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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[737]
Meine Tante Therese.
Keine erfundene Geschichte.
(Schluß.)

Es wurde draußen wieder laut, das Einfahrtsthor war geöffnet und die Franzosen zogen in den Hof ein, ruhig, geordnet. Mehrere kamen in das Haus. Man hörte ihren Gang in der Halle. Thüren wurden dort geöffnet; der verwundete Officier war wohl hineingebracht; vielleicht noch mehrere Verwundete.

Die Thür der Wohnstube that sich auf. Die alte Christine führte die fremde Dame herein. Die bleiche Frau war ängstlich, erwartungsvoll.

„Gieb der gnädigen Frau einen Stuhl, und dann laß uns allein,“ sagte die Großmutter zu der Magd.

Die alte Christine that, wie ihr befohlen, und entfernte sich. Die fremde Dame setzte sich auf den Stuhl.

Meine Großmutter war der Frau des Mannes gegenüber, der ihren Sohn, ihren Stolz und ihre Freude, gemordet, durch schnöden Verrath gemordet hatte. Sie hatte dieser Frau mit ihren Kindern und mit dem Mörder in der Stunde der Lebensgefahr Schutz und Obdach gegeben. Die Frau wußte, daß sie der noch trauernden Mutter des von ihrem Gatten Ermordeten gegenüber war, aber sie wußte nicht, ob diese sie und ihren Gatten kenne.

„Madame,“ hob meine Großmutter mit ihrer ruhigen und klaren Stimme an, „Sie sehen, ich liege hier gelähmt, so konnte ich nicht zu Ihnen kommen, und ich mußte Sie zu mir bitten. Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie gekommen sind. Ich habe eine Bitte an Sie.“

„Sie an mich?“ fragte die ungewisse Stimme der Gattin des deutschen Edelmanns und französischen Gensd’armenofficiers.

„Madame,“ fuhr meine Großmutter ruhig fort, „meine Tochter sah Sie vorhin. Sie hat mir gesagt, sie habe ein braves Herz in Ihnen gesehen und ich glaube es, denn meine Augen sehen es. So wird meine Bitte an Sie keine vergebliche sein.“

„Was wünschen Sie, Madame?“ fragte die Fremde.

„Sogleich, Madame. – Sie wissen, wo Sie hier sind?“

Die Dame konnte nicht antworten. Sie zitterte.

„Sie wissen es, Madame! Und daß ich Sie fragte, muß Ihnen beweisen, daß auch ich weiß, wer bei mir ist.“

„Mein Gott, mein Gott!“ stöhnte die Dame.

„Beruhigen Sie sich, Madame. Ich wollte und will Ihnen keine Vorwürfe machen. Sie haben ja auch keinen Theil an dem, was geschehen ist, Ihr braves Herz hat es verabscheut, und verabscheut es noch. Und an dieses Herz wollte ich mich wenden. Madame, Ihr Gatte hat seinen Posten verlassen. Sein Leben ist verwirkt, wenn er in die Hände der Franzosen fällt. Aber der Zufall hat ihm hier einen Preis zugeführt, mit dem er es erkaufen kann, und sein Charakter wird ihn verleiten, zuzugreifen. Aber dieser Preis, Madame, wäre ein zweiter Mord, der mich und dieses Haus träfe, und, Madame, nachdem ich jetzt mit Ihnen gesprochen, hätten Sie Theil daran, und das Blut würde mit auf Sie kommen, und nach jenen unerforschlichen, aber ewigen Gesetzen mit auf Ihre Kinder. Verhindern Sie den Mord, Madame. Das war meine Bitte an Sie. Eilen Sie, erwidern Sie mir nichts, eilen Sie, damit Sie nicht zu spät kommen.“

Die Frau des verrätherischen deutschen Edelmanns war aufgestanden. Sie wollte etwas sagen, aber sie vermochte es nicht. Sie bedeckte mit beiden Händen das leichenblasse Gesicht und schwankte zu der Thür hinaus.

Meine Großmutter war wieder allein, aber sie war es nicht lange. Es war eingetroffen, was sie in ihrem Inneren gefürchtet, weshalb sie jene für sich selbst wie für die leidende fremde Frau so schmerzlich peinliche Unterredung nicht hatte abwenden dürfen.




7. Kriegsgeschick.

Der Verwalter Buschmann und meine Tante waren zu dem Thurme geeilt, auf einem verborgenen Wege durch das Schlafgemach der Großmutter, den vorhin die Tante mit der alten Christine genommen hatte.

Der verwundete Freiherr saß aufrecht auf seinem Lager, als sie zu ihm eintraten. Er hatte sie erwartet, wenigstens die Tante Therese, er hatte den Kampf draußen gehört, dann die Schläge an das Thor, und konnte nicht zweifelhaft sein, was folgen werde. Von der Tante Therese mußte er es erfahren; sie mußte zu ihm kommen, sobald sie konnte.

„Du mußt fort, Adalbert,“ rief sie, indem sie zu ihm eintrat. „Die Franzosen dringen ein; wir konnten es ihnen nicht länger wehren. Wir führen Dich in den Wald, dort bist Du sicher, die Preußen sind darin.“

Der Verwundete wollte sich erheben. Er vermochte es nicht; er war zu schwach. Der Verwalter wollte ihm helfen; es war vergeblich. Der Verwundete fiel zurück, und brach wie ohnmächtig zusammen. Die Augen schlossen sich ihm, dicker, kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn; so lag er einem Sterbenden gleich, auf dem Bette. Seine Wunden waren schwer; er hatte auf dem Schlachtfelde viel Blut verloren, ehe man ihn hatte verbinden können, [738] und war dann auf dem Bauernwagen einen Tag und fast eine Nacht gefahren. Die Ereignisse im Schloß Hawichhorst hatten ihn vom ersten bis zum letzten Momente in beinahe ununterbrochener Aufregung erhalten. Das hatte seine Kraft zuletzt brechen müssen.

Die Tante Therese rieb ihm die Stirn und die Schläfen mit Wasser, mit Essig, mit Essenzen; sie hatte schon früher Alles für die Pflege des Kranken hingebracht. Er kam wieder zu sich und schlug die Augen auf; aber er fiel in einen Schlummer der völligen Erschöpfung.

„Es geht nicht,“ sagte der Verwalter, „wenigstens nicht in der ersten Viertelstunde. So lange muß er ruhig schlafen.“

„Und dann?“ fragte die Tante.

„Wollen wir hoffen, daß der Schlaf ihm neue Kräfte gebracht hat.“

„Wenn es nicht zu spät sein wird!“

„Fürchten wir das nicht. Bereiten wir uns vielmehr vor. Ich werde nach unten sehen, um mich umzuschauen, was es dort giebt, wie wir danach weiter zu verfahren haben. Legen Sie unterdeß Alles für die sofortige Flucht zurecht.“

Er ging, und die Tante legte zurecht, was für die schleunigste Flucht erforderlich war. Sie war bald fertig und setzte sich dann an das Bett des Schlummernden, der ruhig schlief. Auch meine Tante faltete die Hände. Sie war fromm und gottesfürchtig, sie hob die Augen gen Himmel und betete: „O du lieber Gott im Himmel, erhalte ihn mir. Laß es gnädig an uns vorübergehen.“

Man hörte, wie draußen das große Einfahrtsthor geöffnet wurde, wie die Franzosen in den Hof ritten. Aus dem Hofe kamen sie in das Haus. Das Geräusch drang aus der Halle bis in die Thurmstube empor, dann hörte man aber in dem entlegenen Stübchen nichts mehr, und es blieb abermals still, tief still. Der Verwundete schlummerte fort. Die Tante saß noch an seinem Bett, als der Verwalter zurückkehrte. Sein Gesicht zeigte Ruhe.

„Das Schloß können wir nicht verlassen,“ sagte er.

„Warum nicht?“

„Es ist auf allen Seiten strenge von den Franzosen eingeschlossen. Ich suchte vergebens hinauszukommen. Sie scheinen einen Ueberfall und ein Eindringen der Preußen in das Haus zu befürchten.“

„Und warum das?“

„Der Besitz des Hauses giebt große Vortheile für einen Kampf, und der Kampf muß sich jedenfalls morgen erneuern.“

„Sie sagen das Alles so ruhig, Herr Buschmann?“

„Ich bringe zwei andere gute Nachrichten.“

„Theilen Sie sie mit.“

„Der verwundete französische Officier ist der Sohn des obersten der Carabiniers. Er ist in der Brust schwer verwundet, und der Vater ist außer sich vor Angst und Schmerz. Darum wurde so besonders dringend der Einlaß in das Schloß begehrt. Ihr Bruder Franz ließ sofort den Verwundeten in sein eigenes Zimmer, in sein Bett bringen. Er sorgte dann für alle möglichen Bequemlichkeiten[1] und legte selbst mit Hand an, wo er konnte. Die Sorge und Aufmerksamkeit haben den Obersten gerührt. Er hatte erfahren, wo er war, in dem Hause des vor zwei Jahren von den Franzosen erschossenen jungen Advocaten. Es hatte ihn tief ergriffen. Sagen Sie den Ihrigen, hatte er zu Franz gesagt, daß ich keinen Theil an jenem Ereignisse hatte; der Verrath eines deutschen Edelmannes hat den Unglücklichen dem Tode zugeführt.“

„Es ist eine hoffnungsreiche Nachricht, die Sie da bringen,“ athmete die Tante Therese auf. „Und die zweite?“

„Ihre Frau Mutter hat die Frau jenes Verräthers bei dem Leben ihrer Kinder beschworen, ihren Gatten vor einem zweiten Morde zu bewahren. Sie hat sie dafür mit verantwortlich gemacht. Die erschütterte Frau wird Alles aufbieten. Sollte der Elende dennoch den zweiten Mord begehen wollen, würde jetzt, könnte der Oberst die Hand dazu bieten? Und er allein commandirt im Schlosse.“

Die Tante wollte ruhig werden, wie der Verwalter es war. Der verwundete Freiherr erwachte. Aber der Schlaf hatte ihm keine neuen Kräfte gegeben, er schlug matt die Augen auf und bat mit schwacher Stimme um einen Trunk Wasser, welchen ihm die Tante reichte.

„Ich kann nicht fort, Therese!“ sagte er dann. „Laß mich hier bei Dir sterben. Ich wollte es ja.“

Es war die völlige Resignation der tiefsten Erschöpfung.

„Du wirst nicht sterben,“ erwiderte ihm die Tante. „Du wirst genesen und leben.“

Sie theilte ihm die Nachrichten des Verwalters mit, die ihn wieder belebten und ihm doch wieder Kraft, und mit der Kraft wieder Muth gaben.

Draußen in dem Gange vor dem Thurmstübchen wurden Stimmen laut. Es war in dem schmalen, dunklen Gange, in den man auf der Wendeltreppe von der Halle aus gelangte, an dem die Zimmer lagen, in welche der Commandant der französischen Gensd’armerie mit seiner Familie aufgenommen war, und an dessen Seite der schwachsinnige Freiherr Max sein Wohnzimmer hatte. Die Stimme des Schwachsinnigen wurde zuerst vernommen.

„Dort ist er, dort, meine Herren!“ rief er eifrig und geschäftig. Er sprach zu Mehreren.

„Es ist so!“ fügte die Stimme des Gensd’armerieofficiers in französischer Sprache hinzu.

„So holen wir die Befehle des Obersten ein!“ sagte eine dritte Stimme. Sie war eine fremde und sprach gleichfalls französisch.

Schritte entfernten sich in dem Gange; sie gingen der Wendeltreppe zu, diese hinunter. Aber nur der Gensd’armerieofficier und der Fremde mußten die Treppe hinuntergegangen sein. Die Thür des Schwachsinnigen wurde auf- und wieder zugemacht. Er war in sein Zimmer gegangen.

„Was war das? Wären wir doch verrathen?“

Die Gefahr war wieder da; sie wuchs. Da war auch der klare Muth der Tante Therese wieder da.

„Ich muß wissen, was es war. War es Verrath, so muß ich ihm zuvorkommen. Der Oberst, der jene Worte meiner Mutter sagen ließ, kann nicht das Werkzeug des elenden Verräthers werden. Er allein hat hier zu befehlen. Ich werde zu ihm dringen, an das Lager seines verwundeten Sohnes. Würde er da widerstehen können? Und wenn doch Adalbert, Du fühlst Dich wieder kräftig – ich sehe es Dir an.“

„Ich fühle mich wieder kräftig, Therese!“ Der Verwundete richtete sich auf, zum Zeichen, daß er wahr spreche.

„Wohlan, Buschmann, so machen Sie Alles zur sofortigen Flucht fertig. Aber verlassen Sie dieses Stübchen nicht eher, als bis ich wieder da bin. Wir müssen zusammen bleiben, Adalbert, zusammen leben oder sterben.“

Sie verließ das Gemach durch die Thür, die in den schmalen dunklen Gaug führte. Der Verwalter schloß hinter ihr zu. Sie ging in das Zimmer des Schwachsinnigen.

„Freiherr Max, mit wem sprachen Sie im Gange?“

Ihr Gesicht war strenge, befehlend; es lag eine furchtbare, eine Entschlossenheit zum Aeußersten dann. Der Irre erschrak vor ihr, aber wie ein Kind. Er antwortete gehorsam.

„Mit dem Fremden, Mamsell Therese, den Sie in die Zimmer meines Bruders einquartiert haben.“

„Und mit wem noch?“

„Es war ein Officier von den Franzosen da unten; ich glaube, der Adjutant des Obersten.“

„Und über wen sprachen Sie?“

„Nun, über den preußischen Officier, den Sie in das Thurmstübchen einquartiert haben.“

„Sie haben ihn den Franzosen verrathen?“

„Ich, ich, Mamsell Therese? Der Fremde hat ihn verrathen. Ich zeigte ihnen nur die Thür des Thurmstübchens. Ich hatte Alles gehört, und, Mamsell Therese, diese Preußen haben sich hier in Westphalen nicht gut benommen.“

„Freiherr Max,“ sagte meine Tante, „wenn die Franzosen den preußischen Officier finden, wissen Sie, was mit ihm geschieht?“

„Nun?“

„Sie erschießen ihn.“

„Ah! Aber warum ist er preußischer Officier?“

„Und, Freiherr Max, wissen Sie, wer dieser preußische Officier ist?“

„Nun? nun?“

„Es ist Ihr Neffe, der Freiherr Adalbert. Ihn haben Sie den Franzosen verrathen.“

„Ah, mein eigener Neffe? Der künftige Herr? Auch mein Herr! Der Reichsfreiherr!“

Der Irre lachte lustig, indem er die Worte sprach. Gott [739] weiß es, welche sonderbare Verkettung und Verwirrung von Gedanken das Lachen in ihm erzeugte. Die Tante wurde von einem Grauen erfaßt, sie errieth, was geschehen sei, und sie mußte weiter. Sie verließ den Irren und ging die Treppe hinunter, zu dem unten an der Halle belegenen Zimmer ihres Bruders Franz.

Dort war der Oberst der französischen Carabiniers an dem Lager seines auf den Tod verwundeten Sohnes. Die Tante hatte das Richtige errathen. Sie erfuhr es später mit allen seinen Einzelnheiten von dem Irren selbst.

Der Irre hatte sich ängstlich in sein Zimmer eingeschlossen, als draußen am Hause der Kampf begann. Die alte Magd Christine hatte ihm kurz vorher gesagt, die Franzosen schössen die westphälischen Edelleute todt. Aber als der Kampf zu Ende war, als er gar kein Schießen mehr vernahm, und nur in dem dunklen Gange hin und her gehen hörte, da überwog die Neugierde seine Furcht; er mußte wissen, was im Hause geschah. Er lauschte, an seiner Thür und vor derselben. In dem Gange brannte, wie gewöhnlich, eine Lampe. Er sah die Frau des Fremden mit der alten Christine die Treppe hinuntergehen, während der Fremde selbst eben im Zimmer blieb, und wurde neugieriger, wohin sie gehen mochte? Ein eiliger Schritt kam leise die Treppe herauf. Er erkannte den Kutscher des Fremden. Der Mensch ging in das Zimmer zu seinem Herrn. Der Irre schlich ihm nach und lauschte an der Thür.

„Herr Commandant,“ hörte er den Kutscher zu seinem Herrn sagen, „die Franzosen haben unten im Stall Ihre Pferde erkannt.“

„Teufel!“ fluchte entsetzt der Commandant.

„Sie fanden dann auch Ihren Wagen.“

„Und dann?“

„Sie sprachen von Desertiren und Uebergehen zu dem Adjutanten des Obersten, um ihm Anzeige zu machen.“

Noch einmal fluchte der Commandant. Dann sagte er zu dem Kutscher: „Geh! Sage keinem Menschen etwas. Achte auf Alles. Fällt etwas vor, so theilst Du es mir mit.“

Der Kutscher ging, und der Irre lauschte wieder an seiner Thür. Die Frau des Commandanten kehrte zurück. Der Irre folgte auch ihr und horchte wieder an dem Zimmer.

„Friedrich,“ hörte er die Frau sagen, „ich komme von der Mutter des Unglücklichen.“

„Was wollte sie von Dir?“

„Sie hat mich beschworen, Dich vor einem zweiten Morde zu bewahren.“

„Was wußte sie davon?“

„Sie muß Alles wissen. Auch dieser zweite Mord gehe ihr Haus an.“

Der Commandant schien aufzufahren. „Wie? Ihr Haus? – Welcher Gedanke! – Ich bin gerettet.“

„Was sprichst Du, Friedrich?“

„Es muß so sein – ich hätte es gleich denken können. Ich bin gerettet.“

„Friedrich, Du willst in der That den zweiten Mord begehen? Jener preußische Officier –“

„Ich weiß, wer er ist.“

„Und Du willst ihn verrathen?“

„Verrathen? Jeder ist sich selbst der Nächste. Weißt Du, daß die Franzosen unsere Anwesenheit hier im Schlosse kennen? Der Kutscher war eben hier; sie haben meine Pferde und den Wagen erkannt, und haben von Desertiren gesprochen. Der Oberst weiß in diesem Augenblick Alles.“

„Und Du willst Dich durch einen zweiten Mord retten, Friedrich?“

„Thorheit!“

„Mein Gott, mein Gott! Und jene unglückliche Mutter rief für dieses zweite Verbrechen das Blut auf unsere armen Kinder herab. Das eine von ihnen liegt schon krank da, im Fieber. Friedrich –“

„Thorheit, Charlotte! Sollen sie mich erschießen? Jener preußische Officier oder ich, es bleibt keine Wahl. Gehe in das Zimmer zu den Kindern. Ich glaube Jemanden kommen zu hören.“

Es kam in der That Jemand die Wendeltreppe herauf. Der Irre mußte in den Seitengang zu seinem Zimmer zurück. Er sah einen französischen Officier vorbeigehen. Es war der Adjutant des Obersten, der in das Zimmer des Fremden ging. Der Irre schlich ihm wieder nach, horchte wieder, vernahm wieder, was drinnen gesprochen wurde.

