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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[385]
Der Zeuge.
Von J. D. H. Temme.
(Fortsetzung.)

Haben Sie nie etwas von der Geschichte der blassen Frau gehört?“ fragte der Student.

„Niemals,“ antwortete das junge Mädchen.

„Sie war eine wunderschöne junge Dame.“

„Ich denke, sie ist es noch.“

„Hm, ja. Aber sie war arm. So hatte sie trotz ihrer Schönheit ziemlich unbeachtet in der Residenz gelebt. Da sah sie der Herr von Rachenberg. Er machte ihr den Hof und bot ihr seine Hand an. Sie konnte sich nicht entschließen. Aber sie hatte einen harten Bruder, von dessen Gnade sie lebte. Der Herr von Rachenberg war reich, hatte damals schon eine hohe Stellung; hatte die Aussicht, nächstens Oberstaatsanwalt zu werden; wird, wenn er diese Stelle vielleicht nur noch ein Jahr lang bekleidet hat, Präsident werden, und seine Untergebenen sehen schon jetzt den künftigen Justizminister in ihm. Der Bruder redete ihr zu, wohl nicht immer freundlich, und die Arme – ach, mein Fräulein, es wurde erst nachher bekannt, die Arme hatte eine Liebe mit einem Freiherrn von Wartenburg, eine geheime Liebe, von der die Welt nichts erfahren durfte, welche die beiden Liebenden tief in ihre Herzen verschließen mußten. Der Baron Wartenburg war noch nicht sein eigener Herr, sein Vater lebte noch. Er stand andererseits mit an der Spitze der demokratischen oder eigentlich demagogischen Partei, die damals die Throne umstürzen wollte, die eine Zeit lang die Macht gehabt hatte, deren Macht aber jetzt gerade mehr und mehr gebrochen wurde, denen als Hoch- und Landesverräthern täglich mehr und mehr der Kerker, selbst das Schaffot drohte. Die Liebenden mußten ihre Liebe in das tiefste Geheimniß hüllen. Der Bruder, der zu den entschiedensten Anhängern der Regierungspartei gehörte, hätte die Verlobte des berüchtigten Demagogen aus dem Hause geworfen. Der alte Freiherr stand ohnehin schon im Begriff, den entarteten Sohn zu enterben. Das arme Mädchen widerstand dennoch lange den Zuredungen und Drohungen des Bruders. Da wurden eines Tages alle jene Häupter der hochverräterischen Verschwörung verhaftet, es wurde ihnen der Proceß gemacht. Fräulein Julie Sommer, – so hieß die Arme – verfiel in eine schwere Krankheit. Als sie halb genesen war, erklärte der Bruder ihr seinen unabänderlichen Willen, daß sie den Herrn von Rachenberg heirathen müsse. Der durch das schwere geistige und körperliche Leiden Gebrochenen fehlte jede Kraft des Widerstandes. Sie wurde die Gattin des Herrn von Rachenberg, die Gattin des Mannes, der fast von dem nämlichen Tage an mit einer unerbittlichen Strenge, mit jener Leidenschaft der Strenge den Geliebten ihres Herzens verfolgte. Dem Herrn von Rachenberg war die Anklage in dem Processe gegen die Hochverräther aufgetragen. Nach dessen Beendigung sollte er Oberstaatsanwalt werden. Man sagte später, ihm sei auch damals schon das heimliche Liebesverständniß zwischen Fräulein Sommer und dem Baron Wartenburg bekannt gewesen. Gewiß ist, daß seine ganze Strenge mit eisernster Faust gerade den Herrn von Wartenburg packte. Dieser wurde zu lebenslänglicher Festungsstrafe verurtheilt; freilich drei oder vier der hervorragendsten Häupter der Verschwörung mit ihm.“

Die junge Braut hatte während der Erzählung doch den Onkel ansehen müssen. Aber der brave Herr Milden hatte ruhiger zuhören können, als sie.

„Hm, hm,“ sagte er, „Herr – wie ist doch Ihr werther Name?“

„Heinrich Eisen.“

„Hm, hm, Herr Eisen, Sie meinen, jene verurtheilten Hochverräther säßen in der Festung da hinten?“

„Ich meine das nicht blos, Herr Milden, ich weiß es.“

„Auch der Baron Wartenburg?“

„Auch er.“

„Potz alle Tausend, und wenn er nun einer der Entsprungenen wäre!“

„Ich hatte auch daran denken müssen, Herr Milden.“

„Und – potz, potz – Idchen, wenn wir jetzt auf einmal auf den Baron stießen –!“

„Ich vertheidigte ihn, Onkel.“

„Und ich glaube wahrhaftig, ich stände Dir bei.“

„Und Sie, Herr Eisen?“ fragte das Mädchen.

„Hm, hm, es wäre eine eigene Sache.“

„Und Sie heißen Eisen?“

„Ich werde eisern im Rechte werden.“

„Aber, Idchen,“ sagte Herr Milden, „wir wollen doch nicht wünschen, daß der arme Mensch uns begegnet. Es wäre der Tod der unglücklichen Frau.“

„Und was ist ihr seine ewige Gefangenschaft? Zumal jetzt, da sie sich ihn schon frei denkt! Ihr Herz ist überzeugt, daß er sich befreit hat. Wie sollte er auch nicht?“

„Ja, ja, und auch er glaubt daran, ihr Mann. Wie schlug ihm die helle Flamme der Eifersucht aus den Augen heraus, als sie bei den Kanonenschüssen in Ohnmacht fiel!“

„Die arme Frau!“

„Aber still, Idchen! Da sind wir oben, laß nichts merken.“

[386]
3. Die Steile Wand.

Sie standen auf dem schönsten Punkte, den die Höhe des Berges darbot, und genossen eine freie und weite Aussicht über den langen Kamm des Gebirges, in die Thäler und Ebenen zu dessen beiden Seiten. Die reinste Abendsonne beleuchtete die schöne Doppellandschaft. Sie war noch ziemlich hoch am Himmel, erst in einer Stunde war ihr Untergang zu erwarten; aber leichtes Abendgewölk zog ihr schon hinten am fernen Horizont entgegen.

Sie standen Alle in stummer Bewunderung des herrlichen Schauspiels. Selbst aus der Brust des finsteren Oberstaatsanwaltes schien der wundervolle Anblick für einige Zeit die leidenschaftlichen Regungen verbannt zu haben, und seine blasse Frau – sie schaute an dem Arme der Frau Milden mit träumerischem, sanft und weich glänzendem Auge in die schöne Natur hinein, in die weite Ebene nach Westen, die so klar, so ruhig und so still in dem Lichte der Abendsonne dalag; sie sah der Sonne nach, die sich tiefer und tiefer senkte, um in der Nacht zu verschwinden. Das Auge der blassen Frau behielt seinen weichen, träumerischen Glanz. Die Frau Milden sah es und drückte still die Hand der Freundin.

Freundinnen waren sie geworden, die beiden Frauen, in der kleinen halben Stunde, die sie allein auf dem Wagen beisammengesessen hatten. Wie es nicht anders hatte sein können, als daß ihre Herzen sich hatten verstehen, sich gegen einander öffnen, sich hatten lieben müssen, so zeigte das auch so natürlich jeder ihrer Blicke, jede ihrer Bewegungen. Man sah ein Paar Schwestern, von denen die ältere und stärkere die jüngere, schwächere, tief und schmerzlich leidende mit um so heilenderem Troste umfassen konnte, als ihr eigenes Herz ihr ein so klares Verständniß, ein so inniges Mitgefühl für jene tiefen und schmerzlichen Leiden gab.

Dem scharfen, mißtrauischen Auge des Gatten der leidenden Frau war das am wenigsten entgangen. Die fast ewig finsteren Wolken auf seiner Stirn waren drohender geworden. Aber seine Gattin konnte ihm frei in das Auge blicken. Er hatte sich wieder beruhigt; es hatte wenigstens so geschienen. Er sah auch jetzt den Händedruck der beiden Frauen. Es zog dem leidenschaftlichen, eifersüchtigen Manne krampfhaft die Hände, die Gesichtsmuskeln zusammen.

Die Gesellschaft ging weiter, denn der Berg bot noch manche andere schöne Punkte dar. Herr Milden, der schon öfter hier gewesen war, machte den Führer. Sie verließen die offenen Plätze, welche die weiten, freien Aussichten gaben, und kamen in ein Gehölz, und am Ende desselben vor einen mächtigen, breiten, hohen Felsen. Er lag vor ihnen, als wenn er die Welt, eine andere, unbekannte Welt, vor ihnen verschließen wolle.

„Hm,“ sagte Herr Milden geheimnißvoll, „hier werden wir wohl umkehren müssen.“

„Warum?“ wurde er gefragt.

„Es ist gefährlich dort, und der Mensch verlange nimmer und nimmer zu schauen, was sie, die Götter nämlich –“

„Onkel,“ rief die Braut, „wir stehen an der Steilen Wand?“

„Ja, Mädchen, und da müssen wir zurück.“

„Da müssen wir hin, Onkel! Sie haben mir so viel davon erzählt! Es soll so schön dort sein.“

Auch der Bräutigam und Herr Eisen baten, und der Domherr gab endlich den Ausschlag. „Herr Milden, lassen Sie die Jugend der Gefahr in’s Auge schauen. Sie tritt später noch oft an den Menschen heran, an jeden und in jeder Form. Es ist gut, wenn sein Auge sie schon kennt.“

„Nun denn, so folgen Sie mir,“ sagte Herr Milden. „Aber Du, Emchen, willst doch nicht mitgehen?“

„Wir beiden Frauen bleiben zurück,“ erwiderte die Frau.

Der Felsen, an dem sie standen, hatte mehrere Vorsprünge; einer von diesen verbarg einen breiten Einschnitt. Sie gingen durch diesen, sie waren auf der Steilen Wand.

Der Oberstaatsanwalt hatte einige seiner finsteren, mißtrauischen Blicke auf die beiden zurückbleibenden Frauen geworfen, dann war er mit den Anderen weiter gegangen. Man hätte an seinem Muthe zweifeln müssen, wenn er zurückgeblieben wäre.

Die Steile Wand war eine lange, senkrechte Wand, die der schroff vorspringende Felsen bildete; längs der Wand lief ein schmaler Raum, der kaum drei bis vier Fuß breit war, unter dem sich unmittelbar ein tiefer Abgrund aufthat, und den man nur einzeln, Mann für Mann, betreten durfte, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, in den Abgrund zu stürzen; eine Brustwehr hatte in dem harten und spröden Gestein des Felsens sich nicht anbringen lassen. Der Besuch des Platzes war in der That gefährlich, und wie viele Reisende auch alljährlich die Höhe des Weißen Steins erstiegen, um sich an seiner reizenden Aussicht zu erfreuen, auf die Steile Wand begaben sich nur wenige, und diese wenigen nicht ohne große Vorsicht. Und doch war es ein so eigenthümlicher, wie unheimlicher, so auch heimlicher Platz. Man stand dort völlig abgeschieden von der Welt, auf einem Raume, der nicht vier Fuß breit war, hinter sich die steile, kahle Felswand, vor sich unmittelbar den tiefen Abgrund, dessen Tiefe man nicht wagen durfte ermessen zu wollen, wenn man sich nicht zugleich der Gefahr des rettungslosen Sturzes aussetzen wollte. Man konnte nur eben in eine unergründliche Tiefe hinunterblicken, in der das Auge nach oben hin nur starre Felsenzacken und wildes Gestrüpp, dann aber nichts mehr unterschied, in der das Ohr aber tief, tief unten das Rauschen eines Wassers vernahm. Jenseits der dunklen Tiefe erhob sich ein hoher, steil und spitz zulaufender, mit Holz bewachsener Berg, oben auf seiner Spitze erblickte man graues Gestein; man konnte nicht unterscheiden, ob es Felsenstücke oder Ruinen eines alten Burggemäuers waren. Zwischen dem spitzen Berge und der steilen Wand des Felsens befand sich ein kleiner offener Zwischenraum; man sah durch ihn in eine endlose Ebene, und in deren Mitte gerade auf eine Stadt, auf ihre dunkle Häusermasse, auf ihre Gruppe hoher Kirchenthürme.

Die Reisenden standen auch hier in stillem Anschauen. Nur des Staatsanwaltes hatte sich eine eigenthümliche Unruhe bemächtigt. Herr Milden, der für Alles Augen hatte, bemerkte es.

„Sieh’ ihn Dir einmal an, Idchen,“ sagte er leise zu der Braut.

„Ja, Onkel, er sieht so unheimlich aus, wie die finstere Tiefe hier unter uns.“

„Ja, ja, Idchen, und als wenn er in der dunklen Tiefe etwas suchte, so etwas recht Entsetzliches.“

„Vorhin suchten seine Augen da drüben.“

„Wo, wo, Ida?“

„An den Steinen da oben, auf der Spitze des Berges. Er sah starr und scharf hin, als wenn er das alte Mauer- oder Felsenwerk mit seinen Augen durchbohren wolle. Auf einmal zuckte er und fuhr zusammen. Er mußte da oben etwas gesehen haben. Ich blickte schnell hin und meinte noch wahrzunehmen, daß sich etwas zwischen den Mauern bewege. Als ich schärfer hinsah, war es fort. Ich dachte, ich hätte mich getäuscht.“

Herr Milden schwieg einige Minuten. „Idchen,“ sagte er dann leicht, „mir kommt da ein sonderbarer Gedanke! Wenn seine mißtrauischen Staatsanwaltschafts- und Ehemannsaugen da oben die beiden Flüchtlinge …“

„Ich mußte wahrhaftig auch daran denken, Onkel,“ unterbrach ihn Idchen.

„Aber was sucht er denn jetzt da unten?“

„Ein Grab, Onkel.“

„Ein Grab? Mädchen, wie kommst Du darauf? Ein Grab und für sich? Danach sieht er mir nicht aus.“

„Nein, nicht für sich, aber –“

„Um Gottes willen, Mädchen, schweig. Er sieht auf uns. Sind seine Ohren so scharf, wie seine Augen, so hat er am Ende gehört, was wir sprachen.“

Sie brachen ihr Gespräch ab.

„Aber er sucht doch ein Grab da unten,“ sagte das Mädchen für sich, „und ich muß es wissen.“

Sie schüttelte sich, als wenn ein Grausen sie erfaßt habe, und trat zu dem Studenten.

„Herr Eisen, was blicken Sie so tiefsinnig in die Tiefe hinein?“

„Ich, mein Fräulein?“

„Ja, Sie. Woran dachten Sie?“

„Ich dachte gerade, wie diese tiefe, undurchdringliche Schlucht einen herrlichen Schlupfwinkel für Verbrecher abgeben könne.“

„Ei, ei, sind Sie denn überall vorzugsweise Criminalist?“

Der Oberstaatsanwalt sah sich plötzlich nach ihr um. Den Studenten hatte er schon bei dessen Antwort fixirt, und dieser hatte es bemerkt. Er war roth geworden und antwortete nicht.

„Und an was für Verbrecher dachten Sie?“ fragte ihn das Mädchen weiter. „An eine Räuberbande oder an – Ah, es [387] waren ja wohl Staatsverbrecher, die aus der Festung da hinten entsprungen sind?“

„Um Gottes willen, Fräulein!“ bat der Student leise und wie in Todesangst. „Man weiß ja gar noch nicht,“ setzte er laut hinzu, „was für Menschen entkommen sein mögen.“

„Doch, doch! Und da oben, auf dem Berge da drüben, an den alten Steinen oder Felsen –“ Sie hielt inne.

Der Staatsanwalt zuckte noch einmal heftig zusammen; er wandte sich ab, daß man sein Gesicht nicht sehen solle.

„Richtig!“ sagte das Mädchen für sich. „Indeß hat er die Flüchtlinge, so haben diese ihn erkannt, und da oben treffen sie seine Schergen nicht mehr.“

„Herr Eisen,“ sagte sie dann wieder laut, „wissen Sie, woran ich dachte, als ich in den gräulichen Abgrund hier zu unseren Füßen blickte?“

„Ich weiß es nicht, mein Fräulein.“

„An die Ruhe des Herzens.“

„Sie an Ruhe?“

„Ja, und gar an die Ruhe des Grabes.“

„Ah, ein Grab da unten! In der unergründlichen Tiefe! Der Gedanke ist wenigstens romantisch.“

„Meinen Sie?“

Sie mußte sich wieder schütteln, denn sie hatte abermals den Staatsanwalt angesehen, der plötzlich sich nach ihr umgewandt und einen Blick, wie des tätlichsten Hasses, auf sie gezuckt hatte.

„Ah, mich friert!“ rief sie dann. „Es ist hier zu grausig. Laß uns gehen, Gustav. Mir schwindelt.“

Sie verließen Alle die Steile Wand, das Mädchen am Arm ihres Onkels.

„Onkel, Onkel,“ sagte das Mädchen zu ihrem Führer, „in der Seele des Menschen gehen entsetzliche Dinge vor.“

„Du meinst den Staatsanwalt, Kind?“

„Beobachten wir ihn, wenn er zu seiner Frau zurückkommt. Aber er darf nichts merken.“

Sie kamen aus dem Einschnitt des Felsen heraus. Sie hatten dort vorhin die beiden Frauen zurückgelassen, an dem Stamm einer mächtigen Buche. Es war leer unter der Buche. Auch rund umher war Niemand zu sehen.

„Was ist denn das?“ rief Herr Milden, „wo mögen sie geblieben sein?“

„Emilie!“ rief er laut in das Gehölz hinein. Es kam keine Antwort. „Sie können doch nicht fortgegangen sein. Sie wollten hier auf uns warten.“

„Emilie! Emilie!“ Es kam keine Antwort. „Das ist doch sonderbar.“

Der Staatsanwalt war glühend roth geworden. Seine Augen durchflogen alle Richtungen des kleinen Waldes.

„Sie werden zu dem Gasthofe auf der Höhe zurückgekehrt sein,“ sagte der Domherr.

„Nein!“ rief auf einmal heftig der Staatsanwalt.

Sein Gesicht hatte wieder die gewöhnliche tiefe, finstere Blässe angenommen. Er hatte, als seine Augen das Gehölz durchflogen, sich schnell orientirt; seine furchtbare Leidenschaft hatte ihn geleitet.

