohne beengende Kleidung ruhen, sorge durch Klystiere für Stuhlentleerung, fördere die Hautthätigkeit durch warme Waschungen oder Bäder und erhalte die Ernährung mittels leichtverdaulicher nahrhafter Kost (besonders durch Milch und Ei) aufrecht. Ist’s freilich möglich, die Art und den Ort der Reizung, welche durch Ueberstrahlung die Krämpfe hervorrief, aufzufinden, dann muß dieselbe natürlich zu heben versucht werden, aber nur auf unschädliche Weise. Das überlasse man dann einem rationellen Arzte.
2. Ein Beispiel von Hunderten.
Eines Tages flanirte ich im Westende von Wiesbaden, auf der Emser Straße, einer mit hübschen Gärten und einzeln stehenden Landhäusern flankirten Chaussee. Ziemlich weit draußen beredete mich mein Begleiter, in einen bescheidenen Wirthsgarten einzutreten, wo die Leute aus der Stadt ihren Aepfelwein und ihre saure Milch nehmen und zugleich auch die Fuhrleute und Bauern von draußen einzukehren pflegen. Wir fanden in dem Garten eine Gruppe, die mich interessirte. Zwei Bauern hörten mit Aufmerksamkeit, ja beinahe mit Andacht, einem Dritten zu, der halb leise und ganz heiser zu ihnen sprach. Dieser Dritte war halb bäuerlich und halb städtisch gekleidet. Er hatte, was bei den hiesigen Bauern eine große Seltenheit ist, eine mächtige Glatze. Sein Gesicht war durchfurcht von einem Netze tiefer Runzeln und Einschnitte, welche sich um die Augen herum zu einer solchen Hautwulst zusammenästelten, daß man nur zeitweise die kleinen grauen Augäpfel zu sehen bekam. Neben sich hatte er einen ledernen Büchsenranzen liegen, aus welchem vergilbte und schmutzige Papiere hervorsahen. Der Mann interessirte mich. Ich erkundigte mich bei dem Wirthe nach ihm und erfuhr, daß er ein durch das Spiel heruntergekommener, ehedem reicher Bauer sei, der jetzt zu den „problematischen Existenzen“ gehöre. Seine Geschichte ist kurz, aber lehrreich. Hier ist sie:
Der Mann hatte ein schönes Bauerngut in dem zwischen den Bädern Schwalbach und Schlangenbad mitteninne liegenden Dorfe Wombach. Man schätzte sein Vermögen auf etwa fünfzigtausend Gulden rheinisch. Er war verheirathet mit einer jungen und hübschen Bäuerin, die ihm zwei kräftige Jungen geboren hatte. Die Ehe war glücklich, die Frau wirthschaftlich und ordnungsliebend, der Mann fleißig. Sie kamen hübsch vorwärts oder – um einen bei den hiesigen Bauern grassirenden Provinzialismus zu gebrauchen, über den ich, so oft ich ihn hörte, habe lachen müssen – sie „empörten sich gehörig“, d. h. sie kamen empor. Der Bauer hatte schon in seiner Jugend die Spinnstuben und sonstigen bäuerlichen Vergnügungen nicht aufgesucht, die bei Branntwein und einer hier zu Lande üblichen Art Tabak, die Miggeseriwer heißt und übel duftet, gefeiert zu werden pflegen. Er schien sich für etwas Besseres zu halten und war deshalb bei seinen Standesgenossen mißliebig. Man beschuldigte ihn des Stolzes. So kam es, daß er, da nun einmal ein jeder Mensch das Bedürfniß nach menschlicher Gesellschaft hat, öfters nach dem benachbarten Bade Schwalbach ging und dort den Umgang der Kleinstädter suchte. Damals wimmelte es hier zu Lande noch von Spielhöllen. Sogar das kleine Schwalbach und das noch kleinere Schlangenbad hatten jedes seine „Bank“. Jetzt sind die kleinen „Banken“ verschwunden. Sie trugen den Unternehmern nicht genug ein. Das Laster des Spiels hat sich concentrirt auf einige große Etablissements, wovon eins gefährlicher ist, als früher ein Dutzend kleine.
Damals, als unser Wombacher Bauer, – er hieß Peter – nach Schwalbach ging, war ein Baron Fechenbach Bankhalter, wie auch gegenwärtig ein Baron Wellens Chef der Wiesbadner Spielhöllen-Actiengesellschaft ist. Wenn es heißt „der Baron“, so versteht man darunter den Chef des Spiels. So ein adeliger Titel giebt dem Spiel Lüstre, auch wenn er unecht ist. Bei dem „seligen Fechenbach“ war er aber echt. Sein Vater lebte als pensionirter Officier in einem Städtchen am Main. Er hatte sechs Söhne und ließ sie alle sechs gar nichts lernen. Ein Freund fragte ihn: „Aber lieber Baron, was soll aus Ihren sechs Söhnen werden; Vermögen haben Sie nicht, und Sie lassen den Jungen auch nichts lernen?“ – „Bah“, antwortete der alte Baron, „wenn sie groß sind, gebe ich Jedem ein Spiel Karten in die Hand und schicke ihn in die Welt, da mag er sein Glück machen und sich mit der Karte den Weg suchen.“ Mit der Karte meinte er natürlich nicht die Landkarte, sondern das Kartenspiel. Einer dieser sechs Söhne, die der alte Baron mit einem so sicheren Wegweiser in die Welt geschickt hatte, war der Spielbaron Fechenbach in Schwalbach. Er verstand sein Geschäft. Schwalbach war und ist noch kein Luxus-, sondern ein Heilbad. Sogenannte „große Spieler“ kamen nicht hin. Man mußte daher der klugen Spinne nachahmen, die, wenn keine großen Fliegen in das Netz flogen, keinen Anstand nahm, in Erwartung besserer Glücksumstände, auch die kleinen zu verspeisen. So war denn in den damaligen Spielhöllen, und auch in Bad Schwalbach, der geringste Satz eine österreichische Silbermünze, [713] welche man „Sechsbätzener“ nannte. Sie betrug vierundzwanzig Kreuzer rheinisch und ist in Folge der letzten Münzconvention aus dem Verkehr verschwunden.
Unser Peter aus Wombach hatte einst seine Haferernte gut verkauft und regalirte den Schullehrer mit einer Flasche Wein. Beide kamen auf die Idee, einmal in „gute Gesellschaft“ d. h. in den Spielsaal zu gehen, und da der Bauernkittel dort nicht zugelassen wurde, so lieh der Schulmeister unserem Peter einen dunkelblauen Leibrock und Vatermörder. Hiermit ausstaffirt, setzte Peter einen Sechsbätzener auf Roth. Dieselbe Farbe kam viermal hintereinander heraus. Peter hatte den Satz aus Unverstand stehen lassen und wurde erst nach dem vierten Spiel durch den Lehrer veranlaßt, ihn zurückzuziehen. Er hatte fünf Gulden sechsunddreißig Kreuzer gewonnen, neben seinem Einsatz. Das war viel für einen Bauern, der nicht an größere Summen baaren Geldes gewöhnt ist. Er kaufte seiner Frau ein schönes buntes Kopftuch; mit dem Reste des Geldes bezahlte er die Steuern. Er blieb ein solider Mann. Aber die Sache ging ihm im Kopfe herum. Während er den Erntearbeiten oblag, dachte er oft daran, wie sauer er sich hier plagen müsse im Schweiße seines Angesichts, um ein paar Kreuzer zu verdienen. Und wie leicht war es doch gewesen, die paar Gulden zu erwerben! Er hatte seinen Sechsbätzener hingesetzt; das Rad der Roulette war ein paar Mal herumgegangen; der Mensch, der es drehete, hatte ein paar unverständliche Worte vor sich hingeschnurrt, und siehe da, der Sechsbätzener hatte sich verdreißigfacht. Der Weizen hatte schnell und schön geblüht. Und dabei war Peter in vornehmer Gesellschaft gewesen, in einem schön decorirten und hell erleuchteten Saal, wo es nach allerlei fremdartigen Gerüchen duftete, aber nicht nach Tabak und Schnaps. Er hatte den Leibrock und die Vatermörder eines Gelehrten angehabt und man hatte ihn respectvoll behandelt, und die Leute, die ihn so respektvoll behandelten, waren doch anscheinend vornehm, weit vornehmer, als der Schulze und der Amtmann, die ihn, statt mit „Sie“, mit „Er“ oder „Du“ anredeten und in der Regel übergrob waren.
Gegenüber solchen Verlockungen rief sich Peter alle gute Lehren seiner seligen Mutter in das Gedächtniß zurück, ihr „Wie gewonnen, so zerronnen“, ihr „Bauer-Brod – sauer Brod, aber ehrlich Brod“. Er erinnerte sich, wie oft sie ihn gewarnt hatte vor dem Kartenspiel, vor dem alten einbeinigen Sergeanten und seinem Freund, dem „Säuschnitter“, welche zu betrügen pflegten und einmal seinen seligen Vater beinahe in eine Criminalgeschichte verwickelt hätten, woran er so unschuldig war, wie ein neugeboren Kind. Er gedachte des „Vetter Anton“, der, von Haus aus ein vermögender Bauer, an das Kartenspiel und durch das Spiel an die Verzweiflung und durch die Verzweiflung an den Trunk gerathen war und einen frühen Tod fand, seiner Familie nichts hinterlassend, als den Bettelstab. Er sah noch jetzt das Bild des Vetter Anton vor Augen, wie der, wenn er die Nacht durch mit dem „Einbein“ und dem „Säuschnitter“ bei Branntwein und Karten gesessen, mit blaugrauem Gesicht und übernächtigen gerötheten Augen, im Dorf herumlotterte und zur Arbeit nicht zu brauchen war. Er gedachte zurück, wie sich Einer nach dem Andern von dem Vetter Anton zurückzog und wie zuletzt, als der nichts mehr hatte, was er verspielen konnte, sogar der Sergeant und der Schweineschneider sich mit geflissentlich an den Tag gelegter Verachtung von ihm abwandten. Damit wußte er den Lockungen so lange zu widerstehen, bis der Herbst kam, das Roulettespiel in Schwalbach aufhörte und der Spielbaron ging. Am 10. September wurde die Bank geschlossen und die Versuchung war vorbei. Der Lehrer war zwischenzeitig auf eine bessere Schulstelle versetzt worden. Sonst wußte Niemand von der Sache. Die Brücke nach dem Gebiete des Lasters war vollständig abgebrochen. Peter lächelte zuweilen still vor sich hin. Seine Frau fragte ihn, warum. Aber er sagte nichts. In Wirklichkeit freute er sich, daß er den Fallstricken entronnen war, und als er in den Psalmen las: „Herr, ich danke Dir, daß Du mich erlöset hast aus den Netzen und Stricken der Jäger“, da meinte er im Stillen, das paßte auch auf seinen Fall.
Nach der schweren arbeitsamen Zeit des Herbstes kam der Winter, wo unsere Bauern nichts zu thun haben. Sie schlafen lange, bei Tag liegen sie auf der Ofenbank und rauchen ihre Pfeife. Der Müßiggang macht böse Gedanken. Auf der Ofenbank ist schon mancher verderbliche Proceß ausgesonnen worden. Da werden die alten Erbtheilzettel, die alten Flur- und Grenzbücher, die vergilbten Schuldscheine und Briefe hervorgesucht, ein wirkliches oder vermeintliches Unrecht, das schon fast verjährt und jedenfalls schwer zu erweisen ist, wird da entdeckt und mit jener Hartnäckigkeit verfolgt, welche sich in dem Bauernsprüchwort ausdrückt: „Nach einem Loth Recht darfst Du das beste Pferd aus Deinem Stalle zu Schanden reiten“. Peter war zu wohlhabend und zu gutmüthig, um proceßsüchtig zu sein. Aber wenn er auf der Ofenbank lag, nahete sich ihm ein Versucher, der schlimmer war, als der Proceßteufel.