„Commandant,“ sagte der Adjutant, „ich habe auf Befehl des Obersten Ihnen anzukündigen, daß Sie Gefangener sind.“

„Ich Gefangener, mein Herr?“ erwiderte verwundert der Commandant. „Dars ich fragen, warum?“

„Sie haben Ihren Posten als Officier des Kaisers verlassen.“

„O, ich? Sie wissen doch, daß ich Officier der Gensd’armerie des Kaisers bin?“

„Gewiß.“

„Wohlan! Als Officier der Gensd’armerie des Kaisers dürfte ich die besondere Pflicht haben, Verräther, die aus der Armee des Kaisers desertirt und zu seinen Feinden übergegangen sind, ihrer gerechten Strafe zu überliefern. Ein solcher Verräther weilt in diesem Schlosse. Dem Kaiser wird gerade an seiner Person besonders gelegen sein. Ich erfuhr, daß er hier war. Er wurde hier geheim gehalten, und es bedurfte besonderer List, seinen verborgenen Schlupfwinkel zu erfahren. Mir ist es gelungen.“

„Darum sind Sie hier?“ fragte der Adjutant.

„Darum sehen Sie mich hier!“

„Mit Ihrer Gattin? Mit Ihren Kindern?“

„So ist es, mein Herr. Die Reise hierher war in der gegenwärtigen Zeit ein großes Opfer. Die Preußen sind im Anrücken; Sie selbst haben noch vor kaum einer Stunde ein Gefecht mit ihnen bestanden. Der Feind hätte in größerer Anzahl vorgerückt, das Gefecht hätte sonst für Sie unglücklich sein können. Der Feind wäre dann in der heutigen Nacht oder morgen in der Stadt. Sollte ich meine Familie dort schutzlos zurücklassen? – Aber haben Sie die Güte, mich zu dem Herrn Obersten zu führen, damit ich ihm die weiteren Mittheilungen machen kann.“

Der Adjutant mochte noch so sehr den Kopf schütteln zu dem, was er hörte, er mußte den Gensd’armerieofficier zu seinem Obersten führen. Beide kamen aus dem Zimmer in den Gang. Der Irre zog sich nicht vor ihnen zurück; er trat ihnen entgegen.

„Ah, meine Herren. Sie suchen den preußischen Officier? Er ist in jenem Zimmer, dort, dort ist er.“

„So ist es,“ bestätigte der Gensd’armerieofficier.

„Holen wir die Befehle des Obersten ein,“ sagte der Adjutant.

Die beiden Officiere gingen. Der Irre kehrte noch einmal an die Thür des Gensd’armerieofficiers zurück. Die bleiche Frau war darin. Er hörte sie mit schwankendem Schritt auf und ab gehen und glaubte, sie weinen zu hören. Er vernahm hinten im Gange ein anderes Geräusch und eilte in sein Zimmer. Die Tante fand ihn dort. Sie errieth aus seinen Worten, was geschehen war. Die Tante schauderte. Sie eilte die Treppe hinunter, in die Halle, in dieser zu dem Zimmer ihres Bruders, in welchem der verwundete Sohn des Obersten lag. Es standen französische Soldaten vor dem Zimmer, welche sie aufhielten.

„Zu wem, Mademoiselle?“

„Zu Ihrem Obersten.“

„Er spricht Niemanden.“

„Ich muß zu ihm.“

Meine Tante sprach es so entschlossen und sie sah so bleich aus, so angstvoll und war doch dabei so schön. Sie wurde eingelassen und trat in das Zimmer. Es waren nur wenige Menschen darin. In dem Bette ihres Bruders lag der verwundete Sohn des Obersten. Vor ihm saß der Wundarzt, der so eben den Verband vollendet hatte. Er beobachtete den unruhigen Schlummer des Verwundeten. Nahe dabei stand der Oberst, vor ihm standen sein Adjutant und der Commandant der Gensd’armerie.

Er sprach mit ihnen und hatte dem Adjutanten einen Befehl ertheilt. Der Adjutant verbeugte sich militärisch und wandte sich um, das Zimmer zu verlassen und den Befehl zu vollziehen. In diesem Augenblicke war meine Tante in das Zimmer getreten. Sie glaubte zu wissen, was der Gegenstand des Befehls sei.

„Mein Herr,“ sagte sie zu dem Adjutanten, „darf ich Sie bitten, noch ein paar Augenblicke hier zu verziehen?“

Sie sprach in dem reinsten Französisch. Der Adjutant blieb unschlüssig stehen, und meine Tante schritt auf den Obersten zu. Er war ein großer, schöner Mann, schon mit weißen Haaren, aber noch in der Fülle seiner Kraft. Sein Gesicht war ernst, strenge, aber es trug edle Züge und erweckte Vertrauen. Meine Tante faßte Vertrauen und wandte sich an ihn.

„Herr Oberst, Sie gestatten Ihrem Herrn Adjutanten, hier zu bleiben, bis ich Ihnen eine Bitte vorgetragen habe?“

„Was wünschen Sie, Mademoiselle?“

[740] „Sie haben unser Haus einschließen lassen?“

„Ja, Mademoiselle! Aus Kriegsrücksichten.“

„Es darf Niemand hinaus?“

„Ohne meinen Befehl nicht.“

„Würden Sie mir gestatten, das Haus zu verlassen?“

„Ihnen allein?“ fragte der Oberst rasch. Es war ein Gedanke schnell in ihm aufgetaucht.

„Eine Dame allein,“ antwortete ruhig meine Tante, „würde in der heutigen Nacht schwerlich dieses Haus verlasten dürfen.“

Der Oberst hatte einen Entschluß gefaßt. Er mochte ihm schwer genug geworden sein. Sein Blick hatte sich auf den verwundeten Sohn geworfen, dann auf meine Tante, die in ihrer klaren, ruhigen Haltung vor ihm stand, und deren blasses, schönes Gesicht dennoch die Angst ihres Innern nicht verbergen konnte.

„Mademoiselle,“ sagte er, „seien wir aufrichtig gegen einander. Sie wollen Jemanden aus diesem Hause führen, der mein Gefangener ist?“

Auch meine Tante hatte ihren Entschluß gefaßt, stolz und edel.

„Ja, mein Herr. Aber ist er Ihr Gefangener?“

„Er ist mein Gefangener.“

„So bitte ich Sie um seine Freigebung.“

„Sie bitten um etwas Unmögliches, Mademoiselle.“

Er warf einen Blick auf den Commandanten der Gensd’armerie. Meine Tante folgte seinen Augen. Sie würdigte zum ersten Male den verräterischen deutschen Edelmann ihres Blicks. Der Mann stand ruhig da, mit einer Stirn von Eisen, als wenn keines der Worte, die er hörte, ihn angehe. Die Augen meiner Tante hatten nur Verachtung für ihn. Sie wandte sich wieder zu dem Obersten.

„Mein Herr, ein braver französischer Officier darf sich nicht zum Werkzeuge eines Verräthers hergeben.“

Der Verräther zuckte auf. Das strenge, wettergraue Gesicht des Obersten wurde roth. Er warf noch einmal einen dunklen Blick auf seinen verwundeten Sohn, aber er hatte noch einmal einen schweren Entschluß fassen müssen.

„Mademoiselle, ich muß meiner Pflicht und meiner Ehre dienen. Es ist mir oft schwer und hart geworden; vielleicht nie schwerer, als in diesem Augenblicke; aber ich muß es auch jetzt. Ich kann nicht anders. Der Mann, von dem wir sprechen, ist mir einmal überliefert, vielleicht durch – ja, durch Verrath. Ich muß meine Pflicht erfüllen.“

„Und Ihre Pflicht ist, Herr Oberst?“

„Der Befehl des Kaisers lautet wörtlich an jeden Officier der Armee: Wo der Freiherr betroffen wird, wird er auf der Stelle erschossen. Auf der Stelle!“

Die Tante verhüllte ihr Haupt. Dann mußte auch sie, unwillkürlich, ihren Blick auf den verwundeten Sohn des Obersten richten. Der Oberst sah es.

„Mademoiselle,“ fagte er schmerzlich, „glauben Sie mir, nie, nie ist die Erfüllung meiner Pflicht mir schwerer geworden, als heute. Ich erscheine als ein Undankbarer in Ihren Augen –“

„Nein, Herr Oberst,“ unterbrach meine Tante ihn mit Würde. Dann wollte ihr das Herz doch brechen. „Herr Oberst,“ sagte sie, „er ist mein Verlobter!“

„Großer Gott!“ rief der Oberst. Auch er mußte sein Gesicht bedecken. „Ich kann nicht anders,“ sagte er dann leise. „Ich bin Soldat.“

Er gab dem Adjutanten einen Wink, zu gehen. Der Officier verließ das Zimmer, und meine Tante folgte ihm.

„Mein Herr, wohin gehen Sie?“ fragte sie ihn draußen.

„Meine traurige Pflicht zu erfüllen, Mademoiselle.“

„Jetzt gleich?“

„Es muß so sein.“

„Hier?“ rief die Tante.

„Draußen am Walde.“

Der Officier ging in den Hof, wo die Soldaten lagerten. Meine arme Tante stand einen Augenblick unschlüssig, wohin sie ihre Schritte wenden solle. Sie wollte zu der Wohnstube gehen, in der die gelähmte Großmutter lag; sie hemmte den Schritt.

„Wozu ihr die Qual der langen, einsamen Angst machen?“ sagte sie.

Sie stieg die Wendeltreppe hinauf und ging in den dunklen, schmalen Gang, der zu dem Thurmstübchen führte. Es war der schwerste Gang ihres Lebens, sie mußte sich Fassung erringen auf diesem schweren Gange, in der vollsten Hoffnungslosigkeit, und sie vermochte es. Sie trat in das Thurmstübchen. Der Verwundete schlief, denn er war nach ihrer Entfernung wieder schwächer geworden. „Ich sterbe doch!“ hatte er zu dem Verwalter gesagt. „Ich fühle es!“ Der Verwalter hatte ihn zu beruhigen gesucht. Er war erschöpft wieder eingeschlummert.

„Und welche Nachrichten bringen Sie, Mamsell?“ frug der Verwalter. „Ich lese in Ihrem Gesichte, es sind keine guten.“

„Es sind keine guten, Buschmann. Er wird erschossen, auf unbedingten Befehl des Kaisers. Keine Bitte half. In diesem Augenblicke werden die Gewehre für ihn geladen, und in wenigen Minuten wird der Adjutant des Obersten ihn zu seinem letzten Gange abholen.“

Der Verwalter hatte kein Wort.

„Zu seinem letzten Gange?“ sagte die Tante für sich. „Kann der Arme denn gehen? Sie werden ihn tragen müssen – tragen zu seinem Grabe, noch ehe er todt ist!“

Sie betrachtete den Verwundeten. Er lag in seinem Schlummer unruhig da, und doch so schwach und matt. In seinem Gesichte war kein Tropfen Blut, nur die Binde war blutig, die seine Stirn bedeckte.

„Wecke ich ihn?“ fragte sich meine Tante. „Bringe ich ihm sein Todesurtheil? Oder sollen die Fremden, die Feinde es?“

Sie beugte sich über ihn; sie legte ihr blasses Gesicht auf sein bleiches und küßte ihn – küßte ihn noch einmal. Er erwachte.

„Therese!“

„Kannst Du fliehen, Adalbert?“

„Nein – aber sterben!“

War es das Gefühl seiner Schwäche, oder hatte er seinen Tod in ihren Augen gelesen?

„Ja,“ sagte sie, „Du mußt sterben. Du bist verrathen, verloren, unrettbar verloren. Du, mein ewig, ewig geliebter Adalbert.“

„Ich sterbe in Deiner Liebe, meine Therese, so wollte ich ja.“

Er war gefaßt, trotz seiner Schwäche. Draußen im Gange wurden Schritte gehört.

„Sie kommen schon, mich abzuholen!“ sagte er.

„Ja.“

Der Adjutant des Obersten öffnete die Thür und trat in das Stübchen. Durch die geöffnete Thür sah man vier Carabiniers, die im Gange warteten. Der Verwundete richtete sich auf, Ehre und Stolz gaben ihm die Kraft dazu.

„Sie hier, Mademoiselle?“ fagte der Adjutant. „Wollten Sie nicht sich den schweren Schrecken ersparen?“

„Ich bleibe!“ sagte die Tante.

„Therese, gehe!“ bat der Verwundete.

„Soll ich Dich in dem letzten Augenblicke verlassen, Adalbert? Soll ich schwächer sein als Du?“

Der Verwundete schwieg. Auch der Adjutant sagte ihr nichts mehr. Er wandte sich zu dem Verwundeten.

„Mein Herr, auf Befehl des Kaisers –“

Der Verwundete unterbrach ihn.

„Ich kenne den Befehl Ihres Kaisers. Führen Sie mich ab.“

Er hatte sich aus dem Bette erhoben. Der Verwalter hatte ihm geholfen, dann wollte er ihm den Mantel umhängen, den er zu seiner Flucht mitgebracht hatte.

„Nein,“ sagte der Verwundete. „Ich will in meiner preußischen Uniform sterben. Ich sterbe ja doch einen ehrlichen Soldatentod, sterbe für mein Vaterland, das mir verziehen hat.“

Er war fertig zum Gehen.

„Und ich führe Dich,“ sagte meine Tante.

„Ja, auch Du hast mir ja verziehen.“

Er nahm ihren Arm, und sie führte ihn. Er konnte gehen. Ehre und Stolz und Liebe erhielten wunderbar seine Kraft. Der Adjutant schritt ihnen voran, und die vier Carabiniers folgten. Der Verwalter ging gesenkten Hauptes hinter ihnen her.

So schritten sie durch den schmalen, dunklen Gang, die Treppe hinunter, durch die Halle. Niemand begegnete ihnen auf dem Wege. Nur französische Soldaten standen hin und wieder auf Posten. Der Adjutant hatte es mit richtigem Gefühl so angeordnet. An dem Thore, das aus der Halle in den Hof führte, machten sie Halt.

„Nicht weiter, Mademoiselle,“ sagte der Adjutant. „Ich muß Sie bitten. Meine Befehle lauten so.“

Sie mußten sich trennen.

(Schluß auf Seite 742.)
[741]
Ein Ehrenkranz.


Die Bekränzung eines Veteranen durch eine Ehrenjungfrau.
Nach der Natur aufgenommen von Paul Thumann.


Die Gartenlaube hat ihrer allgemeinen Schllderung der Octobertage von Leipzig bereits einige der einzelnen Bilder eingewebt, welche aus dem großen Gesammtbilde derselben wie Sterne hervorleuchteten; dem rührigen Künstler verdanken wir die neue Festzugabe, die eine Scene auf der Denkmalsstätte bei Stötteritz darstellt.

Offenbar trat die hohe Würdigkeit des Festzuges, mit der er in der That die feiernde Nation repräsentirte, am reinsten dadurch hervor, daß in ihm jeder Stand, jedes deutsche Land, jedes Lebensalter Platz gefunden hatte, aber das Ergreifendste von Allem war doch, daß der Heldenzeit grauen Zeugen blühende Jungfrauen den Weg schmückten.

So kamen die Züge auf dem weiten Blachfeld an, und wo einst der Kampf mit der letzten Wuth des Siegers und des Besiegten getobt, da entfalteten sich die festlichen Reihen in schöner Ordnung, bis endlich jede Fahne ihren festen Standpunkt als Sammelzeichen für ihre Schaar gefunden. Diese selbst zerstreuten sich zum Theil und bildeten Hunderte von Gruppen der buntesten, belebtesten Art, während vom hohen Gerüste der Sänger Gesang erschallte und die Festrede verhallte, durch welche die Grundsteinlegung zum Nationalenkmal gefeiert worden war.

Und so lagerte und stand auch ein Grüppchen der Veteranen in der Nähe der Ehrenjungfrauen. Sie boten einen feierlichen, ernst stimmenden Anblick, diese Mädchen in ihrer weißen Kleidung und mit den grünen Kränzen um das Haupt und in der Hand. Und das hatte auch den ehrwürdigen Alten so ergriffen, den unser Bild meint. Es war nur Augensprache. Mit den Thränen der Rührung und Freude ruhte sein Auge auf einer der Jungfrauen, und diese verstand den Blick, sie eilte zu ihm hin und schmückte ihn mit ihrem Eichenkranz. – Es war eine lautlose Scene, und ebenso still wird sie noch vielen Tausenden das Herz erfreuen.



[742] „Darf der Verwalter Sie ferner begleiten?“ fragte die Tante.

„Ja.“

Die Tante umarmte den Verwundeten.

„Wir sehen uns wieder, mein Adalbert. Ich bleibe immer Dein!“

„Wir sehen uns wieder, meine edle Therese!“

Die Soldaten führten ihn aus der Halle in den Hof, durch diesen aus dem Thore nach dem Walde zu. Die Tante ging in die Wohnstube zu ihrer Mutter. Die alte Frau war allein. Sie wußte von Nichts. Wer hätte ihr die Schreckensbotschaft bringen sollen? Sie sah das todtenbleiche Gesicht der Tante.

„Therese!“ rief sie, das Entsetzliche ahnend.

