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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[561]
Die Echte.
Eine Geschichte aus dem alten Lande.
Von Ernst Willkomm.
1.

Am linken Ufer der Niederelbe, zwischen den schiffbaren Küstenflüssen Este und Schwinge, liegt ein ungewöhnlich fruchtbares Stück Erde, das „alte Land“. Wohlerhaltene, festgebaute Deiche schützen es gegen die häufig wiederkehrenden Sturmfluten der Nordsee, wie gegen Ueberschwemmungen der kleineren, das Land in zahllosen Krümmungen durchschneidenden Flüsse, an denen entlang die Bewohner der großen, volkreichen Dörfer sich angesiedelt haben, die sich in Sprache, Sitte, Gewohnheit, Hauseinrichtung und Beschäftigung von ihren nächsten Nachbarn vielfach unterscheiden.

Schon der Name dieses merkwürdigen, von der Natur reich gesegneten Landstriches zeugt für sein hohes Alter. Aus noch vorhandenen Ueberbleibseln alter Urkunden und aus Bruchstücken längst vergessener Chroniken läßt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nachweisen, daß diese fruchtbare Marschgegend des linken Elbbufers schon vor Christi Geburt eingedeicht und bebaut war, während ringsum alles übrige Land noch wüst lag und ein undurchdringliches Chaos von Sumpf, Schilf und Moor bildete.

Stolz auf das hohe Alter ihrer Heimath nennen sich noch heutigen Tages dessen Bewohner „Altenländer“ oder in der überall an der Niederelbe gebräuchlichen plattdeutschen Mundart „Ohllander“, während sie die ihnen zugehörende Erde „dat ohle Land“ heißen.

In den angrenzenden Districten, sowie in ganz Nordwestdeutschland ist der Name „Obst- oder Kirschenland“ für dasselbe noch mehr im Gebrauch, und damit wird zugleich die Erwerbsthätigkeit der Ohllander prägnant bezeichnet. Die langen Dörfer des „alten Landes“ liegen nämlich in einem dichten, unübersehbaren Walde von Obstbäumen, unter denen wieder der Kirschbaum die Hauptrolle spielt. Mit Ausnahme eines nur kleinen Bruchtheiles seiner Bevölkerung lebt jedermann vom Obstbau, indem er nicht nur die größte Sorgfalt auf Pflege und Zucht seiner Pflanzungen verwendet, sondern auch deren reichen Ertrag nah’ und fern, auf dem Festlande wie zur See in eigener Person verhandelt.

Etwa in der Mitte dieses interessanten Ländchens, nahe den Ufern der Lühe, wohnte vor längerer Zeit der Baumhofsbesitzer Osten, ein anerkannt reicher Mann, der nicht allein Eigenthümer eines der größten und ältesten Baumhöfe war, wie man die umfangreichen Obstgärten nennt, sondern auch noch drei schön getheerte, schnell segelnde Ewer besaß, die auf der Lühe an der Grenze seines Hofes vor Anker lagen. In diesen Fahrzeugen pflegte er alljährlich die von ihm erzeugten Früchte, die er nach Hunderten von Centnern zählte, mit Verwandten und Angehörigen zu verschiffen.

Osten selbst segelte gewöhnlich nach Hamburg, wo er alte Verbindungen besaß und stets gute Geschäfte machte. Ein jüngerer Bruder aber, der in früheren Jahren Seemann gewesen war und als solcher mehrere Male beide Indien besucht hatte, unternahm in Begleitung zuverlässiger, mit dem Seewesen ebenfalls vertrauter Landsleute weitere Seereisen nach Holland, England, Dänemark und Rußland. Am liebsten besuchte er, wenn die Obsternte recht gut ausfiel, St. Petersburg, weil er in der großen Residenz des russischen Kaiserreichs stets die einträglichsten Geschäfte machte.

Die Gebrüder Osten, von denen der ältere, Heinz, verheirathet, der frühere Seemann, Jobst, aber noch Hagestolz war und es auch zu bleiben gedachte, lebten in glücklicher Eintracht und bewohnten ein und dasselbe Haus mit einander. Dieses Haus lag hinter dem Deich in fruchtbarster Marsch und bot, von dem Verbindungswege aus gesehen, der auf der Deichhöhe fortlief, zwischen dem Segen der vielen Obstbäume in dem musivischen Ziegelschmuck seiner Wände, die bald verschobene Vierecke, bald andere Figuren, wie der Ohllander sie nun einmal von Alters her liebt und noch jetzt beibehält, einen gar stattlichen Anblick dar, besonders seit er beide Giebelenden mit glänzend gefirnißten neuen Schwanenhälsen hatte versehen lassen, wie sie jedes Haus im alten Lande statt der gekreuzten Pferdeköpfe trägt, die man erst auf der Geest wieder findet.