Sie waren oben auf dem Kamme des Gebirges. Auf dem Kamme erhoben sich einzelne höhere Felsen und Kuppen. Einer der Felsen war der, welcher die Steile Wand bildete, eine der höchsten Kuppen jener schroff und spitz zulaufende Berg, auf dessen oberstem Gipfel man das graue Gestein sah, nach welchem der Staatsanwalt so starr und scharf geblickt und wo das junge Mädchen menschliche Gestalten gesehen zu haben geglaubt hatte. Der Berg lief nur nach den anderen Seiten steil zu-, nach dem Wäldchen hin, das sich auch an seinem Fuße entlang zog, dachte er sich sanft ab. Nach dem Fuße der Bergkuppe hin wandte der Staatsanwalt seine Schritte. Er eilte; wilde Leidenschaft trieb ihn.

„Alle Tausend!“ rief Herr Milden beinahe ängstlich, und er war fast geschwinder, als sein finsterer Reisegefährte.

Mit ihm war der Domherr. Sie brauchten nicht weit zu gehen, kaum fünfzig Schritte. Da saß, an einen Baum gelehnt, Frau Milden. Sie hielt in ihren Armen die ohnmächtige Frau des Staatsanwalts. Sie war selbst blaß, als sei sie einer Ohnmacht nahe.

„Was ist hier geschehen?“ rief der Staatsanwalt.

Er rief es laut, befehlend, drohend; er rief es in der höchsten Aufregung jener wilden Leidenschaft, die ihn hierher gejagt, die ihn nicht irre geführt, und die nun in seinem Innern ganz und gar Recht hatte.

„Ruhig, mein Herr!“ erwiderte ihm Frau Milden, befahl sie ihm mit der vollen klaren, einfachen und so mächtigen Ruhe ihres edlen Herzens.

Der Staatsanwalt war der Mann der unbändigen Leidenschaft und der Mann, der an Befehlen und an den Gehorsam gegen seine Befehle gewöhnt war. Vor der hohen Ruhe der edlen Frau beugte er sich aber unwillkürlich; er unterwarf sich ihrem Befehle. Er unterwarf sich ihr, wie einem höheren Wesen.

„Verzeihen Sie, gnädige Frau. Der Zustand der Armen –“

„Bedarf der vollsten Ruhe. Darum durfte ich auf jenes Rufen nicht antworten.“

Der Staatsanwalt schwieg. Herr Milden wollte wieder nach frischem Wasser für die Ohnmächtige laufen.

„Es bedarf dessen nicht,“ sagte seine Frau. „Sie liegt mehr in einem Schlafe, als in der Erschöpfung der Ohnmacht. Sie wird bald erwachen. Sie muß aber auch dann durch nichts beunruhigt werden. Wenn ich daher bitten dürfte, mich mit ihr ganz allein zu lassen – An dem Felsen, an dem wir uns trennten, würden wir uns wieder zusammenfinden.“

Sie wollten sich Alle entfernen. Nur der Staatsanwalt zögerte.

„Auch Sie, mein Herr,“ sagte Frau Milden zu ihm.

Er konnte sich dennoch nicht entschließen. Wie hätte er es gekonnt?

Während die beiden Frauen allein gewesen, war ihnen etwas begegnet. Es hatte seine Frau betroffen, es war etwas tief Ergreifendes für sie gewesen. Ueber das Alles war kein Zweifel. Aus anderen Thatsachen, die feststanden, combinirte nun seine Eifersucht weiter. Aus der Festung waren Gefangene entsprungen. Natürlich hatten sie die bequemere allmähliche Abdachung des Berges nach dem Gehölze hin gewählt. Sie waren in diesem plötzlich auf die beiden Frauen gestoßen. Unter den Gefangenen war Herr von Wartenburg, er stand plötzlich vor der Geliebten. In ihrem Herzen erwachte die alte Liebe wieder, die niemals daraus entwichen war, die wohl niemals auch nur darin geschlummert hatte. Sie ergriff das Herz der Frau mit erneuter Gewalt, sie warf sie in Ohnmacht. Der Geliebte hatte weiter flüchten müssen, als Menschen herbeikamen; aber was war bis dahin noch geschehen? Was hatten die Herzen einander zu sagen gehabt? Was hatten sie einander gesagt?

Der Staatsanwalt knirschte mit den Zähnen, indem er daran dachte. Seine Augen sprühten tödtliche, vernichtende Blitze auf die ohnmächtige Frau.

„Wer war hier?“ fragte er Frau Milden. „Wer hat mit meiner Frau gesprochen?“

Frau Milden erhob ihr Haupt mit edlem, zürnendem Stolze.

„Mein Herr, muß ich Sie zum zweiten Male daran erinnern, was Ehre und Anstand von Ihnen fordern?“

Er biß die Zähne zusammen. – Der Galopp von Pferden wurde gehört, kam näher, hatte das Gehölz erreicht. Der Staatsanwalt sah sich wie mechanisch danach um; er erkannte, was sich nahte. Sein Gesicht durchzog eine wilde Freude. Drei Gensdarmen mit einem Officier an der Spitze kamen in das Gehölz gesprengt.

Sie erblickten die Gruppe unter dem Baume und sprengten auf sie zu. Der Officier erkannte den Staatsanwalt.

„Ah, Herr Oberstaatsanwalt, Sie hier?“

Der Staatsanwalt war auf einmal der gemessene, strenge Beamte, der öffentliche Verfolger der Verbrechen, der Ankläger auf Leben und Tod, der in allen seinen Amtshandlungen, mochte es in seinem Innern kochen und stürmen, und wüthen und loben, äußerlich die Kälte des Eises, die Ruhe des Grabes bewahren konnte und bewahren mußte.

„Herr Lieutenant von Frankenstein,“ fragte er mit dieser Ruhe und Kälte, „Sie verfolgen Entsprungene aus der Festung?“

„Zu Befehl, Herr Oberstaatsanwalt!“

„Wie viele sind entkommen?“

„Zwei.“

„Ihre Namen?“

„Der Graf Golzenbach und –“

„Ha!“ mußte der Staatsanwalt unwillkürlich rufen. Aber der Ruf war der Ruf des Erschreckens, und sein Gesicht war bleich geworden.

„Und der Herr von Wartenburg,“ fuhr der Officier fort.

Das blasse Gesicht des Staatsanwalts war wieder kalt und ruhig.

[388] „Gnädige Frau,“ wandte er sich zu Frau Milden, „nach welcher Gegend wandten sich die, welche hier waren?“

Frau Milden hatte nur einen Blick schweigender Verachtung für ihn. Der Staatsanwalt sah es nicht, er war in seinem Amte.

„Herr Lieutenant, die Entsprungenen, die Sie verfolgen, waren vor einer Viertelstunde auf jener Höhe, dann hier im Gehölze, und können nur in jener Richtung, dem Gebirge entlang, ihre Flucht fortgesetzt haben. – Sind Ihre Gensdarmen der Gegend kundig?“

„Vollkommen, Herr Oberstaatsanwalt; eben so ich.“

„Nun, so müssen in spätestens einer Stunde die Flüchtigen in Ihren Händen sein – wenn Sie eilen.“

„Ah, Herr Oberstaatsanwalt,“ meinte der Officier, „großer Eile wird es kaum bedürfen. Die Entflohenen haben eine hohe Mauer der Festung ersteigen müssen. Dabei ist einer von ihnen gestürzt und hat sich erheblich verletzt.“

„Und welcher von ihnen?“

„Wir wissen es nicht. Wir sahen nur die Blutspur.“

„Um so besser, Herr Lieutenant. Sei es von den Beiden, welcher will, der Andere läßt den Verwundeten nicht im Stich. Ich wünsche Ihnen Glück.“

Der Officier und seine drei Gensdarmen sprengten in der Richtung weiter, die ihnen der Staatsanwalt angegeben hatte.

Die Ohnmächtige war erwacht. Sie hatte den letzten Theil des Gesprächs zwischen ihrem Gatten und dem Lieutenant gehört.

Sie schauderte. Frau Milden schloß sie fester in ihre Arme.

„Um des Himmels willen, verrathen Sie sich nicht.“

Der Staatsanwalt hatte gesehen, wie seine Frau die Augen aufschlug. Er nahete sich ihr.

„Leonore, gestatten Dir Deine Kräfte, aufzustehen?“

„Ich hoffe.“

„So bitte ich Dich, es zu versuchen.“

„Nicht doch,“ wollte Frau Milden Einsprache erheben.

„Ich bitte, gnädige Frau! Meine arme Frau hat Ihnen schon zu viele Last machen müssen.“

Er reichte seiner Frau die Hand. Sie konnte sich daran aufrichten. Sein Arm stützte sie. Dann wandte er sich wieder zu Frau Milden, zu den Andern. Er hatte kalt, gemessen, aber höflich gesprochen; so waren auch seine Bewegungen gewesen. So sprach und war er weiter.

„Gnädige Frau, nehmen Sie meinen und meiner Frau innigsten Dank. Nehmen Sie Alle unseren Dank für die Freundlichkeit, die Sie in den Tagen unserer gemeinschaftlichen Reise uns geschenkt haben. Wir müssen hier von Ihnen scheiden. Sie fragen mich, warum. Die Antwort, die ich Ihnen darauf zu geben habe, ist mir gewiß eine sehr schmerzliche. Es ist in unser Beisammensein ein Mißton getreten, der uns ferner nicht mehr beisammen duldet. Die Schuld ist nur auf meiner Seite. Aber machen Sie mich nicht zu sehr verantwortlich für sie. Schon das Amt des Criminalrichters wird als ein schweres betrachtet; man will nur gar zu oft und gar zu gern dem Manne, der es trägt, Härte des Herzens zuschreiben. Der Staatsanwalt, der öffentliche Ankläger der Verbrechen, hat eine noch schwerere, eine noch traurigere Pflicht zu erfüllen, und erfüllt er sie, wie Gewissen und Ehre es ihm vorschreiben, so ist er fast Allen der Mann der vollen Herzlosigkeit, man scheut, man haßt, man meidet ihn. Ich bin gewohnt, meine Pflicht streng, mit der äußersten Strenge zu erfüllen. Ich kann nicht anders. Ich habe vor Ihren Augen so eben einen Beweis davon liefern müssen. Ich lese in Ihren Blicken das Urtheil darüber. Wir müssen uns trennen. Leben Sie wohl.“

Er verließ, seine Frau am Arm, die Gesellschaft. Seine Stimme hatte gegen das Ende seiner Worte beinahe etwas wie ein leises Zittern verrathen. Er entfernte sich mit seinem gemessenen, festen Schritte. Seine Frau glaubte man an seiner Seite schwanken zu sehen. Ihr Gesicht hatte sie mit ihrem Taschentuche bedeckt. Frau Milden weinte, als sie gingen. Auch die Augen der Braut waren feucht. Die Männer standen ernst und stumm.

Der gutmüthige Herr Milden hatte zuerst wieder Worte.

„Hätten wir ihm nicht doch in Manchem Unrecht gethan?“

Keiner antwortete ihm.

„Heuchelei,“ fuhr er dann fort, „lag wenigstens nicht in seinen Worten.“

„Nicht gegen uns,“ bestätigte halb der Domherr.

„Sie meinen, er macht den Heuchler gegen sich selbst, Herr Domherr?“

„Nehmen Sie ihn, wie wir ihn sahen,“ sagte der Domherr.

„Er ist der Mann der heftigen, fast wilden Leidenschaft. Es ist ihm ein Amt übertragen, das nur der ruhigste, der besonnenste Mann ausüben sollte, in das kein Atom von Leidenschaft hineingetragen werden darf, und in dessen Tragen und Ausüben die Welt nur zu leicht Haß, Rache, Verfolgungssucht und so viele häßliche und verächtliche Leidenschaften sucht und findet. Er weiß das Alles, er kennt sich selbst. Wie nahe liegt es, wie natürlich ist es, daß er sich selbst einredet, er erfülle in Allem nur seine Pflicht, eine traurige Pflicht seines schweren Amtes; er erfülle sie ohne jegliche Leidenschaft, und wenn die Welt das Gegentheil behaupten wolle, er könne ruhig sein in dem Bewußtsein, daß er nur einen Eifer kenne, nur von einem Eifer beseelt sei, dem für das Recht. So ist er in der That in seinem Gewissen nur der Mann des strengen und unerbittlichen Rechts, und auch seine Bitte an uns war nicht unbillig; trägt er Schuld – und er trägt sie – machen wir ihn nicht zu schwer verantwortlich dafür.“

„Aber seine arme Frau?“ mußte Herr Milden fragen, der nach allen Seiten hin gutmüthig und mitleidig war.

„Onkel,“ trat sein Neffe an ihn heran, „ich werde in meinem Leben nicht wieder eifersüchtig sein.“

„Ah, Junge, Du siehst also, daß man Herr auch über die Eifersucht werden kann. Warum kann er es denn nicht? Warum quält er die arme Frau zu Tode?“

„Weil es schon zu spät ist!“

„Und weil sie auch vielleicht einige Schuld mit hat, mein Junge,“ fiel Herr Milden ein, der jetzt wieder die Partei des Staatsanwalts glaubte nehmen zu müssen.

Aber da mußte ihm seine Frau entgegentreten.

„Nein,“ rief sie, „sie ist das edelste, das reinste, das treueste Herz von der Welt.“

Herr Milden nahm Niemandes Partei mehr.

(Schluß folgt.)




Ein deutsches Etablissement in Baltimore.
Beitrag zur amerikanischen Cultur- und Industriegeschichte.

Kein Product hat für die Culturgeschichte der neuen Welt eine so große Bedeutung, als der Tabak. Wir wollen, um dies in’s rechte Licht zu stellen, nicht in die dunkeln Zeiten vor den großen oceanischen Entdeckungen zurückgehen, wo in Mexico die Azteken in großen und kleinen Gärten ihren Tabak zogen und daraus Cigarren rollten, oder das geliebte „Kraut“ aus seltsam gestalteten, bald Menschen, bald Thiere darstellenden Pfeifen rauchten, die sie auch in ihre Altarhügel legten und zuletzt als treue Gefährtinnen ihres Lebens in ihre Gräber nahmen. Ebensowenig wollen wir hier hervorheben, wie auch die Ureinwohner Nordamerika’s den Tabak schätzten und noch schätzen, wie sie, frömmere Raucher als wir, die ersten Wölkchen ihrer Pfeifen dem großen Geiste weihen und wie die Friedenspfeife (Calumet) in ihren völkerrechtlichen Verträgen unter einander und mit den europäischen Eindringlingen manchem blutigen Kriege ein Ende machte. Alles dies haben altspanische, französische und deutsche Schriftsteller weitläufig geschildert und damit bewiesen, wie wichtig der Tabak in der Culturgeschichte der neuen Welt ist. Unsere Aufgabe ist es nur, mit wenigen Worten anzudeuten, wie rasch der Tabak in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren in dem großen nordamerikanischen Freistaate die Vorurtheile besiegte, die sich hier gegen ihn erhoben hatten, und wie er, selbst der Souveränetät der amerikanischen Damen zum Trotz, sich rasch nicht nur Duldung, sondern auch Anerkennung errang. Noch vor zehn Jahren konnte Friedrich Tiedemann in seinem trefflichen Werke über die Geschichte des Tabaks und ähnliche Genußmittel mit vollem Rechte schreiben:

[389] „Das Rauchen aus Pfeifen ist in den Vereinigten Staaten selten geworden. Nur auf dem Lande sieht man hin und wieder noch ein altes Mütterchen, das in Gesellschaft ihres alten Mannes ihre Pfeife schmaucht. Die deutschen Einwanderer mit ihren Pfeifen sind für die Amerikaner eine auffallende und Abneigung erregende Erscheinung.“

Und so war es; aber schon während Herr Tiedemann diese Acht und Aberacht, in welche die Pfeifen von Vollblut-Amerikanern erklärt worden, registrirte, bereitete sich ganz im Stillen eine Revolution gegen solche Tyrannei vor, eine Revolution, die sich dadurch verrieth, daß immer mehr Pfeifen und endlich sogar prächtige Meerschaums importirt worden, ja daß im Lande selbst nicht nur Pfeifen-, sondern auch Tabak-Fabriken entstanden, die sich schnell ausdehnten und in welchen nicht blos alle Sorten Rauchtabak, sondern auch der früher wenig beliebte Schnupftabak in enormen Quantitäten fabricirt werden.

Mit der großartigsten dieser Fabriken, die, von unternehmenden Deutschen in kleinem Maßstabe gegründet, in kurzer Zeit durch Umsicht und rationelle technische Leitung das größte Etablissement dieser Art in Nordamerika und vielleicht auch in Europa wurde, will ich jetzt den Leser bekannt machen.

Tabakfabrik von Gail und Ax in Baltimore.
Nach einer Originalzeichnung von A. Weidenbach in Baltimore.

Im südlichen Theile von Baltimore, der Hauptstadt des tabakreichen Staates Maryland, ganz nahe am Hafen und nicht weit von der großen Baltimore-Ohio-Bahn, erhebt sich ein imposantes, aus fünf Stockwerken (Mansarden-Räume ungerechnet) bestehendes Gebäude, an das sich zwei Flügel schließen, die im Hintergrunde durch ein zweistöckiges Maschinenhaus verbunden werden. Das Gebäude, das eine Front von 144 und eine Tiefe von 183 Fuß hat, ist nicht, wie sonst bei amerikanischen Fabriken der Fall, unansehnlich oder bunt zusammengeflickt, sondern vereint mit Großartigkeit und Zweckmäßigkeit, so viel hier möglich, Schönheit der architektonischen Form und ist mit einem Thurm geschmückt, auf den wir später zurückkommen werden.