Der Spielteufel hielt ihm die Roulettetafel vor, in der Mitte die Drehscheibe, in welcher das elfenbeinerne Kügelchen springt, rechts und links daneben die grünen Teppiche, die bemalt sind mit rothen und schwarzen Strichen und allerlei Nummern, darunter auch Null und Doppelnull, wie sie auch geschrieben stehen in den achtunddreißig Fächern der Drehscheibe, auf welche die verhängnißvolle Kugel springt. Der Schulmeister hatte ihm ausgelegt, daß man auf Roth und auf Schwarz allemal das Doppelte gewinnen könne, ebenso auf „Grad“ und „Ungrad“ und auf „Drunter“ (manque) und „Drüber“ (passe), daß man aber auf einer Zahl gar das Fünfunddreißigfache gewinne. Davon, daß, wenn das Kügelchen auf Null oder Doppelnull falle, fast alle Einsätze eingestrichen werden, fast alle Spieler verlieren und nur die Bank gewinnt; daß überhaupt, wenn man die Sache mathematisch untersucht, die Spieler nur unter sich spielen und die Spielbank von jedem Satze etwa sechs Procent zieht, so daß, wenn ein Gulden zehnmal gesetzt worden ist, er der Bank gehört, und daß, wenn dieselben Spieler, ohne Zufuhr von außen zu erhalten, vierzehn Tage mit der Bank spielten, keiner einen Kreuzer übrig hätte, unmöglich übrig haben könnte, nach den unumstößlichsten, unbarmherzig-ehernen Gesetzen der Mathematik – von Alledem hatte der Schulmeister dem Bauern nichts gesagt. Er wußte es selbst nicht. Giebt es ja doch noch heutzutage eine Menge hochstudirter Leute, Staatsmänner, Geschäftsleute, Grafen und Fürsten, die es auch nicht wissen, obgleich es keine dunkle und schwierige Geheimlehre ist, sondern gedruckt steht in Büchern, die für ein paar Groschen zu haben sind (z. B. in dem Schriftchen über das Roulette-Spiel von Dr. Wiener, Lehrer der Mathematik in Darmstadt. Frankfurt a. M. Expedition des Arbeitgeber, 1863), und verstanden werden kann von Jedermann, der die vier Species nothdürftig erlernt hat.
Nachts im Bette mit geschlossenen Augen, bei Tage auf der Ofenbank mit offenen Augen, träumte Peter vom Roulettespiel. Er spielte nicht mehr mit Sechsbätznern, sondern mit großen und schweren Goldstücken, und wo er hinsetzte, da gewann er. Von dem Gewinn kaufte er sich ein großes Gut. Er legte darauf eine Branntweinbrennerei neuesten Systems an. Denn die alten kleinen Brennereien in Wombach mußten vor der neuen Steuergesetzgebung die Segel streichen. Er trug Sporen und einen Cylinder, von dem Leibrock und den Vatermördern gar nicht zu reden. Er wurde in den Vorstand des landwirthschaftlichen Vereins gewählt und von dem Minister, der ihn in landwirthschaftlichen Dingen zu Rathe zog, zu Tisch gebeten. Seine Nachbarn platzten vor Neid. Er aber dachte: „Besser beneidet, als bemitleidet!“ … Und wenn er sich bis zu dieser Stufe des Glücks im Traum emporgeschwindelt hatte, dann trat plötzlich wieder vor seine Augen das Bild des Vetter Anton mit seinem verzerrten, bleichen und verzweifelten Gesicht, rechts der „Einbein“, links der Säuschnitter, wie sie ihm die Taschen leerten, und dann kam seine gute selige Mutter mit ihren klaren, treuen, blauen Augen, die schon so lange gebrochen waren; sie hob warnend den Finger und wiederholte das „Bauer-Brod, sauer Brod“ und die anderen Sprüchwörter, worin sie so stark war.
„Ach was,“ sagte Peter, der sich zu helfen wußte, dagegen, „meine Mutter hatte gewiß Recht, aber das hier ist ja ganz etwas Anderes. In dem Schwalbacher Spielsaal, da geht es nicht zu wie im Solospiel bei dem einbeinigen Sergeanten. Das Schwalbacher Roulettespiel ist von hoher und höchster Obrigkeit gestattet und verpachtet, und die Pachtgelder fließen in die herzogliche Domainencasse; und wenn das was Unrechtes wäre, dann würde es der gnädigste Herr und die hohe Regierung nicht erlauben und noch weniger würden sie ein Sündengeld von einem Pacht davon beziehen. Auch ist ein extraer landesherrlicher Commissarius darüber gesetzt, der darauf Acht giebt, daß Alles mit rechten Dingen zugeht und daß Jeder von der richtigen Katz gefressen wird. Wenn der einbeinige Sergeant und der rothhaarige Säuschnitter meinen versoffenen Vetter Anton rupfen wollten, dann nahmen sie ihn mit [714] in das hinterste grüne Stübchen des Wirths Moos, wo ohnedies kein ehrlicher Mann hinging. Aber hier wird gespielt in einem hellerleuchteten Saal voll Glanz und Pracht, und rundherum stehen vornehme Herren und geputzte Damen, die viel zu vornehm und zu reich sind, um selbst zu betrügen, und viel zu gelehrt und klug, um sich betrügen zu lassen. Jedermann kann dem Mann, der die Scheibe dreht, auf die Finger gucken. Da geht Alles ehrlich und offen zu. Das ist nicht, wie in Moosens Haus. Und was thut’s denn, wenn ich auch einmal ein Goldstück verliere? Das soll dann das letzte Mal sein. Einmal ist Keinmal. Und wenn ich die gewonnenen fünf Gulden sechsunddreißig Kreuzer abziehe, wieviel Verlust bleibt dann? …“
Im Frühjahr, als die Schwalben wieder kamen, kam auch der Baron Fechenbach und schlug sein Roulettespiel wieder auf im Alleesaal in Schwalbach, ein paar hundert Schritte vom Weinbrunnen. Und die Leute, die an dem Brunnen Gesundheit trinken sollten, tranken lieber im Alleesaal Gift, das Gift der bösen Leidenschaften, des Hoffens auf Wunder, des Aberglaubens und der Verachtung der ehrlichen saueren bürgerlichen Arbeit.
Unser Peter von Wombach hatte ein gutes Bienenjahr gehabt und viel feinen Honig erzielt. Er hatte diesen im Mai in die Stadt getragen und einen schönen Preis erzielt, zehn Gulden mehr, als er gehofft. Da stieg ihm wie eine Feuergarbe der Gedanke im Kopfe auf: „Von diesen zehn Gulden weiß Deine Frau nichts, damit wird gespielt; damit wechsele ich mir ein Goldstück ein und setze es auf eine Nummer. Gewinne ich, dann habe ich statt eines meine sechsunddreißig Goldstücke. Verliere ich’s, nun dann hat die arm’ Seel’ Ruh, dann ist’s aus und vorbei, und kein Teufel soll mich mehr in dem Alleesaal sehen.“
Zu Hause gab er seiner Frau den Erlös um zehn Gulden geringer an. Er schlief die Nacht, obgleich er müd war, schlecht; er hatte seine Frau belogen und ging mit geheimen Gedanken um. Auch überlegte er, wie er zu einem Goldstück kommen sollte. Da fiel ihm das „Ziegen-Herzchen“ ein, oder wie es sich nach seiner neuen Aera nannte, der Commissionär und Advocat Herz Jesaias Fays in Schwalbach. Herzchen war ein israelitisches Waisenknäblein. In seiner Jugend hatte er sich damit ernährt, daß er in der Umgegend von Schwalbach die Felle der Lämmer und Ziegen zusammenkaufte und an den Hauthändler Bär Hirsch Baum in Wiesbaden verkaufte. Damit hatte er sich ein kleines Capital gemacht, und mit diesem Capital war er in die Welt gegangen. Später hatte er eine Zeit lang in Wiesbaden als Advocatenschreiber prakticirt, und zuletzt war er Amanuensis bei dem Chef der geheimen Polizei, dem damaligen Regierungsrath W*. Von da kehrte er nach Schwalbach zurück und etablirte sich als Commissionär und Advocat (d. h. als Winkeladvocat, oder wie es die Bauern etwas derb nennen, als „Ferkelstecher“), indem er prätendirte, daß die Leute, die ihn früher „Herzchen“ und „Du“ angeredet hatten, ihn nunmehr „Herr Doctor Fays“ und „Sie“ nennen sollten. Allein die Leute thaten das nicht, sondern wählten einen Mittelweg, indem sie ihn „Doctor Pfui“ titulirten. Von der Advocatur des selbstgeschaffenen Herrn Doctor war nun zwar nicht viel zu verspüren, wohl aber hatte er sonst seine Hände in Allem und namentlich in Allem, was das Spiel angeht. Das Spiel ist eine sociale Krankheit, und es heißt: „Wo das Aas ist, da sammeln sich die Geier“. Haltet Euch nur wenige Tage an dem Orte einer Spielhölle auf, und wenn Ihr nur die geringste naturwissenschaftliche Beobachtungsgabe habt, so werdet Ihr unter allen den Masken mit Uniform und Degen, von Director und Rath und Geheimerath und Commerzienrath, alsbald die Aaszüger herausfinden. Auch Herr H. J. Fays war ein solcher, aber vorerst nur noch ein ganz kleiner. Indeß „was ein Dörnlein werden will, das spitzt sich bei Zeiten.“
Herr H. J. Fays lieh auf Pfänder und Zinsen, und zwar ganz geheim an Solche, welche öffentlichen Credit entweder nicht besaßen, oder ihn zu gebrauchen sich scheuten, sei es aus wahrer, oder – was das häufigere ist – aus falscher Scham. Er nahm in der Regel nur auf den Monat neun, also auf das Jahr hundertundacht Procent. Allein es klagte Niemand darüber, denn erstens ging Alles ganz geheim, und zweitens hatte Fays auszusprengen gewußt, die Gelder kämen von einem gar mächtigen und hohen Herrn in Wiesbaden, und wer mit dem anbinde, der komme in des Teufels Küche. Daß Fays mit der geheimen Polizei in Beziehungen stand, glaubte man. Noch kürzlich war ein Mann, den man zur Opposition zählte, zu einer Correctionshausstrafe verurtheilt worden, weil er auf einer öffentlichen Versteigerung für ein Portrait des Landtagspräsidenten Herber einige Gulden und dagegen für das des regierenden Herrn nur ebenso viele Kreuzer geboten hatte. Man fand darin eine Majestätsbeleidigung. Es waren gefährliche Zeiten. In Mainz saß und tagte die „schwarze Commission“ oder, wie sie mit ihrem officiellen Titel hieß: „Die geheime Bundes-Central-Untersuchungs-Commission“ …
Und Doctor Fays war sehr intim mit dem Amtmann. Er war ein sehr loyaler und frommer Unterthan. Auf Herzogs Geburtstag schrie er bei dem Toast immer am allerlautesten von Allen sein „Hoch“, und wenn er nicht zufällig ein Israelite gewesen wäre, würde er auch bei der Procession eine Kerze oder Fahne getragen, oder allerwenigstens aus einem dicken Goldschnittsgesangbuch laut gesungen haben.