Heinz Osten hatte sich ungewöhnlich spät verheirathet, d. h. erst in seinem dreißigsten Jahre. Seine Ehe war aber eine glückliche und galt im ganzen Orte für eine musterhafte. Ihr waren innerhalb zehn Jahren zwei Söhne und eine Tochter entsprungen, von denen die Tochter, Dortchen, an ihrem sechszehnten Geburtstage für eins der schönsten Mädchen im ganzen alten Lande gelten konnte.

Man wollte indeß wissen, daß Heinz Osten nicht immer ein so musterhaftes Leben geführt habe, als nach seiner Verheirathung mit der wohlhabenden, jungen und unbescholtenen Tochter eines Seefahrers, der gleich ihm Besitzer eines großen Baumhofes war und sich, als er des Umherschweifens auf dem Meere müde geworden, auf seinem schönen Erbe zur Ruhe gesetzt hatte. Das Sprüchwort „Jugend hat nicht Tugend“ mochte wohl mit einigem Recht auf den älteren Osten angewendet werden können. Heinz persönlich kümmerte sich aber wenig um das Gerede der Leute. Er war nicht allein ein reicher, er war auch, gewisse Kleinigkeiten, [562] die im Herkommen wurzelten, abgerechnet, ein vorurtheilsfreier Mann. Außerdem that er redlich seine Pflicht, ließ sich als Mensch und Staatsbürger nichts zu Schulden kommen, und brauchte daher Niemand zu fürchten.

Um Pfingsten, nach Dortchens Confirmation, als eben die Obstbäume des ganzen alten Landes in voller Blüthe standen und süßes Aroma durch die Baumhöfe fluthete, schritt eines Abends eine ärmlich gekleidete Frau den Deichweg entlang. Um den Kopf trug sie ein buntes Tuch gewunden, das beide Augen beinahe bedeckte. Ein junger, strammer Bursche von etwa achtzehn Jahren führte die Frau und zählte die quer über den Deich laufenden Gitterthüren, die oft den Weg sperrten, sich aber leicht öffnen ließen und auch von Jedermann ohne Umstände geöffnet wurden. Jede solche Gitterthür bezeichnet nämlich die Grenze oder den Anfang eines neuen Besitzthumes, denn alle in der Marsch belegenen Häuser mit ihren Baumhöfen erstrecken sich über den Deich hinaus an den Fluß, wo die Fahrzeuge der verschiedenen Eigenthümer, von Obstbaumästen überschattet, vor Anker liegen.

Schon aus dem unsichern Gange der Frau ließ sich errathen, daß sie blind sein müsse.

„Dreißig!“ sprach jetzt der junge Mensch und streckte die Hand nach der nächsten Thür aus, um diese zu öffnen.

Die Frau blieb stehen und wandte sich der Flußseite zu. Das Abendroth umhüllte die Tausende blühender Bäume mit Purpur und hauchte auch auf die erschlafften und gealterten Züge der Blinden die Rosen der Jugend.

„Hast Du auch recht gezählt, Heiny?“ fragte sie dann und seufzte leise auf.

„Ganz genau, Mutter!“

„Wie sieht das Gitter aus?“

„Sehr sauber … auf dem Thorwege verziert es eine vergoldete Kugel.“

„Und das Haus in der Tiefe?“

Heiny beschrieb es so genau, daß die Blinde von einem leichten Zittern befallen ward.

„Es ist das gesuchte,“ sprach sie, ihren Mund dicht an das Ohr des Sohnes haltend. „Führe mich nun die Stiege hinunter zum Fluß. Dort muß es schattig sein, und Niemand sieht uns. Schiffe kommen jetzt nicht von der Elbe herauf, denn wir haben Tiefebbe, und die Besitzer der Baumhöfe gehen um diese Zeit mit ihren Leuten zu Tisch. Das ist die beste Zeit, Dich zu unterweisen. Merk’ aber genau auf meine Worte, denn unser Glück hängt davon ab!“

Der Sohn that, wie die Mutter ihm sagte. Unbemerkt gelangten Beide durch ein Labyrinth auch noch an der Deichböschung wachsender und jetzt mit Millionen Blüthen übersäeter Obstbäume bis zum kleinen Hafen des Flusses, auf dessen seichtem Wasser ein Ewer, halb in Schlamm gebettet, lag. An dem breiten, mit farbigen Schnörkeln ausgeputzten Spiegel des Fahrzeuges stand in großen goldenen Buchstaben das Wort „Fiducia“ geschrieben. Es war ein dem Baumhofsbesitzer Osten zugehörendes Schiff.