Treten wir jetzt durch das große Portal in das Innere der Fabrik. Im Thorweg hält auf einer horizontalen Thür, unter der sich eine große amerikanische Brückenwage befindet, ein mit Rohtabak beladener Wagen. In einigen Minuten wird das Brutto-Gewicht der Last bestimmt, das bekannte Gewicht des Wagens abgezogen und das auf diese Weise erhaltene Netto-Gewicht in einer kleinen Kanzlei verbucht. Ebenso wird aller Rohtabak, bevor er in’s Innere des Hauses gelangt, abgewogen. Gehen wir nun in das Hauptcomptoir, welches durch eine geräumige Halle mit dem Expeditionslocal verbunden ist. Es besteht aus zwei geschmackvoll decorirten Zimmern, in welchen Mundstücke von einer Menge von Sprachrohren, wie in Reih und Glied gestellt, von den Wänden schimmern. Durch diese Sprachrohre werden die nöthigen Befehle in alle Arbeitssäle, Magazine, Privatbüreaux etc. gerufen. Ebenda ist ein feuerfestes Gewölbe mit einem kunstvollen Schloß, das unter 32,000 Combinationen versperrt werden kann und daher dem größten Diebesgenie eine schwer zu lösende Aufgabe böte. Im Erdgeschoß befinden sich drei große Aufziehmaschinen, die theils kolossale Oxhoftfässer, theils kleinere Quantitäten des Rohmaterials in die obern Räume bringen und sich so sicher bewegen, daß treppenscheue Arbeiter oder Besucher der Fabrik sich auf denselben in alle Stockwerke heben lassen. Sie schaffen auch den Rohtabak, nachdem er von Arbeiterinnen assortirt und in einem Nebenzimmer eingeweicht [390] worden, auf die Schneidemaschinen, wo er geschnitten wird, worauf er wieder auf den Cylinder einer Trockenmaschine herabfällt, die ihn, sobald er getrocknet, herauswirft. Jetzt wird der warme Tabak in einen etwas höheren Raum auf die Kühlmaschine gebracht. Mit dieser Kühlmaschine ist ein Ventilator verbunden, welcher in seinen blitzschnellen Umwälzungen einen starken Luftzug erzeugt, so die Abkühlung bewirkt und zugleich den Staub aus dem geschnittenen Tabak in einen hinter den Maschinen befindlichen Behälter weht.

Im Erdgeschoß des Maschinengebäudes arbeitet eine Dampfmaschine von sechszig Pferdekraft, welche die Aufziehmaschinen, den Ventilator, die Trocken- und Schneidemaschinen, wie überhaupt die ganze Mechanik der Fabrik in regelmäßige Bewegung setzt. Vier lustig klappernde Schnupftabaksmühlen und Stampfen ziehen hier vor Allem die Aufmerksamkeit auf sich. Sie zerreiben den Tabak zu Pulver, worauf er durch längere Fermentation und weitere Zubereitung, die ein Geheimniß der Fabrik, vollendet wird. Die Fermentation findet in acht kolossalen Kasten statt. Im zweiten Stock treffen wir fünf der im Hause arbeitenden Schneidemaschinen. Hier wird der Tabak durch Pressen in feste Formen gebracht und sodann in die Schneidemaschine gelegt, die ihn vermittelst einer durch Dampfkraft getriebenen Schraube den Messern zuführt, welche ihn blitzschnell schneiden, worauf er, wie schon erwähnt, auf die untere Trockenmaschine herabfällt. Zwei dieser Schneidemaschinen, von einem Deutschen, Carl Schiller, erfunden, sind die stärksten, die in Amerika gemacht werden, schneiden das größte Quantum und speisen sich selbst. Der Tabak wird in einen Kasten derselben gebracht, und eine endlose Kette treibt ihn den Messern entgegen. Eine einzige dieser deutschen Maschinen kann in zehn Stunden etwa 8000 bis 10.000 Pfund schneiden. Zwei Stufen höher finden sich zwei große, gleichfalls durch Dampf getriebene Schleifsteine, auf welchen die Messer der Schneidemaschinen geschärft werden. Merkwürdig sind hier auch die Stengelwalzen, auf welchen die früher kaum beachteten Stengel und Rippen der Tabaksblätter so glatt gerollt werden, daß sie wie Blätter aussehen. Während in diesem Raume Maschinen die Hauptrolle spielen und nur wenige Menschen sie beaufsichtigen, zeigt sich im dritten Stock ein anderes interessantes Bild. Hier liegt der 40 Fuß breite und 183 Fuß lange Packsaal mit seinen zahlreichen Packmaschinen. An jeder Maschine befindet sich eine Wage, auf welcher der Tabak gewogen wird, ein Trichter, durch den er sodann in größere oder kleinere Papierdüten gelangt, und eine Vorrichtung, durch welche er darin festgepreßt wird.

In der Mitte der Maschine ist ein großes Gefäß aufgestellt, in welchem der zur Verschließung der Pakete dienende Siegellack durch Gas erhitzt wird, was nächsten Sommer durch Dampfheizung bewirkt werden, soll. An jeder Packmaschine, von denen zwanzig vorhanden sind, stehen vier Knaben, welche den Tabak wiegen, durch den Trichter in die Pakete schütten, pressen und versiegeln, – Arbeitsteilungen, die mit überraschender Schnelligkeit und Präcision verrichtet werden. Nahebei, an einem großen Tische, sind Mädchen beschäftigt, Papierdüten zu verfertigen. Ein Mädchen kann deren in zehn Stunden 2500 bis 3000 liefern. An einem anderen Tische kleben kleinere Mädchen die Etiquetten auf die Pakete, welche meist mit Portraits in Farbendruck geziert sind. Diese Portraits stellen Washington oder hervorragende Generäle der gegenwärtigen Armee des Landes vor und sind ähnlicher und netter ausgeführt, als manche andere, die mit künstlerischen Ansprüchen in die Welt gehen.

Da nun jährlich Millionen solcher Pakete in alle Theile der loyalen Staaten, in alle im Süden befindliche Lager- und Garnisonsplätze der Armee versandt werden, andere wieder auf der Flotte ihre stetigen Abnehmer finden, so liegt es auf der Hand, daß die Herren Gail und Ax auch Xylographen und Farbendrucker in bedeutender Anzahl beschäftigen. Stellt man diese Pakete, wie zuweilen manche unserer Soldaten am Zahltage thun, nebeneinander, so hat man die Generäle Burnside, Meade, Franz Sigel, Grant, Sherman vor Augen und gewinnt in dieser billigen Gallerie einen gewissen Ueberblick der amerikanischen Kriegsgeschichte und die bedeutungsvolle Lehre, wie rasch Menschen steigen und fallen. Wie wir hören, beabsichtigen die Besitzer der Fabrik, diese Portraits durch die Bilder der Seehelden Farragut, Foote, Porter, Worden (vom ersten Monitor) zu vervollständigen.

Im vierten Stock, welcher Trockensäle enthält, geht es stiller her. Hier trocknet der von dem Kessel der großen Dampfmaschine abgelassene Dampf den Tabak, der theils auf großen, auf hölzernen Gestellen ruhenden Eisenplatten, theils auf Rahmen ausgebreitet liegt. Letztere befinden sich in eigenen Abtheilungen, in welche der Dampf durch eiserne Röhren, die auch in den fünften Stock, reichen, geleitet wird. Im linken Flügel wird der Tabak in großen Sälen gesiebt und der sogenannte lose Rauchtabak in große und kleine Fässer verpackt, deren hier mehr als in irgend einem der größten Tabakslager des Lagers aufgestapelt sind. Eine Abtheilung des vierten Stocks wird dem sogenannten Ballentabak gewidmet. Hier condensiren hydraulische Pressen den Tabak in Kuchen oder Ballen von einem bis zu zehn Pfund, die dann von Mädchen in groben Baumwollstoff eingenäht, mit Etiquetten versehen und verpackt werden. Im fünften Stock arbeiten wieder drei Schneidemaschinen, wovon zwei den in Amerika so beliebten Talisman-Kautabak schneiden. Ebenda ist eine Schaar von Knaben beschäftigt, die Rippen aus den Tabaksblättern zu nehmen, die dann auf den bereits genannten Stengelwalzen glattgerollt werden. In einer Abtheilung dieses Saales wird der Kautabak theils in Fässer, theils in zinnerne Kannen, größtentheils aber in Staniolblätter verpackt. Nun steigen wir durch die weiten Mansarden-Räume, in welchen sich die Getriebe der Aufziehmaschinen befinden, über mehrere Treppen in den Thurm des Hauses. Die Uhr in demselben ist von Carl Wieser aus München und zeigt auf ihren vier Zifferblättern nach allen Weltgegenden die Zeit. Von hier genießt man eine Aussicht auf die Stadt, den Patapsco, die in demselben vor Anker liegenden Handels- und Kriegsschiffe, auf die Forts, die Baltimore vertheidigen, die Depots seiner Eisenbahnen, wie nicht minder auf die fabrikreiche Vorstadt oder richtiger selbstständige Stadt Canton – ein Panorama, dem es weder an Abwechselung, noch an Reiz fehlt. Mit dem Schlage sieben Uhr Morgens kommen 200 Arbeiter und Arbeiterinnen in die Fabrik und verlassen dieselbe Abends um sieben Uhr, abgelöst von andern 200, welche den Abend und die Nacht hindurch die von uns geschilderten verschiedenen Arbeiten verrichten. Auf diese Weise sind Menschen und Maschinen, zwei Raststunden ausgenommen, Tag und Nacht am Werke. Mit Vergnügen nimmt man in dieser Fabrik wahr, wie hier jugendliche und alte Arbeiter mit heiterem Muthe arbeiten, was einerseits ihrer guten Behandlung, andrerseits dem Umstande zuzuschreiben, daß die für das physische Wohl der Arbeiter getroffenen Vorkehrungen in der That nichts zu wünschen übrig lassen.

Die Säle sind licht, im Winter behaglich erwärmt, im heißen Sommer durch treffliche Ventilation abgekühlt, so rein wie möglich gehalten und am Abend und Nachts durch Gas beleuchtet. Gutes Trinkwasser ist übrigens in allen Theilen des Gebäudes zur Hand. Musterhaft sind die Vorkehrungen gegen Feuersgefahr. Durch das ganze Haus bis hinauf in die Mansarden-Räume läuft eine Wasserleitung, an die sich viele hundert Klafter von Gutta-Percha-Schläuchen schließen, durch welche bei Ausbruch eines Feuers der Wasserstrahl auf alle Punkte des Hauses geleitet werden kann. Ueberdies sind die beiden Flügel vom Hauptgebäude durch Feuermauern und in jedem Stockwerk durch massive eiserne Pforten getrennt, um, wenn ein Feuer ausbricht, das Umsichgreifen desselben zu verhindern. Stunde um Stunde müssen außerdem zwei Wächter durch alle Räume patrouilliren, um nachzusehen, ob nicht von den Maschinen oder Gasleitungen gefährliche Funken stieben, oder Feuersgefahr durch irgend ein Versehen der Arbeiter droht. Zwei Controlluhren von amerikanischer Erfindung, in entgegengesetzten Theilen der Fabrik aufgestellt, haben die wichtige Aufgabe, diese Wächter selbst zu überwachen. Jeder der letzteren muß nämlich bei seinem stündlichen Umgang an einem Draht der Uhren ziehen, worauf sie seine Dienstleistung anzeigen und, wenn diese unterlassen wurde, das Versehen verrathen. Kann man sich schon nach dieser flüchtigen Schilderung einen Begriff von der Großartigkeit der Produktion in dieser Fabrik machen, so wird sich der Leser doch nicht wenig verwundern, wenn wir ihm nach authentischen Quellen mittheilen, daß die Herren Gail und Ax letzthin für ihre Fabrikate in blos zwei Monaten nicht weniger als 44.000 Dollars Steuer bezahlten.

Ehe wir das interessante Gebäude verlassen, besuchen wir noch einige andere Räume desselben, an welchen wir, um eine ununterbrochene Schilderung der hier sich entwickelnden Industrie zu geben, vorläufig vorüber gegangen sind. So treten wir denn in den Pfeifensaal, der einen immensen Vorrath von Pfeifen enthält. Hier findet man die schlichte deutsche Holzpfeife neben der amerikanischen; glänzende [391] Ulmerköpfe neben andern von Porcellan, auf welchen deutsche Landschaften den Raucher an die geliebte Heimath erinnern; prächtige glatte oder mit kunstvollen Gebilden gezierte Meerschaumköpfe, wie sie nur Wien und Nürnberg liefern, neben umfangreichen Tschibuks, wie sie kein Pascha schöner besitzt, gar nicht zu erwähnen der verschieden gestalteten Thonköpfe, die bescheiden neben kostbaren Bernsteinspitzen oder schlichten Rohren liegen. Die deutsche Holzpfeife wird übrigens von ihrer jüngern amerikanischen Rivalin bereits übertroffen; denn letztere hat ein viel zweckmäßigeres, doppelt gebohrtes Rohr, welches in den Augen vieler Raucher angenehmer und gesünder, als das deutsche ist, dem diese Verbesserung fehlt. Die amerikanischen Holzköpfe und Rohre werden beiläufig in kaum entstandenen Fabriken mittelst Dampfmaschinen erzeugt, während die Deutschen die ihrigen heute noch wie vor fünfzig Jahren durch Handarbeit herstellen. Millionen dieser Pfeifen gehen jährlich in alle Theile des großen Landes, sowie nach den britischen Besitzungen von Nord-Amerika, und nicht minder nach den westindischen Inseln, Central- und Südamerika, welche eine Segelschiff-Verbindung mit Baltimore haben. Die Sutler (Armee-Marketender), welche hier ihre Tabakvorräthe einkaufen, vergessen nicht, sich mit einer gehörigen Anzahl von Holzpfeifen zu versehen, welche nicht selten, wenn die Vorposten beider kriegführender Theile einige Zeit ganz unsinnig auf einander geschossen haben, angezündet werden und dann wie die Friedenspfeife der Indianer wirken, indem nun beide Theile ihre Gewehre auf den Boden legen, zu einander hinübergehen und ein Stündchen mit einander über Krieg und Frieden, Abraham Lincoln und Jefferson Davis, sowie über die gegenseitigen Generäle schwatzen. So bewirkt, wer sollte es glauben? die kleine billige Pfeife Waffenstillstände, die, so kurz sie sind, mancher Mutter Sohn das Leben retten, was dem stolzen Meerschaum keineswegs nachgerühmt werden kann. In der Nähe dieses Pfeifensaals befindet sich das Musterzimmer mit Proben von allen Tabaken, die im Hause fabricirt werden. Von allgemeinerem Interesse aber ist auf der anderen Seite des Hauptgebäudes ein großer Mustersaal, wo rohe Tabake der verschiedenen Staaten der Union sowohl als Südamerikas und der Türkei in übersichtlich ausgelegten Proben zu sehen sind.

Zum Schlusse sei noch den Besitzern des großartigen Etablissements, dessen getreues Bild die Illustration zeigt, den Herren Gail und Ax, der Tribut der Achtung gezollt, die sie sich nicht nur als Fabrikanten und Handelsherren, sondern auch durch ihre Menschenfreundlichkeit erwarben. Beide Herren stehen bei allen philanthropischen Unternehmungen mit an der Spitze. In die vielen Militärspitäler von Baltimore gingen von ihrer Fabrik tausende von Päckchen Tabak, da es den braven Invaliden, denen oft Tabak mehr als Brod ist, daran fehlte; auch reichliche Geldunterstützungen gewährten sie ihnen, wie sie jetzt eben den großen Bazar, den Maryland zum Besten kranker und verwundeter Krieger und ihrer hilfsbedürftigen Familien veranstaltet, auf großmüthige Weise unterstützen. Die Regierung in Washington, welche ihre Erfahrungen im Tabakverkehr schätzt, hat sie neulich wiederholt über die zweckmäßigste Methode, diesen so wichtigen Artikel zu besteuern, zu Rathe gezogen, und das Schriftchen, das sie bei dieser Gelegenheit in englischer Sprache veröffentlichten, zeichnet sich durch Richtigkeit der Ansichten, wie durch lichtvolle Darstellung aus. Damit schließen wir diesen Artikel, überzeugt, daß die Leser der Gartenlaube mit Antheil von dem Wirken ihrer Landsleute im fernen Lande hören werden.




Aus den letzten Stunden einer Monarchie.
Von Johannes Scherr.
(Schluß.)

Nachdem der König sich zur Abdankung bereit erklärt hatte, war er mühsam von seinem Lehnstuhle aufgestanden und hatte die Thüre zu dem Salon geöffnet, in welchem sich die Königin, die Herzogin von Orleans und die übrigen Prinzessinnen befanden. Aufgeregt und angstbeklommen kamen die Frauen heraus. „Ich danke ab,“ sagt der Greis.

Darauf die Königin ungestüm: „Nein. Sie werden nicht abdanken!“

Er läßt sich wieder in seinen Fauteuil neben dem Fenster fallen und stützt die Hände lässig auf seine Kniee. Die Damen umringen ihn, und diesen kleinen Kreis umgiebt ein größerer, ein bunter Mischmasch von Officieren, Deputirten und Hofleuten. In trübem Schweigen starrt diese Menge auf das schmerzliche Schauspiel. Die Königin allein bewahrt und manifestirt ihren Muth. „Man will Dir,“ sagt sie zu ihrem Gemahl, „das Scepter entreißen, und doch hat Niemand als Du die Kraft, es zu tragen.“ (Hierbei schleudert die Sprecherin einen Zornblick auf ihre Schwiegertochter Helene) „Es ist besser, muthig zu sterben, als abzudanken! Steige zu Pferde, die Armee wird Dir folgen!“ Dann wendet sie sich zu den Anwesenden und wirft denselben die Worte zu: „Ich begreife nicht, wie man den König in einem solchen Augenblicke verlassen kann. Ihr werdet es bereuen!“

Die Herzogin von Orleans kniet vor ihrem Schwiegervater nieder und bittet ihn schluchzend, ein Scepter zu behalten, welches für ihre Hände viel zu schwer sei. Ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerinnen betrachten die Weinende mit Blicken voll Zorn, Eifersucht und Neid. Denn in diesem Gemälde menschlichen Jammers darf auch ein solcher specifisch-weiblicher Zug nicht fehlen. Sehr begreiflich jedoch, daß derselbe erschien: es handelte sich dabei nicht allein um „diese kindischen weiblichen Eifersüchteleien“, sondern darum, daß die weiblichen Mitglieder der königlichen Familie die Herzogin von Orleans schon seit längerer Zeit beargwohnten und bezichtigten, sie stände mit der Opposition in ehrgeizigen Beziehungen. Die Töchter Louis Philipp’s hegten noch zur Stunde den Wahn, dieser 24. Februar sei nur das Resultat höfisch-parlamentarischer Intriguen, und deshalb auch faßte jetzt eine der Prinzessinnen Herrn von Lasteyrie heftig beim Arm mit den Worten: „Sie sind nur hier, um uns zu verrathen!“

Etliche der anwesenden Hofmänner fühlen sich durch die Aneiferung von Seiten der Königin getrieben, ihre ritterliche Loyalität sehen zu lassen.