Warum ich diesen Herrn genauer beschrieben habe, als den Helden der Geschichte? fragt der Leser. Ei nun, weil der Herr zu den charakteristischen Anhängseln des Spiels gehört, und weil er in unserer Geschichte eine wichtige Rolle spielt. Denn an dem Tag, welcher dem Verkauf des Bienenhonig und dem Belügen der Frau folgte, schlich unser Wombacher Peter bei Fays zur Hinterthür herein. Zu der Vorderthür, auf welcher in einem blauen Schild mit großen gelben Buchstaben geschrieben stand: „Commissionsbureau und Advocatur von H. J. Fays“, hineinzugehen, schämte sich der Bauer. Auch zur Hinterthür kam er wieder heraus.
Was hatte er drinnen gethan? Nichts als einen Tresorschein von zehn Gulden umgewechselt gegen ein Goldstück. Als solches hatte ihm der Herr Doctor einen Napoleon ausgehändigt, der freilich vierzig Kreuzer weniger werth war, als die zehn Gulden. Das nannte der Herr Doctor eine kleine Provision. Warum hatte Peter das Geldwechselungsgeschäft gerade bei Fays vorgenommen? Weil er das Geheimniß suchte, weil ihn sein Gewissen drückte, und weil er deshalb dachte, er gehe am besten zu Jemandem, der selber in seines Herzens Schrein gerade nicht Alles in bester Ordnung habe.
Abends spät zu einer Stunde, wo noch gespielt wurde, aber Einheimische nicht mehr dabei waren, huschte Peter in den Alleesaal. Er ging, wieder mit Rock und Vatermördern maskirt, entschlossen auf den Spieltisch zu und setzte seinen Napoleon auf Nummer Eilf. Die Kugel rollte und sprang, der Bankhalter sprach einige Worte, die Peter nicht verstand. Der Croupier schob ihm mit einem hölzernen Rechen fünfunddreißig blanke Goldstücke zu seinem einen hinzu. Die Nummer war herausgekommen. Peter griff mit beiden Händen zu und schob das Gold in die Hosentaschen. Er stürzte aus dem Saal in’s Freie. Er konnte kaum athmen und fürchtete einen Schlagfluß. Erst nach und nach kam er zu sich, aber er war nicht froh. Er ging den Lampen, die vor dem Hause hingen, aus dem Wege und suchte sich die dunkelste Hainbuchen-Allee auf, welche dem Weinbrunnen und dem Paulinenbrunnen entlang an den Münzbach aufwärts führt. Je näher er dem Walde kam, desto unheimlicher ward es ihm, er glaubte allerlei Schatten zu sehen und Stimmen zu hören. Hatte es nicht da eben dicht neben ihm ganz leise „Peter“ gerufen? Es „gruselte“ ihn. Auf einmal hält ihn auch Jemand an dem Zipfel des erborgten Leibrocks. Es war eine lange, knochige, krallenartige Hand und die Hand gehörte einem aus dem Schatten einer alten Hainbuche hervortretenden kleinen Menschenkind mit krummem Rücken und noch krummerer Nase, dem über seine niedrige Stirn kleine schwarze Locken in Propfenzieher Format herabhingen. Es war Fays. „Peter,“ schmunzelte er, „was habt Ihr in Eurem Hosensacke? Gebt mir eins von den schönen blanken Dingen. Mir habt Ihr sie doch zu verdanken. Es war ein Heckethaler, den ich Euch wechselte. In ihm stak das Glück. Gebt mir eins; es wird Euch nicht thun leid, es wird nicht sein Euer Schaden!“
„Dummes Geschwätz,“ sagte Peter und wollte weiter eilen. Aber Fays folgte ihm zur Seite, wie sein Schatten, immer leise auf ihn einredend.
„Peter,“ lispelte er, „Ihr habt gespielt an der Roulette. Wißt Ihr, wer spielen darf an der Roulette? Der Curfremdling. Wißt Ihr, wer nicht spielen darf? Das eingeborene herzoglich nassauische Landeskind. Für uns hat gemacht der gnädigste Landesvater ein mächtig Gesetz, wo gedruckt steht im Gesetzblatt, daß, wenn wir spielen an der Roulette, so kostet’s das erste Mal [715] fünfzig Gulden Strafe, das zweite Mal hundertfünfzig Gulden, und das dritte Mal werden wir gethan hinter Schloß und Riegel auf volle drei Monat. Von der Straf’ kriegt der Anzeiger die Hälfte als Fanggeld. Könnt’ ich mir nicht verdienen fünfundzwanzig Gulden? Gebt mir einen Napoleon, es soll nicht sein Euer Schaden.“
„Miserabler Bub’,“ zürnte der Bauer, „dann fang’ ich lieber gleich mit der dritten Strafe an und gebe Dir die Hälfte, sechs Wochen Correctionshaus. Lieber bezahl’ ich dem Amtmann fünfzig Gulden Straf’, als Dir einen Kreuzer Hehlgeld.“
„Peter, seid vernünftig,“ mahnte Fays, „Ihr könnt nicht zahlen an den Amtmann. Der Amtmann setzt nur die Strafen, aber Geld darf er keins nehmen. Er schreibt die Straf’ in ein groß Buch. Das Buch wird geschickt alle Vierteljahr an die Steuercasse. Die schreibt dem Rentmeister und der dem Erheber und der dem Dorfschulzen, und dann wird’s Euch gefordert. Eh’ Ihr’s nur bezahlen dürft, werdet Ihr eingeschrieben in sechs große Bücher und herumgeschleppt bei allen hohen und niedrigen Obrigkeiten. Weiß es der Dorfschulze, weiß es Euer Schwiegervater; weiß es der, dann weiß es Eure Frau, daß Ihr gespielt habt an der Roulette. Nun Peter, wie heißt?“
„Kerl, ich zerschlage Dir alle Knochen in Deinem nichtsnutzigen –“ schrie Peter, indem er den Stock hob.
„Halt, Peter, halt,“ mahnte Fays, „hitzig ist nicht witzig. Peter, bedenkt, wart Ihr nicht gewesen am vorletzten Sonntag mit dem Schuster-Jacob zu Wiesbaden in dem Wirthshause bei dem Polen-Bücher, wo gesungen worden sind gefährliche Lieder? ,Noch ist Polen nicht verloren’, und ,Fürsten, zum Land hinaus’, und sonst?“
„Ich hab’ nicht mitgesungen,“ antwortete Peter mit der Ruhe eines guten Gewissens.
„Nicht mitgesungen? Wird Dir was Schönes helfen,“ höhnte Fays, „solche Lieder singen ist Hochverrath. Wer Hochverrath hört, sieht oder riecht, muß es anzeigen in den ersten vierundzwanzig Stunden, sonst ist er so schuldig und strafbar, wie der Maleficant selber und kommt auf Lebenszeit wohin, wo er scheinen sieht keine Sonn’ und keinen Mond. Peter, bedenkt. Hier steh’ ich, wenn es noch dauert eine Minut’ und ich hab’ nicht zwei Napoleon, dann kost’s drei; und dauert es dann noch eine Minut’, dann geh’ ich und schell’ den gestrengen Amtmann aus seinem Bett, nicht wegen Roulettespiel, aber wegen Hochverrath, und es dauert keine halbe Stund’, dann kommen die Landjäger zu reiten mit den Ketten, und Du und der Schuster-Jacob –“
Peter ließ ihn nicht ausreden. Das Ende vom Liede war, daß Fays zwei Napoleon erhielt und Schweigen versprach. Er drückte zum Abschied Petern die Hand mit dem Bemerken: „Ihr werdet mich kennen lernen als einen Mann von Wort, als einen Mann von Wahrheit und Ehre; wenn Ihr habt nöthig Beistand und Hülf, kommt zum Fays.“
Und es ist richtig; was er über die bestehenden Gesetze gesagt hatte, das war wahr. Als das Ziegenherzchen heimlich wie ein Schatten in der Allee verschwunden war, wischte Peter seine Hand, die ihm Fays gedrückt, im nassen Gras neben dem Wege ab. Sie kam ihm vor wie schmutzig. Die vierunddreißig Napoleon brannten ihm in der Tasche, wie höllisches Feuer, und auf der Zunge glitt ihm ein Fluch hin von der hier landesüblichen Länge. Er fing an mit: „Himmel-Kreuz-Element-Millionen-Donnerwetter-Schockschwerenoth, krieg’ die Kränk’, Du miserabeliger –“ etc., und als er zu Ende war, war Peter zu Haus. Er hatte vierunddreißig Goldstücke, aber einen Mitwisser, einen Rathgeber, einen Beherrscher. Das lag ihm schwer auf dem Herzen.
Ein Mann, der gespielt und gewonnen, ist wie ein Löwe, der Blut geleckt hat: er kommt wieder. Denn es schmeckt nach Fortsetzung. Jeden Sommer lassen die Spieldirectoren von bezahlten Federn große Gewinne in die Welt posaunen. Da heißt es: In Homburg vor der Höhe hat der große Spieler Don Manuele Garcia die Bank gesprengt und eine halbe Million gewonnen; in Wiesbaden hat der walachische Fürst Mekadiamantopetrovicz oder der Grieche Anakaladiapopulos das Gleiche gethan und eine Million Franken davongetragen. Es ist gerade, als wenn alle Spielbanken der Welt Bankerott machen müßten. Wenn aber im Herbst die Herren Spieldirectoren den Actionären auf der Generalversammlung Rechnung ablegen, dann weist der „Baron Wellens“ in Wiesbaden eine Spieleinnahme von anderthalb Million Gulden nach und vertheilt einige dreißig Procent Dividende. Wie stimmt das zusammen? Die Einnahme und Dividende sind jedenfalls Wahrheit, und die Nachrichten über die Verluste sind theils übertrieben, theils ganz erfunden, um Gimpel in das Netz zu locken. Wenn aber einmal ein Spieler wirklich einen großen Gewinn gemacht hat, dann streicht der „Spielbaron“ lächelnd seinen Bart und sagt: „Das ist blos geliehen.“ Und richtig, der Spieler kommt wieder, er verliert seinen Gewinn und wird daneben noch ausgeplündert bis auf’s Hemd. Der vielgenannte Spanier, der in Baden, Wiesbaden, Homburg, Nauheim etc. die Millionen gewonnen hat, endete damit, daß ihn das Schicksal nackt und bloß an den Strand von Paris warf, wo ihn die Polizei in einer geheimen Spielhölle beim Betrug ertappte und durch Vermittelung des Gerichts auf die Galeeren schickte. Die Spieler kommen von den Galeeren, oder sie gehen dahin – und das Alles unter der schützenden Aegide deutscher Landesväterlichkeit!