„Er wird erschossen, Mutter. In wenigen Augenblicken werden wir die Schüsse hören. Dort am Walde.“

Sie ließ sich auf die Kniee nieder, vor dem Rollstuhle; sie legte ihr Gesicht auf die Kniee der Großmutter. Mutter und Tochter sprachen kein Wort. So verharrten sie zehn Minuten, zehn lange, bange Minuten. Draußen am Walde fielen vier Schüsse.

„Es ist vollbracht,“ sagte meine Tante Therese. Sie stand auf. Ihr Gesicht war völlig blutleer. Sie trat an das Fenster, das nach dem Walde ging, und betete still zu dem dunklen Nachthimmel hinauf.

Als sie dann zu ihrer Mutter zurückkehrte, hatte der Himmel ihr die Wohlthat der Thränen verliehen. Mutter und Tochter weinten lange. Der Verwalter trat in das Zimmer. Er übergab der Tante eine Locke.

„Der Todte schickt sie Ihnen. Er bat den Officier, daß ich sie ihm abschneiden dürfe. Er selbst konnte es nicht, da er den einen Arm in der Binde trug. – Uebergeben Sie sie an Therese! das waren seine letzten Worte. Ich hatte ihn an einen Baum geführt. Die Kugeln trafen ihn.“

Früh am anderen Morgen mußten die Franzosen abziehen. Ordonnanzen kamen und meldeten, daß ein starkes Corps Preußen im Anzuge sei. Sie nahmen eine Leiche mit aus dem Schlosse, der Sohn des Obersten war an seiner Wunde gestorben. Der Oberst hatte mit dem Abzuge gezögert, bis der junge Officier seinen letzten Athemzug ausgehaucht hatte. Er kam mit der Leiche an dem Walde vorbei. Dort lag eine zweite Leiche – die Leiche eines jungen Officiers. Vier Kugeln hatten die Brust durchbohrt.

Der Oberst warf einen schmerzlichen Blick auf den entseelten Körper des Sohnes, den ein Wagen neben ihm fuhr. Aber er hatte seine Pflicht erfüllt, indem er den Einen den fremden Kugeln entgegengeführt und den Anderen durch die Kugeln seiner Leute hatte erschießen lassen. Der Krieg bringt wunderbare und furchtbare Widersprüche zusammen!

Ein paar Stunden später waren die Preußen da. Gleich nach ihnen kam der alte Reichsfreiherr. Auch neben ihm fuhr eine Leiche, als er das Schloß wieder verließ. Er brachte sie in das stolze reichsfreiherrliche Erbbegräbniß.

In dem Gesichte meiner Tante Therese hat seit jenem Augenblicke, da sie die vier Schüsse am Walde fallen hörte, kein Mensch jemals wieder einen Tropfen Blut gesehen.





Herbstliche Nachklänge über ein sommerliches Thema.
Erinnerungen an den Waldkater.

Im Sommer vorigen Jahres feierte die Magdeburg-Halberstädter Eisenbahn ein glänzendes Fest am Fuße der Roßtrappe. Es bestand in Eröffnung und Einweihung der Harzbahn bis Thale, dem so hübsch germanisch verstreuten Dorf an der Bode, wo sie zwischen dem Hexentanzplatz und der Roßtrappe so recht frisch und seelenvergnügt aus ihren duftigen Gebirgswindungen hervor zum ersten Male zu Athem kommt, rothbäckig und lachend, wie ein wilder Junge, der sich aus reinem Uebermuthe immer bergab außer Athem lief. Wenn wir aus dem Coupé steigen, blicken wir in’s Bodethal aufwärts und sehen das Gasthaus zur Roßtrappe aus grüner Waldung 600 Fuß über uns herabwinken.

Ist das nicht bequem, nicht wunderhübsch, von allen Fernen der großen norddeutschen Ebene mit Dampf mitten in die deutsche Gebirgsschönheit hineinfliegen, noch in derselben Stunde beim Roßtrappenwirth Forellen essen und dabei seine gemüthlichen Hühner als Tischgenossen bewirthen, in die Hand nehmen und aus der Hand füttern zu können? An der Trappe selbst schießt uns der Invalide für einen guten Groschen etwas vor, und die Hexen des Tanzplatzes, 600 Fuß weit drüben am anderen Ufer und 200 Fuß höher, antworten sieben Mal immer stärker, wenn sie gute Lust und Laune haben. Unten, 1100 Stufen tief, schnurrt gemüthlich an die Felsen und zwischen die grünen Bäume gekauert der alte „Waldkater“ und blinzelt idyllisch-schläfrig auf die lustig zu seinen Füßen springende und sprudelnde, mit unzähligen keinen Wassereinfällen spielende Bode herab.

Roßtrappe, Hexentanzplatz, Waldkater, – mehr Gebirg und Thal braucht der Mensch überhaupt gar nicht, um glücklich zu sein und zu athmen, wieder leben und lieben, wieder essen und trinken, gesund aussehen und es in Berlin wieder eine Zeit lang aushalten zu lernen.

Freilich auch dieser erste und in meiner Erinnerung der vollkommenste Theil des Harzes ist bereits von der Civilisation ganz beleckt und übertüncht worden. Böse Bauspeculanten haben ihm einen „neuen“ Waldkater in’s Thal dicht neben den alten gesetzt und ein modernes „Zehnpfund-Hotel“ vor die Thür, gleich neben die Station. Auf der einen Seite desselben baumeln immer Gehenkte im Winde mit schmerzvoll umhergeschleuderten Armen. Die nach unten umhergreifenden leeren Mannshemdenärmel zappeln so unglückselig in die saftig grünsten Aussichten hinein, und das Hotel selbst bratet so nüchtern und vornehmtuerisch vor der Bodethalpoesie in der Sonne, daß man sich ärgern muß, wie über eine Caserne vor einem gothischen Dome. Die ganze Wirthschaft ist nichts als ein unauflösbarer Mißton in der „gefrornen Musik“ der Baukunst. Ihr hättet von dem Steingerölle der Bode, das von den Jahrtausenden in überschwenglicher Fülle und Mannigfaltigkeit von seinen Gipfeln herabgestürzt, von den unermüdlichen rüttelnden Wasserdonnern der Bode losgelöst, ausgehöhlt und abgefeilt wurde, burgartige Mauern aufschichten, sie mit Moos und Eichentrieben auswattiren, auch das Dach etwa im Charakter des Roßtrappenvorsprunges anlegen und mit Sitzen, Gängen und Aussichten ausstatten müssen. Das Material dazu lag in reichster, malerischer Auswahl zu euren Füßen. Die Geister des Harzes lieferten euch den Baustyl.

Aber noch ärger hass’ ich den geschniegelten „neuen“ Waldkater weiter oben, dem man’s gleich von Weitem ansieht, daß ein Berliner Häuser-Speculant das Geld dazu gegeben. Er hat, wie der albernste Berliner versteinerte Witz, so recht modern vornehm und naturverhöhnend neben dem gemächlichen „alten“ von der schönsten Hexentanzplatzwand im schönsten Theile des Bodethalkessels Besitz genommen, die beste Aussicht und alle Stimmung in dieser großartigen Harmonie von Formen und Farben verdorben.

Der alte Waldkater ist ein anspruchsloses gemüthliches Eß- und Trinkhaus an den berühmten 1100 Stufen, die vom Hexentanzplatz herunter und zu ihm hinaufführen. Gegenüber springt die Roßtrappe hervor. Ihre vom tiefsten Eichengrün tapezirten Tannenwände mit riesigen Felsenthürmen und verzauberten Gestalten oben steigen und dehnen sich dicht vor unsern Augen aus den Tiefen der donnernden Bode empor. Man sieht weiter in die wilde Thälverengung hinauf nach der Teufelsbrücke hin. Unten gegenüber glänzen Tassen und farbige Kleider und gelbe Damenhüte mit weißen Federn zwischen Eichengrün und Grauwacke. Die Herrschaften sitzen in der „Conditorei“, die sich dort so hübsch eingeklemmt und versteckt hat, um das gewaltige, aber zu beherrschende und vielfach abgeschlossene und eingerahmte Bild nicht zu stören. Hinter dem Waldkater selbst erhebt sich unmittelbar das erhabene Spiel von Baumgrün und Felsengrau, 200 Fuß höher als die Roßtrappe, zum Hexentanzplatz empor.

Unten vor dem alten Waldkater, über den man ohne Störung hinwegsieht, sitzt man unmittelbar an dem rauschenden, in unzähligen kleinen Wasserfällen weiß aufzischenden Gewässer. Man schaut hinab und, ohne den Stuhl zu rücken, empor zu den unheimlichen [743] Felsengestalten, die auf der Roßtrappen- und Tanzplatzseite einander gegenüber ragen und sich, 600 Fuß auseinander, doch unheimliche Geschichten zuzuflüstern scheinen. Bis in ihre höchsten Klüfte und Spalten hinauf haben sich Eichen und andere kräftige Laubhölzer angesiedelt, wohlgenährt und geliebt als Stammgäste des sonst unwirthlichen Gesteins. Wenn die Sonne untergeht, kleiden sich die Wände und Höhengebilde der Roßtrappenseite in malerischen Abtönungen blau- und violethauchig, während die gegenüber unmittelbar vor unseren Augen empor mit der obersten, helleren Hälfte der Regenbogenfarben spielen. Die alten, grauröckigen Höhenriesen stehen plötzlich da, um den „Bischof“ herum, in goldenen Gewändern. Sie blicken mit verklärten Gesichtern in das ferne Abendroth, und der ungeschlachte, bärtige Baschkire, den mein Freund Lede am 25. August zuerst entdeckte, liegend und schnarchend auf einem bekannten Preußen-Profile, das ihm als eine Art Kopfkissen dient, scheint sich zu erheben, um seine häßliche Physiognomie auch etwas vom Abendroth verklären zu lassen. Dann bleichen und dunkeln allmählich die hellen Töne auf den lachenden Eichenkronen und den grauen Steinblöcken, und auch die Thürme und Wände ganz oben werfen ihren Goldschmuck der sinkenden Sonne nach über den Himmel. Man kommt wieder zu sich und ist ganz still, bis Freund Lede sich unserer Rührung schämt und einen Berliner Witz abblitzt gegen die Schwägerin „Emulie“, die gar nichts sagte und auch jetzt nichts sagt, sondern blos Thränen in den Augen hat und sie, abgewendet, hinunterträufeln läßt in den weißen Gischt des unten im Dunkel rauschenden Bergflusses.

Als wir einige Tage später vor dem „neuen“ Waldkater saßen, sprachen wir auch nicht, und selbst Lede’s Witz war verstummt, aber nicht aus Poesie, sondern wegen gar keiner Aussicht, wegen sauren Bieres und großthuend kleinstädtischer Geheimräthe, und vornehm nichtssagender Gesichter von Töchtern. Es schienen eine ganze Menge von kleinstädtischen Großmoguls mit Familie zu sein, die immerwährend vor einander Verbeugungen machten und allerhand Sorten von Hüten und „Angströhren“ vor einander weniger abnahmen, als vielmehr hoch in die Luft hielten, von einem Ohre bis zum anderen mehr oder weniger schadhafte Zähne wiesen und unzählige Titel männlichen und weiblichen Geschlechts hindurch lächelten.

Und da saßen sie denn vor der geleckten Fronte des vornehmthuenden, gewöhnliche Sterbende durch saueres Bier verscheuchenden neuen Waldkaters, der die ganze Aussicht nach der einen Seite vermauert und die andere durch kokett angepflanztes Baumgestrüppe unsichtbar macht, so daß man blos auf einer künstlich angelegten Kiesebene, auf der ganz kahlen Façade des Hauses und auf einigen Kutscherrücken und Pferdeschwänzen seine Augenweide pflegen kann. Das ist der „neue“ Waldkater, ganz wie ein „Hotel“ inwendig, und auswendig den Herrschaften die gemeinen Aussichten auf ungehobelte Felsen und ungezogene Bäume wohlthätig verhüllend, damit kein Bischof oder Baschkire über ihnen sie in dem Genusse ihrer exclusiven Erhabenheit und Froschperspective störe.

Verirrt sich nun gar Jemand krank in’s Hubertusbad, das vor Thale am Eingange zum Bodethale recht hübsch auf einer Insel des Bergflüßchens versteckt liegt, um sich aus den eisen- und jodhaltigen Soolquellen neue Gesundheit zu holen, so mag er nur eilen, um vor Tanzmusik und Rechnungen anderswo wieder Ruhe zu bekommen. Eine kranke Dame, die sich hier Genesung und Ruhe teuer erkaufen wollte, wurde hinter den Tanzboden einquartiert, wo sie fast die ganze Nacht unmittelbar vor ihrer Thür tanzten. Am Tage giebt’s oft Concert aus buckeligen Blaseinstrumenten. Außerdem leidet ein permanenter Bewohner stets an zu großem Durst und Mangel an Gleichgewicht.

Der alte brave Förster, Herr Daude, dem diese über 7 Morgen große Hubertuslandinsel gehört, möchte diese „Civilisation“ gern wieder los sein und als Bad an geeignete Personen verkaufen. Die Quellen sind vielfach chemisch und ärztlich untersucht und für sehr heilkräftig gegen allerhand Haut- und Verdauungsleiden erachtet worden. Außerdem ließe sich dort sehr ruhig und gesund wohnen, wenn die ganze Insel wirklich als Badeort eingerichtet und bewirthschaftet würde. Jetzt als Tanzkneipe und „Hotel“ und Tummelplatz von Bierfiedlermißtönen hat sie weder eine gute Gegenwart, noch eine angenehme Zukunft. Mögen Eisenbahnstation und Eigenthümer zusehen, wie sie das Hubertusbad in guten Ruf bringen. Erstere läßt es nicht an Anstrengungen fehlen, die verschiedenen Harzpartien für Fußgänger und Wagen immer zugänglicher zu machen. Mag sie sich vor Modernisirung, Hotelirung und Vornehmisirung hüten. Sie verscheuchen damit die Hexen, die Geister, die Wald und Quellnymphen, die Prinzessinnen Ilse und ihre Colleginnen, welche mit Heine den Gästen zurufen:

„Dein Haupt will ich benetzen
Mit meiner klaren Well’,
Du sollst Deine Schmerzen vergessen,
Du sorgenkranker Gesell!

In meinen weißen Armen,
An meiner weißen Brust,
Da sollst Du liegen und träumen
Von alter Märchenlust.“

Die Bode hat dazu eben so schöne Anlagen, wie die Prinzessin Ilse, wenn nicht reichere. Beide sind brockengeboren, aber erstere ist lustiger, neckischer, von dauernderer poetischer Laune und nach meinem Gefühl malerischer und märchenhafter, thalumsäumt zwischen Hexentanzplatz und Roßtrappe und weiter hinauf um die Teufelsbrücke, als die Ilse während ihrer kurzen Sprünge zwischen Westerberg und Ilsenstein, hinter welchem sie sich dann gleich nüchtern nach Wasserleben zu verflacht. Wir wollen die höheren Schönheiten der Vegetation, die Aussichten, die Wasserfälle dort nicht leugnen, aber wenn man sich mit den unzähligen kleinen, verstreuten und verwirrten Wasserfällen der Bode die verhältnißmäßig geringe Mühe geben würde, an zwei oder drei Stellen einige Felsblöcke wegzusprengen (viele kann man wegstoßen und schieben) und an andern etwas zu häufen, so gewönne man die schönsten, lustigsten Cascaden, die keine Spur von künstlicher Nachhülfe verrathen würden. Ich erinnere nur an den wunderhübschen Wasserfall der Selke, unweit des Mägdesprungs, der jedenfalls auch durch unsichtbar gewordene künstliche Nachhülfe so laut und so sprudelnd geworden ist und wie weißgekleidete Jungfrauen graciös und leicht zwischen bemoosten Steinen herabtänzelt. Das sieht durch den reichen Waldschmuck hindurch unvergeßlich heiter und herrlich aus.