„Danken Sie nicht ab, Sire,“ sagt Herr Piscatory.

„Ja, Sire, danken Sie nicht ab,“ wiederholt Herr von Neuilly.

„Meinen Sie?“ entgegnete der schwankende Mann. „Nun, ich habe ja meine Abdankung noch nicht unterzeichnet.“ Aber indem er das sagt, glaubt er zu hören, daß die Gewehrsalven sich nähern, und Bestürzung malt sich auf seinem Gesichte. Wie um ein Auge zu suchen, das ihm Muth einspräche, schaut er sich um; allein alle die Herren Thiers, Duvergier, Remusat, Cousin und wie sie sonst heißen, selbst den alten Marschall Soult nicht ausgenommen, blicken zu Boden und bleiben stumm. Inzwischen haben die beiden Prinzen drunten auf dem Hofe erfahren, der König scheine Willens, seine Abdankung zurückzunehmen. Sie eilen heraus, und der Herzog von Montpensier drängt eifrig seinen Vater, das gesprochene Abdankungswort zu halten. Mit schwacher Stimme richtet der König an die anwesenden Säulen des Juste-Milieu-Königthums die Frage: „Ist es möglich, die Tuilerien zu halten?“

„Ja,“ antworten zwei oder drei Stimmen zögernd.

„Nein!“ ruft eine ganze Menge ungestüm.

Darauf Louis Philipp: „Wenn also die Tuilerien unhaltbar, will ich kein unnützes Blutvergießen. Ich danke ab.“

Bei der Wiederholung dieses Wortes erscheint der Marschall Gérard auf der Schwelle des Cabinets. Die Königin eilt ihm entgegen: „Mein lieber Marschall, retten Sie uns! Steigen Sie zu Pferde!“ Der alte Krieger neigt sich gehorsam. Er soll dem Volke die Thronentsagung Louis Philipp’s verkündigen und das Gewicht dieser versöhnenden Concession durch seine Persönlichkeit verstärken.

Zu spät! Alles und Alles zu spät!

Man setzt den durch Alter, Kummer und Krankheit gebrochenen Eroberer der Citadelle von Antwerpen drunten am Palastthor auf ein Pferd, giebt ihm einen grünen Zweig in die Hand und läßt ihn der herangrollenden Revolution als Friedensboten entgegenreiten. Er gelangt vom Tuilerienhof auf den Carrouselplatz, [392] als einem seiner Begleiter, dem Deputirten Lacrosse, einfällt, es wäre doch wohl besser, wenn der Marschall dem Volke eine förmliche Abdankungsurkunde entgegenhalten könnte. Herr Lacrosse eilt in das königliche Cabinet zurück und theilt sein Anliegen dem jüngsten Sohne Louis Philipp’s mit. Montpensier legt ein Blatt Papier auf den in der Mitte des Zimmers stehenden Schreibtisch und sagt zu seinem Vater: „Sire, Sie müssen Ihre Thronentsagung unterzeichnen.“

Der König steht auf und geht langsam zu dem Schreibtisch, vor welchen sein Sohn einen Stuhl hinstellt. Da macht die Königin noch einen Versuch der Gegenwehr, indem sie ihrem Gemahl mn den Hals fällt mit dem Ausrufe: „Schreiben Sie nicht, Sire, schreiben Sie nicht! Weichen Sie einer Emeute nicht! Man will Ihnen bange machen!“

Der alte Mann hält inne, aber Montpensier zeigt mit einer Gebehrde der Ungeduld auf das Blatt Papier. „Wohlan, da man es will … sagt der König, setzt sich an den Schreibtisch und beginnt langsam zu schreiben.

„Beeilen Sie sich, Sire,“ sagt eine Stimme, man weiß nicht, wessen, „schon wird auf dem Carrouselplatze geschossen.“

Das ist dem alten Manne doch zu viel. Er blickt auf, forscht mit einem Blicke der Entrüstung nach dem Sprecher und entgegnet: „Man wird mir wohl Zeit lassen. Komme, was da wolle, ich kann nicht schneller machen.“ Und er schrieb mit großen Buchstaben in langsamen Zügen:

„Ich entsage der Krone, welche zu tragen die Stimme der Nation mich berief, zu Gunsten meines Enkels, des Grafen von Paris. Möge er die große ihm heute zufallende Aufgabe lösen!“ (J’abdique cette couronne, que la voix nationale m’avait appelée à porter, en faveur de mon petit-fils le comte de Pairs. Puisse-t-il réussir dans la grande tâche qui lui échoit aujourd’hui!)

Am 24. Februar 1848.
Louis Philipp. 


Man sieht, er übereilte sich nicht; er nahm sich Zeit, einen dummen Schreibfehler (appelée statt appelé) zu begehen.

Nachdem der König die Urkunde aufgesetzt und unterzeichnet hatte, las er sie halblaut vor. Die Königin umarmte ihn mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit und sagte: „Füge hinzu, daß Du wünschest, Dein Enkel möge Dir gleichen. Denn, Messieurs, der König ist doch ein redlicherer Mann als Ihr Alle.“ Und sie hängte dieser Beleidigung noch die grollenden Worte an: „Ihr habt jetzt, was Ihr gewollt; aber Ihr werdet es bereuen!“ … Der entkönigte alte Mann sagte: „Da ist meine Abdankung; man bringe sie dem Marschall Gérard.“ Nach einigem Zögern nahm Herr Baudin das Papier und eilte damit dem Marschall nach.

Zu spät! … Es ist, als hörte man in dieser Tragödie vom 24. Februar 1848 einen äschyleischen Eumenidenchor das schicksalsschwere Wort hohnlachend immer und immer wieder anstimmen.

Die Abdankungsurkunde war zur Stunde nur noch ein werthloser Papierfetzen, welcher nicht einmal in die Hände des Marschalls Gérard gelangte, sondern unterwegs in denen des Republikaners Lagrange hängen blieb. Die Mission des Marschalls selbst that gar keine Wirkung. Im Begriffe, das letzte Hinderniß auf ihrem Wege zu den Tuilerien, das Châtean d’Eau, nach mörderischem Kampfe zu bewältigen, blieb die Revolution für alle vermittelnden Stimmen taub, wie das ja so hatte kommen müssen. Denn es ist dafür gesorgt, daß abermalen und abermalen in Erfüllung gehe, was beim Anastasius geschrieben steht:

„Mild und bittend sprach sie einstens; eure Taubheit zwang sie jetzt,
Daß sie in Kanonendonner ihre Bitten übersetzt.“ …

Im Schlosse hegte man kaum einen Zweifel, daß die Worte der Abdankungsurkunde wie sänftigendes Oel auf die Aufstandswogen träufeln würden. Auch die Regentschaft der Herzogin von Orleans galt für selbstverständlich. Sie selbst rief, verstört durch die Zornblicke ihrer Schwiegermutter und das feindselige Gebahren ihrer Schwägerinnen, weinend aus: „Großer Gott, welche Last! Ohne Stütze, ohne Beistand … Verlaßt mich nicht!“ …

Es war 121/2 Uhr, als Herr Thiers auf den Carrouselplatz hinabging, um seinem „intimen Freunde“ Bugeaud zu sagen, wie sich droben die Dinge entwickelt hatten. Der eisenfresserische Soldat, welcher wenige Stunden vorher seinem kleinen Freunde geschrieben hatte, daß sie Beide „berufen seien, mitsammen die Monarchie zu retten“, schrie fluchend: „So ist also Alles zum Teufel!“

Worauf der Andere: „Ja, man hat uns eben zu spät berufen.“

Der Herzog von Nemours kam, dem Marschall das Commando abzunehmen, was dieser widerwillig geschehen ließ.

Der Prinz gab hierauf den Befehl, daß die Truppen den Carrouselplatz räumen und sich in den Tuilerienhof zurückziehen sollten. Diese Bewegung wurde ausgeführt, und hinter den abgezogenen Soldaten schlossen sich die Eisengitter des Palasthofes. Unterdessen gab es eine große Bewegung in den Corridoren und auf den Treppen des Schlosses: der Vollstrom der Rattenauswanderung ergoß sich. Die mit Macht grassirende Angst ließ Herren in Uniformen und Hoffräcken und Damen in Seidenroben und Sammetmänteln schaarenweise davongehen, Bestürzung auf den Gesichtern und auf den Lippen den nicht mehr verhaltenen Angstruf: „Alles ist verloren!“

So hatte sich die Menge auch im königlichen Cabinet beträchtlich gelichtet, als die Botschaft dahin gelangte, daß die Sendung des Marschalls Gérard vollständig gescheitert und der General Lamoricière vom Volke zum Gefangenen gemacht worden sei. In demselben Augenblicke Schüssegeknatter auf dem Carrouselplatz, wohin die Insurrection bereits ihre Plänkler vorgesandt hatte. Diese sahen einen Zug königlicher Reisewagen, welche man auf den Fall einer Flucht hin aus den Ställen in der Rue Saint-Thomas du Louvre herbeibefohlen, über den Platz fahren, schossen darauf, tödteten einen Vorreiter, sowie mehrere Pferde, und zwangen die Wagen zur Umkehr nach den Remisen.

Das Knattern dieser Schüsse macht die Prinzessinnen Schreckensschreie ausstoßen. Louis Philipp schnellt in höchster Unruhe aus seinem Fauteuil empor. Herein stürzt, die Kleider in Unordnung und in äußerster Fassungslosigkeit, Herr Cremieux: „Sie haben keinen Augenblick mehr zu verlieren, Sire! das Volk kommt! Noch etliche Minuten und es wird in den Tuilerien sein!“ Der König sagt kein Wort, aber er hastet sich, sein Ordensband und seinen Degen abzuthun. Dann zieht er seine Uniform aus, schlüpft mit Hülfe der Königin in einen Civilrock und ruft suchend und bebend: „Meine Uhr? Meine Uhr? Ach, ich hab’ sie! Da, nehmt dies Portefeuille! Und wo ist mein Schlüsselbund?“ Es war Etwas wie Wahnsinn in den Bewegungen und Worten des Greises, aber Nichts vom Wahnsinn eines Lear, wohl aber von dem eines zu Grunde gerichteten Bankiers.

Die Prinzessinnen brachen in Schluchzen aus und die Kinder der königlichen Familie staarten mit ängstlicher Neugier auf das für sie unbegreifliche Schauspiel. Die Königin – so will eine Ueberlieferung, die aber nicht fest verbürgt ist, da es zweifelhaft, ob Thiers es für gut gefunden, zu dieser Zeit noch im königlichen Cabinet anwesend zu sein – die Königin, die Tochter Karolina’s von Neapel und Enkelin Maria Theresia’s, diese Frau, in welcher der lothringisch-habsburgische Stolz mit dem bourbonischen Hochmuth sich verband, sie soll selbst in diesen letzten Minuten ihrer Königinschaft nicht umhin gekonnt haben, ihren Groll und Zorn auszulassen. Mit vor Ingrimm bebenden Lippen soll sie zu dem armen kleinen Geschichtschreiber, welcher doch wahrlich an der Februarrevolution sehr unschuldig war, gesagt haben: „Sie haben uns zu Grunde gerichtet! Sie haben die Volksleidenschaften zu einem Brande geschürt, dessen Flammen jetzt über dem Throne zusammenschlagen! Sie sind ein Undankbarer und verdienten keinen so guten König!“

Louis Philipp, in schwarzem Frack und Hut, nahm den Arm der Königin, sagte im Vorbeigehen zur Herzogin von Orleans: „Helene, Sie bleiben da!“ und gab durch sein Weggehen das Zeichen zur Flucht. Von Mitgliedern der Familie folgten dem greisen Königspaar der Herzog von Montpensier und seine Frau, eine spanische Infantin, dann die Herzogin von Nemours mit ihren Kindern und der Prinz August von Sachsen-Coburg mit der Prinzessin Clementine, seiner Frau. Etliche Hofdamen, etliche Adjutanten, Palastbeamte und Diener schlossen den Zug, der mittelst eines mit dem Arbeitscabinet des Königs in Verbindung stehenden unterirdischen Ganges unter dem Pavillon de l’Horloge hinweg in’s Freie gelangte, in den Tuileriengarten, welcher leer und still war, während der Schall des Kampfgetöses ven rechts herüber grollte und drohte. An der Ausmündung des unterirdischen Ganges fand man Herrn von Montalivet, welcher, seinem Gebieter treuer als viele Andere, zwei Schwadronen Gardekürassiere unter den Befehlen des Generals Regnauld bereit hielt, die Flucht des Entkrönten [393] zu decken. Nationalgarden von der ersten Legion, sowie ausharrende Freunde der königlichen Familie, die Herren Lasteyrie, Scheffer und Andere, reihten sich ebenfalls dem Zuge an, welcher sich die große Avenue des Gartens entlang so rasch bewegte, wie der alte Mann, dessen dem völligen Bruche nahe physische und moralische Kraft nur noch durch die Seelenstärke seiner Gemahlin nothdürftig aufrecht erhalten wurde, zu gehen vermochte. Ein wahrer Leichenzug der Julimonarchie! Man konnte denselben von der Rue Rivoli aus zwischen den blätterlosen Baumzweigen dahingleiten sehen, schemenhaft schwarz, da die Mitglieder der Familie Louis Philipp’s die Trauer um die kurz zuvor gestorbene Prinzessin Adelaide noch nicht abgelegt hatten.

Der mit Herrn Cremieux vorangehende Herzog von Montpensier kehrte sich von Zeit zu Zeit um und sagte: „Beschleunigen Sie Ihre Schritte, Sire!“ In der Mitte der Avenue überschlug sich das Pferd eines der reitenden Nationalgardisten und fiel auf seinen Reiter. „Armer junger Mann!“ rief die Königin aus, Louis Philipp aber nur: „Schafft mir das Pferd aus dem Wege!“ Am Gitter der aus dem Garten auf den Concordeplatz führenden Drehbrücke angelangt, blieb er stehen und richtete an Herrn de Montalivet die Frage: „Hat man die Gewißheit, mich in Sicherheit nach Saint-Cloud zu bringen?“

„Ja, Sire.“

Der Entkrönte passirte das Gitter und betrat den Platz. Da er gesenkten Hauptes einherschritt, bemerkte er Blutspuren auf dem Boden und machte eine Bewegung des Abscheus. Aber der Concordeplatz war nicht so verlassen wie der Tuileriengarten. Eine Menge von Neugierigen wogte darauf hin und her. Darunter Gruppen von Bürgerwehr, da und dort auch ein Häuflein Blousen, Gewehre in den Händen, die Gesichter von Pulverrauch geschwärzt.

Der Fluchtzug stockte, der König schien erkannt, das Anfluthen der Menge wurde stärker. Eine Stimme aus dem Gefolge rief: „Messieurs, Schonung, Gnade für den König!“

„Die soll er haben; wir sind keine Mörder; aber schnell auf und fort mit ihm!“ eine Antwort, welche das hundertfache Echo fand: „Ja, schnell auf und fort mit ihm!“

Die Königin zog ihren Gemahl mit sich fort, dahin, wo am Fuße des Obelisken drei schlechte, einspännige Miethwagen hielten, genau auf der Stelle, wo vor Zeiten, in der Sprache von damals zu sprechen, „La Sainte-Vierge Guillotine“ ihren „Altar“ gehabt.

War es nicht ein furchtbarer Schicksalshohn, daß der vom Throne gestürzte Sohn von Philipp Egalité gerade von dieser Stelle aus in’s Exil geschleudert wurde? Von der Stelle aus, wo sein Vater am 6. November 1793 in weißer Weste, gelben Lederhosen und zeisiggrünem Frack auf besagtem „Altar“ erschienen war, „pour faire le saut de carpe en avant.

Aber der alte Mann ist von der Angst der Gegenwart zu sehr erfüllt, um des Schreckenn der Vergangenheit zu gedenken. Er öffnet die Thüre eines der schmutzigen Fuhrwerke und findet dasselbe bereits mit Prinzessinnen und Kindern vollgestopft. „Heraus! Steigt alle heraus!“ ruft er, in der Selbstsucht des Alters und der Furcht des zärtlichen Familienvater für den Augenblick ganz vergessend. Die Prinzessinnen gehorchen. Louis Philipp wirft sich hastig in den Wagen, die Königin folgt ihm, drei ihrer Enkel haben den Vordersitz inne. Die anderen Mitglieder der Familie pressen sich, so gut es gehen will, in die beiden anderen Wagen; aber die Prinzessin Clementine und die Herzogin von Montpensier finden keinen Platz mehr und werden durch die Herren Thierry und Lasteyrie aus dem Gedränge und in ein sicheres Asyl gebracht. Die schöne Infantin – geborene Muñoz, wie die bösen Zungen sagen – ist eine jugendlich muntere Dame. Sie fängt an, die Sache „amüsant“ zu finden und äußert gegen ihren Ritter Lasteyrie, das sei doch auch mal eine der Mühe werthe Abwechslung in der ewigen Langeweile des Hoflebens.

„Mein Portefeuille! mein Portefeuille!“ schreit Louis Philipp aus dem Innern des Wagens. Der „König der Börse“ vergaß selbst in dieser äußersten Angst nicht seiner „Werthpapierchen“. Herr Cremieux schiebt die umfangreiche Mappe mit Mühe durch die Wagenfensteröffnung, und, im Besitze seines Theuersten, ruft der alte Mann in höchster Ungeduld: „Partez! Partez donc! Partez vite!“ Der Kutscher peitscht auf sein Pferd, und im Galopp fliegt der Wagen davon, daß der flüssige Koth darob zusammenspritzt.