Auch Peter kam wieder, wobei ihm sein Freund Fays, als „Mann von Wort und Ehre“, behülflich war. Fays hatte, nachdem er die zwei Napoleon bekommen, Wort gehalten. Er hatte Petern weder wegen Hochverraths, noch wegen strafbaren Hazardspiels denuncirt, er hatte ihm vielmehr seinen Beistand und seine Hülfe angedeihen lassen, freilich in seiner Art. Zunächst hatte Peter seiner Frau etwas vorgeschwindelt in Betreff der Einnahmequelle, woraus das Geld geflossen. Den größern Theil hatte er zu wirthschaftlichen Zwecken verwandt, den Rest aber u. A. dazu, sich städtische Kleidung anzuschaffen, womit er seinem eigenen Hochmuth schmeichelte, die bäuerlichen Landsleute gegen sich erbitterte und, was das Schlimmste war, sich die courfähige Tracht zum Spielsaal erwarb.
Sein zu Tag getragener Wohlstand, dessen Ursache man im Dorfe nicht kannte, weckte den Neid. Man raunte sich zu, das sei nicht just, wer wüßte, wem der sich verschrieben; der habe gewiß ein Hanselmännchen, oder eine „Spirifilaris“ (spiritus familiaris). Darüber gab’s Zank, Streit, blutige Köpfe, Untersuchung, Strafe, Kosten, Amtsgeläufe, Sporteln, Anwaltstaxen und – immer größere Abhängigkeit von dem „Manne von Wort und Ehre“, immer häufigere Rückkehr zum Spiel. Aber das Glück hatte sich gewandt. Die Alten malen es als ein reizendes Weib, das auf der Stirn schöne volle Locken trägt und auf dem Hinterhaupt eine Glatze. Für unsern armen Peter existirten die Locken nicht mehr, nur noch die Glatze.
Nachdem er ansehnliche Summen verloren, kam er auf die Idee, das Terrain in Schwalbach sei ihm nicht mehr günstig. Denn alle Spieler sind abergläubisch. Statt von Wombach aus gen Norden, nach Schwalbach zu pilgern, zog er gen Süden, nach Schlangenbad, wo damals auch eine Spielbank war. Als es dort auch schlecht ging, zog er nach Wiesbaden und dann nach Homburg vor der Höhe und darauf nach Wilhelmsthal, Nauheim und wie alle diese Spielbäder heißen, die sich unweit des Rheins gruppiren als Ueberreste aus jener Zeit, da man diesen Strom die „große Pfaffengasse“ nannte und sich Erzbischof und Bischof, Prior und Abt, Domherr und Generalvicar, Weihbischof und Ordinariatsrath, Canonicus und Aebtissin, Deutschordensherr und Stiftsdame und der sonstige hohe und niedere Adel aus den zahlreichen und üppigen Manns- und Frauenklöstern der Umgegend in diesen Bädern tummelten.
Peter entfremdete sich immer mehr der treuen Mutter Erde, welche dem Bauer ein schweres, aber sicheres Stück Brod bietet. Er wurde ein Spiel-Nomade. Habe ich nöthig, ausführlich zu erzählen, wie er von Stufe zu Stufe seines Wohlstands berabstieg; wie er dies und jenes verkaufte, um seiner Frau die wirkliche Lage zu verheimlichen; wie er in den Schuldthurm wandern mußte und in Concurs gerieth, und wie sein Weib endlich vor Gram sich hinlegte und starb?
Unermüdlich wanderte Peter von einem Spielbad zum andern, ein moderner Ahasver. Sein Haar wurde vor der Zeit grau und fiel dann aus. Seine Rettung erblickte er endlich in einem Franzosen, der zu der Zunft der professeurs de jeux gehörte und auf wissenschaftlich-praktischem Wege das unfehlbare Mittel entdeckt hatte, eine jede Bank zu sprengen. Das gab einen Wendepunkt in Peter’s Schicksal. Er wurde nämlich von nun an [716] nicht blos von der Spielbank geplündert, sondern auch von dem Spiel-Professor. Desto schneller ging es mit ihm den Berg hinunter, und wie einst der Stelzfuß und der rothe Säuschnitter sich von dem Vetter Anton zurückgezogen, so zog sich nun das „Ziegen-Herzchen“ von Peter zurück. Haus und Hof waren ihm verkauft, und die unbarmherzigen Gläubiger hatten ihm nichts gelassen, als einen Büchsenranzen und den Bettelstab. Den nahm er und zog in das Land. Die landwirthschaftlichen Arbeiten hatte er verlernt. Dazu fehlten ihm jene Ausdauer und Andacht, die der Bauer nöthig hat, der Herr wie der Knecht. Er hatte kein Obdach mehr. Er wurde ein Stromer.
In der Umgebung der Badeorte, wo er sich ruinirt hat, sieht man ihn bis auf den heutigen Tag umherstreichen, bekannt unter dem Namen der „Ranzen-Peter“. „Aber wovon lebt er denn?“ fragt der Leser. Je nun, wovon leben die „verfehlten Existenzen“? Von Allem, nur nicht von der Arbeit. Das Unglück, sogar das selbstverschuldete, giebt eine Art Nimbus. Peter war durch sein Spiel, durch seine Finanzen, durch seine Streitigkeiten, seine Processe, seinen Concurs mit allen möglichen Menschen und Behörden in Berührung gekommen. Er hatte allerlei erfahren und gelernt, was sonst dem Bauern fremd bleibt. Er, der sich selbst nicht zu helfen gewußt hatte, verlegte sich nun darauf, Andern zu rathen. Wenn ein Bauer in Nöthen war, wenn er sich in Finanznoth oder Gewissensangst befand, wenn ihm Strafe drohte, oder er einen Proceß hatte, dann fragte er heimlich den Ranzen-Peter. Denn der war in den nämlichen Schuhen krank gewesen und mußte es wissen. Die Sachen, worin Peter rieth, waren meistens mißlicher und verdächtiger Natur. Einige Meineidscomplote, darauf gerichtet, durch falsches Zeugniß bei Gericht Processe zu gewinnen, waren kürzlich zur Aburtheilung gekommen. In den Verhandlungen figurirte auch Peter, jedoch nicht als Angeklagter. –
Während ich Ihnen diesen seinen wahrhaftigen Lebenslauf erzähle, hat Peter seine Unterredung mit den zwei Bauern beendigt. Jeder derselben legt ihm ein Sechskreuzerstück auf den Tisch und geht. Peter bleibt in tiefes Sinnen versenkt sitzen. Auch wir verlassen den Wirthsgarten. Auf der Chaussee begegnet uns ein elegantes Fuhrwerk. Eine geputzte schöne Frau und ein schwarzes häßliches Männlein, letzteres wo möglich noch mehr geputzt, sitzen darin. Wer ist es? Die Prima-Donna vom Theater und das vormalige Ziegen-Herzchen, jetzt Herr Häuserbesitzer und Rentier Fays in Wiesbaden. Sie fahren nach der Fasanerie, einem Vergnügungsort in der Nähe von Wiesbaden.
Von Ludwig Storch.
Wenn die Wahrheit des ästhetischen Lehrsatzes, daß die krumme Linie die Trägerin der Schönheit ist, sich an irgend einem deutschen Landschaftsbilde recht klar und eindringlich offenbart, so ist es an der reizenden Stelle, wo der Main seinen prächtigen Bogen um die südliche Spitze des Spessart schlingt und, eben von Nordost gekommen, nun nach Nordwest weiter wallt. Dieser Bogen ist von allen landschaftlichen Reizen umlagert, welche ein deutsches Gemüth entzücken und in die süßeste Befriedigung harmonischer Beschaulichkeit des äußern und innern Sinnes versetzen. An das linke (südliche) Ufer des Stroms tritt ein Halbkreis von malerisch geformten, üppig bewaldeten Bergen heran, die geographisch nicht mehr zum Odenwald gezählt werden, aber doch eigentlich dazu gehören, und an ihrem Fuße hat sich dicht an das Ufer, der Biegung des Flusses auf der einen Seite und jener der Berge auf der andern folgend, das uralte freundliche Städtchen Miltenberg gelagert, das, wie fast alle diese kleinen Mainuferstädte, kaum aus mehr als einer sehr lang gestreckten Straße besteht. Aus seinen hellen Fenstern schaut es über den blaugrünen Main hinüber an die nicht minder schönen Spessartberge, die ihre trotzigen Stirnen im Strome spiegeln. An einer dieser bewaldeten Stirnen hängt, wie ein großes Schwalbennest, das stattliche Kloster Engelberg, dessen Mönche eine der köstlichsten Aussichten genießen.
Stromaufwärts hat sich das Thal zu einer kleinen lieblichen Ebene gestaltet, in welcher am linken Ufer der freundliche Ort Bürgstadt liegt; stromab tritt man aus dem Thore in einen großartigen lieblichen Park, auf dessen breiten saubern Sandwegen wir in einer halben Stunde das imposante fürstlich Löwensteinsche Residenzschloß dicht am Ufer des Mains und dabei das schmucke Dorf Kleinheubach mit den fürstlichen Dienstgebäuden erreichen. Am gegenüberliegenden Ufer breitet sich das große Dorf Großheubach mit seinen umfangreichen Weinbergen an den Wänden der letzten Spessartberge aus. Am untern Stadtthore haben wir die Mud überschritten, welche links aus einem sehr anmuthigen Thale ihr klares Gebirgswasser dem Main zuführt. Durch dieses Thal zieht sich der Weg nach dem nahen Amorbach, der Residenz des Fürsten von Leiningen, empor, welche in jüngster Zeit durch die Königin Victoria von England ein neues Interesse erhalten hat. Hier lebten ihre Eltern, und hätte die Herzogin von Kent sich nicht beeilt, ihre Niederkunft auf englischem Boden zu halten, so dürfte das Töchterlein schwerlich den Thron bestiegen haben. Das Thal der Mud wird von der malerischen Ruine des einst wichtigen Klosters Gotthardsberg auf einem Bergscheitel geschmückt.
Oberhalb der Stadt zieht sich ein andres nicht minder idyllisch schönes Thal, aus welchem die helle Erf dem Maine zuströmt, in die Berge empor. Ueberall, wohin sich das Auge wendet, wird es vom lieblichsten Wechsel von Berg und Thal, Wald und Rebenpflanzung, Wiese und Garten, Strom und Bach, Stadt und Dorf, Schloß und Kloster ergötzt. Aber so anmuthig und reich die Umgebung, die Stadt selbst ist dennoch der reizendste Punkt in diesem Bilde. Denn in ihr erhebt sich das schöne deutsche Landschaftsgedicht zur Romantik, und zwar sind mittelaltrige und moderne Romantik hier auf’s Innigste verwebt und verbunden. Wie sie in der Stadt selbst überall, wohin man blickt, Arm in Arm auftreten, so werden sie ganz besonders noch in zwei die Stadt malerisch überragenden Schlössern repräsentirt, in der uralten Miltenburg, vorzugsweise das Schloß genannt, und in der benachbarten neuen Woldecksburg, einer großen prächtigen Villa im neudeutschen Styl. Beide Bauten liegen auf Bergstufen, die letztere etwas höher als die erstere, und sind durch eine tiefe, den Berghalbring theilende Schlucht geschieden; dicht hinter ihnen erheben sich majestätisch die brüderlichen Waldberge. Diese beiden Schlösser sind die Kronen der Stadt und die Perlen des ganzen Landschaftsbildes. Die Woldecksburg, ein Kind der neuesten Zeit, wurde von einem preußischen hohen Officier Namens von Woldeck erbaut. Wir haben es hier blos mit der Miltenburg, dem in mehrfacher Hinsicht interessantesten Gebäude der Stadt und der Umgegend, zu thun.