Einige gute, muntere Sprünge der Bode zwischen den trotzigen Wänden und den „Bischöfen“, „Baschkiren“, „Mönchen“ und „Felsenthoren“ oben würden den Reiz dieses Thales ungemein erhöhen. Sie wäre dann eine silberfüßig harzmärchentanzende Taglioni, Pepita und Elsler zwischen den königlichen Logen oben, aus denen so ehrwürdige Herren herabschmunzeln. Diesen Vergleich vom Theater her verdank’ ich gewiß meinem braven Harz-Mentor und „unverwüstlichen Theaterfreunde“, im Uebrigen Berliner Buchhändler Lazarus Witzibold Lede. Ihm und seiner verehrten Frau verdank’ ich vor Allem das Forsthaus zu Thale. Sie hatten’s vorher entdeckt als Asyl gegen die modernen Hotelungethüme, welche mitten im Juli Gäste aus heißen, stickigen Städten auch im luftigen, duftigen Harze einfangen, in enge Schlafkasten sperren und sich dafür gute Preise und Trinkgelder bezahlen lassen. Im zurückgezogenen Forsthause der Frau Oberamtmann Metler braucht man nicht zu „logiren“, sondern kann gleich „wohnen“, sich häuslich einrichten, sich beim Erwachen von den Bäumen am Fenster Morgengrüße flüstern lassen und im Schlafrocke hinausgehen in den Garten unter beladene Obstbäume und eine luftige Riesenakazie und in würzigster Morgenluft bestellten oder eigen bereiteten Kaffee trinken und mit den Damen, Hunden, Hühnern, Pferden und Wagen des Hauses oder zufälligen Mitbewohnern freundliche, ungenirte Grüße wechseln, Ausflüge verabreden und den ganzen Morgen ruhig und heiter verplaudern. Hier im Forsthause darf man Mensch mit Menschen sein, im Hotel ist man blos eine von den vielen unbenannten Zahlen, die massenhaft heiß und schnell und lärmend abgefüttert werden und schlechten Wein für dreifachen Preis dazu trinken müssen. Im Forsthause hat man Wahl zwischen Wein, Wasser, Bier und gar Nichts. Und dann ist die ganze Wirtschaft so großmütterlich und altväterisch, wie Haus und Stuben. Das Haus hat dicke Wände und ist im Sommer kühl. Meine Stube, an dessen vier Fenster grüne Baumfinger klopften und mit dem Sonnenlichte spielten, hat eine große Säule in der Mitte und riesige Balken oben quer durch. Durch die Fenster lachen Blumen und Bäume, ländliche Ruhe und wirklicher Dorfcharakter herein. Die Leuten bieten Einem ’nen „guten Murrrrjen!“ vor dessen vielen R’s man anfangs allerdings erschrickt, aber man merkt schnell, daß es gut gemeint ist, und lernt sich bald darüber freuen. Und dann, wenn Abends und Morgens die prächtigen rothen Kühe so melodisch vorbeiklingeln und dabei so ehrwürdig und respectabel gerade ihres Weges ziehen! Die Klingeln an ihren [744] Hälsen sind gestimmt. Wie hat mir’s doch Freude gemacht, zu sehen und zu hören, wie diese rothen, runden Kühe Abends musikalisch nach Hause gingen! Eines Abends kam die ganze zahlreiche Heerde langsam aus der Ferne und Höhe thalwärts herabgeläutet. Wie sie so bedachtsam und gewählt schritten auf den Steingeröllen und auf einander warteten, sich gegenseitig Platz machten und sich in jeder Hinsicht vernünftig, freundschaftlich und rücksichtsvoll behandelten! Das Dorf ist groß und liegt meist verstreut umher. Nun war es eine Lust zu sehen, wie sicher und ruhig die große Heerde allmählich nach ihren vereinzelten Wohnungen die verschiedensten Wege einschlug und Partien von 5–6 Stück dann wieder von einander schieden, eine Strecke paarweise und dann einzeln sicher ihren Weg zur Privatwohnung schritten. Dabei bewunderte ich besonders eine rote, große Originalmilchbureauinhaberin. Sie schritt ganz allein von der Heerde ab über eine sehr schmale, gebrechliche, lange Holzbrücke über ein breit ausgewaschenes Bodethal. Mit welcher Vor- und Umsicht, aber auch wie sicher sie sich hinüber balancirte! Und dann läutete sie sich mit ihrer Glocke – dem eingestrichenen E – ganz allein durch dunkelnde Thäler und auf sichern Umwegen geradezu vor die Thür ihres versteckten Stalles und klingelte mehrmals mit zunehmender, mißbilligender Schüttelung, da man sie länger stehen ließ, als ihr lieb war.

Alle diese Respectabilität, Vernunft und Humanität unter diesen Thieren nahm mich höchlich Wunder. Schon von früher Jugend hatte ich in der Schule gelernt, daß die Thiere nicht mit Vernunft begabt seien, am wenigsten das dumme Rindvieh, am meisten aber die Menschen und ganz besonders die Berliner, wo eigentlich die „Intelligenz“ fast ausschließlich zu Hause sein soll. Als gebildeter Berliner hab’ ich das selber immer gern geglaubt. Diese schmeichelhafte Dogmatik liegt nun stark durchlöchert von mir abgestoßen. Ich weiß aus vieljähriger Erfahrung, daß die Berliner kaum einzeln, noch weniger in Gesellschaft so ruhig und respectabel und melodisch auf die Weide gehen oder davon Abends vor den vielen Bierhäusern vorbei zurückkehren. Es fallen unterwegs immer Mehrere ab, an, aus, ein, auf oder hin.

Doch wenn der Berliner wirklich witzig und dabei gutmüthig, gefällig, aufmerksam liebender Gatte, neckischer Schwager und uneigennütziger Freund ist, wie mein Mentor und Freund Lede, zieh’ ich ihn allen anderswo Gebornen vor. Man kommt mit ihm am schnellsten, heitersten und ehrlichsten durch den Harz und wohl auch durch die übrige Welt. Der Berliner kehrt der Welt immer die scharfe Seite seiner rasirmesserartigen Persönlichkeit zu und „drängelt“ sich auf diese Weise ohne viel Umstände vorwärts. Der durchschnittene Widerstand geht dann zu beiden Seiten ab und macht Platz. Diese Art des Durchkommens empfiehlt sich ganz vorzüglich kleinstädtischer Aufgeblasenheit und hohlem Dünkel gegenüber. Mit einem einzigen gradeaus treffenden Worte oder Witze machte Freund Lede auf unsern Ausflügen oft den verschrobensten Ansprüchen und Leuten ihren Standpunkt klar und befreite sie mit einem einzigen Hiebe aus ihren eigenen socialen Fesseln. Und da er sich dann im Uebrigen immer sehr gemüthlich, gesprächig und menschenfreundlich gab, begrüßten ihn die so Zurechtgesetzten und Befreiten in der Regel dankbar als ihren Befreier, und machten nicht selten von der ihnen geschenkten Freiheit den besten Gebrauch zu ihrer und unserer Freude. So gelangen alle unsere kleinen Ausflüge ganz vorzüglich, und wir genossen jede Freude doppelt, da alle, welche wir Anderen zum Besten gaben, uns größtentheils mit Zinsen zurückbezahlt wurden.

Unsere Ausflüge selbst waren und sind im Harze eben das Allergewöhnlichste, so daß man nicht viel Federlesens davon machen kann. Ich glaube auch, die Leser müßten’s lächerlich finden, wollt’ ich ihnen die Schönheiten dieser Ausflüge schildern. Wie viel Höheres, Schöneres, Erhabeneres, Ueberwältigenderes hat man im mittel- und hochgebirgigen Deutschland. „Ja gewiß, versteht sich!“ wie mein Freund Lede sagt. Aber wir lernten einen Rechtsanwalt im Forsthause kennen mit zwei der liebenswürdigsten, jungen Damen, die alle Drei durch ihre gediegene Bildung und Anspruchslosigkeit in uns Allen die edelsten Eindrücke zurückließen. Diese hatten alle mögliche Naturschönheiten gesehen und waren schon zum dreizehnten Male hier. Mit uns wohnte ein alter, noch ganz jugendlicher freundlicher Herr und dessen Schwester aus Hamburg im Forsthause und zwar nicht das erste, sondern das neunte Mal. Und sie wollten all ihr Lebtage jeden Sommer immer auf mehrere Wochen wieder hierher kommen und weder mit dem Rhein, noch mit der sächsischen oder wirklichen Schweiz, auch nicht mit dem Fichtel- oder Riesengebirge tauschen. Und versprachen wir nicht selber ganz begeistert der uns begleitenden Frau Oberamtmann in ihre gerührt thränenden Augen hinein und der alten händeschüttelnden 72jährigen „Fieke“ (die acht Thaler in einem Strumpfe hat, um sich damit ehrlich begraben zu lassen und nicht auf Gemeindeunkosten) obendrein, daß wir, wenn nicht durch höchst unnöthiges Sterben vorher verhindert, ebenfalls ganz sicher wiederkommen würden?

So muß wohl dieser Unterharz etwas ganz besonders Einladendes haben. Der joviale Herr Förster tractirte uns eines Morgens mit mehreren Flaschen Wasser aus einer Thalquelle des Harzes und sagte: „Wer davon getrunken, kann nicht wegbleiben und muß immer wieder kommen.“ Diese Quelle ist das Symbol der fesselnden Reize des alten Waldkaters und seines Bodethales zwischen Tanzplatz und Roßtrappe. Was ist es?

Ich denke, das Geheimniß liegt just in der verhältnißmäßigen Enge, Kleinheit und bequemen Höhe aller gleichsam zu einer Duodezausgabe verdichteten Gebirgsreize mit Ausmerzung alles zu Schroffen, Kahlen, Hohen, Weiten und deshalb Erdrückenden, über unsern Horizont und unsere Genußfähigkeit Hinausgehenden. Auf dem Hexentanzplatze, auf der Roßtrappe und unten im Bodethale hat man immer meßbare Fernen, eingerahmte Bilder, wenigstens solche, die man sich bequem abgrenzen kann. Und sie sind immer so saftig voll und duftig und kräftig und nie überladen. Die Contraste von starren Felsgebilden und üppigem, frühlingsfrischem Eichengrün dazwischen, die Farbentinten, die lustige und doch ganz respectable Bode mit dämonischem, dunkelm Rauschen und heitern, koketten, silberfüßigen Sprüngen zwischen den Felsblöcken – das sind Alles so melodische Gegensätze. Es ist kein Humbug dabei, kein theatralisches Gepränge, nein Alles so solide, so naiv würdige Arbeit der alten mitteldeutschen Natur. Und wie flüstern die alten deutschen Märchen und Großmutter- und Ammengeschichten drum herum! Durch dieses Geflüster hindurch spricht die alte deutsche Geschichte manch deutlicheres, rührenderes Wort. Hier jagte Karl der Große die „Wenden furt“. Nicht weit davon fing Heinrich der Vogelsteller seine ersten Finken und ward dann selbst gefangen von Patrioten, die ihn zum deutschen Kaiser wählten. An unzähligen Stellen stößt man sich an historische Steine oder wandelt über oder durch Burgruinen alter deutscher Ritter und berühmt oder berüchtigt gewordener Herren von Schlagetodt.

Ja und diese Gegenwart! Diese braven Leute und diese melodisch läutenden rothen Kühe! Diese reine, sauerstoffreiche, die Lebensflamme entzündende und läuternde Luft! Sie nimmt deshalb auch ziemlich mit, und Schwache werden anfangs matt und mager. Ich habe auch keine fetten Bewohner im Harze bemerkt, aber sie sind kräftig und sehnig. Deshalb kann man Personen, die fett sind oder es zu werden fürchten, wohl kaum eine erfolgreichere und angenehmere Entfettungscur raten, als die „Schurre“ zur Roßtrappe und die 1100 Stufen zum Hexentanzplatze. Statt des faulen Fettes setzen sich frische Muskeln an und freundliche Natur- und Lebensbilder. – Gottes Segen über dich und der Menschen Freude in dir, du alter Hercynia-Wald, und des Sängers Fluch über den neuen Waldkater!

H. B.



Aus dem nordamerikanischen Bürgerkriege.
Von einem deutschen Freiwilligen.

Ich sprang an’s Land – vor mir New-York. Das freie Amerika donnerte mir seine Festgrüße entgegen. Es war der 4. Juli 1860. Was mich getrieben hatte, Deutschland, mein Vaterland, Sachsen, meine Heimath, Leipzig, wo meine Wiege gestanden, wo liebe Verwandte und Freunde meiner mit Bangen gedachten, zu verlassen, „drüben“ meine Kraft zu üben, meine Kenntnisse zu bereichern, meine Anschauungen zu erweitern, zu – leben? O fragt mich nicht darum! Ich war 21 Jahre alt und [745] – die deutsche Jugend drängt es in’s Weite, das deutsche Herz pflegt erst ruhig in der Heimath zu schlagen, wenn seine Pulse die Mattigkeit beschleicht, wenn der Verstand ihm predigt, daß viele Dinge nicht zu ändern sind.

Was ich drüben suchte, das hatte ich noch nicht, das Uebrige, was ich dort zu finden glaubte, vielfach anders gefunden. Ein Jahr später, am Unabhängigkeitsfeste, donnerten die Kanonen wieder, diesmal in zwei feindlichen Kriegslagern der – Union, die keine Union mehr war. Bald mordeten sich die, welche sich bereits seit Jahrzehnten gehaßt, wie eben nur entzweite Brüder sich hassen können, innig, grimmig, bis zur Vernichtung.

Auch ich focht mit. Auf welcher Seite? Der Deutsche haßt die Sclaverei, muß es. Die deutschen Freiwilligen schaarten sich in New-York. Unter Blenker rückte das achte Regiment – nur Deutsche – unter ungeheurem Jubel am 27. Mai 1861 aus, 1040 Mann mit 15 Hunden, die ihre Herren nicht verlassen wollten, wie die Herren sie nicht. Deutsche Treue! Ich zog mit.

Was ich in diesem fürchterlichsten der Bürgerkriege erlebt, davon Einiges.




1. Deutsche Feldjustiz.

Von Straßburg (Virginien) bis acht Meilen hinter Harrisonsburg, unter fortwährenden Gefechten und Neckereien zwischen seiner Arrière- und unserer Avantgarde, hatten wir den Feind vor uns hergetrieben, begierig zur Schlacht. Er stand nicht. Fast brach am 7. Juni 1862 die Nacht herein, als mein Regiment, an diesem Tage der Nachtrab, nach mühevollem, langem Marsche das Lager bezog. Vor uns, so weit uns Waldung und Hügel Ausschau gönnten, glühten und blitzten die Wachtfeuer der Unserigen; darüber hinaus, kaum einige hundert Schritte spiegelten sich die der Armee Stonewall Jackson’s in den Gewässern des Shenandoah. Die Gewehre waren in Pyramiden gestellt. Bald loderten auch unsere Feuer. In den Kesseln brodelte der Kaffee. Ein heißer Schluck feuchtete den trockenen Schiffszwieback an. Dies unsere letzte Thätigkeit, unser einziger Genuß. Die Müdigkeit warf uns hin. Fest in die Decken gehüllt lag bald schweigend und regungslos die – Kaffeegesellschaft. O Heimath! – Schwere Athemzüge ringsum, nur hier und da leises Murmeln und Flüstern, ein gedämpftes Lachen, ein halblauter Soldatenfluch. „Sie werden doch nicht ewig laufen.“ – „Bis ihnen die Beine zu kurz sind, eher kriegen wir sie nicht.“ – „Hoho! morgen haben wir sie – der Shenandoah ist angeschwollen, wie der übermüthige Frosch, er platzt aber nicht – hinüber können sie nicht, da platzen wir sie!“ – „Stille dort, laßt mich schlafen wenigstens, wenn ich nicht essen kann!“ – „Willst Du etwas voraus haben? seit vier Wochen habe ich meine Zähne nur zu Zahnschmerzen.“ – „Blas’ den Dampf auf die andere Seite, Heilbronner – Dein verdammter Pfälzer könnte die Alligators vertreiben.“ – „Deshalb qualmt er immer im Gefecht, selbst die Kugeln nehmen Reißaus davor, und die Wolken zerhaut kein Säbel.“ – „Schwatzt, was Ihr wollt, besser schmeckt er doch, als Eure Witze, und vertreibt den Appetit.“ – „Und den Schlaf – verdammt, nun fängt der Leipziger auch noch an, Stötterico zu rauchen – na, morgen könnt Ihr mich zum Frühstück genießen, so gut wie geräucherter Lachs muß ich schon um Mitternacht schmecken, nicht, Hamburger?“ – „Ich werde mich an Deine Zunge halten und dabei Hamburg nicht vermissen.“ – „Ruhe dort!“ gebot der Sergeant. Auch das Flüstern verstummte, die Pfeifen verglühten, die Gedanken verschwammen. Tiefer Schlaf auf Aller Sinne, nicht gestört durch das Rauschen des Windes, durch den Ruf der Nachtvögel, die Schritte der Schildwachen, das Anrufen der Vorposten und einzelne weit durch die nächtliche Stille hallende Schüsse.

Auch ich schlief traumlos – eine halbe Stunde. Ein derber Stoß in die Seite ermunterte mich. Mein Freund und Camerad Moritz hatte mich geweckt. „Reich ist fort, weißt Du wohin?“ fragte er mich leise. „Nein! Du?“ erwiderte ich ebenso. „Wo wird er hin sein? Wie gewöhnlich!“ – „Aber hier, wo Alles zu den Secessionisten hält! Statt Hühner und Ferkel wird er eine Kugel haben, wenn er überhaupt wieder kommt.“ – „O, er ist schlau, Du kennst ihn doch – ihn fängt man nicht, und trifft ihn auch nicht.“ – „Weiß, weiß! hol’s der Kuckuk, mir läuft das Wasser schon im Munde zusammen, und das Lachen kitzelt mich in der Kehle über seine Fahrt – aber ich wollte doch, er wäre wieder da! sonderbar, ich habe Angst um ihn, wie noch nie.“ –

„Geht mir eigentlich auch nicht anders.“ – „Hilft uns und ihm nichts – laß uns hoffen und schlafen!“

Wir legten uns zurecht. Mit dem Schlaf aber war es nichts. Reich war „der Dritte in unserem Bunde“, ein wackerer, rühriger Bursche unseres Alters, trotz seiner Jugend ausgewettert durch manchen Lebenssturm, voll unerschöpflich heiterer Laune, der Liebling, der Schatz der Cameraden und ihr „Proviantmeister“. Wie Säbel und Haubajonnet und Kugel ihm nichts anhatten, so kannte auch sein schlanker breitbrustiger Körper und sein Geist keine Ermüdung. Gefecht oder Marsch, wenn sie vorbei waren und wir Uebrigen erschöpft da lagen, schienen nur da gewesen zu sein, die Lebendigkeit seiner Augen, die Stärke seiner Nerven und Sehnen, die Beweglichkeit seiner Glieder zu erproben und zu erhöhen. Kaum einige Minuten warf er sich hin und sah in den Himmel, dann sprang er sicherlich auf, lächelte verschmitzt, nickte uns freundlich zu und verschwand. Wenn er wieder kam, geschah dies nicht allein. Er kam stets in Begleitung, lebendiger oder todter. Gar oft hatte er ein Rind am Horn zu uns bugsirt, ein Schwein hinter sich hergeschleift, einige Ferkel auf dem Rücken, Geflügel aller Art unter den Armen oder über der Schulter, kurz, er brachte uns Etwas für unsere ausgehungerten Magen. Woher? Das war ihm und uns gleichgültig, wie das Soldatenmagen im Feld, aller sonstigen Moral zum Hohn, wohl immer zu sein pflegt, wenn harter Zwieback und ein Schluck Kaffee nur kärglichen Ersatz für verlorene Kräfte bieten und „Feinde ringsum“ sind. Nicht gleichgültig war es dem Obersten unseres Regiments. Diese Art Fouragiren hatte er streng verpönt. Schon zwei Mal hatte er deshalb Reich mit Löhnungsabzug bestraft und für das dritte Mal arg bedroht. Reich lachte, trieb es fort und verließ sich, mit Recht, auf die Verschwiegenheit der Cameraden. Sein gutes Herz, seine „Strategetik“ ließ ihn nicht ruhen. Er selbst bedurfte des Fouragirens nicht, kaum einen Bissen genoß er von seiner Beute, und „hätte ich die Engländer in der Krim und die Oesterreicher in Italien verpflegt,“ äußerte er öfters, „Sebastopol hätte sich nur vier Wochen halten sollen, und auf einen Herzog von Magenta hätte die Welt noch zu warten. Essen, gut essen, das ist die Hauptsache, die Mutter des Sieges für – Euch armen Kerle, die Ihr es Euch nicht abgewöhnen könnt.“ Sie hatten ihn Alle lieb, außer dem Obersten in diesem Punkte.