Unter einem gespaltenen, breitästigen alten Apfelbaume, der an verschiedenen Stellen mit grobem Segeltuch umwunden war, damit er noch einige Jahre Früchte tragen möge, setzte die blinde Frau sich an die Erde. Heiny lehnte neben ihr an dem kranken Stamme. Die Blinde sprach lange und mit tiefer Bewegung, doch so leise, daß der Sohn sich anstrengen mußte, damit ihm keins ihrer Worte verloren gehe. Ein paar Mal stockte die Frau, und Thränen entrannen den lichtlosen Augen. Heiny’s gebräuntes Gesicht aber röthete sich vor Zorn oder Grimm, und seine lebhaften braunen Augen schossen nach der Höhe des Deiches trotzige Blicke.

„Hast Du mich auch vollkommen verstanden?“ fragte die Blinde am Schlusse ihrer Auseinandersetzung.

„Du darfst Dich ganz auf mich verlassen,“ erwiderte der Sohn entschlossen. „Was willst Du, daß ich thun soll?“

„Das Elend Deiner Mutter rächen!“

Heiny reichte der Blinden seine Hand.

„So sage Mutter, was ich beginnen soll.“

Die Mutter zog den Sohn näher an sich und raunte ihm ganz leise Worte in’s Ohr.

„Erst, wenn es finster ist und Alles schläft!“ fügte sie etwas lauter ihrer Weisung hinzu. „Ich warte auf Deine Zurückkunft am dritten Gitterthore von hier flußabwärts. Dort auf der Flußseite steht eine uralte Linde. Sie ist hohl und dient mir als Schlupfwinkel. Wenn ich mich in der Höhlung niederkauere, bemerkt mich Niemand. Führe mich dahin, sobald die Häuser und Gärten in der Dunkelheit nicht mehr zu erkennen sind. Also nochmals: gieb Acht! Auf der Hausdiele links ist ein Fenster. Dies riegelst Du vorsichtig auf, langst hinein und nimmst den Schlüssel. Der Deckel der großen Truhe im Hinterzimmer, das gerade vor Dir liegt, läßt sich leicht heben. Das Kästchen steht auf der rechten Seite vorn in der Ecke. Nimm es vorsichtig auf, damit Du kein Geräusch machst! Ueberbringst Du mir dasselbe wohlbehalten und mit seinem ganzen Inhalte, so sind wir geborgen, und den schlechten Mann ereilt, ehe er es ahnt, die gerechte Strafe für seine Sünden und Verbrechen!“

Eine Stunde später hörte man in der Ferne eine Uhr schlagen. Heiny zählte neun Glockenschläge.

„Ich glaube, es ist jetzt so dunkel, daß wir nicht mehr gesehen werden können, Mutter, wenn wir behutsam hinter den Bäumen nach dem Ort Deines Verstecks fortschlüpfen,“ sprach er. „Bist Du bereit?“

„Führe mich.“

Der Sohn ergriff die Hand der Blinden und geleitete sie zu dem hohlen Lindenstamme.

„Laß die Gitterthüren auf dem Deiche nicht laut zufallen!“ rief sie dem Fortgehenden mit halber Stimme nach. „Man könnte leicht aufmerksam werden und Verdacht schöpfen. Ich vertraue Dir ganz, Heiny, Du bist ja ein kluger gewitzigter Bursche.“

Der Sohn entfernte sich ohne Antwort, überschritt den Deich, öffnete und schloß lautlos jede Pforte, die er passiren mußte, und stieg dann in die Marsch hinab, wo er auf schmalem Stege dem größten der sauber gehaltenen Häuser sich näherte, die hier neben einander, nur durch Hecken und Bäume geschieden, im Frieden der warmen Frühlingsnacht ein schönes Bild ländlichen Glückes und Wohlstandes darstellten.

Nach einer kleinen Weile schon tauchte die geschmeidige Gestalt des flinken Burschen wieder am Fuße des Deiches auf, dessen Böschung er jetzt in hastiger Eile erstieg. Auf dem Rückwege zum Versteck der Mutter vergaß er in der Aufregung deren Warnung, und ziemlich geräuschvoll schlug eine der Gitterthüren hinter ihm zu. Unten in der Marsch bellte verdrießlich ein Hund, schwieg aber sogleich wieder still.

Die Blinde lag mit dem Kopf auf die Erde gebeugt, als Heiny zu ihr trat.