Ursprünglich ein römisches Castell und zwar die letzte jener Flußvesten, welche die Römer zur Ueberwachung des Mains gegen die germanischen Volksstämme an den Ufern des Stromes von Mainz herauf in großer Anzahl erbauten (Aschaffenburg, Obernburg, Niedernburg, Dieburg, Großkotzenburg, Bürgel u. a.), dann unter den fränkischen Kaisern Sitz eines Gaugrafen (Ministerialen), kam sie zu Ende des zehnten Jahrhunderts als Geschenk der Kaiserin Theophania, Mutter und Vormündin Otto’s III., an den schlauen Kurfürsten Willigis von Mainz, mit ihr die Stadt und die Umgegend. Beim Mainzer Erzstift blieb sie bis zur Auflösung desselben durch den Lüneviller Frieden 1801 und den Reichsdeputationshauptschluß von 1803.
Nunmehr gelangte sie in den Besitz des eben mediatisirten Fürsten von Leiningen, der sie als Kaserne seiner Truppen benutzte und 1807 an einen Privatmann verkaufte. Ihr Besitz hat bis heute einigemale gewechselt. Der Hauch der Vergänglichkeit hat sie stark gestreift und der Zahn der Zeit und der Kriegsstürme, die sie heimgesucht, tief angenagt. Besonders ist dies mit dem umfangreichen Burghause der Fall, welches, 1552 von den wilden Kriegssöldnern des pfaffenfeindlichen Markgrafen Albrecht von Brandenburg, unter Anführung des Grafen von Oldenburg, zerstört (nachdem Albrecht vom kaiserlich-bischöflichen Heere bei Mainz geschlagen worden), noch jetzt Ruine ist und als solche nicht wenig zum malerischen Ansehen der Burg beiträgt.
Die Stadt Miltenberg ist die Tochter der Burg, und die Schicksale der Einen sind immer von maßgebendem Einfluß auf [717] die der Andern gewesen. Nach wechselvollen Schicksalen, in der Reformationszeit und im dreißigjährigen Kriege, wie so viele andere deutsche Städte, mehrfach ausgeplündert und verheert, hat sie, erst in der neuesten Zeit zum Königreich Baiern gehörig, Muße gefunden, sich würdig zu heben und zu entfalten, und wenn erst die projectirte Eisenbahn das Mainthal hier durchzieht, wird sie einer neuen Blüthe entgegengehen. Und daß diese eine reiche und schöne sein wird, dafür bürgt der aufgeweckte, regsame Geist ihrer Bewohner. Zweifelsohne werden sich die Bergwände und das Thal mit reizenden Landhäusern schmücken, erbaut von gebildeten wohlhabenden Menschen, welche in Miltenberg einen der gesündesten und angenehmsten Aufenthaltsorte Deutschlands entdecken werden. –
Außer vielen wackern Männern haust jetzt ein merkwürdiges Männerkleeblatt in Miltenberg, von welchem jeder in seiner Art sehr interessant und schätzenswerth ist: der Dichter Ludwig Bauer, der Geschichtsschreiber Madler und der Alterthumsforscher Habel. Dr. L. Bauer, Lehrer an der Studienanstalt, ist einer der originellsten und begabtesten Lyriker unserer Tage und ein sehr geistesreger elastischer Kopf, der sich durch eigne angeborne Kraft auf die Zinne der Neuzeit geschwungen und von ihr das Leben beherrscht. Seine Gedichte (2. Aufl., Würzburg, Stuber) enthalten eine überraschende Fülle von Schönheit und gefälliger Anmuth, aber – was den Werth des Mannes noch sehr erhöht – er steht als politischer Dichter durch hohe Freisinnigkeit, Witz, Humor, Satire und Gewandtheit in der vordersten Reihe; dabei ist er heiterer, gemüthlicher Umgangsmensch und als Parteimann muthig und unerschrocken.
Dr. phil. Jos. Madler ist fürstlich leiningenscher Revierförster und fleißiger, geschickter Geschichtschreiber seiner Vaterstadt Miltenberg und deren Umgegend. Wir verdanken ihm eine Anzahl historischer Monographien, die für höhere und allgemeine Geschichtsdarstellung ein schätzbares Material bieten. Die Verdienste solcher Localgeschichtschreiber sind immer hoch anzuschlagen; denn aus der richtig erforschten und dargestellten Localgeschichte kann erst die wahre allgemeine Geschichte hervorgehen. Der treffliche Madler ist aber auch Auffinder von einer nicht geringen Anzahl zum Theil wichtiger römischer Alterthümer in den Bergen des Odenwaldes, die ohne ihn wohl nie zur Kenntniß der Alterthumsforscher gekommen wären. Das Rathhaus in Miltenberg bewahrt mehrere werthvolle Denksteine mit altrömischen Inschriften auf, die Dr. Madler aufgefunden hat. In gerechter Würdigung seiner Verdienste um die vaterländische Geschichtschreibung haben eine Menge historischer Vereine den geistesregen Mann zu ihrem Ehrenmitglied und Correspondenten ernannt. Es ist gewiß eine Seltenheit, wenn nicht gar ein Unicum, daß ein Revierförster tüchtiger Geschichtschreiber, Alterthumsforscher, Doctor der Philosophie und Ehrenmitglied bedeutender wissenschaftlicher Vereine ist.
Der dritte und interessanteste dieser Männer ist der quiescirte herzoglich nassauische Archivar Habel, der jetzige Besitzer der Miltenburg, die nach ihm vom Volksmunde schon allmählich den Namen „Habelburg“ erhält. Wenn ich von Madler die Vermuthung äußerte, er möchte wohl ein Unicum sein, so darf ich das von Habel als Gewißheit aussprechen. Es giebt keinen zweiten Mann in der Welt von Habel’s eigenthümlichem Wirken und Verdienst, und es hat nie einen andern gegeben. Wie oft, wenn ich diesem verehrungswürdigen Manne gegenüber saß, in den hellen, heitern, vom Flügelschlag des deutschen Genius durchfächelten Gemächern seiner Burg, und wir, die Gläser voll würzigen Rhein- oder Mainweins aus seinem Keller, auf die würdige Zukunft unseren Vaterlandes zusammen anstießen, die wir Grauköpfe nicht erleben sollen – zuweilen ließen Bauer und Madler ihre Gläser auch mitanklingen – und ich mich in sein mildes schönes Auge und in die fein und schelmisch lächelnden deutsch-humanen Züge Habel’s vertiefte, kam mir der Gedanke: Wie wunderbar mannigfach ist doch die Strahlenbrechung des deutschen Geistes in den verschiedenen edlen deutschen Geistern! Wie glühen und flammen sie alle für des gemeinsamen Vaterlandes Ehre, Ruhm, Einheit und Größe! Wie streben sie alle auf den [718] verschiedensten Wegen ihm eine würdige Zukunft zu bereiten! Soll denn dieses Streben immer und immer noch nicht sein erhabenes Ziel erreichen? Dieser Mann hat nun zur Verherrlichung des Genius Deutschlands seinen eigenen Weg betreten. Kein Deutscher ist mit ihm gegangen, keiner ihm gefolgt; er hat es stets vermieden von sich reden zu machen. Still und geräuschlos hat er sein Ziel angestrebt, und es ist wahrlich ein schönes, echt deutsches gewesen. Soll denn das Alles nun vergebens gewesen sein? Sollen die angeschlagenen Töne verklingen und verhallen, ohne in einen vollen Chor einzuströmen? Gewiß nicht! Auch auf der Miltenburg, in Habel’s denkwürdigen Räumen hat sich meine alte Ueberzeugung befestigt, daß alle diese Strahlen des deutschen Geistes in einen Brennpunkt zusammenschießen werden, welcher die Flamme der höchsten allgemeinen Begeisterung für Deutschland entzünden wird.
Von seinem Vater, einem reich begüterten hochgebildeten Manne, erhielt unser 1793 in Idstein in Nassau geborner Habel die ersten Anregungen zum Studium des Alterthums, das bald genug von ihm mit glühender Begeisterung betrieben wurde. Neigte sich der Vater vorzüglich lebhaft zur classischen Römerwelt, so vertiefte sich der Sohn vorzugsweise mit deutschem Ernst und Nachhaltigkeit in das Mittelalter, und hier verlegte er sich besonders auf Kunst, Wissenschaft und Geschichte des deutschen Mittelalters. Dabei wurde er von einem nicht unbedeutenden, durch guten Unterricht ausgebildeten Talent zum Zeichnen unterstützt. Unablässiges tiefes Eindringen mit gesundem Sinn in den Geist des Mittelalters hielt ihn frei von jeder süßlichen falsch-sentimentalen Auffassung desselben, wie sie zu Anfang unseres Jahrhunderts in den Schöpfungen deutscher Dichter spukte. Sein jugendlicher, echt poetischer Hang trieb ihn auf die verfallenen Burgen seines Heimathlandes, und in ihren Trümmern empfing er früh den Weihekuß des deutschen Genius für die Erforschung jener wichtigen Culturstätten des mittelalterlichen deutschen Lebens. Die deutsche Burg in allen ihren Beziehungen, so genau als dies noch möglich, kennen zu lernen, wurde die Aufgabe seines Lebens. Und wie schön und vollständig hat er sie gelöst! Kein Mensch kennt die deutsche Burg in architektonischer, künstlerischer, kulturgeschichtlicher Hinsicht wie er.
Der Vater siedelte später auf das von ihm erworbene Gut Schierstein im Rheingau über, welches der Sohn jetzt noch besitzt. Hier hielt er sich auf, als er seine juristischen Studien in Heidelberg und Gießen absolvirt hatte, durchwanderte mit der Zeichenmappe sein geliebtes Rheinland von Burg zu Burg und gab sich mit begeisterter Liebe ihrer Erforschung hin. Er zeichnete nicht nur fast alle Burgen des Rheins, nahm ihren Grundriß auf und suchte aus ihren Resten ihre frühere Gestalt sich zu construiren, er strebte auch in den Archiven und Bibliotheken der Rheinstädte und Klöster, sich durch Urkunden und geschichtliche Documente so genau als möglich über ihre und ihrer frühern Bewohner Leben und Schicksale zu unterrichten. Da ging seinem regen Geiste eine ganze versunkene Welt auf, eine bedeutsame deutsche, meist falsch beurtheilte oder uns ganz fremd gewordene Welt, in die sich seine Phantasie mit immer steigender warmer Vorliebe mehr und mehr hineinlebte. Oft zauberte der alte Vater Rhein dem seltnen und geliebten Sohne das Spiegelbild der Burgen, wie es sich vor einem halben Jahrtausend und länger auf seiner Fläche dargestellt, und in stiller zauberischer Mondnacht weihten die sagenhaften Burggeister, umflüstert von der leiseren Welle des Stromes, den edlen Jüngling zum Kenner und Bewahrer ihres alten Glanzes.