Also verschwand des Königs Majestät und Herrlichkeit. Im Julistaube war er gekommen, im Februarkoth ist er gegangen.

Aber seht, was thun denn jetzo die beiden Nothhelfer, welche „berufen waren, die Monarchie zu retten,“ Monsieur Thiers und Monsieur Bugeaud? Sie thun, was kluge Leute unter so bewandten Umständen zu thun pflegen: – sie retten sich selbst. Der Marschall ist übrigens martialisch genug, nur von einem einzigen Adjutanten gefolgt, in seinem Marschallsanzug langsam davon zu reiten. Herr Thiers schlängelt sich zu Fuße durch den Tuileriengarten und über die Concordebrücke in’s Palais Bourbon hinüber, in dessen Räumen die Repräsentanten der Corruption – officicll heißen diese Herren „Vertreter des französischen Volkes“ – rathlos hin- und herrennen. Selber rathlos und bis zur Besinnungslosigkeit bestürzt, geht der kleine Ex-Nothhelfer durch einen der Säle. Corrupte umdrängen ihn mit stürmischen Fragen. „Messieurs, es gehen Dinge vor, Dinge, Dinge! Die Fluth steigt, steigt, steigt! Alles ist verloren!“ erwidert er stotternd und verschwindet, um nicht mehr zu erscheinen, bevor die politische Temperatur wieder so ist, daß Ränkespinner mit ziemlicher Sicherheit aus ihren Schlupfwinkeln sich vorwagen können …

Dieser beiden Stützen also sah sich die arme Herzogin von Orleans beim Antritt ihrer Regentschaft beraubt, und es war überhaupt kläglich bestellt mit den Stützen dieser Regentschaft. Der Deputirte Lacrosse sagte nach der Flucht des Königs zu der Prinzessin: „Madame, gehen Sie mit Ihren beiden Knaben sofort nach der Deputirtenkammer. Dort ist jetzt der Sitz der Autorität, das Volk wird Ihnen Platz machen; denn Sie sind die Frau des Herzogs von Orleans und tragen Wittwentrauer um ihn.“ Ein wohlgemeinter, aber schlechter Rath; denn die Entscheidung war nicht im Palais Bourbon … Die Herzogin zog sich für eine Weile in ihre Gemächer im Pavillon Marfan zurück, wo Herr Dupinauch eine Säule des Orleanismus, später aber eine Säule des Bonapartismus – zu ihr kam und sie in der Absicht, ihr Heil in der Deputirtenkammer zu versuchen, bestärkte. Er sprach noch für seine Meinung, als der Adjutant Touchard hereinstürzte, um eiligst zu melden, der Herzog von Nemours lasse seine Schwägerin bitten, sich ohne allen Verzug durch den Pavillon de l’Horloge in den Garten und durch die große Avenue desselben zur Drehbrücke zu begeben. Es sei kein Augenblick zu verlieren. Die Prinzessin brach alsbald auf und machte sich, ihre beiden Knaben, den Grafen von Paris und den Herzog von Chartres an den Händen, mit einem kleinen Gefolge auf den bezeichneten Weg.

Sie gelangte glücklich in den Garten. Aber es war in der That kein Augenblick zu verlieren gewesen, maßen inzwischen die Tuilerien eingenommen worden und zwar durch einen einfachen Lieutenant von der 5. Bürgerwehr-Legion, Herrn Aubert-Roche. Als nämlich die Truppen den Carrouselplatz geräumt hatten, war derselbe sofort von Nationalgarden besetzt worden. Kaum war dies geschehen, als nach Bewältigung des Château d’Eau die siegreiche Volksmasse mit dem Donnerruf: ,Aux tuileries!“ über die Rue Rivoli gegen den Platz vorbrach, und alsbald schlugen die Flintenkugeln an die Nordseite des Schlosses. Der Herzog von Nemours, erkennend, daß jeder Versuch, den Palast zu vertheidigen, blos ein unnützes Blutbad zur Folge haben würde, und edelmüthig nur darauf bedacht, den Gang seiner Schwägerin zum Palais Bourbon zu decken, befahl den Truppen, zum Abzug durch das Thor des Pavillon de l’Horloge sich bereit zu halten. Derweil mühten Bürgerwehr- und Blousenmänner in buntem Gemische sich ab, das Eisengitter, welches den Schloßhof gegen den Carrouselplatz absperrte, niederzubrechen, und befürchtend, diese Mühwaltung möchte die Wuth der Stürmenden steigern, wußte sich der genannte Bürgerwehrofficier durch das Thor des an die Rue Rivoli stoßenden Pavillon Eingang zu verschaffen und den Gouverneur des Palastes, Oberst Bilfeld, zu bewegen, ihm die Schlüssel auszuliefern. Dann eilte er, das nach dem Carrouselplatze führende Hofgitterthor aufzuschließen, und die Menge strömte in den Schloßhof. Der Herzog von Nemours vernahm, unter dem Thor des Pavillon de l’Horloge im Kreise seiner Officiere stehend, das Herannahen des Volkes. „Was, jetzt schon?“ rief er aus, gab geflügelte Befehle, die sämmtlichen Truppen, welche noch vorhanden, durch die große Mittelpforte in den Garten debouchiren zu lassen, und stellte sich an die Spitze des 1. Bataillons vom 10. leichten Regiment, um damit der Herzogin von Orleans auf ihrem Wege zu folgen. Der Prinz hat dann, wie bekannt, mit äußerster Hingebung und Selbstverleugnung bis zuletzt seine Pflicht gethan, er und nur er war es, der an diesem „Tag des Zorns“ dem Namen Orleans Ehre machte.

[394] Retten freilich konnte er seines Hauses Sache nicht … Die Herzogin von Orleans eilte inzwischen die große Avenue des Gartens hinab, geführt von Herrn Dupin. An ihrer rechten Hand hielt sie ihren älteren Knaben, den weinenden jüngeren trug ihr ein Diener nach. Bei der Drehbrücke angelangt, wurde sie von den Herren Havin und Biesta eingeholt, welche von Seiten Odilon Barrot’s den dringenden Rath brachten, die Prinzessin solle sich mit ihren Söhnen über die Boulevards nach dem Hotel de Ville begeben; denn dort, im Hauptquartier des siegreichen Aufstandes, liege die Entscheidung. Die Herzogin stand still, ungewiß, was zu thun, aber mit dem Instinct einer Mutter fühlend, daß dieser Rath der bessere. Herr Biesta drang in sie, denselben zu befolgen. „Können Sie reiten?“ frug er die Prinzessin.

„Hinlänglich, um im Nothfall ein Dragonerpferd besteigen zu können.“

„Nun wohl, zaudern Sie nicht! Kommen Sie in’s Stadthaus, und Sie werden Regentin und Ihr Sohn wird König sein. Wenn nicht, ist Ihre Sache verloren.“

„Das ist der Rath eines Narren!“ schrie Monsieur Dupin. „Nach der Deputirtenkammer müssen Sie gehen!“

Die Herzogin von Orleans befolgte den Rath des „liberalen“ Mannes, begab sich in die Deputirtenkammer – und nach einer Stunde voll Angst und Pein sah sie daselbst ihre Regentschaft und ihres Sohnes Krone rettungslos vom rasenden Strudel eines unerhörten Tumults verschlungen …

Während eine Volkswoge die „Corrupten“ aus dem Palais Bourbon wegschwemmte, feierte in den Tuilerien die Revolution ihr Siegesbacchanal. Nicht in Blut – sie überließ das der heiligen Reaction, welche wenige Monate darauf ihre rothen Orgien in Scene setzte – aber in Wein, den man aus den wohlversehenen Kellern heraufholte. Es ging lustig her in diesen vergoldeten Räumen, aus welchen Dame Etiquette mit dem übrigen Hofgesindel entsetzt entflohen war. Zerschlagen, zerrissen und zertreten wurde Manches und Vieles, gestohlen nichts. „Mort aux voleurs!“ Es ist actenmäßig festgestellt, daß, obgleich am Nachmittag und Abend dieses Tages allein an 100.000 oder mehr bewaffnete Blousenmänner im Palast aus- und eingingen, nichts von irgend bedeutendem Werth abhanden kam und herumliegende Kostbarkeiten im Werthe von mehr als vier Millionen von Proletariern, die vielleicht keinen Sou in der Tasche hatten, gesammelt und an die Behörden abgeliefert wurden. Mit ganz besonderer Rücksichtsnahme behandelte das siegreiche Volk die Zimmer der Herzogin von Orleans. Auf dem Lesepult der Prinzessin lag ein Buch, betitelt „De la sainteté des gouvernements et de la moralité des révolutions“. Die aufgeschlagene Seite trug die Capitelüberschrift „Stabilité du gouvernement“. O Prediger Salomonis!

Der ausgelassene Jubel der siegreichen Masse, welche in den Tuilerien tobte und tollte, müßte, durch den Genius eines Shakespeare oder Kaulbach zu einem Bilde zusammengefaßt, einen weltgeschichtlichen Carneval darstellen, wie es einen zweiten wohl niemals gegeben hat. Dort hing ein Schwarm von Gamins freudeläutend an dem Zugseil der großen Schloßglocke, während andere die rothe Siegesfahne auf die Kuppel des Pavillon de l’Horloge pflanzten und wieder andere auf der Plattform des Daches einen Ball abhielten. Im Garten, in den Höfen, in den Corridoren und Sälen krachten unzählige Jubelsalven, denn der noch vorhandene Rest von Patronen mußte schlechterdings verbraucht werden. Hier hat im Schlafzimmer Louis Philipp’s Einer über seine Blouse eine weiße Weste des Bürgerkönigs angezogen und das Galaordensband mit dem Kreuz von Diamanten darüber gehängt, und also ausstaffirt bläst er aus Leibeskräften und seelenvergnügt auf einem Waldhorn fürchterliche Noten zum Fenster hinaus. Dort steht eine andere Blouse, angethan mit einem brokatenen Schlafrock, mitten im Empfangssalon des Herzogs von Montpensier, die Marseillaise singend und auf einer prinzlichen Geige schrecklich dazu geigend, während seine Cameraden, mit andern Artikeln der herzoglichen Garderobe behangen, um ihn her die Carmagnole tanzen. Hier geht, von einem Polytechniker geführt, ein Zug von Ouvriers durch die große Gallerie, ehrerbietig ein der Zerstörung entrissenes, wundervoll aus Elfenbein geschnitztes Crucifix geleitend, unter dem unweigerlich befolgten Zuruf an die Begegnenden: „Citoyens, chapeau bas! Saluez le charpentier de Nazareth!“ Dort im Allerheiligsten, im Thronsaale, wird die purpurne Throndraperie in Fetzen gerissen und aus einem der Stücke eine Freiheitsmütze gewunden, welche der dem Mittelpavillon des Schlosses gegenüber im Tuileriengarten stehende Spartacus tragen soll. Ein Proletarier springt auf den Thronsessel, wischt den Koth seiner Schuhe an dem Sammet ab, schwingt eine rothe Fahne und ruft frohlockend: „Vive la république!“ – So verwandelte der französische Leichtsinn diesmal den Act der Rache in ein Possenspiel.

Eine Stunde darauf ging ein phantastisch-bunter Faschingszug von etlichen Tausenden über die Boulevards, welche aussahen, als wäre ein Tornado darüber hinweggefegt. Vorauf ritt ein bebrillter Polytechniker; dann kam ein Karren, auf welchem die zerstörten Herrlichkeiten des Thronsaales zusammengepackt waren, mit Ausnahme des vergoldeten Thronsessels, welcher, von etlichen Blousen getragen, über den Köpfen der Menge einherschwebte. Die Procession lenkte zum Platz der Bastille, wo am Fuße der Julisäule eilends ein Scheiterhaufen geschichtet wurde. Auf diesen warf man die Trümmer und stellte obenauf den Thronstuhl. Als die Flammen den Thron ergriffen, brach ein tausendstimmig-jauchzendes „Vive la république!“ aus, und hochauf schlug die schwelgende Lohe.




Ein Zögling Karl August’s.

Wer von den geneigten Lesern einmal die Stadt Weimar gesehen hat, wird oft und gern an ihren schönen Park zurückdenken, an den sich so manche Erinnerung aus Deutschlands großer Dichterblüthe knüpft. Und wer den Park gesehen, wer vor dem bescheidnen Gartenhause Goethe’s großer Erinnerungen voll gestanden hat, der wird seine Schritte auch zu dem „römischen Hause“ gelenkt haben, einem kleinen Gebäude antiken Styles, welches schon von der nach dem Lustschloß Belvedere führenden Baumallee aus sichtbar ist. Hierher führe ich den Leser.

Es war ein heller Frühjahrsmorgen des Jahres 1823. Vor dem römischen Hause auf und ab ging ein großer stattlicher Mann, der trotz seines hohen Alters eine straffe und stolze Haltung hatte. Aus klaren und tief-ernsten Augen blickte er umher, die anmuthigen Parkanlagen betrachtend, die zumeist sein Werk waren. Zuweilen schweifte sein Blick nach jener Seite, wo das kleine Gartenhaus unter rauschenden Bäumen versteckt lag, in dem er vor langen Jahren seinen Liebesfrühling durchlebt hatte. Vielleicht auch lauschte er dem herannahenden Lenze, den er nun schon zum vierundsiebenzigsten Male begrüßte.

Da nahten sich Schritte auf einem der gewundenen Parkwege. Bald wurde der Herankommende sichtbar, ein junger Mann mit einer Mappe unter dem Arme. Mit freundlichem Kopfnicken begrüßte ihn der Greis und sprach: „Serenissimus sind noch nicht zu sprechen. Warte ein wenig.“ Nach kurzem Harren öffnete sich die Thüre, und Beide traten in das Zimmer und begrüßten ehrfurchtsvoll einen kleinen, aber kräftig gebauten alten Herrn, welcher am Fenster stand. „Serenissimus gestatten,“ sprach der Begleiter des jungen Mannes, „daß ich den jungen Maler vorstelle, von welchem ich Durchlaucht schon gesprochen habe.“

Mit prüfendem Blicke betrachtete Serenissimus den jugendlichen Künstler, welcher stumm vor ihm stand; dann entspann sich folgendes kurze Gespräch zwischen den Beiden:

„Bist Du es, der die Eisfahrt auf unserer Bilderausstellung gemalt hat?“

„Ja, Durchlaucht.“

„Wer ist denn der kleine Junge im Vordergrunde?“

„N. N. von hier.“

„Willst Du nicht einmal fort von hier?“

„Ich möchte gern nach Tyrol gehen, um dort Studien zu machen, allein mir fehlen die dazu nöthigen Mittel.“

„Oder möchtest Du nach den Niederlanden?“

„Auch das würde mir sehr lieb sein, aber freilich fehlt mir auch hierzu das Geld.“

„Du armer Kerl,“ war die Antwort, „dafür werde ich schon [395] sorgen. Geh’ nach Hause und mach’ Dein Bündelchen fertig – morgen früh geht’s fort!“

Die Audienz war zu Ende.

Und wenn unsre Leser noch nicht errathen haben sollten, wer die Persönlichkeiten waren, von denen wir soeben gesprochen, so wollen wir ihnen verrathen, daß es Goethe war, welcher, aufmerksam geworden auf das Talent des jungen Malers Friedrich Preller, denselben zu Karl August, seinem fürstlichen Freunde, geführt hatte, um ihn seiner Fürsorge zu empfehlen.

Friedrich Preller, 1804 in Eisenach geboren, war damals 19 Jahre alt. Bald nach seiner Geburt waren seine Eltern nach Weimar übergesiedelt, und seine Kinderzeit verfloß unter den bunten Eindrücken des wechselnden Kriegslebens, welches damals ganz Deutschland bewegte. Das Gymnasium besuchte er bis Obersecunda und wurde dann zu einem Jäger in die Lehre gegeben, bei welchem er jedoch nur ein Jahr blieb. Während er von frühester Jugend an entschiedenen Trieb zum Zeichnen gezeigt, auch schon als Gymnasiast die unter H. Meyer’s Leitung stehende Zeichenschule besucht hatte, so schien es doch bei den äußerst beschränkten Mitteln der Eltern nicht räthlich, ihn die sehr unsichere Künstlerlaufbahn ergreifen zu lassen. Allein das im engen Umgang mit der Natur verlebte Jahr reifte in ihm den Entschluß, sich trotz aller Hindernisse ganz der Kunst zu widmen, der Einfluß des Erbprinzen Karl Friedrich trug dazu bei, die Eltern günstig für diesen Plan zu stimmen, und so wanderte Friedrich Preller im Frühjahr 1820 nach Dresden, mit einer kleinen Summe Geldes, welche ihm das Illuminiren des Bertuch’schen Bilderbuches eingetragen hatte.

Ohne Empfehlungen und bei großer jugendlicher Schüchternheit verbrachte er zwei Jahre unter den Schätzen der Dresdner Gallerie, welche einst auch Winkelmann in die Welt der Schönheit einführten. Besonders waren es die Niederländer Ruysdael und P. Potter, mit denen er sich beschäftigte. In jener Zeit schloß er Freundschaft mit dem nun schon Heimgegangenen Ernst Rietschel, dem Kupferstecher Thäter, dem Maler Dräger u. A. Nach Weimar zurückgekehrt, malte er für Goethe Wolkenstudien und seine erste Composition, jene Eisfahrt, auf der er viele Portraits anbrachte. Dieses Bild hatte Karl August’s Aufmerksamkeit auf Preller gelenkt; Goethe’s Fürsprache kam hinzu, und die Folge davon war das oben mitgetheilte Gespräch.