„Gefunden!“ raunte er ihr triumphirend zu und schüttelte das Kästchen vor ihrem Ohr.

„Gut, sehr gut!“ sagte die Mutter, und ein boshaftes Lächeln glitt über ihre fahlen, unschönen Züge. „Nun ist er nur noch ein halber Mensch; denn wo Jemand seinen Schatz hat, da hat er auch sein Herz! Komm, Heiny! Bald wird die Fluth eintreten. Der Schiffer wartet nicht auf uns, wenn wir nicht pünktlich sind, und morgen früh bei Sonnenaufgang müssen wir in Hamburg sein.“

Das Kästchen in ihrer dürftigen Kleidung verbergend, schritt die Blinde an der Hand des Sohnes den Deich entlang, der Elbe zu, deren Ufer sie nach einstündiger Wanderung unangefochten erreichten.




2.

Ein Jahr später, im Herbst, brachte Osten zwei volle Schiffsladungen des ausgesuchtesten Obstes nach Hamburg. Die Obsternte war so ungewöhnlich ergiebig ausgefallen, daß der Ertrag selbst sogenannte gute Obstjahre fast um das Doppelte überstieg. Trotzdem aber verstanden die schlauen Ohlländer aus diesem großen Segen Vortheil für sich zu ziehen, indem es ihnen durch allerhand geschickte Manöver glückte, die Preise ziemlich lange hoch zu halten.

Wenn der Obstbauer aus dem alten Lande gute Geschäfte macht, ist er, obwohl von Haus aus jedem Luxus und thörichter Verschwendung entschieden abhold, doch gelegentlich nicht abgeneigt, sich und den Seinen einen besonderen Genuß zu gönnen.

Heinz Osten war mit Frau und Kindern nach der großen Welthandelsstadt gekommen und hatte gut verdient. Die weiten Taschen seiner manchesternen Beinkleider staken voller blanker Thaler. Er trat in mehr als einen der glänzenden, lockend ausgeputzten Läden, um Kleiderstoffe zu kaufen, wie Frauen und Mädchen im alten Lande dem Herkommen gemäß sie tragen, und so genau er sonst im Handel war, heute zahlte er, ohne lange zu feilschen, ja die Ausgaben selbst schienen ihm Vergnügen zu machen.

[563] Nach beendigten Einkäufen erklärte Osten den Seinigen, daß sie nunmehr „nobel“ leben und den übermüthigen Hamburgern zeigen wollten, wie es einem rechten Ohllander auf eine Hand voll Geld nicht ankomme. Es dunkelte bereits, und Heinz Osten schlenderte mit Frau und Kindern so lange am Jungfernstiege umher, bis er die Firma entdeckte, von der ein lebenslustiger Freund und Landsmann viel Interessantes erzählt hatte. Es war ein berühmter Delicatessenkeller, in dem man vortrefflich, nur etwas theuer speiste.

Der reiche Ohllander suchte sich das bequemste Sopha in dem brillant erleuchteten Speisesalon aus, dessen Wände zur Hälfte fast mit den kostbarsten Spiegeln bekleidet waren, und ließ auftragen, was sein Herz wünschte. Rotwein feinster Sorte, der theuerste Rheinwein, der auf der Karte notirt war, und der beste Champagner fehlten dem splendiden Mahle nicht, und es währte nicht gar lange, so kam das lebhafteste Gespräch in Gang, da bald auch Landsleute, die ein gleicher Instinct in den Keller führte, sich zu der Familie Osten gesellten.

Es war ein Baumhofbesitzer[WS 1] aus dem benachbarten Mittelkirchen mit seinem erwachsenen Sohne, der als Capitain auf einem Hamburger Schooner fuhr. Vor weinigen Tagen erst war der kräftige, schlanke Mann, in dessen schmalem Gesicht ein paar kluge und feurige Augen glänzten, aus Bombay zurückgekehrt. Sein heiteres Wesen und seine anmuthigen Erzählungen gefielen allgemein. Am aufmerksamsten aber hörte doch Dortchen zu, die mit thautropfenklaren blauen Himmelsaugen zu dem jungen Capitain aufblickte und dabei zwei Reihen der tadellosesten Zähne zwischen den rosigen Lippen sehen ließ.