„Ehret die deutschen Burgen! Erhaltet diese Denkmale der deutschen Vorzeit so viel ihr vermögt! Ehrt euch selbst in den Bauten der Vergangenheit!“ Das war Habel’s begeisterter Mahnruf meist an taube Ohren und Herzen. Das neuerwachte Deutschthum, das sich noch den Schlaf aus den Augen rieb und die französischen Bettfedern aus den Haaren zupfte, hatte dafür noch keinen Sinn. Da folgte Habel dem Drange seines Herzens und that wenigstens das Seine für seine Lieblinge. Zuerst kaufte er die Burg Eppstein im Taunus mit den zu ihr gehörigen Grundstücken an, baute sich darauf ein kleines romantisches Wohnhaus und sicherte das alte Bergschloß, das er wieder bewohnbar machte, mit großen Kosten vor dem gänzlichen Verfall. Dann kam Gutenfels bei Caub an die Reihe, das er nur mit Mühe und Opfern den Klauen einer prosaischen Gerberseele entreißen konnte, welche eben dran und drauf war in der poetischen Ruine eine Gerberei zu errichten. Auch diese Burg wurde durch kostspielige Bauten restaurirt. Ferner Thurnberg bei Welmich am Rhein, die dritte Burg, welcher Habel seine conservative Vorsorge zuwendete.
Weiter folgte die Burg Reichenberg, in einem Nebenthale des Rheins bei St. Goarshausen, das Stammschloß der Dynasten von Katzenellnbogen, die er vor Verfall bewahrte und mit freundlichen Anlagen versah. Nach Umfang, Kunstwerth und Geschichte ist sie höchst bedeutend und die merkwürdigste der Besitzungen Habel’s.
Die jüngste seiner Erwerbungen und das älteste seiner Bergschlösser ist die Miltenburg, die er vor fünf Jahren von einem Magdeburger Kaufmann für achttausend Gulden an sich brachte. Sie wurde ihm die liebste, sie wurde sein Wohnsitz, und sie bestimmte er zu einem Zwecke, mit dem sich seine patriotische Begeisterung schon lange getragen hatte. Ein köstlicher Plan, wie ihn nur ein edler deutscher Mann, wie Habel, fassen kann, soll hier zur schönen Ausführung kommen.
Schon vom Vater war eine umfangreiche und sehr werthvolle Sammlung von Büchern, Urkunden und Alterthümern aller Art auf Habel gekommen, die er im Laufe seines thätigen Lebens unablässig sehr vermehrt und vergrößert hat. Besonders reich und großartig ist seine Urkundensammlung für deutsche Geschichte. Ein fast wunderbarer Zufall, über welchen Habel jedoch ein geheimnißvolles Schweigen beobachtet, setzte ihn in den rechtlichen Besitz von geschichtlichen Urkunden von höchster Wichtigkeit, die über manche Partien der deutschen Geschichte ein ganz neues Licht verbreiten. Dadurch erhalten seine Sammlungen einen unschätzbaren Werth. Bei der Ansammlung und Vermehrung dieser großen Schätze kam unserm Patrioten seine Stellung als herzoglich nassauischer Archivrath sehr zu Hülfe. Er hatte inzwischen in seinem Lieblingsfache, worin er bewandert war, wie wenig Mitlebende, Anstellung im Staatsdienste gefunden.
Die Habel’schen Sammlungen sind ungemein groß, reich, vielseitig und können sich mit fürstlichen dieser Art ohne Scheu messen. Außer der großen Bibliothek, die, zumeist historischen und archäologischen Inhalts, doch auch alle übrigen Fächer des menschlichen Wissens umfaßt, und der bereits erwähnten wichtigen Urkundensammlung sind es Kunstgegenstände aller Art, als Oelbilder aus allen Zeiten und Schulen, darunter Werke der berühmtesten Meister; Skulpturen in Marmor, Elfenbein, Holz, Erzgüsse. Sehr bedeutend ist die Sammlung der Alterthümer, vorzüglich der christlich mittelaltrigen; ebenso die mineralogische, botanische etc. Der Reichthum und die Vielseitigkeit sind so groß, daß ich Manches übersehen habe, zumal die Sammlungen noch nicht aufgestellt sind.
Die Miltenburg ist nämlich zu einem großartigen deutschen Museum bestimmt, in welchem alle diese Sammlungen in wissenschaftlicher Ordnung zur allgemeinen Benutzung der Jünger der Wissenschaft aufgestellt werden sollen, und zu diesem Zwecke eben im Umbau begriffen. Die weiten Räume der Burg, die sonst von Waffengeklirr und Kriegsgeschrei, von Jagdlärm und Geräusch der Zechgelage widerhallten, welche die Flamme der Zerstörungswuth durchleuchtete und die Blutspur der Mordgier zeichnete, werden nun ein Emporium der Wissens- und Kunstschätze des deutschen Forschergeistes werden und dem sanften Ringer nach Erkenntniß zum erwünschten Aufenthalt dienen.
Statt des grellen Scheins der Kriegsfackel wird Minerva’s süßes Lampenlicht diese Hallen durchdämmern, wo die Zeichen trotziger Gewalt und widriger Unsittlichkeit den Siegesfahnen des geistigen Aufschwungs, der Sitte und Humanität, der Würde und wahren Bestimmung des Menschen Platz gemacht haben. Die Stätte der Rohheit der „guten alten Zeit“ wandelt sich sanft in eine Stätte der edelsten und höchsten Güter der bessern neuen Zeit. Sehet da in dieser Wandlung den Prototyp des deutschen Bildungsganges überhaupt! Die Habelburg wird ein leuchtendes Vorbild der „festen Burg“ des Vaterlandes sein. Heil der schönen Wandlung! Heil dem edlen Vorbildner! Denn das muß ich zuletzt noch mit klaren Worten aussprechen, was ich bis jetzt nur ahnen ließ, daß unser Burgenfreund und Museumstifter mit Geist und Seele ein Mann der deutschen Zukunft ist.
Eben weil er das Mittelalter kennt, wie Wenige, weiß er, daß es eine Leiche ist, deren Exuvien wir ehren und erhalten sollen, um sie möglichst zu Schmuck und Zierde der Neuzeit zu verwenden, die aber selbst durch Galvanisation nicht zu einem widrigen Scheinleben zu bringen ist. Gerade weil seine Liebe die untergegangene Welt umfaßt, hat sie das volle warme Verständniß für [719] die aufsteigende. Denn der klare und sichere Blick in die Vergangenheit schärft das gesunde Auge für Gegenwart und Zukunft, und wer die politischen und religiösen Zustände des Mittelalters richtig versteht, wird sich in Beurtheilung der Gesetze nicht irren, nach welchen das Leben der Menschheit sich stets umgestaltet.
Habel war Mitglied der nassauischen zweiten Kammer, wo er durch seine consequente Opposition das Mißfallen der Regierung auf sich zog, die nun ein ebenso consequentes als beliebtes Verfahren gegen ihn beobachtete. Der ewigen Chicane müde, gab er seine amtliche Stellung als Archivrath auf, um sich ganz der Ausführung seines herrlichen Planes zu widmen. Und er hat Sorge getragen, daß sein Werk auch nach seinem Ableben nicht untergehe und seine Lieblinge, die von ihm gepflegten Burgen, nicht verfallen. Wir aber dürfen Goethe’s schönes Wort auf ihn anwenden:
„Die Stätte, die ein edler Mensch betrat,
Ist eingeweiht für alle Zeiten.“
Eine Luftpost in Deutschland. Es ist noch nicht lange her, daß diese Blätter eine ausführliche Beschreibung der durch zusammengepreßte und verdünnte Luft in Betrieb gesetzten Paketpost, welche im Postamte von Eversholt-Street in London mündet, brachten, jetzt hört man schon wieder von einer neuen, auf demselben Princip beruhenden Anlage zur Beförderung von Personen. Dieselbe befindet sich im Gebiete des Glaspalastes von Sydenham und scheint nur zu dem Zwecke eingerichtet worden zu sein, um den Besuchern dieses Ortes das besondere und seltene Vergnügen gewähren zu können, statt mit Dampf nun auch ausnahmsweise einmal mit Luft eine Strecke weit befördert zu werden. Bei dieser Gelegenheit gedenke ich eines deutschen Unternehmens, welches als eine schöne und vervollkommnete Anwendung des nämlichen Princips in Berlin zur Ausführung gebracht werden sollte. Dasselbe ist, so viel ich weiß, nur in einem engern Kreise bekannt geworden, und seit einem Jahre etwa ist auch in diesem vielleicht nicht mehr die Rede davon, sei es, daß augenblicklich im preußischen Staate kein Geld für neue Unternehmungen vorhanden ist, sei es, daß der schleswig-holsteinische Krieg nicht Zeit übrig gelassen hat, sich mit andern Dingen als gezogenen Kanonen und Panzerschiffen zu beschäftigen. Die Idee zu diesem Unternehmen ist, glaube ich, von dem um das preußische Telegraphenwesen hochverdienten Director Chauvin ausgegangen und die Unterhandlungen zur Ausführung waren bereits mit einem namhaften Industriellen Berlins bis nahe zum Abschluß gediehen, als man von der Sache wieder Abstand nahm.
Wie bekannt, müssen die telegraphischen Depeschen, welche vom Central-Telegraphenamt in Berlin nach irgend einem Orte hin befördert werden sollen, durch Boten nach dem Telegraphenamt gebracht werden; ebenso werden die Depeschen, welche daselbst ankommen, durch besondere Boten an ihre Adresse gesendet. Es ist klar, daß die Zeit, welche diese Beförderungsweise in Berlin selbst in Anspruch nimmt, in keinem Verhältniß zu derjenigen steht, welche die Depesche zum Durcheilen großer Länderstrecken nöthig hat. Durch Errichtung von mehreren einzelnen, über die Stadt zerstreuten Depeschen-Annahme-Stellen trug man wohl der Bequemlichkeit des Publicums Rechnung, aber dem Uebel selbst wurde dadurch nicht gesteuert. Selbst wenn man diese Stellen auch durch den telegraphischen Draht mit dem Central-Bureau verbunden hätte, würde man den Uebelstand noch nicht beseitigt haben; denn jede in Berlin aufgegebene Depesche hätte erst nach dem Central-Bureau und von da aus wiederum nach dem Bestimmungsort, und umgekehrt hätte jede aus dem Central-Bureau von außerhalb ankommende Depesche nach der Bezirksstation umtelegraphirt werden müssen. Daß die auswärtigen Orte nicht wegen einer einzelnen Depesche direct mit der betreffenden Bezirksstation in Berlin in Verbindung gesetzt werden können, sieht Jedermann ein, welcher sich einen Begriff von der Zahl der in Berlin ankommenden und der von dort abgehenden Depeschen machen kann. Mit dem Bau des neuen Berliner Börsengebäudes trat noch ein anderer Uebelstand ein. Wegen des enormen Depeschenverkehrs, welcher während der Börsenzeit von den Börsenmännern mit den bedeutenderen Städten Deutschlands und des Auslands unterhalten wird, sah man sich genöthigt, im Börsengebäude selbst Telegraphenapparate aufzustellen, um von hier aus direct – ohne erst die Central-Telegraphenstation zu benutzen – nach den betreffenden Orten telegraphiren zu können. Während der Börsenzeit müssen also alle Depeschen, welche zur Beförderung nach der Centralstation gebracht werden, warten, bis die Börsenzeit vorüber ist. Diese Benachtheiligung des großen Publikums zu Gunsten der Börsenwelt erheischte eine Abänderung des Verkehrssystems, und man verfiel unter diesem Drängen der Uebelstände auf die Luftröhrenposten. Man wollte die an passenden Orten der Stadt errichteten Bezirksstationen durch Röhrenposten mit der Centralstation verbinden, und das neue Börsengebäude selbst sollte eine Bezirksstation werden. Die auf Papier geschriebenen und auf einer Bezirksstation aufgegebenen Depeschen sollten nun durch das Rohr nach der Centralstation und die daselbst von außerhalb ankommenden Depeschen sollten ebenfalls auf Papier geschrieben und ebenfalls durch das Rohr nach der betreffenden Bezirksstation befördert werden.