Nach ernster Ueberlegung nahm Preller das Anerbieten des trefflichen Fürsten an, und am andern Morgen ging die Reise fort. Karl August machte seine Reisen mit sehr bescheidenen Mitteln. Er selbst fuhr in einer alten stark stoßenden Reisekalesche, welche nicht einmal eine Bedeckung hatte. Wenn es regnete, so wickelte sich „der Alte“ in seinen weiten Husarenmantel, drückte die runde grüne Mütze, die er stets trug, auf die Stirn und ließ nun den Regen machen, was er wollte. Ein zweiter Wagen enthielt sein Gefolge. Bequem war mithin die lange Fahrt keinesweges, aber desto lehrreicher und fruchtbringender. Denn mit einer wahrhaft herzlichen Aufmerksamkeit sorgte der edle Fürst dafür, daß, wo es etwas Lehrreiches, Interessantes zu sehen und zu hören gab, Halt gemacht wurde und sein Schützling davon Kenntniß nahm. Und als in Gent Preller vierzehn Tage krank darnieder lag, verschob er die Weiterreise und bewies ihm eine wahrhaft rührende Sorgfalt. Endlich kamen sie in Antwerpen an, und Preller wurde Van Bree, dem verdienstvollen Director der dortigen Kunstakademie, übergeben.

Die zwei Jahre seines Antwerpener Aufenthaltes verstrichen ihm schnell. Sie sind von entscheidender Wichtigkeit für seinen Künstlerberuf geworden. Der ganze Unterricht war auf genaues Studium der Antike, des menschlichen und des Thierkörpers gerichtet, und diese genaue Kenntniß der belebten Natur, welche so vielen Landschaftsmalern abgeht, hat für Preller später unberechenbaren Nutzen gebracht. Seiner kernig tüchtigen Natur schadete die scharfe Zucht nichts, die daselbst gehalten wurde, und gewiß nicht mit Unrecht darf man es diesem Unterricht zuschreiben, daß er Zeit seines Lebens mit so großer Energie auf emsiges und gewissenhaftes Studium beim Künstler achtete und der Ueberwindung technischer Schwierigkeiten mit einem nie ermüdenden Eifer entgegentrat. Wie er im Innersten seines Wesens an die herrlichen deutschen Künstler des Mittelalters erinnert, deren Kunst im schönsten Sinne aus der strengen Zucht des Handwerks sich herausentwickelt hat, so dürfen wir diese Antwerpener Zeit mit Fug und Recht seine Lehrlingszeit nennen, in der weder der harte Lehrmeister am Tage, noch der sprudelnde Uebermuth am Feierabend fehlte. Antwerpen weiß noch von den tollen Streichen der damaligen Kunstschüler zu erzählen, welche als lärmende und tobende Schaar durch die Straßen zog, wenn die Feierstunde schlug, und vor denen die ernsthaften und ruhigen vlämischen Bürger hastig ihre Läden und Hausthüren schlossen.

So trefflich aber der Unterricht war und so sehr Preller das würdigte, so erwachte doch allgemach in ihm der Wunsch die vlämische Ebene zu verlassen, um nach dem Lande der Sehnsucht aller wahren Künstler zu eilen. Nachdem er zu dieser italienischen Reise die Genehmigung Karl August’s erlangt hatte, ging er 1825 über Weimar, München, Salzburg, Tyrol und Venedig nach Mailand, verbrachte dort fast zwei sehr schwere Jahre, gequält von Krankheit und von Mißstimmung über viele Hindernisse, die seinem künstlerischen Streben entgegentraten, und gelangte endlich im Jahre 1827 nach Rom.

Dort waren damals die besten Helden der vor wenigen Jahren neuerstandenen deutschen Kunst versammelt. An sie schloß Preller, ein gleichstrebender und ebenbürtiger, sich an. Mit Thorwaldsen, Cornelius, Overbeck, Steinle und Reinhardt wurde er bekannt und befreundet. Vor Allem aber war es der unübertreffliche Landschaftsmaler Josef Anton Koch, an den er sich anschloß. Koch war es, der zuerst wieder auf den Bau der Landschaft, auf das Terrain achten lehrte, und während seine Vorgänger zumeist durch die Vegetation, durch die Luft- und Lichteffecte zu wirken suchten, so führte dagegen er die Landschaft wieder auf ihre organische Basis zurück, auf den Erdboden. Um dies recht würdigen zu können, vergleiche man seine Landschaften mit denen des Rococo und der Zopfzeit: man wird erstaunen, bei den letzteren meist flache, unbedeutende und verschwommene oder groteske und barocke Terrainformen zu finden, bei der Rückkehr zu Koch dagegen den tiefen Unterschied zwischen echter und zwischen gesunkener Kunst lebendig empfinden. Dies Alles sind Vorzüge, welche in Koch’s innerstem Wesen wurzeln und welche im unlösbarsten Zusammenhange mit der Gesammtrichtung seiner Kunst stehen, die die neuere Zeit mit dem Namen der historischen im Gegensatze zum Genre bezeichnet hat. Wir werden hierauf bei der Schlußbetrachtung über Preller’s Thätigkeit noch einmal zurückkommen. Denn er wie kein Anderer ist würdig, der Nachfolger und Vollender von Koch’s Werk genannt zu werden. Die Zeit seines Aufenthalts in Rom verstrich ihm schnell; aber als er 1831 nach Weimar zurückkehrte, kam er wieder als Künstler, gereift und gefestigt in seiner Bahn und erfüllt mit dem Bewußtsein eines hohen Zieles, dem er von da an unermüdet nachgestrebt hat.

Karl August war zu seinen Vätern heimgegangen. Den greisen Goethe traf Preller noch am Leben. Sein Sohn, August Goethe, war in Rom in Preller’s Armen gestorben. Und nicht lange darauf sollte Preller die Züge des ehrwürdigen Dichters selbst zum letzten Male sehen. Er erhielt auf seine Bitte die Erlaubniß, Goethe’s Kopf im Tode zu zeichnen. Auch er, wie Alle, denen dieser Anblick vergönnt war, versichert, daß diese Züge noch im Tode einen unbeschreiblich schönen friedlichen und großen Ausdruck gehabt haben. Eine Bause dieser Portraits ist später wider Preller’s Willen veröffentlicht worden. Bettina von Arnim ließ sie vor ihren „Briefwechsel“ in Kupfer stechen.

Für Preller begann nun eine glückliche Zeit. Nachdem er eine sehr bescheidene Anstellung am Weimarischen Zeicheninstitut erhalten und außerdem mehrere Bestellungen von der hochherzigen Großherzogin Maria Paulowna bekommen hatte, führte er seine Braut heim, und es erblühte ihm ein schönes und gesegnetes Familienleben. Zunächst verarbeitete er in einer Reihe von Bildern die im Süden gewonnenen Eindrücke. Aber bald fühlte er das Bedürfniß einer immer lebendigen Naturanschauung, und da er vorläufig nach dem Süden nicht zurückkehren konnte, so wandte er sich mit voller Energie der nordischen Natur zu, für welche er auf verschiedenen Reisen in Norwegen und Rügen Studien machte. Wichtig und anziehend zugleich aber ist es für seinen Entwickelungsgang, daß die Anfänge zu dem Hauptwerke seines Lebens bereits in jene Zeit zurückgreifen, indem er schon damals einen Cyclus von Landschaften zu Homer’s Odyssee für seinen Freund Dr. Härtel im sogenannten „römischen Hause“ in Leipzig al tempera malte. Zeugen seines umfassenden künstlerischen Schaffens sind außerdem das von ihm mit Scenen aus Wieland’s Werken geschmückte Wielandzimmer im Weimarischen Schlosse; eine große Anzahl meist im Privatbesitz befindlicher vorzüglicher

[396]

Friedrich Preller.

Landschaften, worunter viele Seestücke, sowie eine Menge von trefflichen Aquarellen, Sepia-, Tusch- und Kohlezeichnungen. Auch radirt hat er eine Zeit lang mit eben so viel Eifer, als Erfolg.

So fließt sein Leben in rastloser Thätigkeit dahin. Was den Menschen beglückt, ward ihm zu Theil, ein gesegnetes Familienleben, dem leider der Tod jüngst eine schwere Wunde schlug. Die Liebe seiner Freunde und die Verehrung seiner Schüler bleibt ihm treu und fest zugewandt; was den Künstler ehrt und schmückt, ist ihm in reichem Maße beschieden, eine vollkräftige Wirkung auf ein Publicum, welches für das wahrhaft Große in der Kunst empfänglich ist. Und so schauen wir den Meister an und ehren vor Allem Eines in ihm: die ernste Arbeit, der er sein Alles zu verdanken hat. Er wie Wenige gehört zu denen, welche das Wort des Dichters zum Wahlspruche genommen haben: „Was du hast – erwirb es, um es zu besitzen.“

Warum wir aber gerade jetzt diese Worte geschrieben haben, denen wir freundliche Aufnahme von ihren Lesern wünschen? Wir möchten sie betrachten wie den Zimmermannsspruch bei dem Aufrichten eines neuen Gebäudes. Der Meister hat jetzt ein Werk vollendet, welches wir recht eigentlich als den Gipfelpunkt seines künstlerischen Thuns bezeichnen müssen; das deutsche Volk auch in weiteren Kreisen auf dieses Werk, welches jetzt in Deutschland die Runde macht, hinzuweisen, und hiermit dieser Schöpfung einen bescheiden-herzlichen Geleitspruch mitzugeben, war unser Zweck.

Der kunstsinnige Enkel Karl August’s, Karl Alexander, hatte bei Preller für das neuzuerbauende Weimarische Museum einen Cyclus von Landschaften zur Odyssee bestellt, welche in einem der Säle al fresco ausgeführt werden sollten. Preller hatte seine obenerwähnte erste größere Arbeit, welche denselben Stoff behandelte, nie ganz aus den Augen gelassen. Im Jahre 1855 hatte er neue, zum Theil umgearbeitete Zeichnungen darnach gefertigt, welche in Berlin, Brüssel, Antwerpen und auf der großen Münchener Ausstellung von 1858 das außerordentlichste Aufsehen erregten und in mehrfachen photographischen Wiedergaben verbreitet sind. Den fürstlichen Auftrag ergriff er mit der ganzen jugendlichen Kraft seines künstlerischen Vermögens. Er ging 1859 noch einmal nach Italien. Dort und nach seiner Rückkehr in Weimar entstanden die sechszehn Cartons zu den Odysseebildern, große Kohlenzeichnungen, welche sowohl für sein Schaffen, als für die gesammte moderne Landschaftsmalerei als Gipfel angesehen zu werden verdienen.

Wir erinnern hier an das, was wir zur Charakterisirung Koch’s gesagt haben. Eine großartige Leistung der historischen Landschaft steht vor uns, welche im Gegensatze zur einfachen Vedute oder der genrehaften Naturdarstellung die Natur nachbildet, wie sie frei von den Zufälligkeiten des Augenblicks sein würde, wenn das Princip der Schönheit ungetrübt in ihr schaffend und bildend gewesen wäre. Diese idealen Landschaften gestalten sich um verschiedene Scenen aus dem großartigsten und in sich geschlossensten aller Heldengedichte. Die schönsten Momente aus diesem „Liede des Heimwehs“, wie es ein neuerer Dichter genannt hat, treten vor unser Auge; vom Abzuge [397] von Troja bis zum Wiedersehen des greisen Vaters Laertes folgen wir dem „herrlichen Dulder Odysseus, dem vielgereisten“; wir begleiten ihn zu den Kämpfen mit unwirthlichen Bewohnern fremder Küsten und dem tückischrohen Cyclopen, zur listigen Zauberin Kirke, in die Schrecken der Unterwelt hinab; wir sehen ihn dann, nachdem alle Gefährten umgekommen, einsam auf der Insel der Kalypfo und in den tobenden Fluthen des Meeres durch die Göttin Leukothea gerettet; wir folgen ihm auf das reizvolle Eiland der Phäaken und lauschen seiner Begegnung mit der Königstochter Nausikaa, wir geleiten ihn endlich zu seiner heimathlichen Felseninsel Ithaka.[1] Und mit dem unendlichen Wechsel der dargestellten Begebenheiten wechselt auch das Wesen der Landschaft, welcher hier weiter nachzugehen zwar sehr anziehend sein, aber doch zu weit führen würde.

Uns bleibt nur noch Eines zu sagen übrig. Wir gedenken des Umstandes, daß Goethe es war, der den Mann, dessen kernige Züge wir heute in gelungener Nachbildung den Lesern der Gartenlaube vorführen, bei den ersten Schritten auf seiner Künstlerlaufbahn mit Rath und That unterstützte, daß er es war, der ihm bei seiner ersten Reise nach Italien einen weisen Reisesegen bezüglich der beiden Meister Claude Lorrain und Poussin mitgab.[2] Und so wenig es uns beikommen kann, diese zwei so ganz verschiedenen Naturen zu vergleichen, so muß uns doch eine Aehnlichkeit zwischen Beiden auffallen. Wie Goethe im Verlaufe seiner ganzen Bildung sich der Antike mit immer größerer Vorliebe zuwendete, wie ihm insbesondere nach seiner italienischen Reise mit einem Zauberschlage das Verständniß der reinen Formenschönheit des Südens aufging, so sehen wir auch bei Preller, dem bildenden Künstler, einen ähnlichen Entwickelungsgang in den Odysseecartons zum Abschluß gebracht. Es giebt so Manche, welche bei Goethe über diese Wendung klagen und uns glauben machen wollen, seine deutsche Natur habe dabei Einbuße erlitten. Wir zählen uns nicht zu diesen Unzufriedenen; doch wollen wir hier nicht mit ihnen rechten. Aber wie dem auch sein möge: die Betrachtung von Preller’s Landschaften wird lehren, daß sein deutscher Sinn nur desto reiner und fester aus dem südlich-antiken Stoffe hindurchleuchtet. Gegenüber den meist schalen und schwachen Kunstprodukten unserer heutigen romanischen Zeitgenossen empfinden wir es mit Stolz, daß er der Unsere ist; wir können seinen Schöpfungen mit Recht nachrühmen, daß sie

Des Italieners feurig Blut,
Des Nordens Daurbarkeit
in sich tragen, und wir freuen uns, daß nicht erst eine gerechte Nachwelt, sondern schon die dankbare Gegenwart Friedrich Preller zu den ersten deutschen Künstlern rechnet.
J. C. 




Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.
Von Carl Vogt in Genf.
Nr. 10. Netzflügler. Fliegen oder Zweiflügler.

Das Nationalgefühl, die Schaben in Rußland und Gogol’s „Todte Seelen“. – Libellen, Wasserjungfern und Schneider. – Ameisenlöwen. – Fliegen aller Art. – Schluß.

 Meine Herren!

Das Nationalgefühl ist ein schönes und edles Gefühl – es erhebt die Herzen und stählt das Vertrauen, indem es uns erlaubt, uns als Glieder einer großen Familie zu fühlen, von welcher wir wissen, daß sie den Wahlspruch hat und in’s Werk setzt: Einer für Alle – Alle für Einen! Ich lobe diejenigen, welche namentlich im Auslande das Banner ihres Volkes hochtragen, seine Ansprüche vertheidigen, seine Eigenschaften in glänzendes Licht setzen.

Wenn aber dies Nationalgefühl so weit geht, daß es blind macht gegen die Uebelstände und Fehler, welche bei jedem Volke wie bei jedem Menschen sich zeigen; wenn es so weit geht, Thatsachen zu leugnen und sogar von Anderen zu verlangen, daß diese ebenfalls unwahr sein sollen, damit ja nicht irgend ein Schattenflecken im Gemälde sich zeige; wenn es kitzlig wird, wie der Handwerksbursche in den Fliegenden Blättern, dem der Zeigefinger am Wegweiser eine Grimasse und einen Seitensprung abnöthigt: so ist es Zeit, solchen Ausschreitungen entgegenzutreten.

Ich erzählte in der vorigen Vorlesung von den Schaben und ihrer ungemeinen Häufigkeit in Rußland. Es konnte mir im Traume nicht einfallen, daß es Personen geben könne, welche sich in ihrem nationalen Ehrgefühl durch die naturgeschichtliche Thatsache beleidigt oder wenigstens gekränkt fühlen, daß es viel Schaben in ihrer Heimath gebe. Doch ist dies der Fall gewesen. Man hat mir vorgeworfen, ich übertreibe. Nachdem man mir zuerst die Existenz der Schaben rundweg abgeleugnet hatte, – versicherte man, nur in den niedrigsten Hütten gäbe es „Preußen“ und niemals in solcher Menge, wie ich behauptet hätte.

Es wird mir leicht sein, zu zeigen, daß ich da, wo ich nicht selbst gesehen, nicht selbst beobachtet habe, doch wenigstens nicht ohne Gewährsmänner in den Tag hinein geplaudert habe. Mir liegt gerade Gogol’s Roman „Die todten Seelen“ vor. Zur Zeit seines Erscheinens machte dies Buch in Rußland vielleicht noch mehr Aufsehen und jedenfalls mit größerem Rechte, als die Mysterien von Paris von Eugen Sue. Man staunte über die Wahrheit der Schilderungen, über die Feinheit der Beobachtungen, oft selbst über die Schroffheit, mit welcher die Dinge gesagt wurden; – man erkannte und erkennt jetzt noch allgemein an, daß niemals die Seiten des russischen Lebens mit solcher Treue, mit solcher unnachsichtlichen inneren Wahrheit gemalt worden seien. „Gogol,“ sagte ein Kritiker, „zog keine Glacéhandschuhe an, um mit zartem Finger die Wunden zu berühren – er schlägt oft mit der Bärentatze drein und wirft Regierung und Volk manche bittere Wahrheiten in’s Gesicht. Er ist ein glühender Patriot, der sein Vaterland liebt mit dem ganzen brennenden Enthusiasmus des Italieners, wie mit der hartnäckigen Beständigkeit des Nordländers, aber diese Liebe macht ihn gegen die bestehenden Fehler nicht blind.“

Nun, meine Herren, lesen Sie diesen Roman der Wahrheit und sagen Sie sich dann, wer Recht hat, ich oder diejenigen, die mir widersprechen. Lesen Sie die ersten zwei Seiten. Der Held der Geschichte kommt in dem ersten Gasthof der Gouvernementsstadt N. an. Der Kellner führt ihn in sein Zimmer. „Das Zimmer,“ sagt Gogol, „war ganz in der gewöhnlichen nur zu wohlbekannten Art. Der Gasthof entfernte sich in keiner Weise von dem wohlbekannten Typus der Gasthöfe in den Gouvernementsstädten, wo der Reisende für zwei Rubel täglich ein ruhiges Zimmer mit Myriaden von Schaben haben kann, die wie Pflaumen aus allen Winkeln hervorgucken.