Was Wunder, wenn die Besorgniß um ihn uns nicht schlafen ließ. – „Vielleicht liegt er verwundet, hülflos im nahen Gestrüpp, hofft auf uns, und – verblutet, ehe es lebendig wird!“ – Kaum gesprochen erhoben wir Beiden uns, wie ein Mann. Wir krochen, schlichen und glitten umher, wie die Rothhaut auf der Kriegsfährte – stundenlang. Umsonst, keine Spur von Reich. Erschöpft, todtmüde kehrten wir endlich zu unserer Lagerstelle zurück. Dort tyrannisirte uns der Schlaf.

Appell! – Wir sprangen auf, die Ersten. Der Platz zwischen uns – Reich’s Platz – war leer. „Reich fehlt, mindestens seit Mitternacht – weiß keiner von ihm?“ Keiner hatte sein Gehen bemerkt, Keiner wußte von ihm. „Ist nicht zu verwundern, daß endlich einmal ein Ochse seine Brüder gerächt hat – wer weiß, wo er ihn hingeschleudert!“ – „Das thut ihm nichts, er kommt immer wieder auf die Beine.“ – „Wenn’s gar so hoch gewesen, hat er sich noch ein Bischen höher geschnellt, und wir werden ihn heute Abend an den Hörnern des Mondes hängen und uns auslachen sehen.“ – „Wird ihm auch nichts helfen! wenn er beim Verlesen fehlt, läßt ihn der Oberst auch dort herunterholen, und dann mag ich seine Suppe nicht essen.“ – So die Cameraden. Keiner glaubte an einen ernstlichen Unfall. So fest trauten sie seiner Kraft, seiner Gewandtheit und List. Ihre Scherze machten auch uns, seinen Freunden, Muth, ebenso der Tag.

Auch beim Verlesen fehlte Reich. Es mußte dem Obersten gemeldet werden, allein – es kam nicht dazu. Unsere ganze Armee begann langsam vorzurücken. Von der Avantgarde her hörte man bereits starkes Gewehrfeuer, dann und wann einen Kanonenschuß. „Hurrah, es geht los!“ „Vorwärts!“ „Hurrah!“

Obergeneral Fremont hatte in seiner Begleitung gegen dreißig Kundschafter (scouts), meist Halbindianer, Texaner, Californier, verwegenste, schlaueste Gesellen, darunter auch einige Frauen, fast noch verwegener, die Schlauesten. Eben rückte das Achte – eine halbe Stunde vom Lagerplatz – einen Hügel herunter, an dessen Fuße vor einer einsamen Farm Stellung zu nehmen, da jagte in Carriere, die Beine nach Männerart über dem Rosse, [746] eine diese Kundschafterinnen an unseren Oberst heran. „Dort bei der Farm liegt ein Soldat Eures Regiments erschossen. Der Farmer wird so eben deshalb dem Obergeneral vorgeführt.“ Fort brauste das Mannweib. Bald umstanden wir die Leiche. Es war Reich. Durch die Brust hindurch, unter dem Schulterblatt wieder heraus, war die tödtliche Kugel gegangen. Der Oberst strich sich den Bart: „verdammter Proviantmeister! – braver Soldat! – begrabt ihn in Ehren, den armen lustigen Burschen!“

Unter einer uralten Ceder wölbte sich bald der Hügel über den so jungen Sohn der Mutter, die früh oder spät alle ihre Kinder in ihrem Schooße sammelt. Die dreimalige Ehrensalve war verklungen. Traurig, manches Auge naß, traten wir, Todtengräber und Geleit, den Rückmarsch zum Gros des Regiments an. – Heute mir, morgen Dir!

Vor dem Obergeneral hatte der Farmer zur That sich bekannt. „Ich habe mein Eigenthum geschützt – ich habe keinen Soldaten erschossen, nur einen Dieb, wie die Gesetze es gestatten bei Nothwehr dem Bürger der Civilisation – ich war im Recht, gebt mir mein Recht!“ Das war die Rechtfertigung des Angeklagten. – „Macht mit ihm, was Ihr wollt!“ Das war sein Urtheil, dessen Vollstrecknug Fremont seinen Kundschaftern überließ.

Unserm Trauerzuge kam ihre Schaar, von der Farm her, entgegen, wir stumm, sie lärmend; in ihrer Mitte, die Arme auf den Rücken gebunden, verhöhnt, vermaledeit, von rohen Fäusten den wankenden Gang beschleunigt, ein bleicher Mann, neben ihm sein jammerndes, verzweifelndes Weib und seine beiden kleinen laut weinenden Kinder. Der wilde Haufe hatte lange geschwankt und gestritten, endlich sich entschieden. „Begrabt den Hund lebendig!“ Das war die Entscheidung, so theilten sie uns mit. Uns wendete sich das Herz in der Brust. Wir protestirten heftig dagegen. Höhnisches Lachen war ihre Entgegnung. Jubelnd ergriffen sie Hacke und Spaten, mit höllischem Triumphgeschrei begannen sie ihr scheußliches Werk. Angesichts des aufmarschirten Regiments hatten sie sein furchtbares Grab fast fertig. Da stürzte das Weib, während die Kinder den vor Entsetzen stier in die Grube starrenden Vater umklammerten, athemlosen Laufes zu unserem Obersten hin, warf sich auf die Kniee und rang flehend in herzbrechender Wehklage die Hände gegen ihn empor: „Rettet, o rettet, um Gottes Barmherzigkeit – Gnade! Gnade!“ Gott erbarmte sich ihrer Qual – eine tiefe Ohnmacht nahm ihr das Bewußtsein.

„Major Pokorny, ordnen Sie die Angelegenheit!“ befahl Oberst Wutschel.

In weiten Bogensätzen trug sein Roß den Major mitten in den Schwarm der Kundschafter, mit denen wir noch vergeblich capitulirten. „Was soll hier werden?“ herrschte er sie an.

Mit militärischem Gruß trat der Sprecher vor: „Dort liegt der begraben, den der Rebell hier erschoß – das hier ist sein Grab.“

„So fertigt ihn schnell ab mit Kugel oder Strick, verlängert seine Strafe nicht mit unnützer Unmenschlichkeit durch diese Vorbereitung, zu der es dann Zeit ist.“

„Hoho, Major! Kugel und Strick ist er nicht werth – lebendig soll er Erde kauen.“

„Solche Barbarei geschieht nicht, so lange mein Arm den Degen führt – ein Soldat mordet nicht und läßt nicht morden.“

„Der Oberbefehlshaber hat ihn uns überlassen – wir thun, was wir wollen.“

Das nicht, so lange ich es hindern kann.“

Die Bande umringte das fertige Grab, der Sprecher ergriff das unglückliche Opfer an den zusammengeschnürten Händen und riß den Wehrlosen zur Grube.

„Schlagt an!“ tönte das Commandowort des Majors, und niemals schneller flogen unsere Büchsen an die Backe. „Wie ich gesagt, hängt oder erschießt ihn – wo nicht, so ist der Gefangene unter meiner Obhut – Widerstand, und ich lasse feuern!“ donnerte der Major. Die Kundschafter flüsterten unter einander, dann Murren, Geschrei, Flüche. Der Sprecher, ein riesiger Texaner, trat wieder vor: „wenn der verdammte Hund nicht unsere Strafe haben soll, so mag er laufen, wohin er will – mag er Euch selber erschießen!“ Damit schnitt er die Bande des Gefangenen durch und stieß ihn hart zwischen die Schulter. „Lauf zur Hölle!“ brüllte er und schritt hinweg, trotzig lachend in verbissener Wuth. Die Uebrigen folgten. Rasch waren sie im Walde verschwunden.

Vor der Front des Regiments stand nach kurzer Weile der Gefangene, umklammert von Weib und Kindern. Durch den Donner der Kanonen tönte die Stimme des Majors weithin schallend:. „Hier, Cameraden, steht der Mann, der Euern armen Proviantmeister erschossen hat. Obergeneral Fremont hat seine Strafe den Kundschaftern überlassen. In gräuelvoller Heidenweise wollten sie ihn lebendig begraben. Ich konnte das nicht dulden. Strick oder Kugel wollten sie nicht gegen ihn gebrauchen – sie haben ihn uns überlassen. Ist Einer unter Euch, der einen Schuß für ihn hat, so trete er vor!“

Wieder stürzte das Weib händeringend und um Gnade jammernd vor dem Pferde des Majors in die Kniee, mit ihr die Kinder.

Tiefste Stille lagerte über dem ganzen Regiment. Keiner trat vor.

Hart an den regungslosen Gefangenen hin, dessen Gesicht der Todesschweiß überperlte, ritt der Major und legte ihm die Hand auf die Schulter. Wohl erst diese Berührung brachte ihm die Sinne zurück – er zuckte zusammen. Das Blut strömte aus dem erbebenden Herzen wieder belebend durch seine Glieder, denn er hörte den Major sagen. „Ihr seid frei, Mann! hier findet sich kein Henker für Euch – geht – Gott vergebe Euch!“

„Hurrah! Hoch Major Pokorny!“ Die Stimme des Regiments übertönte mächtig hallend das Getöse der sich näher wälzenden Schlacht.




2. Auf Vorposten.

Als das achte Regiment unter siegahnendem Zujauchzen der Bevölkerung aus New-York ausrückte, erregte vor Allen ein Mann durch seine äußere Erscheinung fast bacchantischen Donnerjubel. Nicht gerade seine eigene Person zog Aller Blicke auf sich, er hatte wenig an sich, das dazu geeignet gewesen wäre; was ihn so hervorstechen ließ, war das, was er unter sich hatte, ein feuriger, glänzend schwarzer Hengst von edelstem Blut. Bäumen und furchtbare Sprünge und Sätze – so bewegte das prächtige Thier sich vorwärts. Alle seine Raserei aber konnte den marmorfesten Sitz seines Reiters nicht erschüttern, ließ dessen düsteres Auge nicht höher leuchten, veränderte keine Miene dieses finstern Bronzegesichts – wohin er wollte, gerade dahin sprang das schäumende gebändigte unbändige Roß; zornsprühend mußte es gehorchen dem Zugel in dieser Faust von Stahl. Der Name dieses Reiters, obschon nicht sein eigentlicher, charakterisirte dem deutschen Ohre schon diesen ehernen Mann: den Oberstlieutenant Stahel. Durch Sümpfe und Wälder, über die weiten Pußten seines Heimathlandes, durch die Brandungswogen der Schlachten hatte er bereits sein Roß getummelt, als der Magyar dem Habsburger den Handschuh hinwarf. So unerschütterlich fest aber, wie Stahel im Sattel saß, eben so fest saß in ihm selbst ein Leiden, so oft belächelt und bespöttelt, und dennoch eins der furchtbarsten Plagen des menschlichen Geschlechts: die Harpyie der Hypochondrie. „Post equitem sedet atra cura!“ Deshalb war er stets finster, in sich gekehrt, wortkarg, zum Zorn geneigt, kleinlich peinlich auch gegen kleinste Dienstversehen. Diese waren aber besonders häufig beim achten Regiment. Deutsche Freiwillige, mit wenigen Ausnahmen Repräsentanten der Intelligenz ihres Mutterlandes, nach dessen öfters noch nicht ganz klaren Begriffen nach Freiheit strebend, viele alte Volkskämpfer, fügten sie sich wohl willig und im Bedeutenden der nothwendigen militärischen Disciplin, achteten aber für unnütz, Soldatenzuchtjoch zu tragen. So oft Stahel und so gern er ihnen das Letztere auflegen wollte, es gelang ihm nicht, nicht einmal so weit, daß es nöthig gewesen wäre, es wieder abzuschütteln. Er war daher in fortwährendem Aerger über das zuchtlose Regiment, obschon er wieder mit Stolz und Begeisterung dessen sich bald und oft bewährende Tapferkeit pries. Sein Aerger, seine Hypochondrie blieb aber immer sein Sieger, und er rächte sich für diesen Aerger an dem Achten, wo er nur konnte, auch noch, als er, vom Obersten zum Brigadegeneral vorgerückt, nicht mehr so häufig in tägliche directeste Berührung mit ihm kam. Er hielt uns fortwährend in Athem. Wenn andere Regimenter Ruhe hatten, wir mußten gewiß Schanzen bauen oder exerciren. Wir waren Arrièregarde oder Avantgarde, gleichviel, Abends beim Lagern mußten wir die Vorposten beziehen. Der Deutsche verträgt Viel, er ist das so gewohnt, seine Geduld ist sprüchwörtlich, er macht aus der Noth eine Tugend, allem er ist eben so – erfinderisch.

Im October 1862 lag Stahel’s Brigade, das Achte darunter, bei Centreville, wir natürlich auf Vorposten. Wir waren abgelöst [747] und hatten nun, dem Rechte nach, drei Ruhetage vor uns. Kaum so viel Stunden waren vergangen, da kam der Befehl: „auf Vorposten!“ Es hieß: bei den andern Regimentern sei der Zahlmeister eingetroffen. „Also die Geld – wir Vorposten!“ Das Regiment war mit Sack und Pack aufgestellt zum Abmarsch. Finstere Gesichter, mürrische, auch drohende Blicke. Da ging ein Murmeln durch die Glieder, von Mann zu Mann, von Mund zu Munde – kein meuterisches Murren, nur ein flüsterndes Murmeln: das Losungswort, das das Regiment sich selbst gab – und auch das grämlichste Gesicht verzog sich zum Lächeln. Heiter und vergnügt, wie selten, marschirten wir ab und auf die Posten.

Die Nacht war etwas stürmisch, aber nicht sehr finster; man konnte auf hundert Schritt mit klaren Augen ziemlich deutlich sehen. Wir sahen lange nichts. Gegen Mitternacht, auf dem rechten Flügel ein Schuß, noch einer, bald ein Rottenfeuer, die ganze Vorpostenkette entlang unaufhörliches Feuern; es war, als ab unsere Büchsen Kanonenladung hätten, so krachte und donnerte es unablässig. Wir hatten’s Ursach. Feindliche Cavallerie, einzelne Reiter erst, schwadronenweise, ein ganzes Regiment, brachen aus der Waldung heraus, stürmten auf uns ein. „Der liegt!“ „Der hat’s!“ – „Der steht nicht wieder auf!“ – „Hurrah! den links nehm’ ich!“ – „Wart, Bursche, komm wieder!“ – „Der war gepfeffert!“ – „Grüß mir Dein Lottchen!“ – Solche und ähnliche Ausrufe erschollen aus unsern Reihen und verkündeten die Treffer, zugleich den kaltblütigen Muth, die Zuversicht der Freiwilligen. „Nehmt sie nur tüchtig auf’s Korn!“ – „Nur gehörig gegeben, Jungens!“ – „Zusammengehagelt und wenn die Büchsen springen!“ – So ermunterten Officiere. Es war unnöthig. Wir schossen, wie in der schönsten deutschen Neujahrsnacht. In Centreville ward es lebendig – die Trommeln rasselten – die Signalhörner tönten – Generalmarsch. Es war ein furchtbarer Lärm. Augenblickliche Pause. Galoppschlag auch hinter uns. Ein einzelner Reiter auf schwarzem Hengst flog auf uns zu. „Hurrah! noch eine Salve!“ Sie krachte. „Das war der Letzte – weg, wie sie gekommen!“ – General Stahel hielt den Renner bei uns an; hinter ihm stürmte eine Abtheilung Reiterei daher – zwei Regimenter Infanterie rückten nach. „Was giebt’s?“ – „Feindliche Cavallerie griff an, General! zurückgeschlagen.“ Stahel lüftete den Hut: „Eljen das Achte!“ Wir blieben stumm, wir wußten, warum – er auch. Er wußte, daß wir wußten, daß er uns „drängelte“. Er recognoscirte an der Spitze der Reiter. Alles ruhig. „Kein Todter, kein Verwundeter auf dem Platze – schlecht geschossen, Achtes!“ – „Oho! mitgenommen, General!“

Die Nacht verlief fortan ohne weitere Störung. Am Morgen erneute, sorgfältigere Recognoscirung. Vor dem Achten bis zum Walde glatter Boden, nirgends von Pferdehufen zerstampft, nirgends ein Blutstropfen, nirgends eine zurückgelassene Waffe, kein Hut, kein Fetzen – nur Patronenhülsen in Masse. So hatte der Rapphengst noch nicht gefegt, als da er den General nach dieser Recognoscirung an uns vorbei trug. Er ahnte die Wahrheit, als ob er das geflüsterte Losungswort des Achten vom Tage vorher in sein Ohr aufgenommen, jenes Losungswort, das es sich selbst gab und das wir Alle so prächtig verstanden: „Heute Nacht aufpassen – Cavallerie in Sicht – Alles feuern!“

Das achte Regiment kam fürder nur auf Vorposten, wenn die Reihe es traf.





Eine Stätte, von wo Licht ausging.
Von Prof. Richter in Dresden.