Man hatte sich von vorn herein überzeugt, daß, damit dieses Depeschen-Beförderungs-System einer Entwickelung und Ausdehnung dem Wachsthum der Stadt Berlin gemäß fähig sei, jede Bezirksstation durch einen doppelten Röhrenstrang mit der Centralstation verbunden werden müsse. Der eine befördert dann die Depeschen in der Richtung von der Peripherie zum Centrum, der andere in umgekehrter Direktion. Die beiden Röhren, welche auf der Bezirksstation verbunden sind, münden auf der Centralstation mit einer Oeffnung in einen großen Windkessel, welcher zusammengepreßte, und mit der anderen Oeffnung in einen andern großen Windkessel, welcher verdünnte Luft enthält. Eine von einer Dampfmaschine fortwährend in Bewegung erhaltene Pumpe saugt zu gleicher Zeit aus dem einen Windkessel die Luft und drückt sie in den anderen hinein, wodurch ein continuirlicher, im Kreislauf sich bewegender Luftstrom durch die einzelnen Röhrensysteme getrieben wird. Dieser Luftstrom kann in jedem Moment, sowohl auf der Central- als auf der Bezirksstation benutzt werden, Depeschen in kleinen mit vier Rädern versehenen Wagen abzusenden. Wegen der doppelten Röhrenstränge ist keine Gefahr vorhanden, daß ein Depeschenwagen sich mit einem andern treffe, und so können von Secunde zu Secunde immer neue Depeschenwagen den eben abgegangenen nachgesendet werden.
Dieses interessante und schöne Project sollte zuerst zwischen der neuen Börse und der Central-Telegraphenstation ausgeführt werden. Die Entfernung beider Punkte beträgt auf dem in Vorschlag gebrachten Wege ungefähr 3000 Fuß, und bei einer Geschwindigkeit von 30 Fuß in der Secunde hätte der Depeschenwagen noch nicht ganz zwei Minuten gebraucht, um diesen Weg zu durchlaufen. Hätte sich diese Strecke bewährt, dann sollten hierauf die Bahnhöfe mit dem Telegraphengebäude verbunden werden, und so wäre das System nach und nach über die ganze Stadt ausgedehnt worden. Daß man mit der neuen Börse den Anfang machen wollte, daran gerade ist, wie ich vermuthe, das ganze Project gescheitert. Die Börsenwelt steht sich bei dem jetzigen Beförderungssystem zu gut, als daß sie wünschen sollte, eine Aenderung eintreten zu sehen. Die reiche Kaufmannschaft von Berlin besitzt aber eine große Macht, und wer weiß, ob sie nicht Schuld daran hat, daß bis jetzt die Luftpost noch ein – Luftschloß ist! R. H.
Der theuerste Farbstoff der Welt. Im Alterthum hielt man den Purpur dafür, jenen Saft einer Schneckenart, mit welchem ein Schäferhund sich zuerst die Schnauze gefärbt hatte. Purpurkleider durften nur die Edlen tragen – heut zu Tage vermag sich das ärmste Spinnermädchen, Dank der Chemie, ein schönes, gefärbtes Sonntagskleidchen zu erzeugen. Im Mittelalter, als der fromme Sinn die Riesenbauten gothischer Kirchen aufführte, lernte man mittels Gold in der Glasmalerei jenes glühende Roth hervorbringen, dessen Geheimniß nachher Jahrhunderte lang verloren war, bis neuere Forschungen das Recept wieder zu Tage brachten. – Das echte Ultramarin, aus dem Lapis-Lazuli dargestellt, der weit hinten aus der Mongolei in den Handel kam, wurde im vollen Sinne des Wortes mit Gold aufgewogen. Heute kauft man für denselben Preis, den früher ein Loth kostete, einen ganzen Centner des künstlich aus Thon, Soda, Eisen und Schwefel erzeugten, aber ebenso schönen Farbstoffes.
An und für sich sind diese Farben also kaum von einem nennenswerthen Preis, sie erhalten aber einen Werth durch die Art ihrer künstlerischen Verwendung. Es giebt kleine Gemälde, kaum von der Größe einer Schiefertafel, die für viele tausende von Thalern verkauft werden – des Künstlers Genie hat den ursprünglichen Werth der Farbenkörper vermillionenfacht.
Alles Können, alles Genie aber und aller Geist vermögen nicht bei der Menge die höchste Stufe der Werthschätzung zu erklimmen. Das vermag allein die Curiosität, die Seltenheit – sie wird höher bezahlt (darin liegt für die Menge ja der Maßstab) als die erhabensten Schöpfungen des Genius.
Wenn die Möglichkeit geboten werden könnte, ein Werk der Tonkunst, etwa eine Beethoven’sche Symphonie, der Menschheit nur mit einer Summe von Hunderttausenden zu gewinnen oder zu erhalten, andernfalls solle es unwiederbringlich verloren sein – die Mittel dazu, man kann die Behauptung wagen, würden nicht aufzubringen sein. Wir haben ja genug dergleichen Musik! Dagegen reißen sich die Menschen um einen Diamant, der ihnen nichts ist als ein Stück Kohle, um Rubine, die aus schlechtem Thone bestehen. Die Edelsteine insgesammt sind ihren Bestandtheilen nach durchaus nichts besonders Werthvolles. Einzelne ihrer Eigenschaften, bedeutende Härte zum Beispiel, geben manchen zwar einen wirklichen Werth, insofern dieselben dadurch zu technischen Verwendungen geschickt werden, – allein das besonders an den Edelsteinen Geschätzte ist ein eingebildeter Gehalt, der durch die Seltenheit vervielfacht wird.
Glanz, Durchsichtigkeit und Farbe machen den Kiesel zum gesuchten Amethyst, die Thonerde zum kostbaren Sapphir. Der gewöhnliche Beryll, welcher in centnerschweren Krystallen vorkommt, wird in erbsengroßen Stückchen mit ungeheuren Summen bezahlt, wenn er schön rein und grün und durchsichtig ist. Die Hauptbestandtheile aller sind so häufig in der Natur, daß sie für nichts geachtet werden. Bergkrystall und Amethyst sind in Allem gleich, nur enthält der letztere eine unwägbare Spur Mangan, welches die Ursache seiner violetten Farbe und seines vielmal höheren Preises ist. Mangan aber wird im Harz in ungeheuren Massen gewonnen, und alle Amethysten der Welt enthalten zusammen nicht soviel davon, als dort ein einziger Bergmann in einem Tage fördern kann.
Der Smaragd ist durch Chromoxyd gefärbt, welches man in der Porzellanmalerei anwendet; der Spinell verdankt seine Farbe demselben Körper, der Granat ist durch Eisen oder Mangan, der Rubin wieder durch Chrom, der Türkis durch Kupfer gefärbt etc. Durch diese an und für sich werthlosen Stoffe erhalten die Edelsteine ihr Aussehen und ihren hohen Preis, denn farblos würden sie oft kaum beachtet werden. Eisen, Mangan, Chrom und Kupfer treten hier also als die theuersten Farbstoffe auf. In einzelnen Beispielen steigert sich dies bis in’s Unglaubliche. Was man aber auch davon erzählen kann, – Alles wird übertroffen durch einige [720] farbige Diamanten, welche gerade ihrer Färbung wegen die höchsten Summen erreichen.
Im russischen Schatze befindet sich ein rubinrother Diamant, welcher beim Ankauf mit 100,000 Rubeln bezahlt worden ist. Wäre er farblos, so würde er, da er nicht mehr als 10 Karat wiegt, kaum den zehnten Theil gekostet haben; das Bißchen Farbstoff, welches ihn um 90,000 Rubel theurer gemacht hat, wiegt nicht soviel als der Staub, den man täglich von einem Buche wischen kann.
August der Starke kaufte einen grünen Diamant für 60,000 Ducaten; wenn derselbe über Nacht einmal seine schöne Farbe verlöre, würde man nicht mehr soviel Thaler dafür geben, trotzdem daß man für einen Dreier mehr jenes Farbstoffes kaufen könnte, als der ganze Diamant enthält. Ganz unschätzbar aber ist der schöne blaue Diamant, welchen der Banquier Hope zur Londoner Ausstellung gegeben hatte. Er ist so groß wie die Hälfte einer kleinen wälschen Nuß und wiegt 44 Karat; gleich große farblose Steine würden einen Preis von etwa 200,000 Thaler erreichen, während sich für ihn, der um eine Stecknadelkuppe Farbstoff enthält, gar kein Preis angeben läßt.
Vorbereitungen zu einem Himmelsfeste. Wie die wissenschaftlichen Engländer eine große, kostspielige und kostbare Expedition zu Wasser und zu Lande machten, um die totale Sonnenfinsterniß vor sechs Jahren von dem günstigsten Punkte (in Spanien) aus zu beobachten und das offene, nach allen Seiten strahlende, bis jetzt unenthüllte Geheimniß des Sonnenlichtes zu erforschen, rüsten sie sich jetzt schon wieder zu einem der seltensten astronomischen Ormuzd- oder Sonnenfeste. Diese Festlichkeit wird erst in achtzehn Jahren am 6. December auf der Sonnenscheibe stattfinden. An diesem 6. December des Jahres 1882 wird nämlich die erste planetarische Nachbarin der Sonne, der göttliche Morgen- und Abendstern Venus, zur Sonne auf Besuch kommen, so daß sie die bewaffneten Augen der Himmelsforscher von gewissen Breitengraden der Erde aus über die Sonnenscheibe hinweggehen sehen können.
Der Präsident der astronomischen Gesellschaft in London, Professor Airy, der, wie die Gartenlaube bereits früher mittheilte, das Gewicht der Erde ermittelte, hat nun schon vor einigen Wochen seine Collegen und ganz England aufgefordert, Vorbereitungen zur Feier und Benutzung dieses seltenen, wichtigen Himmelsfestes zu treffen. Es sei durchaus nicht zu früh, meint er, da bei der Wichtigkeit dieses Ereignisses alle astronomischen Kenntnisse und Hülfsmittel, alle Genialität und Weisheit, die Ermittelung der geeignetsten Beobachtungsplätze und deren Ausrüstung nöthig sein würden, um mit einiger Wahrscheinlichkeit auf einen genauen Erfolg rechnen zu können. Dieser Erfolg, auf den man rechnet, bezieht sich auf die dann eintretende Möglichkeit, endlich die Entfernung zwischen Sonne und Erde genau zu messen. Dies weiß man nämlich jetzt in Folge wissenschaftlicherer Beobachtungen nicht mehr genau, obwohl das Maß dieser Entfernung Jahr aus Jahr ein in allen Schulen gelehrt und auswendig gelernt wird.
Das Mittel dieser bestimmteren Messung ist durch das Licht gegeben, dessen Geschwindigkeit man genau kennt. Da man nun auch jetzt schon auf’s Haar weiß, wo und in welcher Secunde Venus über die Sonnenscheibe zu wandern beginnt, genau weiß und schon in Zeichnungen anschaulich gemacht hat, welchen Weg sie über die Sonnenscheibe machen und wo und in welchem Augenblicke sie den äußersten Rand der Sonne verlassen wird, so hat man in Beobachtung des Schattens etc. und mit Berechnung der Zeit, die zwischen dem wirklichen und scheinbaren Ein- und Austritt verfließt, das Mittel, die Entfernung zwischen Sonne und Erde astronomisch genau zu erkunden. Da diese Entfernung gewissermaßen die astronomische Himmelselle für alle andern Entfernungen ausmacht, wird man ohne weitere Kenntnisse wenigstens ahnen, wie wichtig die genaue Ermittelung dieses Ellenmaßes sein muß.