Ich könnte Ihnen noch zwanzig ähnliche Stellen anführen, ziehe es aber vor, zu unserem Gegenstande zurückzukehren. Die naturwissenschaftliche Thatsache steht über der National-Eitelkeit, und wenn der Schweizer mir verbieten wollte, vom Schweizerbandwurm, der Creole vom Sandfloh, der Italiener vom Floh und der Isländer vom Blasenbandwurm zu reden, weil ihr nationales Haben dabei stark creditirt ist, so bliebe am Ende nichts übrig, als gänzlich zu schweigen, wie viele politische Schriftsteller es zu Zeiten der Censur thaten.

Wichtiger wohl erscheint ein anderer Vorwurf. „Sie sind am Ende Ihrer Vorlesungen,“ sagte man mir, „Sie haben alle Insecten behandelt, warum sprechen Sie nicht von den

Netzflüglern (Neuroptera)

Warum nicht, bei Gelegenheit der Schnaken, von den Wasserjungfern und Libellen, mit denen diese Thiere so viel Verwandtschaft besitzen?“

Ich gestehe, daß ich einigermaßen im Fehler bin; daß ich die Libellen wenigstens hätte erwähnen sollen. Aber ich fürchtete, in Weitläufigkeiten verwickelt zu werden, ich fürchtete, meinen Vorwurf nicht zu Ende führen, mein Versprechen nicht lösen zu können und, [398] wie man in dem Universität-Jargon zu sagen Pflegt, einen „Schwanz“ zu lassen oder über die festgesetzte Zeit hinüber diese Vorlesungen ausdehnen zu müssen. Nun habe ich aber einen geheimen Schrecken vor Schwänzen dieser Art, zumal ich in meiner Vaterstadt Gießen einst erlebte, daß der Professor des römischen Erbrechts nicht nur einen Schwanz, sondern sogar einen „Schwanz vom Schwanz“ las, daß das Erbrecht sich wie eine ewige Krankheit bis in das dritte Semester hinüberspann und vielleicht noch heute nicht zu Ende gekommen wäre, wenn nicht die Studenten endlich mit Aufbieten jeder nur möglichen Energie erklärt hätten: „Jetzt sei es genug, und wenn die letzten Römer nicht mehr vor Ostern erben könnten, so möchten sie unbeerbt zur Hölle fahren!“ Wer selbst an zwanzig Versen der Odyssee ein halbes Jahr seines Lebens bei dem langweiligsten Gymnasiallehrer gekaut und das Unglück seiner Studienfreunde genossen hat, die bei Pfannkuchen (so hieß der Selige) ein Semester hindurch über einem einzigen Berg von Habakuk oder Jesaias schwitzen mußten, der lernt heilsame Benutzung der Zeit und geht lieber über ein Capitel weg, wie der Hahn über die heißen Kohlen, als daß er wagte, sich allzusehr in das wissenschaftliche Gestrüpp mit seinen Zuhörern zu verlieren.

Die Netzflügler, so wie sie jetzt in den meisten naturgeschichtlichen Handbüchern zusammengestellt werden, sind in der That durchaus keine natürliche Gruppe. Die Libellen (Libellula), Wasserjungfern (Agrion) und Schneider (Aeschna) haben allerdings mehr mit den Geradflüglern, als mit den übrigen Netzflüglern zu thun, zu welchen man sie gewöhnlich stellt. Denn sie haben zwar netzförmig gegitterte Flügel, aber keine vollkommene Verwandlung, obgleich ihre Larve im Wasser und das vollkommene Insect fast nur in der Luft lebt, und durch diesen Mangel des Puppenzustandes, sowie durch die Structur der Kauwerkzeuge stehen sie den Geradflüglern weit näher. Alle diese unechten Netzflügler, wie man sie genannt hat, sind kühne und flüchtige Räuber, deren Larven im Wasser von Gewürm, von andern Larven und selbst jungen Fischen leben, während die schnell und kräftig fliegenden vollkommenen Insecten Fliegen, Mücken, ja selbst Bienen und Hummeln im Fluge haschen und verzehren. Sie sind also weit eher nützlich, als schädlich, und mögen namentlich den Sumpfbewohnern durch Vertilgung unangenehmer Insecten einige Dienste leisten.

Unbedingt nützlich aber sind uns einige echte Netzflügler, deren Larven sich von Insecten nähren und die durch die vollkommene Verwandlung sich sogleich von den Wasserjungfern unterscheiden.

Allen voran stehen hier die Florfliegen (Hemerobiuss), zierliche Fliegen mit vier glashellen Flügeln, welche trotz ihrer großen Flügel nur langsam flattern, überall ausruhen und an die Unterseite der Blätter ihre kleinen Eier mittelst eines außerordentlich dünnen glashellen Stieles anheften. Ein solches Ei sieht etwa wie eine sehr feine, dünne Carlsbader Stecknadel aus, dergleichen man sich zum Aufspießen der kleinsten Insecten bedient. Die Larven, welche daraus hervorkriechen, sind ekelhaft, lausförmig, nur mit längerem Hinterleibs und mit zwei langen, hakenartig gebogenen, spitzen Kinnladen versehen, welche der ganzen Länge nach von einem Canale durchbohrt sind, der sich in den Schlund öffnet. Meist sind die Larven in Maden oder auch in ihren eigenen Unrath, den sie sich auf den Rücken schieben, dicht eingehüllt, so daß sie keinen erfreulichen Anblick gewähren. Nichtsdestoweniger freut sich der Gartenliebhaber ihrer Thätigkeit, wegen deren Réaumur, der ihre Sitten studirte, sie Blattlauslöwen nannte. In der That schleichen sie auf den Blättern und unter den Blattläusen umher, die dessen kein Arg haben, schlagen plötzlich einem Opfer die Krallenkiefer in den Leib, saugen den Inhalt aus und werfen den Balg weg. So zerstören sie eine Menge von Blattläusen, in deren Vertilgung sie mit den Sonnenkäfern und Schwebfliegen wetteifern.

Interessanter noch ist die Industrie des Ameisenlöwen (Myrmelco), dessen kurze, breitleibige Larve mit zwei durchbohrten Kieferzangen bewaffnet ist, welche fast eben so lang als der Körper des Thieres sind. „Das ist ein sonderbares Thierchen,“ sagte mir eines Tages ein Hausbesitzer, indem er mir die trichterförmigen Gruben zeigte, die im feinen Sande eines Weges hart an der Wand des Hauses in einer Reihe sich zeigten, so gestellt, daß der vorspringende Dachrand sie vor dem Regen schützte. „Ich habe sie lange beobachtet,“ sagte mir der gute Mann, „und weiß jetzt Alles, was sie treiben. Jetzt sitzen sie still während einiger Monate tief im Grunde ihres Trichters, aus dem nur die gefährlichen Klammerzangen hervorragen, und harren der Ameisen und anderer Thiere, die hinabstürzen. Die packen sie dann sogleich mit ihren Klammern, saugen sie aus und werfen den leeren Balg über den Rand des Trichters hinüber. Straucheln dagegen die Thierchen nur an den abschüssigen Wänden ihres Trichters und suchen sich zu halten, so werfen sie ihnen wohl mit den Zangen ein Häufchen Sand an und bringen sie so zum Stürzen. Zerstöre ich ihnen ihre Trichter, so bauen sie in kurzer Zeit einen neuen, indem sie sich mit dem Hinterleibe mittelst kreisförmiger Bewegungen in den Sand einwühlen und denselben zu gleicher Zeit auf die Seite werfen.“ Soweit waren wohl alle Beobachtungen ganz richtig. Hinsichtlich des Verpuppens aber hatte mein Mann seltsame Begriffe, die sich vielleicht an Swedenborgianische Träumereien knüpften, von denen er ein großer Freund war. „Wenn sie so ein paar Monate gesessen haben,“ sagte er mir, „so werden sie auffallend unruhig, kriechen aus ihren Trichtern hervor und laufen, so schnell sie mit ihren kurzen Beinen können, auf dem Sande hin und her. Von der ungewohnten Anstrengung gerathen sie dann über und über in Schweiß, und da dieser Schweiß klebrig ist, so hängen sich die Sandkörnchen dran und bilden endlich eine förmliche Hülse um das Thier, das dann gänzlich in die Erde schlüpft und sich in seinem ausgeschwitzten Cocon verpuppt.“

So ist es nun wohl nicht. Da der Ameisenlöwe andere Insecten nur aussaugt und deren Säfte unmittelbar zur Ernährung seines Leibes verwendet, so würde ihm „die Natur den After nur zur Zierde“ gegeben haben, wie sich ein geistreicher Physiologe einmal ausdrückte, wenn nicht der für Nahrungsmittel unwegsame Mastdarm zum Spinnorgane umgewandelt wäre. Der Ameisenlöwe spinnt sich also, nachdem er in der That eine Zeit lang unruhig umhergelaufen, um einen passenden Ort zu finden, ein eigenes Gewebe, in welches er Sandkörnchen verwebt und worin er die Verwandlung zum vollkommenen Insecte erwartet, die nächstes Frühjahr statthat.

Doch ich beeile mich, der letzten, zahlreichen Ordnung, mit welcher wir noch zu thun haben, mich zuzuwenden. Es sind dies die

Fliegen oder Zweiflügler (Diptera).

Kaum ist es möglich, ein Insect, welches dieser Ordnung angehört, zu verkennen. Die zwei Flügel, welche mitten auf der Brust stehen, meistens groß und mächtig sind und hinter welchen als Rudimente der Hinteren Flügel zwei kleine Schwingkölbchen sich finden, welche ganz die Form jener Schlagnetze besitzen, die man zum Federballspiele benutzt; der Saugrüssel, welcher gewöhnlich weich ist und einen dickeren Rüsselkopf besitzt; die vollkommene Verwandlung aus fußlosen Larven, welche wir Maden zu nennen pflegen, charakterisiren alle der Ordnung angehörige Thiere so ausgiebig, daß bei genauerer Untersuchung keine Verwechslung möglich ist. Höchst eigenthümlich sind auch die Puppen, welche nur höchst selten, bei den Gallmücken z. B. so gemeißelt erscheinen, daß die Organe des werdenden Insectes daran sichtbar sind. Gewöhnlich haben sie die Form einer Tonne, einer Flasche oder einer Glasthräne und werden von der Haut der Larve selbst gebildet, welche eintrocknet und auf einen so kleinen Raum zusammenschnurrt, daß man beim Ausschlüpfen der Fliege kaum begreift, wie dieselbe in dem engen Tönnchen Platz finden konnte.

Die Maden sind ekelhafte Thiere. Moder und Koth, faulender Stoff, stinkendes Sumpfwasser, Schleim und Eiter sind die Umgebungen, in welchen sie sich gefallen, und meistens erscheinen sie da in großen Massen, wo die faulige Verderbniß durch Witterungseinflüsse oder andere Verhältnisse überhand genommen hat. Die stehenden Sumpfgewässer brüten jene ungeheueren Schwärme von Schnaken, Griebelmücken und Stechmücken aus, welche ebenso die Tiefebenen der heißen Zone, wie die Torfmoore der Polargegenden fast unzugänglich machen. Die faulenden Pflanzenstoffe sind die Brutstätten für eine Unzahl von Mücken, deren Heer von unserer gewöhnlichen Stubenfliege angeführt wird.

Treu meinem Programme rede ich Ihnen hier nicht von denjenigen Fliegen, welche als Schmarotzer Thiere und Menschen belästigen, nicht von den Bremsen (Tabanus), Stechfliegen (Stomoxys), Lausfliegen (Hippobosca), Schnaken (Culex) und Griebelmücken (Simulia), sowie den Flöhen, welche in der That ungeflügelte Fliegen sind, und die alle das Blut der [399] Menschen und der Thiere saugen, wobei die Weibchen namentlich durch ihre Virtuosität sich hervorthun sollen; auch nicht von den Dasselfliegen (Oestrus), welche ihre Eier an die Haut der Thiere legen und deren Larven in Eiterbeulen oder im Magen schmarotzen. Wir haben leider auf dem uns zugewiesenen Felde noch der Feinde genug, welche uns manchen Schaden zufügen.

Die Gallmücken (Cecidomyia) sind gar kleine, weiche, meist schwärzliche Thierchen mit langen Fühlhörnern, an denen Haare in Wirteln gestellt sind, so daß sie etwa wie jene Bürsten aussehen, die man zum Putzen der Flaschen benutzt. Unschuldig genug sehen die Thierchen aus, und doch gehört zu ihnen die schreckliche Hessenfliege (C. destructor), von welcher man einst irriger Weise in Nordamerika glaubte, sie sei von den armen hessischen Soldaten, welche ihr gnädiger Landesvater über’s Meer an die Schlachtbank gegen baares Geld verkaufte, mit dem Stroh nach Amerika eingeschleppt worden. Die Made lebt im Innern der Weizenhalme, die sie innen ausbohrt und so höhlt, daß sie noch vor dem Ansetzen der Aehre umfallen und faulen. In Amerika, in England, in Ungarn sind ganze Ernten von dieser furchtbaren Made vernichtet worden, die indeß nur von Zeit zu Zeit in größerer Menge auftritt.

Auf dem Birnbaume leben einige Gallmücken (C. nigra und piricola), die zugleich mit einer Trauermücke (Sciara piri) häufig den größten Theil der Birnenernte vernichten. Die Weibchen legen ihre Eier mittelst einer langen Legeröhre, die sie von außen einstechen, gewöhnlich mitten in die noch unentwickelten Blüthenknospen. Während die Blüthe sich entfaltet und die Frucht ansetzt, schlüpft die Made aus, die sich meist in der Nähe des Stiels einbohrt und sogleich nach dem Kernhause hinarbeitet, welches sie aushöhlt. Die kleinen Birnchen werden welk, schrumpfen ein, bekommen Risse und fallen endlich ab; die Maden gehen heraus, kriechen in die Erde und verpuppen sich, zuweilen selbst in den abgefallenen Birnen, wenn sie die Zeit nicht finden, dieselben zu verlassen. In manchen Jahren fallen fast sämmtliche Birnchen ab, und da die Mückchen klein und nicht sehr bemerklich sind, so giebt es kein anderes Mittel der Verheerung zu steuern, als die abgefallenen Birnchen sorgfältig zusammenzulesen und den Schweinen zu verfüttern, ehe die Maden Zeit haben, dieselben zu verlassen.

Unter den eigentlichen Fliegen, welche durch die Organisation ihrer kurzen, dreigliederigen, mit einer Borste versehenen Fühler unserer gewöhnlichen Stubenfliege ähnlich sehen, müssen wir besonders der Runkelfliege (Anthomyia conformis), der Zwiebelfliege (A. ceparum) und der Kohlfliege (A. Brassicae) erwähnen. Die Made der ersteren höhlt die Blätter der Runkelrübe aus, indem sie das Grüne wegfrißt und nur die beiden Oberhäute stehen läßt; diejenige der Zwiebelfliege frißt die Zwiebeln gänzlich aus, so daß dieselben innen verfaulen, während die Made der Kohlfliege in die Strunke der Kohlarten bohrt und diese ebenfalls zum Faulen bringt. Die unangenehmste aller dieser Fliegenarten aber ist wohl die Kirschenmade (Ortalis cerasi), welche so häufig in den Herzkirschen vorkommt. Es giebt wirklich Jahre, wo alle Herzkirschen matsch und faul werden und wo man unter Hunderten kaum eine findet, in welcher nicht eine ekelhafte gelblichweiße Made säße, welche das Fleisch aushöhlt, nachher sich zur Erde fallen läßt und in ein Tönnchen sich verwandelt, aus welchem die scheckige Fliege, die braune Querbinden auf den Flügeln trägt, im nächsten Frühjahre hervorbricht.

Auch der Käsefliege (Piophila casei) sollte ich hier noch erwähnen, da ihre feste, weißliche Made, welche wie eine Feder sich zusammenbiegt und Sprünge macht, von gar vielen Käseliebhabern für ein Erzeugniß des faulenden Käses selbst und für einen Beweis der Vortrefflichkeit der Sorte angesehen wird. Es ist wohl nicht nöthig, diese irrige Ansicht zu widerlegen und nachzuweisen, daß die Eier, aus welchen diese Maden hervorgehen, von einer verhältnißmäßig kleinen, glänzend schwarzen, glatten Fliege, deren Fühler, Beine und Stirn rothbraun gefärbt sind, an den Käse gelegt werden. Eine gut schließende Glocke, die über den Käse gestülpt wird, verhindert durchaus das Eindringen der Fliege und demnach auch die Entwickelung der Made, welche durch ihren Unrath nur den Käse verunreinigt und folglich mit vollem Rechte ein schädliches Thier genannt werden kann.

Ich würde indeß der Ordnung der Fliegen Unrecht thun, wollte ich hier zum Schlusse nicht der nützlichen Thiere erwähnen, welche sie in sich schließt. Die Schnellfliegen (Tachina), welche den Schmeißfliegen ziemlich ähnlich sehen, aber meistens noch größer und haariger sind, leisten uns nicht weniger bedeutende Dienste, als die Schlupfwespen, in Vertilgung von Raupen. Außerordentlich schnellen, schwirrenden Fluges schwärmen sie überall in Feld, Garten und Wald umher, legen ihre Eier auf die Haut der Raupen, die sie in ihren Schlupfwinkeln aufsuchen, und besetzen so gewöhnlich eine große Anzahl jener schädlichen Fresser. Die Larve bohrt sich in die Raupe ein, frißt den Fettkörper derselben auf, verpuppt sich gewöhnlich in der Raupenhaut oder auch außerhalb derselben in einer glatten Tonne, aus der nach wenigen Tagen die Fliege ausschlüpft. Auch der Mordfliegen (Asilida) dürfen wir nicht vergessen, großer Fliegen mit kurzem, wagrecht vorgestrecktem Rüssel und großen Flügeln, meist lebhaft gefärbt, welche auf andere Insecten, selbst Bienen, Jagd machen, die sie mit ihrem Rüssel durchstechen und aussaugen.