Es giebt Oertlichkeiten, an welche sich die dankbare Erinnerung der Völker in mehr oder weniger feierlicher Weise anknüpft. Nicht die Stellen meine ich, wo einst rohe Gewalt gehaust, wo Geschöpfe, die sich Menschen nannten, einander abgeschlachtet haben, – sondern solche Stellen, von wo ein neues Licht über die Völker ausging, das die Gemüther erwärmt oder die Geister aufgeklärt, das den Hoffnungen auf einen endlichen Sieg des Besseren frische Nahrung gegeben hat! – Solche Stätten verehrt der Christ in Bethlehem und Jerusalem, der Alttestamentliche am Sinai, der Mohamedaner in Mekka, – solche Stätten sind die Wartburg, das Schillerhaus, das Lessingstift u. a. m

Auch die naturwissenschaftliche Heilkunde, die sogenannte neue oder physiologische Schule der deutschen Medicin hat eine solche Stätte, von wo für sie und Andere Licht ausging und an welche Hunderte von neueren Aerzten mit Dank und Verehrung gedenken. Und wirklich ist es auch, wie in Mekka, eine kleine Hütte, eine Kaaba, an welche sich dieses Andenken festheftet. Ein Hüttchen, welches vielleicht bald ganz abgebrochen werden wird! Deshalb beeilten wir uns, es noch bei Lebzeiten photo- und xylographisch zu verewigen. Wir hoffen uns dadurch ein Verdienst und den Dank vieler jüngerer Aerzte zu erwerben.

Diese Localität ist, wie die Unterschrift zeigt, das alte Leichen- und Sectionshaus des großen allgemeinen Krankenhauses zu Wien: in der That ein kleines niedriges unansehnliches Gebäude, aus welchem aber nichtsdestoweniger geistige Errungenschaften von unberechenbarer Tragweite hervorgegangen sind. In diesen engen Räumen sind jene zahlreichen, mühsamen und aufopferungsvollen anatomischen Untersuchungen angestellt worden, deren Endergebnisse die gesammte deutsche Medicin umgewandelt und zu einer ganz neuen Wissenschaft gemacht haben, – oder besser ausgedrückt: durch welche die Medicin aus einem Gemenge von Einzelthatsachen, Meinungen und Träumereien in eine solide, selbstständig forschende und stetig fortschreitende Naturwissenschaft umgestaltet worden ist. Eine Umgestaltung, welche von da aus (schon jetzt und in der Folgezeit immer mehr) auch auf alle anderen Facultäitswissenschaften, auf Volkswirthschaft und Staatsverwaltung durchgreifende Einwirkungen haben wird.

Um diese Bedeutung des kleinen Wiener Sectionssaales anschaulicher zu machen, ersuche ich den Leser, mir nach der großen und glanzvollen Hauptstadt selbst zu folgen.

Im westlichen Stadtteile Wiens, in der Herrnalser Vorstadt, zwischen der Alser und Währinger Straße, befindet sich ein Complex von Gebäuden, welcher an Umfang und Bewohnerzahl den Namen einer kleinen Stadt verdienen dürfte. Derselbe besteht aus etwa neun Höfen, deren Riesenumfang man danach ermessen kann, daß in dem vordersten Hofe ein großes Gebäude, die ganze berühmte Wiener Universitätsklinik enthaltend, frei dasteht, ohne die Uebersicht des Hofraumes und seiner Einfassung wesentlich zu beeinträchtigen. Dieser Häusercomplex ist eine Art von Krankenstadt, nämlich das weltberühmte allgemeine Krankenhaus: eine der großartigen Stiftungen des menschenfreundlichen Kaisers Joseph II., welche allein schon hinreichen würde, seinen Namen unsterblich zu machen. Es giebt kein zweites derartiges Krankenhaus auf der ganzen Erde; denn in allen gleichgroßen oder größeren Hauptstädten sind die Krankenhäuser kleiner und in den verschiedenen Stadttheilen vertheilt. (Was auch seine großen Vorzüge hat.) In diesem allgemeinen Krankenhause finden alle in Wien oder dessen Umgegend (bis weithin) Erkrankten ohne Unterschied der Provinz, des Glaubensbekenntnisses etc. nöthigenfalls Aufnahme und Verpflegung. Es ist begreiflich, daß dadurch Jahr aus Jahr ein sich ein ungeheuer reiches Material für ärztliche Wissenschaft und Kunst, für Beobachtungen, Versuche und Entdeckungen in allen Zweigen der Krankheits- und Heilungslehre, der Geburtskunde und anderer ärztlicher Wissenschaftszweige zusammenfinden muß. Nach den mir vorliegenden sechs letzten gedruckten Jahresberichten dieser Anstalt, – denen ebenfalls an Reichhaltigkeit und tüchtiger Verarbeitung des Stoffes kein anderes ähnliches Erzeugniß der medicinischen Literatur zur Seite gestellt werden kann,[2] – wurden daselbst jährlich zwischen 21,557 bis 25,606 (durchschnittlich 24,255) Personen behandelt, von denen etwa ein Neuntel starb. (Denn begreiflich wiegen unter den Eingelieferten die schwerer Erkrankten und Todescandidaten vor!) Da nun, sofern nicht Einsprüche erhoben werden, jede Leiche zur Obduction an das sogenannte [748] Leichenhaus abgeliefert und jede wissenschaftlich interessante auch auf eine höchst genaue und vollständige Weise geöffnet und darüber ein ausführliches Protokoll geführt wird: so bietet dieser Centralpunkt, wo Tag für Tag, Jahr für Jahr unausgesetzt gearbeitet wird, ein anatomisches Material, wie man es ebenfalls in der ganzen Welt nicht in gleicher Fülle findet. Nach den eben erwähnten Krankheitsberichten wurden in den letzten Jahren durchschnittlich 1275 Sectionen im Jahre gemacht, ungerechnet die von Gerichts- und Polizeiwegen in demselben Locale vorzunehmenden und zu Protokoll zu bringenden!

Lange Zeit hindurch scheint man in Oesterreich kaum geahnet zu haben, welch ein Schatz von Aufklärungen zum Besten der leidenden Menschheit, nicht blos für die prakticirenden Aerzte, sondern für öffentliche Gesundheits- und Krankheitspflege, Statistik und Volkswirthschaft in diesem Material des Wiener Kranken- und Leichenhauses verborgen stecke. – Es war einem einzigen Manne, einem wahrhaft Einzigen, beschieden, diesen Schatz zu heben und in einer Weise zu verwerthen, daß die gesammte Medicin davon Gewinn ziehen mußte. Dies geschah aber nicht etwa durch einen kühnen Griff, sondern durch eine jahrelange, mit unerhörter Ausdauer

Das alte Leichen- und Sectionshaus des allgemeinen Krankenhauses in Wien.

und Hingebung und ohne höhere Ermuthigung fortgesetzte Arbeitsthätigkeit.

Dieser Mann ist es, den wir unsern Lesern in wohlgelungenem Bilde (in nächster Nr.) und mittels einer kurzen Lebensgeschichte vorführen wollen. Es ist der Dr. Carl Rokitansky zu Wien, Professor der pathologischen Anatomie, jetzt Regierungs- u. Ministerialrath – bei allen jüngeren Aerzten „Vater Roki“ genannt. Derselbe stammt (wie eine Mehrzahl der hervorragenden Professoren der sogenannten neuen Wiener Schule) aus Deutschböhmen und ist der Sohn eines Regierungsbeamten in Königingrätz. Hier und in Leitmeritz vollendete er seine Gymnasialstudien, zu Prag und Wien seine medicinischen. Er ward 1828 zu Wien Doctor und kurz darauf als Gehülfe an der obenbesprochenen pathologisch-anatomischen Anstalt angestellt. Nach dem frühzeitigen Tode seines Vorgesetzten, des Professor Wagner, eines begabten jungen Mannes, wurde Rokitansky im Jahre 1832 Vorsteher dieser Anstalt. Er begann dieses Amt, welches er noch jetzt bekeidet, sofort mit der Sorgfalt und Gründlichkeit, durch welche sich das Institut noch heute auszeichnet und vielen anderen als Vorbild gedient hat. Ganz im Stillen nutzte er dessen reiche Schätze aus. Aber er speicherte seine Erfahrungen auf, um zu festbegründeten Ergebnissen zu gelangen, von denen nur Einzelnes zur Oeffentlichkeit kam. So blieb Rokitansky und sein Sectionssaal in seinem eigenen Vaterlande lange Zeit wenig beachtet, und es waren anfangs hauptsächlich fremde Aerzte, welche dessen Werth zu schätzen wußten. Erst nach zehnjähriger Wirksamkeit, nachdem sich Rokitansky über das Gesammtgebiet der Krankheiten, soweit sie an der Leiche, unter steter Beihülfe der Beobachtung am Krankenbette[3], erforschbar sind, die ausreichendste Kenntniß und Uebersicht verschafft hatte, begann derselbe die Herausgabe seines berühmten „Lehrbuchs der pathologischen Anatomie“ (1842 bis 1846), welches fortan die Grundlage jedes ärztlichen Forschens werden und nicht nur die deutsche, sondern auch bald (in mehrere lebende Sprachen übersetzt) die ausländische Medicin nach und nach im Geiste neuerer Naturwissenschaft umgestalten sollte. Zu gleicher Zeit etwa sammelten sich auch um ihn die strebsameren Aerzte Oesterreichs (längst vorausgegangen war sein Busenfreund Skoda, welcher neben Rokitansky als zweiter Grundpfeiler der neuen Schule stets zu nennen ist). Diese Schüler, in ihre Heimath zurückgekehrt und bald in Besitz der wichtigeren klinischen Stellen getreten, übertrugen nun die von Rokitansky gewonnenen Erfahrungsthatsachen eine nach der andern auf die Beobachtung und Behandlung am Krankenbette und setzten seine Forschungen am Leichentisch weiter fort. So entstand die weitberühmte Wien-Prager Schule, welche besonders für Erkenntniß der Krankheiten (Diagnostik) und für einfache naturgemäße Behandlung derselben (Therapie) in kurzer Frist so Ausgezeichnetes geleistet hat.

Um die Bedeutung der durch Rokitansky bewirkten Reform zu würdigen, möge der Leser sich Folgendes vergegenwärtigen. Bis dahin war die Medicin ein, wie schon oben erwähnt, – trotz manches glücklichen Anfangs, namentlich der Pariser Schule – nur ein buntes Gewebe von Thatsachen und Meinungen, Beobachtungen und Einbildungen, welches durch allerlei dichterische Einfälle und hochklingenden Wortkram zusammengehalten wurde. Erst durch Rokitansky wurde das Gesammtgebiet der Heilkunde (der inneren, chirurgischen und geburtshülflichen) hinsichtlich seines eigentlichen Vorwurfes (Gegenstandes, Objects), nämlich des erkrankten Körpers und seiner Unterschiede vom gesunden, auf jene Grundlage gestellt, welche von anderen Naturwissenschaften schon längst eingenommen wird, nämlich auf die nüchternste und gewissenhafteste Durchforschung des Einzelnen (des Details), verbunden mit stufenweise fortschreitender Verknüpfung der Thatsachen zu allgemeineren Sätzen und zur Enträthselung des gesetzmäßigen Entwicklungsganges der einzelnen organischen Vorgänge (Processe) im Verlauf der Krankheiten und Genesungen. Dazu war es eben nothwendig, daß ein und derselbe Mann – wie hier unser Rokitansky – die Gelegenheit hatte und jahrelang benutzte, um an zahlreichen Leichen, von denen jede doch nur einen einzelnen Zeitabschnitt eines Krankseins darstellt, die verschiedensten Seiten dieser Vorgänge aufzufinden und nach ihrer wirklichen Folge aneinander zu reihen. Diese Hingebung, dieses wohlbewußte Zögern, binnen nunmehr dreißig Jahren, vielleicht an mehr als 40,000 Leichenöffnungen geübt, erwirbt unserm Rokitansky allein schon das Recht auf den Titel des ärztlichen Fabius Cunctator, „welcher allein durch sein Zaudern das Reich errettet hat,“ wie Ennius sagt:

Unus homo nobis cunctando restituit rem.

Es gehörte aber zu solch umfassender Arbeit noch ein zweites und drittes Erforderniß. Erstens eine anschauliche Kenntniß des Verlaufes der Krankheiten am lebenden menschlichen Körper. Dazu bot das reiche Material des Wiener [749] Krankenhauses und die Gefälligkeit der ihm befreundeten Aerzte eine Gelegenheit, welche Rokitansky emsig benutzt hat. Endlich gehörte dazu eine allgemeine über alle Zweige der Medicin und ihre Hülfswissenschaften ausgebreitete Bildung, eine Universalität des Wissens, wie sie dem Einzelforscher in der Regel zu mangeln pflegt. In allen diesen Zweigen, mit Einschluß der physikalischen (Lichtlehre, Mikroskopie, Mechanik etc.), der Chemie, der Naturgeschichte etc. mußte sich unser Rokitansky im Stillen mit fortbilden, um seiner Aufgabe gewachsen zu bleiben. Er mußte sich zugleich durch allgemeinere philosophische Studien die Freiheit des Blickes erhalten, welche nothwendig ist, um Massen von Thatsachen richtig zu ordnen und zur Gewinnung von Naturgesetzen übersichtlich zusammenzufassen. Allen diesen Ansprüchen genügte Rokitansky schon in der ersten Auflage seines Lehrbuchs in einer solchen Weise, daß dieselbe für ihre Zeit als etwas Vollkommenes gelten konnte.

Das neue pathologisch-anatomische Institut zu Wien.


(Siehe nächste Nummer.)


Rokitansky hat jedoch noch eine zweite Aufgabe gelöst, welche wir ihm weit höher anrechnen. Es ging ihm nämlich bei jener ersten Arbeit, wie es fast allen Reformatoren ergangen ist: beim ersten Reform-Anlauf bleibt auch den erleuchtetsten Geistern in der Regel noch ein Rest von alten Anschauungen übrig, deren sie sich nicht gleich auf einmal zu entledigen vermögen. Diesen Rest tilgen dann gewöhnlich ihre Schüler und Nachfolger aus und werden radicaler, als der Meister war. Etwas Aehnliches begegnete unserm Rokitansky mit seiner sogenannten Krasenlehre, welche noch jetzt von übelwollenden und schlecht unterrichteten Leuten als Argument gegen die neue Wiener Schule benutzt wird. Es giebt nämlich gewisse Krankheiten, welche scheinbar oder wirklich den ganzen Organismus, wenigstens dessen Hauptorgane und Systeme gemeinsam ergreifen. Rokitansky hat diese Constitutionskrankheiten, wie man sie jetzt nennt, in ihrer anatomischen Beschaffenheit mit Meisterhand geschildert. Er legte hierbei die uralte Voraussetzung (Hypothese) zum Grunde, als ob hier die Säfte, insbesondere das Blut, erkrankt seien und durch ihre fehlerhafte Beschaffenheit die verschiedentlichen auffindbaren Krankheitsbildungen erzeugt hätten (Säfteverderbnisse, Dyskrasien oder Krasen. d. h. krankhafte Blutmischungen). Spätere Untersuchungen haben gezeigt, daß auch in solchen Krankheiten die wunderbar vielseitige Thätigkeit der Zellen, aus denen jeder lebende Körper besteht, eine Hauptrolle spielt. (Daher die neuere, besonders von Virchow vertretene Zellentheorie.) Aber es läßt sich nachweisen, daß Rokitansky selbst der Erste gewesen ist, welcher durch neuere mikroskopische Untersuchungen die Axt an seinen eigenen Baum legte und in der Entzündungslehre die krankhafte Zellwucherung (das Auswachsen der Bindegewebe) an die Stelle der sich organisirenden Ausschwitzungen (Exsudate) setzte. Und sobald die neue Zellenlehre hinreichend begründet war, hat Rokitansky nicht angestanden, sein ganzes altes Gebäude einzureißen und in einer völlig neuen Ausarbeitung sein pathologisch-anatomisches Hauptwerk mit Ausscheidung alles unhaltbar Gewordenen frisch herauszugeben. Eine Selbstverleugnung, welche nur derjenige würdigen kann, der da weiß, wie schwer sich berühmt gewordene Gelehrte entschließen, ihre gewonnenen allgemeineren Anschauungen einer fortschreitenden Erkenntniß zu opfern und von Grund auf neue Ansichten zu adoptiren.

Die Wirkung von Rokitansky’s Lehre, nachdem er einmal durch Wort und Schrift Obermeister der deutschen Medicin geworden war, läßt sich nicht mit wenigen Worten schildern. Sie bedürfte eines besonderen Geschichtschreibers. Zunächst wurden allenthalben die gewonnenen Anschauungen auf das Krankenbette angewendet. Man untersuchte nach Rokitansky’s Schilderungen die lebenden Kranken (hauptsächlich mittels der inzwischen so sehr vervollkommneten Hülfsmittel der Diagnostik: Klopfen, Horchen, chemische Reagenzen u. s. w.), und fand in ihnen bald die am Leichentische festgestellten charakteristischen Zeichen. Um diese Zeit regnete es förmlich neue Entdeckungen in den Krankensälen. – Mit diesen Arbeiten kam aber auch ein neuer Geist in das praktisch-ärztliche Wirken, ein Geist des wahrhaft thatsächlichen, realistischen Forschens. Geistreiche Einfälle und wortreiche Phrasen kamen ganz in Mißcredit. Von dieser Zeit her datirt die Ausscheidung aller mystischen Bestrebungen aus der Medicin, so sehr [750] sie auch noch immer durch den leichtgläubigen, einbildungsreichen Charakter der Laienwelt begünstigt werden. Gediegene Untersuchungen, klare Experimente, gehaltvolle statistische Zusammenstellungen, nüchterne aber desto haltbarere Fortschritte vom Einzelnen und Untergeordneten zum Allgemeineren und Höheren bezeichnen den Geist der heutigen Medicin. Wir stehen jetzt in der wissenschaftlichen Heilkunde auf einem festen Felsen, und dieser Felsen heißt Rokitansky!

Soweit, lieber Leser, die kurze Skizze über Rokitansky’s wissenschaftliche Bedeutung. Nun noch ein paar Worte über Rokitansky’s fernere Schicksale, zugleich zur Erläuterung unseres zweiten Bildchens.