Warum aber achtzehn lange Jahre vorher rüsten und vorbereiten?
Dies ergiebt sich aus dem Umstande, daß die besten Beobachtungsgegenden unter dem 65. Grade südlicher Breite, also unter dem Polarkreise des südlichen Eismeers, liegen werden. Professor Airy trägt also darauf an, daß zunächst eine große See-Expedition ausgerüstet werde, welche untersuchen soll, ob sich der 65. Grad und wo er sich am besten erreichen lasse, ob dort fester Boden für Beobachtungsstationen aufzufinden sei etc. Da diese Forschungen ungünstig ausfallen könnten, müsse diese oder eine andere Expedition in jenen eisigen Gegenden andere geeignete Beobachtungsstationen zu ermitteln suchen. Das erfordere viel Geld, Zeit, Mühe, Wissenschaft und Opfer, und deshalb sei es durchaus nicht zu früh, schon jetzt anzufangen.
Für uns, die wir keine Astronomen sind, hat diese weit voraussehende kühne Wissenschaftlichkeit kein besonders warmes Interesse; aber es ist schön und einen Culturstaates würdig, wie dies England vor allen andern ganz besonders häufig und mit reichen Mitteln gethan hat und noch thut, den Männern der Wissenschaft Schiffe und Geld und sonstige Staatshülfe für ihre Zwecke zur Verfügung zu stellen. Leider denken die Lenker unserer deutschen Staaten von der Wissenschaft minder hoch.
Zur Abwehr. Das Wochenblatt des Reformvereins richtet einen mit allerlei gehässigen Unterstellungen ausgeschmückten, anonymen Angriff gegen die im vorigen Jahre hier in’s Leben getretene Lotterie von Kunstgegenständen zu Gunsten nothleidender Schleswig-Holsteiner. Ein ähnlicher, wenn auch minder gehässiger Angriff, dessen Autor gleichfalls Gründe gehabt zu haben scheint, seine Person nicht an das Tageslicht treten zu lassen, ist in dem Börsenblatt für den Buchhandel enthalten. Der letztere hat bereits von dem jetzigen Concessionar der Lotterie seine Erwiderung gefunden. Der Angriff des Reformvereinsblattes hat mehr oder weniger zugleich eine persönliche Tendenz gegen die Mitglieder des unterzeichneten Comités, denen bestimmte Parteistellungen beigemessen werden.
Zur Steuer der Wahrheit gegen diese aus der Luft gegriffenen Angriffe werden folgende Thatsachen genügen.
Das unterzeichnete Comité hat diese Lotterie nicht unternomnien, steht derselben in allen seinen Mitgliedern persönlich gänzlich fern und ist überhaupt erst zusammengetreten, nachdem das Lotterieunternehmen von anderer Seite bereits in’s Leben gerufen und von der herzoglichen Staatsregierung geprüft und genehmigt war. Weder der ursprüngliche, noch der jetzige Concessionar sind Mitglieder des Nationalvereins, der Verlag des jetzigen Concessionars ist sogar ein dem Nationalverein entschieden gegnerischer! Das controlirende Comité steht zu der Lotterie in weiter keiner Beziehung, als in der der Controlübung, im Interesse der spielplanmäßigen Durchführung, also im Interesse der Loosabnehmer. Von den Mitgliedern des Comités ist ein einziges zugleich Mitglied des Nationalvereins und dieses ist, auf ihm ausgesprochenen Wunsch, erst nachträglich, nach Bildung des Comités, beigetreten. Ueberhaupt erscheint es, gegenüber dem wohlthätigen Zweck des Unternehmens, im hohen Grade beschränkt oder böswillig, hierbei die politische Parteistellung in Frage zu ziehen, geschweige gehässig auszubeuten.
An der Organisation hat das Comité nichts ändern können, es hat dieselbe, als es, dazu dringend ersucht, zusammentrat, in dem von Seiten der Staatsregierung genehmigten Spielplan diese Organisation bereits fertig vorgefunden. Wenn das Unternehmen für den Loosvertrieb mehr aufwenden muß, als im Interesse des eigentlichen Zweckes wünschenswerth ist und als vielleicht die von dem Reformvereinsblatt nicht angegriffene Kölner Dombaulotterie, unterstützt durch zahlreiche geistliche Agenten, zu verwenden nöthig hat, so liegt der Grund hauptsächlich in den gehässigen Angriffen, die den Loosabsatz fortwährend erschweren und so den Erfolg gefährden.
Coburg, den 23. October 1864.
Für das controlirende Comité zur Lotterie zu Gunsten nothleidender
Der Vorsitzende.
Oberländer, Bürgermeister.
sind neuerdings wieder bei mir eingegangen: 86 Thlr. 5 Ngr., ges. in der Schützenzunft zu Neubrandenburg – 5 Thlr., ges. bei dem Stiftungsfeste des Musikvereins zu Meerane – 3 Thlr. 201/2 Ngr., ges. bei einer Landpartie der „Erheiterung“ in Chemnitz – 2 Thlr. 10 Ngr., ges. in einem Leipziger Bootsverbande – 2 Thlr., ges. vom Ruderclub in Leipzig – 10 Thlr. 151/2 Ngr., ges. von den vereinigten Ruderbooten der Elster bei der Taufe der „Amazone“ – 5 Rubel als jährlicher Beitrag von einem Holsteiner in Finnland – 4 Thlr. von der Gesellschaft „Ewigjung“ in Lakehof – 10 Thlr., ges. am runden Tische bei F. Lorenz in Zwickau – 3 Thlr. 251/2 Ngr., ges. in der Gesellschaft „Sanssouci“ in Leipzig – 3 Thlr. 15 Ngr. von der Barnikow’schen Riege in Leipzig – 3 Thlr. von der Gesellschaft „Turnerfreundschaft“ in Gera – 4 Thlr. von einem Kränzchen junger Hausfrauen in Markneukirchen durch Bürgermeister Kuno Schweitzer – 32 Thlr. vom Turnverein in Bautzen – 24 fl. rhein. vom Turnverein in Mörstadt, ges. bei der Turnfahnenweihe – 10 Thlr. 14 Ngr. vom Turnverein zu Hirschberg in Schlesien – 11 Thlr., ges. im letzten Winter aus einem Maskenballe in der „Bürgererholung“ zu Gera – 20 fl. österr. von der Gesellschaft „Germania“ in Asch in Böhmen – 10 Thlr. von der Zschetzschingk’schen Riege in Leipzig – 6 Thlr. von A. R. in Leipzig – 1 Thlr. von F. H. – 5 Thlr. von einigen Mitgliedern der Schützengesellschaft in Lommatzsch – 10 Thlr. 7 Ngr., ges. bei einer Abendunterhaltung der Liedertafel zu Zwenkau – 4 Thlr. 15 Ngr., ges. bei Fritzen’s Abschied – 4 Thlr. von der Dienstagabendgesellschaft in Ruschbrunn.– 22 Thlr. vom Turnverein in Hirschberg in Schlesien – 1 Thlr. 3 Ngr., ges. in einer kleinen Gesellschaft im Löwen zu Eisenach – 6 Thlr., Ertrag einen vom Walsdorfer Liederkranze veranstalteten Concerts – 5 Thlr. 20 Ngr. (10 fl. rhein.), Ertrag einer musikal. Abendunterhaltung des Gesangvereins in Effelder bei Sonneberg in Thüringen – 2 Thlr. 1 Ngr., ges. bei einer Abendunterhaltung bei Riedel in Zwickau – 15 Thlr., ges. von jungen Kaufleuten im Bären zu Göttingen – 1 Thlr., Monatsbeitrag von A. – 20 Ngr. von Sophie in B… heim – 35 Thlr. 3 fl. rhein. (fl. 64.15.) von der Turngemeinde zu Ravensburg in Würtemberg – 1 Thlr. von einem deutschen Knaben im Erzgebirge – 3 Thlr., ges. vom Club „Krusemünt“ – 18 Thlr. 20 Ngr. (20 Rubel) von drei Deutschen in St. Petersburg durch A. G. – 1 Thlr., ges. in einem Kaufladen zu Sondheim v. d. Rhön – 1 Thlr. von Amalie T. in Chemnitz – 53 Thlr. vom Turnverein zu Zeulenroda – 8 Thlr., Ertrag einer Gesangunterhaltung in Ebersbach bei Löbau – 15 Ngr. von E. G. in Unterrißdorf – 3 Thlr. von einer vergnügten Abendgesellschaft zu Altoschatz – 2 Thlr., gelegentlich einer nicht zum Austrage gelangten Wette – 14 Thlr., ges. im Liederkranz zu Naunhof – 15 Thlr., Ertrag einer musikal. Abendunterhaltung zu Geithain – 100 Thlr., Ertrag einer von drei Leipziger jungen Damen, T. S., M. B., A. W., veranstalteten Lotterie – 16 Thlr., ges. bei einem Mittagsessen auf dem Schützenplatz in Meerane – 1 Thlr. von S. – 10 Thlr., weiterer Beitrag der Leipziger Liedertafel – 82 Thlr., Ertrag einer Lotterie in der Kaltwasserheilanstalt zu Alexandersbad – 11 Thlr. 18 Ngr. 2 Pfg., ges. von der Liedertafel zu Hildburghausen – 21 Thlr. von Sebnitz und Umgegend – 1 Thlr. von G. A. in Sebnitz – 14 Thlr., ges. in Coblowa bei Moskau – 10 Thlr., ges. in Oederan. Außerdem empfing ich ferner noch: eine goldene Schnalle von Frau Giesendörfer in Odessa – einen kleinen goldnen Ring von A. X.
Indem hiermit meine Sammlung für die braven Schleswig-Holsteiner schließe, danke ich herzlich für den so warm und nachhaltig bethätigten Brudersinn und behalte mir vor, sowohl von dem Erlös aus den mir zahlreich eingesandten Schmuckgegenständen, als von der Verwendung der Gelder Rechenschaft zu geben, soweit dieselben noch nicht nach Schleswig-Holstein abgeführt wurden und einstweilen bei der Leipziger Creditanstalt verzinslich angelegt sind.- ↑ Der Verfasser hat hier Rotten-Row und Hyde Park benutzt, um, wie er seit länger als zehn Jahren schon in unserm Blatte gethan, auf den einen großen englischen Vorzog öffentlicher Gesundheitspflege und gesunden Städtelebens hinzudeuten. Ganz in demselben Sinne sollen seine „Deutschen Früchte aus England. Erzählungen und Erlebnisse“ wirken, die soeben bei Grunow in Leipzig erschienen sind. Wir erlauben uns unsere Leser und Leserinnen auf dieses neueste Erzeugniß des fleißigen und geistvollen Verfasseers aufmerksam zu machen, in welchem dieser mit allen Mitteln des Ernstes und des Scherzes, der Erzählung und der Schilderung die wirklich deutschen Früchte englischer Cultur bei uns zu acclimatisiren und einheimisch zu machen sucht. Die Redaction.
- ↑ S. Nr. 3, 1864.