Am liebsten aber erwähne ich der Schwebfliegen (Syrphus), jener drohnenartigen, meist lebhaft gefärbten Fliegen mit dickem Kopfe und plattgedrücktem Hinterleib, welche Falken gleich lange an einem Orte in der Luft schweben, mit plötzlichem, pfeilschnellem Schusse ihre Stelle ändern, um von neuem über einem Blatte zu schweben, auf welches sie sich kaum niederlassen, während sie ein meist rothgelb gefärbtes Eichen auf seine Fläche legen. Aus diesen Eiern schlüpfen nach kurzer Zeit schön gefleckte und gefärbte Maden hervor, welche beinahe die Form eines Blutegels haben, am Hinteren, dickeren Körperende eine breite Saugscheibe besitzen und mit schnabelartigen Kiefern bewaffnet sind. Diese Maden, welche langsam, Blutegeln gleich, auf den Blättern umherschleichen, nähren sich einzig und allein von Blattläusen, und nichts kann unterhaltender sein, als ihnen bei ihrem Treiben zuzuschauen. Die Blattläuse stolpern und kriechen über ihre Feinde weg, die zusammengezogen mitten unter ihnen sitzen, als seien dieselben ganz ungefährlich. Die Made dehnt sich aus, tastet eine Zeitlang mit dem spitzen Kopfende umher, ergreift die erste beste Blattlaus mit ihren Kiefern, saugt sie aus, läßt den ausgesogenen Balg fallen, ruht eine Zeit lang und wählt sich dann ein anderes Opfer. So geht es den ganzen Tag fort, und die Larve wächst zusehends, während sich die Blattläuse in gleichem Maße vermindern. Die Tonne, in welcher die Made sich verpuppt, gleicht einer Glasthräne und springt an dem einen Ende mit einem Deckel auf. Da bei zureichender Nahrung die Maden äußerst rasch wachsen, der Puppenzustand aber nur vierzehn Tage dauert, so folgen sich mehrere Generationen dieser nützlichen Schwebfliegen in einem Sommer.




Wir sind somit an dem Schlusse dieser Vorlesungen angelangt, deren Raum leider zu beschränkt war, als daß ich mehr hätte thun können, als die Aufmerksamkeit auf eine Menge von Thatsachen zu lenken, welche die Wissenschaft auf diesem Felde kennen gelehrt hat. Wenn aber die Ernte, welche hier erzielt wurde, durch die Anstrengungen so vieler Männer, als eine ausgezeichnet reiche bezeichnet werden kann, so dürfen wir uns auf der andern Seite nicht verhehlen, daß noch unendlich viel zu thun und fast nirgends die Reihe der Beobachtungen vollständig abgeschlossen ist.

Möge das Jeder im Auge behalten, der sich für die behandelten Gegenstände interessirt, und je nach seinen Kräften dazu beitragen, die vorhandenen Lücken auszufüllen und dadurch der Menschheit selbst einen Dienst zu leisten!




Blätter und Blüthen.

Englische Sabbathfeier. Vor wenigen Tagen hat Genf den dreihundertjährigen Gedenktag seiner Kirchenreform gefeiert. Calvin war indeß, wie die Geschichte zeigt, von nichts weniger als von dem milden versöhnenden Geiste, dem Geiste der Alles duldenden und Alles tragenden Liebe beseelt, welcher das Wesen des Christen und des Christenthums bildet oder – bilden soll, er war Zelot und Fanatiker im höchsten Grade, herrschsüchtig bis zur Tyrannei und intolerant bis zur Grausamkeit, nicht sparsam mit den Scheiterhaufen für Andersdenkende. Die Kirchenzucht und Sittenpolizei, denen er die Republik Genf unterwarf, weisen Gesetze auf, welche eben so gut mit Blut geschrieben sind, wie weiland die drakonischen.

[400] Eine noch strengere Herrschaft über Geister und Gewissen übten aber, und bis auf die neuere Zeit hinab, die Puritaner in Schottland aus: dort wurde die Kirche, the kirk zu einem furchtbaren Tribunale, das alle Vergehen wider ihre willkürlichen Satzungen mit unerbittlicher Strenge ahndete. Als das verdammungswürdigste Verbrechen jedoch galt und gilt zum Theile noch heute, wie wir uns aus eigener längerer Erfahrung selbst zu überzeugen sattsam Gelegenheit hatten, die Entweihung des Sonntags oder, wie der orthodoxe Schotte spricht, des Sabbaths. „Noch im verflossenen Jahrhundert“, heißt es in einer uns vorliegenden englisch-schottischen Wochenschrift, „hielt der Kirchenvorstand Jedermann für ‚verdächtig‘ und verhaftete, ja verbannte Den aus dem Lande, der auf Verlangen nicht ein Sittenzeugniß von seinen speciellen Gemeindeältesten produciren konnte, d. h. ein Zeugniß, daß er die verschiedenen Sabbathgesetze immer getreulich erfüllt habe. Besondere Wirthshausinspicienten waren in allen Kirchspielen ernannt, ebenso Männer, die während des Gottesdienstes durch die Straßen der Städte patrouilliren mußten, um streng darauf zu sehen, daß kein zur Stadt gekommener Landmann vor dem Schlusse der Nachmittagspredigt nach Hause zurückkehre, und um jede Entweihung des Sonntags sofort zur Anzeige zu bringen. Trauungen am Montage waren unbedingt untersagt, damit die Brautleute sich durch den Gedanken an den ihnen bevorstehenden wichtigen Act nicht in ihrer Sonntagsandacht stören ließen.“ Aus einer langen Reihe von Straffällen, welche das gedachte Blatt nach den officiellen Kirchenregistern mittheilt, wollen wir zum Ergötzen unserer Leser einige der bezeichnendsten anführen.

Zwei Knechte eines kleinen Gutsbesitzers wurden vor die Schranken des Kirchenvorstandes gefordert, weil sie am Sabbath einige Eimer Wasser geholt hatten. Sie wandten ein, daß das Wasser für ein krankes Rind bestimmt gewesen sei, trotzdem aber wurden sie körperlich gezüchtigt und außerdem jeder zu einer Buße von zwanzig Schillingen verurtheilt.

Wegen eines ähnlichen Vergehens mußte ein armes Weib vor den gestrengen geistlichen Richtern erscheinen und wurde verdammt, zwei Sonntage nach einander im Büßergewande vor der Kirchthür zu stehen.

Um diese Profanation von vornherein unmöglich zu machen, ordnete in einer Gemeinde der Kirchenvorstand einen Büttel ab, der allsonntäglich die Runde durch den Ort zu gehen und jedes Gefäß zu confisciren hatte, das dem fluchwürdigen Verbrechen dienen konnte.

In einer andern Gemeinde wurde ein Mann vor die geistliche Behörde citirt, nicht weil er seine Frau überhaupt geprügelt, sondern weil er sie am Sabbath geprügelt hatte. Ebenso mußte eine Frau vor das Tribunal, weil sie am Sonntag betroffen worden war, wie sie für ihre Ziege eine Hand voll armseligen Seegrases absichelte. Ohne Weiteres wurde sie in den Büßersack gesteckt, mußte darauf vom ersten Läuten an bis zur Oeffnung der Kirchenpforte vor der Thür des Gotteshauses knieen und erhielt schließlich von der Kanzel herab vor allem Publicum eine donnernde Strafpredigt. Fühlte sich Jemand rein von dem ihm zur Last gelegten Vergehen, so hatte er einen gräßlichen Reinigungseid zu schwören, der also lautet: „Wie Kain will ich umherwandern, ruhelos und flüchtig über die Erde! Der Ewige züchtige hienieden meinen Leib mit seiner schwersten Heimsuchung und oben meine Seele mit ewiger Pein! Auf ewig sei mir deine Barmherzigkeit entzogen, Herr mein Gott, und aller Fluch, so deine heilige Schrift auf die Sünde legt, falle allein auf mein Haupt!“

Die schottische Kirche ist auch heutigen Tages noch keine Freundin von weltlichem Saitenspiel und gar von dem Teufelsdienste, dem Tanze; damals aber waren Musik und Tanz nicht nur am Sabbath, sondern überhaupt streng verpönt. Noch 1787 verordneten die Behörden einer größern Stadt im Norden Schottlands, daß jeder Schenkwirth, der Musik oder Tanz in seinem Hause duldete, mit einer Buße von zehn Pfund Sterling, jeder Musiker und Dudelsackpfeifer um sechs Pfund Sterling gestraft werden sollte. Blos am Weihnachtstage, den die schottische Kirche überhaupt nicht feiert, und zum Neujahrsfeste waren Spiel und Tanz gestattet, aber, bei einer Strafe von zwölf Pfund Sterling, auch nur bis 10 Uhr Abends.

Das ist das verlorene Paradies, nach dem die Kliefoth’s und Genossen mit wehmüthigem Blicke zurückschauen und zu dessen Herrlichkeit sie gern ihren beglückten Heerden verhelfen möchten!




Die Danebrogsfahne und ihre Geschichte. In dem Augenblicke, wo selbst der 1852 erschlichene Rechtsanspruch Dänemarks an die Elbherzogthümer hoffentlich für immer am Boden liegt, und so einer der ältesten europäischen Monarchien für ihren bisherigen Bestand der Todesstoß gegeben wird, mehr als verdient durch eidbrüchige Intrigue, die nach Jahrhunderten, durch brutale, jedes Recht und nationale Empfinden mit Füßen tretende Säbelherrschaft, die nach Jahrzehnten zählt, mag es lehrreich und interessant erscheinen, die Geschichte der alten, von den Dänen so oft pomphaft besungenen Danebrogsfahne an sich vorübergehn zu lassen. Durch mehrfache und bunte Wechselfälle des Geschickes an sich unterhaltend, giebt sie zudem ein wundervolles und charakteristisches Beispiel von dem großen Talent des dänischen Volkes, unscheinbaren oder selbst unrühmlichen Ereignissen ihrer Geschichte so lange bebarrlich das Phantasiecolorit der Nationaleitelkeit zu verleihen, bis sie selber auf die Echtheit und Ursprünglichkeit dieser Färbung Stein und Bein zu schwören geneigt sind.

Die berühmte alte Danebrogsfahne tritt zuerst 1219 in der Geschichte auf, wo sie dem König Waldemar II., von gefälliger Mit- und Nachwelt „der Sieger“ genannt, von Papst Honorius III. für einen bevorstehenden Kreuzzug nach Esthland zum Geschenke gemacht und hier zum ersten Male entfaltet wurde. Fast aber hätte sie schon zu Beginn ihrer Laufbahn schmähliche Niederlage gesehn, denn als in der Nacht die kaum getauften Ureinwohner des Landes einen Ueberfall auf das dänische Lager machten, stürzte Alles, der „siegreiche“ König nicht minder als seine Unterthanen, in wilder Flucht von dannen, und einem slavischen Fürsten, dem Wizlav von Rügen, blieb es vorbehalten, die Ehre des christlichen Heeres zu retten, bis sich die Dänen darauf besannen, vor wem sie flohen, um dann endlich unter Begünstigung ihrer großen Ueberzahl einen mühsamen und blutigen Sieg zu erringen. Schon damals, nicht minder durch den wundersüchtigen Geist der Zeit, als durch den Wunsch veranlaßt, dem slavischen Vasallen die Ehre des Tages zu rauben, entstand die Legende, in dem entscheidenden Augenblicke, als dem dänischen Heere die Wahl zwischen dem salzigen Wasser und dem kalten Eisen einzig blieb, sei plötzlich das schimmernde Banner mit dem weißen Kreuz im Purpurgrunde herniedergefallen und habe die weichenden Völker neubegeistert zum Siege geführt. So brachte die Eitelkeit eines reizbaren Volkes sein Nationalbanner in directe Verbindung mit dem Himmel und suchte, wie heute das Gleichgewicht Europas, so damals das Interesse des Himmels selber an seine Existenz zu knüpfen, für heutigen kritischen Scharfblick nur in so fern erfolgreich, als die dänische Fahne, seitdem ihrer neuen Gestalt dieser himmlische Ursprung vindicirt war, auf fast allen Schlachtfeldern fortan lieber nach kurzem Widerstande plötzlich Kehrt machte, als daß sie durch festes Standhalten das sündliche Blutvergießen noch verlängert hätte.

Denn eigenthümlich und ein interessantes Beispiel von der Ironie, mit der die Weltgeschichte den Eitlen und innerlich Unwahren zu peinigen liebt, ist es, daß eben mit dem Eintritt des „heldenhaften“ Danebrog in die dänische Geschichte die bisher Sieg und Niederlage ziemlich gleichmäßig vertheilenden Kriege Dänemarks einen so entschieden ungünstigen Ausgang zu nehmen anfangen. Gleich die beiden ersten großen Feldschlachten gegen disciplinirte Kriegsschaaren, in denen der Danebrog die dänischen Heere führte, die Schlachten bei Mölln 1225 und bei Bornhöved 1227, endigten mit der gänzlichen Niederlage der dänischen Schaaren, und erzwangen die Befreiung Holsteins von dem verhaßten Joche, unter welches es ein Vierteljahrhundert vorher durch eine Verkettung von ungünstigen Umständen, besonders aber durch den verrätherischen Abfall fast seines ganzen Adels, gerathen war. Dann hat, nach der wenig unterbrochenen Waffenruhe eines Menschenalters, von Gerhard I. bis zu den letzten Schauenburgern hin, fast zweihundert Jahre hindurch Holsteins unscheinbares Nesselblatt auf unzähligen Schlachtfeldern über den pomphaften Danebrog triumphirt, bis mit dem Jahre 1460 die Personalunion des Herzogthums Schleswig und der Grafschaft Holstein mit der Krone Dänemark eintrat, dasselbe unselige Band, welches unbelehrte Thoren außerhalb und unverbesserliche Aristokraten innerhalb der Herzogthümer jetzt wieder, Gott Lob vergeblich, erstrebt haben. Von da an ruhte der Streit, und der Danebrog fand keine weitere Gelegenheit, seine „Unbesiegbarkeit“ kundzuthun, bis er im Jahre 1471 auf dem Breukeberge vor Stockholm dänischen Kriegern von schwedischen Bauern schimpflich entrissen ward. Erst deutsche Landsknechte, die durch unerhörte Thaten kriegerischen Muthes und wilder Grausamkeit weit verschrieene große sächsische Garde, bezwangen in dänischem Dienste 1497 auf ebendemselben Breukeberge die schwedischen Bauern, deren wilder Tapferkeit 26 Jahre vorher die Blüthe des dänischen Heeres und das alte Reichsbanner als Opfer gefallen waren, aber nur, um das wacker eroberte Banner drei Jahre später auf dem Hemmingstedter Felde in Dithmarschen in schreckennvoller Niederlage auf’s Neue einzubüßen, 17. Februar 1500. Von da an war es für die Dänen verloren, denn als 1559 ein schleswig-holsteinisches Heer, dem nur wenige Dänen sich angeschlossen hatten, Dithmarschen endlich unterwarf, fiel die Hauptzierde der Kriegsbeute, die alte Danebrogsfahne, dem Sieger in der „letzten Fehde“, dem Herzog Adolf von Schleswig-Holstein-Gottorp, zu, und hat mit dessen Nachkommen, die durch König Friedrich’s IV. brutale Gewalt 1721 ihren Antheil an dem Herzogthume Schleswig verloren, die Uebersiedelung nach Kiel mitgemacht, wo sie auf dem Boden der Nicolaikirche den unhistorischen Würmern zum Opfer gefallen ist. So verhielt es sich mit der Geschichte der alten Danebrogsfahne, die sich nach Aussage „ehrenwerther“ dänischer Gewährsmänner „den ruhmwürdigsten Bannern der Weltgeschichte ebenbürtig anreihen darf“! Wie zweifelhaft es mit diesem Anspruche steht, haben wir gesehen, um so unzweifelhafter aber gebührt dem dänischen Volke das Lob, an Talent und Empfänglichkeit für dergleichen „patriotische Phantasieen“ unter den europäischen Nationen einzig dazustehen.
C. M. 




Zur Orthographie der niederdeutschen Eigennamen. Jetzt, wo Aller Augen nach dem Norden Deutschlands gerichtet sind, werden unsere Leser in Mittel- und Süddeutschland es uns nicht für gar zu kleinlich auslegen, wenn wir sie auf eine sehr landläufige Entstellung vieler namentlich geographischer Eigennamen im Sprachgebiete Niederdeutschlands aufmerksam machen. Es ist hier eine Unkenntniß in unserer deutschen Sprache zu beseitigen, deren sich zwar selbst unser großer Schiller schuldig erweist, wenn er flottweg auf „Mosjö“ seinen „langen Peter von Itzehoe“ reimt, der aber jedenfalls preußischen Kalendern und amtlichen Bekanntmachungen noch schlechter steht. Letztere berichten alljährlich noch von Jahrmärkten zu Söst, Märl, Süderwich, Strälen u. s. w. und scheinen keine Ahnung davon zu haben, daß diese Orte von ihren Bewohnern in dieser Schreibweise gar nicht wiedererkannt werden. Man merke also die einfache Regel, welche übrigens Jeder in seiner deutschen Schulgrammatik von Heyse (1854, S. 42) nachschlagen kann: daß im Niederdeutschen die Dehnung aller Vocale nicht blos durch Verdoppelung derselben oder durch ein h, sondern auch durch ein zugefügtes e bezeichnet wird, was im Hochdeutschen nur bei i (Stier, Bier) üblich ist. Man schreibe also Straelen, gelesen Straalen, nicht Strälen, Coesfeld gleich Coosfeld, nicht Cösfeld, und lasse künftig den langen Peter wieder aus Itzehoe gleich Itzehoh stammen, wenn er auch deshalb aufhören müsse, ein „Mosjö“ zu sein.


Nicht zu übersehen! Mit nächster Nummer schließt das zweite Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.
Ernst Keil. 

  1. Denjenigen unserer Leser, welche sich beim Betrachten der demnächst auch photographirt erscheinenden Cartons über die einzelnen dargestellten Scenen genauer unterrichten wollen, empfehlen wir als willkommenen Führer eine kleine Broschüre: Friedrich Preller’s Odysseelandschaften, Leipzig 1863.
  2. Vergl. Eckermann, Gespräche mit Goethe.