So lange das Metternich’sche System in Oesterreich herrschte, hatte man Rokitansky in seinem Leichenhof so zu sagen eben nur gewähren lassen. Selbst dies verdankte er nur seiner gänzlichen Harmlosigkeit in politischer und jeder anderen Hinsicht. Denn ein Paar seiner Schüler, welche zu sehr sich als ärztliche Freidenker bemerkbar machten und „die würdigen berühmten Professoren der alten Schule für Ignoranten erklärten“, wurden theils gemaßregelt, theils polizeilich beaufsichtigt. Mit dem Umschwunge des Jahres 1848 änderte sich dies. Die neue Schule, längst im Auslande hochgeehrt, kam nun auch im österreichischen Inlande zu Ehren und mit ihr (fast möchte man sagen, zu allerletzt) unser Rokitansky. Er ward Ehrendoctor der Prager Universität und Mitglied der k. k. Akademie der Wissenschaften zu Wien (1848), erhielt jetzt auch eine Erhöhung seines bis dahin unbedeutenden Gehaltes, ward Decan der medicinischen Facultät (1849) und Rector der Wiener Universität (1850), endlich Vorsitzender der berühmten k. k. Gesellschaft der Aerzte zu Wien, welche zwei weitverbreitete medicinische Zeitschriften herausgiebt. Mehrere dieser Posten hat er seitdem wiederholt verwaltet. Im Jahre 1858 ernannte ihn die k. k. Regierung „in Würdigung seiner vielfältigen und mehrjährigen Verdienste um die Wissenschaft und um die leidende Menschheit“, wie es in dem betreffenden Patent heißt, zum Regierungsrath. Diese Ernennung gewinnt dadurch an Gewicht, daß sie wenig Wochen nachher erfolgte, nachdem Rokitansky zum ersten Mal vor das größere Publicum mit einem ganz von den freisinnigen Grundsätzen der neueren Naturwissenschaft ausgehenden Glaubensbekenntniß aufgetreten war. Er hatte nämlich von der Akademie der Wissenschaften den Auftrag erhalten, bei deren feierlicher Sitzung am 31. Mai 1858 den öffentlichen Vortrag zu halten und wählte dazu das Thema: „Zur Orientirung über die Medicin und deren Praxis.“ (Abgedruckt in der Zeitschrift der Gesellschaft der Aerzte zu Wien 1858.) Offen und unbefangen entwickelte er darin den Standpunkt der neueren Naturforschung und der auf diese begründeten Heilwissenschaft, schilderte deren Verfahrungsweise zur Ermittelung der Wahrheit und zur Uebertragung der gewonnenen Ergebnisse auf die Praxis und beleuchtete die Aufgaben und Schwierigkeiten der letzteren und die sittliche (ethische) Bedeutung des ärztlichen Wirkens. Aus letzterem Abschnitte gestatten wir uns eine kurze Mittheilung, die unsern Mann am besten kennzeichnen wird.

Nachdem Rokitansky erörtert, wie kein Beruf so sehr wie der ärztliche den ganzen Menschen in Anspruch nehme, – wie derselbe, weit entfernt, das Gemüth abzunutzen, vielmehr zum reinsten und aufopferndsten Wohlwollen zu führen pflege, – wie die Aerzte deshalb an allen menschenfreundlichen (philanthropischen) Bestrebungen Theil zu nehmen pflegen, – so fährt er fort: Die hervorragende Geltung der ärztlichen Leistung liege jedoch darin, daß der Arzt in seiner Berufserfüllung dasjenige einsetzt, was er dem Anderen zu retten strebt – das Leben! Gegenüber dem Werke solcher Nächstenliebe schrumpft die Belohnung, welche dem Arzte zu Theil wird, so glänzend sie auch sein mag, zu einer sehr mäßigen zusammen. Zunächst bleibt er angewiesen auf sein Gefühl der inneren Befriedigung. Ueber dieses hinaus ringt er um die Anerkennung seiner Standesgenossen, – als Einer, dem die Wissenschaft den Organismus erschlossen, – als Einer, dessen Gemüth die empfindlichsten Leiden der Menschen in sich aufgenommen, der aber inmitten ihrer erschütternden Einwirkungen besonnen und stark geblieben, – als Einer, dem es vor vielen Anderen beschieden ist, jenen Standpunkt zu erklimmen, von welchem aus sich ein tiefer Einblick in die Bedeutung des Daseins und die Zwecke der Vorsehung eröffnet und von welchem aus er mit dem Sänger ruft: „Der Busen wird ruhig, das Auge wird helle!“

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Neue Reinigungsmittel für Luft und Wasser. Vor etwa fünf Jahren lasen wir in der „Gartenlaube“ von einer neuen, sehr ausdehnungsfähigen, patentirten Nutzanwendung der Kohle für industrielle und Gesundheitszwecke und sahen auch Zeichnungen von verschiedenen Kohlenapparaten dazu. Diese Erfindung des Mechanikers Herrn Carl Bühring in London gründete sich auf eine ungeheure Porosität und chemische Kraft der Kohle. In den zahllosen Poren, Löchern, Höhlen und Winkln der Kohle, die einem quadratfußgroßen Stück in eine Ebene auseinander gelegt die Ausdehnung von vielleicht funfzig Quadratfuß geben würde, verbirgt sich eine ungeheure Menge Luft, welche durch die Kohle die Eigenschaft erhält, chemisch reinigend auf alle Flüssigkeiten zu wirken, welche durch die Kohle hindurch filtrirt werden. Die Kohle hat Aehnlichkeit mit der lebendigen Lunge im Körper. Diese besteht auch aus einem großartigen, feinen Gewebe von Poren, in welchen die Luft durch Aus- und Einathmen chemisch reinigend, Sauerstoff gebend, Nahrung, Leben, Wärme erzeugend auf das Blut wirkt.

Die ganz unübertreffliche chemische Reinigungs- und Filtrirungsfähigkeit der Kohle und deren Conservirungskraft gegen Fäulniß etc. war längst bekannt; aber es fehlte bis zu Bühring’s Erfindung an einer praktischen, wohlfeilen Zubereitung und Gestaltung der Kohle zu diesen Zwecken. Dem Erfinder ist es jetzt nach jahrelangen Kämpfen (die jede Erfindung durchzumachen hat und in denen viele erliegen) endlich gelungen, die Kohle fabrikmäßig zu Filtrirapparaten, Platten für Treibhausbekleidung und Hospitäler, zur Prüfung der Keimfähigkeit verschiedener Sämereien, als Kesselsteinsammler, für elektrische und chemische Schmelzzwecke, zu Blumentöpfen und sogar Tabaksrauchfiltern zu verarbeiten. Die Fabrik befindet sich in Hamburg, Billwärder Deich Nummer 82, von wo jetzt alle Bestellungen Einzelner oder von Wiederverkäufern für Niederlagen oder Agenturen befriedigt werden können. Aehnliche Fabriken in London, Berlin etc. sind Anwendungen der Bühring’schen Erfindung, aber ohne und gegen ihn und dabei mit so fabelhaften Preisen, daß sie entweder die praktische Fabrikation nicht verstehen oder bis 500 Procent Profit nehmen. Anders sind die Preise kaum erklärlich.

Der unberechenbare Nutzen der Bühring’schen Kohlenapparate ergiebt sich aus folgenden Thatsachen. Reine Luft und reines Wasser sind die ersten Bedingungen für alles Leben, thierisches und pflanzliches. Ohne sie kann nichts Lebendiges gedeihen. Durch die Erfindung der plastisch-porösen Kohle von Herrn Bühring, dieselbe in beliebigen Formen für alle Luft- und Wasserreinigungszwecke anwendbar zu machen, hat die Kohle erst die Wichtigkeit erlangt, zu der sie ihrer Natur nach fähig ist. Daß die Kohle die Eigenschaft besitzt, trübes und ungesundes Wasser klar und gesund zu machen, und in der Luft schädliche Ausdünstungen zerstört, auch faule, Giftluft erzeugende Gährungen verhindert, ist längst bekannt, und daher hat auch die Bühring’sche Erfindung bereits die Beachtung gebildeter Industrieller, Agriculturfreunde, Chemiker und Gesundheitsbehörden auf sich gezogen. Aber jeder Mensch braucht gesunde Luft und reines Wasser. Deshalb sollte Niemandem ein Filtrir-Apparat aus Bühring’s Fabrik fehlen, und sei’s nur ein kleiner in der Tasche.

Die gewöhnlichen Wasserfiltrir-Apparate bestehen zunächst aus einem plastisch gepreßten Balle von einer Mischung reiner Holz- und Knochenkohle, und sind nicht hohl, ohne Coaksbeimischung, ohne Metalle, Baumwolle, Haarsieb oder sonstige Hülfsmittel. Sie liefern gegen andere Filter den Vortheil einer chemischen Reinigung, namentlich dadurch, daß sie die giftigen Schwefelwasserstoffgasverbindungen verhindern, das Wasser von allen sonstigen Unreinigkeiten läutern, außerdem selbst sehr leicht zu reinigen, zu tragen und für alle mögliche Zwecke anwendbar sind. So dienen dieselben Bälle zu Hausstandsfiltern mit Glasrohr und Gummischlauch, wodurch man ohne Weiteres aus jedem beliebigen Gefäße in jedes andere fillriren kann, zu immerwährend laufenden Fontainen filtrirten Wassers für Küchen, Comptoirs, Fabriken, die direct mit der Wasserleitung in Verbindung stehen (waren in der Ausstellung zu Hamburg sehr viel im Gange) zu Tischfiltern mit Glastrichter und Flasche, Taschem- und Reisefiltern in Blechdosen, Filtern für Pumpen, Filter-Blöcken für Spiritus- und Oelklärung u. s. w.

Die Kohlen-Platten für Treibhäuser und Hospitäler u. s. w. bewirken als Wandbekleidungen in ersteren durch den fortwährenden Zerstörungs-Proceß schädlicher Luftarten in den Poren einen kräftigen Pflanzenwuchs, in letzteren, wie in jedem anderen geschlossenen Raume, eine fortwährende Luftreinigung. Als schlechte Wärmeleiter halten diese Kohlenplatten die eingezogene Sommerwärme zurück und geben sie während der Nacht langsam wieder aus, weshalb Nachtfröste nicht so leicht möglich sind. Auch befördern sie als Wände sehr bedeutend die Reife und Süßigkeit der Weintrauben. Wasser auf diese Kohlenplatten gespritzt verdunstet langsam und versorgt deshalb Pflanzen stets mit gehöriger Feuchtigkeit. In Hospitälern, Krankenzimmern sind Thüren oder Betten mit diesen Platten bekleidet wirkungsvolle Luftreiniger und deshalb besser als ganze Reihen von Medicinflaschen. Fleisch- und Eisschränke von solchen Kohlenplatten sind [751] auch ganz vortreffliche Stückchen in die Wirthschaft. In ihnen hält sich Fleisch und andere Nahrung wunderbar lange, da die Kohle jede faule Zersetzung verhindert. Als schlechte Wärmeleiter halten sie Eis länger, als jeder andere Behälter.

Der Apparat zum Sammeln des Kesselsteins, der sich sonst beim Kochen ansetzt, sorgt für reines, weiches Wasser, in welchem man weniger Thee oder Kaffee braucht (da es besser auslaugt), auch für die wohlfeilste und reinste Wäsche in Waschkesseln.

Platten, Cylinder, Schmelztiegel u. s. w. für elektrische und chemische Werke übertreffen alle andern dazu verwendeten Materialien, wie Männer der Naturwissenschaft längst wissen werden, nur daß sie jetzt die Kohlenapparate sicher, bequem und wohlfeil haben können.

Blumentöpfe aus Kohlen verhindern das Sauerwerden der Erde, in welcher Pflanzen kränkeln und absterben.

Endlich empfehlen sich die kleinen Kohlenpflöckchen für Pfeifenköpfe, da sie den Tabak zunächst bis zuletzt trocken halten (so daß man keinen „Philister“ drin zu lassen braucht) und dann besonders das Nicotingift, Ammoniak und andere schädliche Bestandtheile des Tabaks verzehren. Cigarrenspitzen und ganze Pfeifenköpfe aus dieser Kohle thun dieselben Dienste.

Die Fabrik übernimmt auch Wasserreinigung in großen Mengen für Brennereien, Sodawasserfabriken u. s. w.

Was die Wasserfiltrirblöcke für den gewöhnlichen Gebrauch betrifft, so ist deren Anwendung äußerst einfach. Man wirft z. B. einen solchen Block, an welchem sich ein Gummischlauch befindet, in irgend ein Gefäß mit Wasser, saugt am Ende der Röhre den Fuß an, wie beim Heber, und läßt ihn in ein niedriger stehendes Gefäß hineinhängen. Dann tröpfelt das filtrirte Wasser von selbst hinein, bis es ganz im ersteren verschwindet. Auch kann der Filtrirball leicht gereinigt werden. Man bläst kräftig hindurch, spült und bürstet ihn in reinem Wasser, läßt ihn trocknen und hat ihn dann wieder wie vollständig neu und in ganzer Reinigungskraft.

Man steht daraus gewiß, wie wichtig und wohlthätig diese Apparate von plastisch-poröser Kohle für alles Leben sind und werden.

B-a.



Ein Dichter im Gamaschendienst. In der Caserne ai servi zu Bologna sitzt, umlärmt von achtzig Wachtsoldaten, ein junger Mann in der kaiserlichen Infanteriemontur eines Corporals, zurückgezogen in eine Fensternische, vor einem Bret, das ihm als Tisch dient, und liest und schreibt. Die laute Ausgelassenheit seiner Umgebung stört ihn nicht. Er lebt ganz und gar in seinem Buche, im Byron. Der „Manfred“ liegt vor ihm aufgeschlagen, und die Stelle, die er mit rascher schlagenden Pulsen jetzt in deutsche Form bringt, muß wie ein Stück aus seiner eigenen Seele sein, so strahlt sein dunkles Auge auf sie nieder.

Hingerissen von Byron’s ergreifenden Gedanken, vergißt sich der so Stillglückliche: er liest sich die Stelle laut vor. Die nächsten Lärmer horchen, das Lauschen verbreitet sich von Mann zu Mann weiter über die große Casernenstube. Da schweigt plötzlich der Lesende, er ist am Ende – und hat die Stille um ihn so wenig wahrgenommen, als vorher das Toben. Aber jetzt umfluthen ihn desto peinigender die rohen Witze der nur in kindischem Necken dahinlebenden Cameraden. Wenn das Herz an solche Fußtritte der bemitleidenswerthen Einfalt sich gewöhnen könnte, so hätte das dieses jungen Mannes längst zu völliger Unempfindlichkeit verhärtet sein müssen, so oft ward es getreten. Ein herber Zug geht wie ein Schlagschatten über sein männlich edles Antlitz, die Brauen und die Lippen ziehen sich zusammen – die Blicke klammern sich an die Verszeilen des englischen Dichters an, und wie die Feder weiter schreibt, was der sinnende Geist ihr dictirt, klärt sich das Auge, schwellt der Mund wie zu freundlichem Wort, und wieder lebt ganz und gar im hohen Himmel unsterblicher Geister der arme Corporal vor seinem Bret in der Fensternische der Caserne ai servi zu Bologna.

Hat es Niemand gesehen, außer den Wachtsoldaten, wie hier ein Genius im Staube nach Erhebung rang? – Ja, es ist nicht unbemerkt geblieben. Denn der Mann im Dienst schwang sich zum dramatischen Dichter auf; ein großes vaterländisches Trauerspiel „Friedrich der Schöne“ beschritt sogar die Bühne und riß zum rauschendsten Beifall hin. Der Beifall verrauschte, und der Dichter putzte nach wie vor sein Gewehr und klopfte seine Montur aus, wichste seine Schuhe und stülpte denselben Tschako auf sein gedankenreiches Haupt, der Hunderttausende gewöhnlicher Köpfe drückt. Weil aber der Ertrag jenes Trauerspiels vom Dichter zu einem Beneficium des Invalidenfonds bestimmt worden war, so erhob der Wiener Hofkriegsrath denselben zum Cadeten. Dadurch wurden freilich für den Leib die Waffen ein wenig leichter, aber die Montur drückte den Geist so schwer wie zuvor.

Ein namhafter Schriftsteller trat ihm nahe und erschrak schier vor dem Anblick eines solchen Talents in solcher äußerlichen Niedrigkeit. Er sah den nagenden Kummer des rastlos strebenden Mannes, verlassen und vergessen, verkannt und verspottet zu sein mit allem Bewußtsein des Wertes einer göttlichen Begabung – aber ihm helfen, ihn aus der Montur erretten, das konnte auch er nicht. Trotz alles redlichen Schaffens dem Volk und Vaterland, das man im Herzen trägt, unbekannt bleiben, verbittert das Herz und richtet den Strahl des Zornes gegen die nächste Umgebung. Wir lernen den Dichter kennen, wenn wir uns von ihm selbst „Aufschluß“ über sein verschlossenes Wesen geben lassen.

„Ihr nennt mich kalt. Ich bin es, ja, und kalt
Wie Gletschereis, an dem umsonst der Strahl
Der Sonne übt die schmelzende Gewalt,
Die Laub und Blüthen sich erschafft im Thal.

Und ungesellig – ja, ich bin es gleich
Dem Aar, der, horstend in dem Steingeklüft,
Nicht wohnen mag im niedrigen Gesträuch
Und finster, einsam nur die Luft durchschifft.

Und bin ich so, so bin ich es mit Recht,
Denn ihr seid wie die Wüste, aber kühl;
Mißkennend, was in mir ist wahr und echt,
Habt ihr gehöhnt, mißhandelt mein Gefühl.

Ihr habt die Blüthe meiner Brust zerstört
Und Dornen mir in’s öde Herz gesät,
Zu arger Wallung mir das Blut empört
Und Wolken mir in’s Angesicht geweht.

Drum laßt mich kalt und ungesellig sein!
Was fromm’s, mit euch zu leben im Verkehr?
Ich habe nichts mit eurer Art gemein,
Ich bin für euch, ihr seid für mich zu leer!“

Und man las das Gedicht und lächelte, denn es ist ja doch ganz außerordentlich lächerlich, „als Corporal – ein Dichter“ sein zu wollen.

Wer ist aber der vom Schicksal so grausam Behandelte? – Er ist nicht mehr, es war der Joseph Emanuel Hilscher, den in Deutschland Niemand kennt und der es durch sein Leiden und Streben wohl verdient hat, daß die Nation ihm als einem Opfer des an ihrem eigenen Marke immer verderblicher zehrenden stehenden Heerwesens eine Gedächtnißtafel und daß die Literaturgeschichte seinen poetischen Schöpfungen ein paar Zeilen widmet.

Hilscher war ein Soldatenkind. Er wurde in der Caserne geboren. Sein Vater war Profoß des Infanterie-Regiments Nr. 17, das damals (1806, 22. Januar) zu Leitmeritz in Garnison lag. Im sechsten Jahre kam der Knabe in das Erziehungshaus des Regiments nach Kosmonos und im Jahre 1818 mit dem Regimente nach Laibach.

Hier begann sein inneres Leben, und zwar ward er geistig aufgerichtet von einem ähnlich unglücklichen, dessen Vergangenheit noch heute ein Geheimniß ist. Kurze Zeit nach der Ermordung Kotzebue’s durch Sand kam von Triest her ein Mann nach Laibach, der in äußerster Noth sich als Gemeiner anwerben ließ. Er nannte sich Friedrich Dahl, mit welchem Recht, darnach wurde nicht gefragt, er stand auch Niemandem darüber Rede. Doch glaubte man damals, daß er mit jenem Morde in Verbindung gestanden habe. Bald verrieth der Fremde ungewöhnliche Bildung, gute Sprachkenntnisse, bald zeigte er, daß er in der Mathematik, in Literatur und Geschichte tüchtig zu Hause sei. Man ernannte ihn deshalb, mit Corporalsrang, zum Lehrer im Erziehungshause des Regiments, und so ward er auch Hilscher’s Lehrer. Er zog diesen in Kurzem mit besonderer Vorliebe an sich, ihm verdankte Hilscher alles Wissen, das ihm sein Loos so sehr milderte, ja schmückte, namentlich die Fertigkeit im Deutschen und die Kenntniß des Englischen und Italienischen.

Im Jahre 1822 wurde Hilscher ausgemustert und trat als Gemeiner in das Regiment, dessen Schulzögling er bisher gewesen war. Der arme Junge hielt das für einen großen Schritt in die Freiheit und that ihn mit Entzücken. Seine freie Casernenzeit gehörte nun ganz Dahl, seinen Studien und poetischen Versuchen. Er schwelgte in den Werken der größten Dichter und in jugendkeckem Uebermuth, der ihn sogar hie und da mit Dahl auf Augenblicke entzweite. Allein lange konnte einem so begabten und strebenden jungen Manne der Contrast zwischen seinem äußeren und seinem inneren Menschen nicht verborgen bleiben; er brach um so mächtiger hervor, als eine in den Fesseln seines Standes für ihn aussichtslose Liebe den Dichter in ihm erhob und den Soldaten um so tiefer zu Boden drückte. Von da an suchte er in Byron seinen Trost. Seine Uebersetzung der „Hebräischen Gesänge“ ließ er auf seine Kosten drucken (Laibach 1833). Auch der oben erwähnte dramatische Erfolg fällt in diese Laibacher Zeit. Er war sicherlich geeignet, ihn mit neuem Lebensmuth zu erfüllen. Da schlug ein furchtbares Ereigniß ihn ganz darnieder: sein Lehrer, Führer und Freund Dahl erschoß sich, weil er eines Subordinationsvergehens wegen zum Gemeinen degradirt worden war. „Laibach,“ so schreibt man uns aus Leitmeritz, „war ihm nun ein offenes Grab, in welchem er seine nächsten und einzigen Verwandten, seine geheime Liebe, seinen Freund, seine Jugend und seine Hoffnungen eingesargt erblickte.“

Nicht lange nach diesem Vorfall wurde sein Regiment in die Lombardei versetzt und ein ihm wohlwollender Officier, der auch als Schriftsteller bekannte damalige Hauptmann (jetzt Feldmarschall-Lieutenant) Marsano bewirke, daß Hilscher als Fourier zum Generalquartiermeisterstabe kam.

In Mailand war es, wo L. A. Frankl ihn aufsuchte; es war dies das letzte Glück des armen Dichters, denn ihm allein verdankt er’s, daß er nicht ganz vergessen ist. Frankl schreibt von ihm u. A.: „Ich lernte einen Menschen kennen, der, wäre bei seiner Geburt die Constellation günstig gewesen, mit seinem Talente weithin geglänzt hätte; allein das Soldatenkind steckte unter dem Militär, Niemand suchte in der Caserne einen Dichter. Er verkümmerte. Nicht das Exerciren, nicht das Flintenputzen, nicht das Commißbrod war seinem Aufstreben ein unbesiegbares Hinderniß, der Verrath von Freunden, eine Täuschung des Herzens lähmte ihn nur auf kurze Momente; aber die zwiespaltige Stellung zur Gesellschaft, zu seiner Umgebung entnervte ihm Kopf und Herz, machte seine Phantasie und sein Gefühl verbleichen. „Der Corporal – ein Dichter.“ Man spottete, man lächelte, dann flüsterte man: „Nicht übel,“ „Recht hübsch,“ endlich klopfte man den Soldaten auf die Schulter, hieß ihn Freund, aber natürlich unter vier Augen, während man ihn öffentlich nach seinem untergeordneten Rang behandelte; man protegirte ihn, aber mit jener Vornehmheit, mit jener Anmaßung, die das Herz vergiftet und den Geist demüthigt, und selbst dieser kleine, schmerzlich erkaufte Vorzug ward ihm von Neidern verbittert, indem sie ihn bei jeder Gelegenheit seine Stellung als Soldat fühlen ließen.“ – – Am bittersten empfand er den Mangel an Verbindung mit der Oeffentlichkeit. Frankl bot ihm seine Vermittelung an und veranlaßte den Abdruck seiner Uebertragung der Gräber von Ugo Foscolo in der Rivista Viennese 1838.

Um sein Dichterschicksal ganz zu erfüllen, kam auch dieser Trost zu spät: Emanuel Hilscher starb am 2. Novbr. 1837 in Mailand und bezog [752] nun seine letzte Caserne, den Militärgottesacker San Giovannino vor der Porta Vercellina. Frankl gab 1840 Hilscher’s Nachlaß heraus, der von den damals die Kritik beherrschenden „Hallischen Jahrbüchern“ mit großer Anerkennung behandelt ward. Eine zweite vermehrte Auflage dieser Ausgabe hat die Mittel zu einem Denkmal für den armen unglücklichen Dichter aufgebracht, das in seiner Vaterstadt am 29. Juni 1863 enthüllt worden ist.

Leider hat man nicht zu verschweigen vermocht, daß erst eine czechische Ovation für den Dichter Macha, der in Leitmeritz gelebt und gestorben, die guten deutschen Leitmeritzer daran erinnert hat, daß ihr Hilscher auch ein Dichter gewesen. So sind sie denn in dieser Beziehung ganz wie ihre Landsleute da haußen im Reich, und ich darf ihnen das zurufen, was auch diese sich schon so oft verdient haben.

Des Dichters Erdenloos war bitt’re Noth,
Sein stummer Schmerz ermahnte euch vergebens.
So lang’ er lebte, war er für euch todt;
Jetzt ist er todt: nun freut euch seines Lebens!

Friedr. Hofmann.

Kurze Procedur. Alle Zeitschriften sind voll von Berichten über die Grausamkeiten, welche sich in dem gegenwärtigen furchtbaren Kampfe Russen und Polen einander zufügen. Es wird daher den Lesern der „Gartenlaube“ nicht uninteressant sein, wenn ihnen in ein paar Scenen, die, zwar an sich ohne historische Bedeutung, doch als Sittenbild der Zeit immerhin Beachtung verdienen, vor Augen geführt wird, wie vor hundert Jahren schon das russische Militär gegen die Polen zu Werke ging.

Der Zelotismus der Bischöfe von Krakau und Wilna trieb die Dissidenten (Griechen, wie Protestanten), deren Religionsfreiheit schon seit längerer Zeit auf das Aeußerste verkümmert worden war, massenhaft aus dem Lande. Rußland benützte den Vorwand, sich der Vertriebenen annehmen zu wollen, um sich in die polnischen Angelegenheiten thätig einzumischen. Dagegen widersetzte sich ein Theil des polnischen Adels und schloß, von Frankreich aufgehetzt und angestachelt, zu Bar, einem Städtchen der Ukraine, im Februar 1768 die bekannte Barer Conföderation, welche den ganz von russischem Einflusse beherrschten schwachen König Stanislaus August aus dem Hause Poniatowsky für abgesetzt erklärte und den Anstoß zu einem vierjährigen Kampfe mit Rußland gab.

In Posen stand als russischer Commandant der Oberst von Rönne. Die benachbarte Neumark war mit Pommern, die beide durch die vor wenigen Jahren erst beendeten Kriege mit Rußland und Schweden zum Theile verheert lagen, der Verwaltung Schönberg von Brenkenhof’s unterstellt, eines von Friedrich dem Großen aus Anhaltischen Diensten berufenen kenntnißreichen, energischen und zugleich menschenfreundlichen Mannes, welchem Preußen sehr viel verdankt. Eines Tages hielten die beiden Herren in dem unweit der Posenschen Grenze gelegenen kleinen Orte Zirke eine Zusammenkunft, um verschiedene Grenzstreitigkeiten und Competenzconflicte zum Austrage zu bringen.

Als Brenkhof mit Rönne beim Frühstücke saß, bat dieser den Gast um die Erlaubniß, eine kleine Execution vornehmen lassen zu dürfen. Brenkenhof, der keine Ahnung hatte, um was es sich dabei handelte, nickte zustimmend. Bald darauf wurde ein Marschall der gedachten Conföderation, welchen eine Truppenabtheilung des Obersten Tags zuvor gefangen genommen hatte, in das Zimmer geführt und genöthigt, sich auf einem ausgebreiteten Teppich hinzulegen. Vier Kosaken erhielten dann den Befehl, ihn mit dem Kantschu zu züchtigen. Brenkenhof, der sah, daß es dem Russen voller Ernst war mit der angekündigten „Execution“, machte ihm Vorstellungen über die wunderbare Art, wie er einen gefangenen General behandeln wollte.

Nach vielem Hin- und Widerreden ließ sich denn der Oberst besänftigen und bot seinem Gaste den Marschall zum Geschenk an, und zur großen Freude des Polen acceptirte Brenkenhof die seltsame Gabe.

Bald nachher trat der Letztere zufällig an ein Fenster des Gemachs, aus dem man in den Hof hinabblicken konnte. Dort hatten eben russische Fußcarabiniers einen Kreis geschlossen. Sämmtliche hielten den Hahn ihrer Gewehre gespannt. Ein paar Minuten später ritt ein Kosakenpiguet in den Hof, das vierzig Gefangene escortirte, die alsbald in den Kreis geführt wurden. Die Kosaken saßen ab, drei von ihnen setzten ihre Lanzen auf die Brust eines dieser Kriegsgefangenen und spießten ihn auf. Einem Zweiten und einem Dritten erging es nicht besser.

Das war Brenkenhof zu stark. Er schrie laut auf, öffnete das Fenster und gebot den Kosaken im Namen des Obersten einzuhalten in ihrer Henkerarbeit. Dann wandte er sich an seinen Wirth und forderte Auskunft, was dieser schauerliche Vorgang zu bedeuten habe. „Ich entledige mich meiner Gefangenen,“ war die Antwort.

„Aber ich bitte Sie,“ entgegnete Brenkenhof, „was ist dies für eine barbarische Methode, Krieg zu führen?“

„Was soll ich mit den Leuten anfangen?“ antwortete Rönne. „Ich habe keine Festungen, in denen ich sie interniren, und keinen Fond, aus dem ich ihren Unterhalt bestreiten kann. Ja, wenn sie Wort hielten; aber ich entlasse sie auf ihr Ehrenwort, nicht von Neuem gegen uns zu dienen, und bin gewiß, daß ich mich morgen oder übermorgen wieder mit ihnen herumschlagen muß. Also Sie sehen, es geht nicht anders!“

Da Brenkenhof wahrnahm, daß es dem Obersten blos darum zu thun war, seine Gefangenen loszuwerden, so bat er Rönne, sie ihm zu beliebiger Verwendung zuzuweisen, mit dem Versprechen, daß er sie an westphälische Regimenter absenden und damit den Russen unschädlich machen wollte.

Der Oberst ging den Handel ein und ließ die ihres nahen Todes schon Gewissen aus dem Kreise führen. Einige Tage später war Brenkenhof abermals bei Rönne zu Gaste und nahm diesem das Gelöbniß ab, bei seinem ganzen Corps zu befehlen, daß keine gefangenen Conföderirten mehr getödtet, sondern wiederum ihm überlassen würden. In Folge dieser Vereinbarung erhielt Brenkenhof noch 815 gefangene Polen, die er nach Küstrin bringen und daselbst vorläufig auf seine eigenen Kosten verflegen ließ.


Für Musen und Maulesel. Dem Fremden, der in Berlin zum ersten Male unter den Linden herumwandelt, muß gewiß das große Gebäude auffallen, vor dem jeder richtige Berliner, auch wenn er noch so eilige Geschäfte hat, stehen bleibt, indem er seine Augen in die Höhe richtet, seine Uhr aus der Tasche zieht, um dieselbe nach dem im Mittelfenster angebrachten Chronometer zu richten. Dieses Gebäude ist die bekannte, von dem ersten Könige Preußens auf Vorstellung des berühmten Philosophen Leibnitz gegründete Akademie der Wissenschaften. In diesen Räumen versammeln sich von Zeit zu Zeit die wirklichen und geheimen Unsterblichen, deren Zahl der Tod in den letzten Jahren bedeutend gelichtet hat. Einst saßen in der ehrwürdigen Versammlung Alexander von Humboldt, der originelle Mineraloge Leopold von Buch, der berühmte Geograph Ritter, die großen Sprachforscher Jakob und Wilhelm Grimm, deren Ruf die ganze Welt erfüllte. Sie sind nicht mehr, und mit ihnen hat die Akademie ihre höchsten Zierden verloren. Nur an den Geburtstagen Friedrich des Großen und ihres Stifters Leibnitz tritt die Akademie unmittelbar mit der Oeffentlichkeit in Berührung, indem diese bedeutungsvollen Tage durch öffentliche Vorträge gefeiert werden. Die Wahl der Stoffe entspricht jedoch in den meisten Fällen wenig oder gar nicht den Anforderungen der Zeit, und Reden über die Indefinitesimal-Rechnungen und über die Etappenstraßen der Römer sind gewiß nicht geeignet, die lebendige Wechselwirkung zwischen der Wissenschaft und dem Leben zu unterhalten. Kein Wunder daher, wenn das Publicum keinen besonderen Antheil an der Akademie und ihren Arbeiten nimmt, so segensreich dieselben auch für die strenge Wissenschaft sein mögen. Auch die Kunst hat hier ihren Sitz aufgeschlagen; unsere zukünftigen Raphaels und Michel Angelo’s üben sich in den Sälen im Zeichnen von schiefen Nasen und schielenden Augen, verrenkten Armen und bedauernswerthen Klumpfüßen, bis der Tag, kommt, wo der Genius der Kunst, in der Person des Directors oder Vicedirectors der Akademie, ihnen den ersten Preis ertheilt und somit die Pforten der Unsterblichkeit auch ihnen erschließt. Alle drei Jahre findet in den Sälen eine große Kunstausstellung statt; auch ist die bekannte „Wagner’sche Gemäldesammlung“ hier vorläufig aufgestellt.

Merkwürdiger Weise dient die Akademie der Künste und Wissenschaften noch zu verschiedenen anderen Zwecken, die keineswegs sich mit ihrer sonstigen hohen Bestimmung vereinen lassen. Ein Theil des weitläufigen Gebäudes wird nämlich zu Stallungen für die Pferde des hier garnisonirenden Garde du Corps-Regiments benutzt, während ein anderer Flügel den königlichen Marstall mit seinen herrlichen Trakehner Rossen und prachtvollen Gallawagen beherbergt. Unter diesen Verhältnissen dürfte die lateinische Inschrift, welche ein witziger Kopf für die Akademie vorschlug, vielleicht nicht ganz ungerechtfertigt sein. Dieselbe lautet nämlich: Musis et mulis, das heißt: „für Musen und Maulesel.“

In früherer Zeit befand sich in demselben Gebäude noch die Sternwarte, ein hölzerner Telegraph mit langen Armen und die Anatomie, welche damals hauptsächlich die Leichen der Selbstmörder empfing. So vereinigte das als Akademie bezeichnete Grundstück die verschiedensten und widersprechendsten Elemente, und während in den vorderen Sälen die Wissenschaft ihre erhabene Stimme ertönen, die Kunst ihre Schönheit leuchten läßt, hört man in den hinteren Partien das Wiehern der Pferde, das laute Gelächter der heiter gestimmten Wachtstube und die Stallwitze der königlichen Kutscher. In dieser wunderlichen kleinen Welt wurde auch ein berühmter deutscher Schriftsteller, Karl Gutzkow, geboren, dessen Vater einen Posten im königlichen Marstall bekleidete. Er selbst hat in höchst anziehender Weise die in diesen merkwürdigen Räumen empfangenen Jugendeindrücke in seinem Buche „aus der Knabenzeit“ geschildert und besonders das Grauen, welches ihm die Anatomie mit ihren Leichen einflößete, drastisch beschrieben. Immerhin ist es für Berlin charakteristisch, daß unter demselben Dach Kunst, Wissenschaft, Militär und Marstall friedlich bei einander wohnen.


  1. WS: Im Original Bequemlichlichkeiten
  2. Sie führen den Titel: „Aerztlicher Bericht aus dem k. k. allgemeinen Krankenhause zu Wien“ und werden im Auftrage des österreichischen Ministeriums des Innern veröffentlicht durch die Direction des allgemeinen Krankenhauses.
  3. Ueber alle Kranke des Wiener allgemeinen Krankenhauses werden Tagebücher geführt, und jeder Chefarzt der zahlreichen klinischen Abtheilungen hat das Recht, eine Section jedes der ihm verschiedenen Kranken zu verlangen, welcher er dann nebst seinen Unterärzten beiwohnt. So bleibt das pathologisch-anatomische Institut immer in Verbindung mit den lebendigen Vorgängen des Krankenbettes.