„Einen lustigen Spaß muß ich noch erzählen,“ hob Moritz Krahn nach einem kleinen Intermezzo, das durch Anstoßen und Trinken entstanden war, von Neuem an, Vater Osten, der heute kein Maß zu kennen schien, sein leeres Kelchglas hinhaltend. „Auf der letzten Reise bin ich den Engländern hinter einen Pfiff gekommen, den wir ihnen ablernen müssen. Ich habe mir auch schon vorgenommen, mit meinem Rheder zu sprechen. Schon aus Dankbarkeit muß er mich und dadurch mittelbar alle Ohllander unterstützen!“

„Was?“ fiel Osten ein. „Dein Rheder soll uns im alten Lande unterstützen? Das ist nicht nöthig, und das werde ich nicht dulden!“

Er schlug mit der Faust so hart auf den Tisch, daß es laut durch den Keller dröhnte.

„Hört mich nur an, Vater Osten, und Ihr werdet Euern Sinn bald ändern,“ fuhr Capitain Krahn fort. „Seit zwei, drei Jahren haben wir uns Alle den Kopf zerbrochen, was den Englischman wohl bewegen kann, uns Centnerweise die unreifen Kirschen abzukaufen. Unsere Abnehmer in anderen Ländern und zumal die Hamburger machten uns das erste Mal Molesten, als wir trotz des großen Kirschensegens ihre Bestellungen doch nicht ausführen konnten. Jetzt weiß ich, wo die unreifen Kirschen bleiben.“

„Nun, wo denn?“ fragte der Vater des Capitain, der bei einer so wichtigen Geschäftsangelegenheit nicht weniger interessirt war, als Osten. Letzterer sah Moritz Krahn nur ungläubig an und leerte gemächlich sein Glas.

„Nach Indien schafft sie der speculative Englischman,“ fuhr der Capitain fort, „zuvor aber thut er sie in schön geformte Büchsen, zuckert sie tüchtig und verkauft sie den vornehmen Indern als etwas ganz Apartes für enorme Preise. Sobald wir das Geheimniß der Zubereitung erfahren, brauchen wir Englands Vermittelung nicht, um uns für unreife Kirschen von den indischen Nabobs Hände voll Gold bezahlen zu lassen. Dazu gerade soll mein Rheder, der mit allen Engländern zusammenhält, mir behülflich sein. Eine gute Provision können wir Jedem gern im Voraus zusichern.“

„Du bist ein Goldjunge, Moritz,“ sprach Osten und stieß mit dem gereisten jungen Manne, der eine so wichtige Neuigkeit aus dem fernen Indien mit nach Hause brachte, lebhaft an. „Wir müssen uns näher kennen lernen! Wann löschst Du Deine Ladung und wann musterst Du ab?“

„Innerhalb der nächsten acht Tage.“

„Dann kannst Du gleich in meinem Ewer „Fiducia“ die Lühe hinauffahren und auf ein paar Tage Wohnung bei mir nehmen. Ich denke, Dein Vater sagt nicht Nein.“

Osten’s Augen glitten dabei mit schlauem Blick von seiner schönen Tochter auf den Capitain und von diesem zu dem alten Krahn, an dessen grauen Wimpern sie fragend hängen blieben. Dieser bewegte beistimmend das grau gesprenkelte Haupt und blickte Osten wo möglich noch schlauer an. Beide Männer verstanden einander, rückten sich näher und vertieften sich in ein leise geführtes Gespräch, während die Kinder Osten’s sich lebhaft mit dem Capitain unterhielten, der indeß nur Augen für das schöne, rosige Dortchen zu haben schien.

Als die Gesellschaft ziemlich spät das interessante Kellerlocal verließ, war zwischen Osten und dem alten Krahn in Bezug auf eine Verbindung ihrer Kinder bereits Alles in’s Reine gebracht. Es fehlte nichts weiter, als daß der Capitain in landesüblicher Weise um das junge Mädchen warb, daß dieses seine Zusage vor Zeugen gab und das herkömmliche Verlobungsgeschenk aus der Hand des Bräutigams entgegennahm.

„Zehnttausend harte Thaler gebe ich dem Kinde baar mit,“ flüsterte Heinz Osten dem Vater des Capitain auf dem Heimwege in’s Ohr. „Ich habe Glück gehabt, seit ich früheren Torheiten entsagte und dem Willen meines verstorbenen Vaters mich fügte. Es fiel mir anfangs freilich schwer, und ich machte mir auch manchmal Gedanken darüber. Später, als ich mich frei wußte, verlor sich das, und mit dem Glücke zog auch ein heiterer Sinn in mir ein. So soll’s bleiben, will’s Gott, und damit ich mir selbst keine Vorwürfe zu machen habe, denke ich bei Zeiten auch an die Zukunft meiner Kinder. Schade, daß Du keine Töchter hast! Meine Jungen sind nicht die Schlechtesten, und was arbeiten heißt, verstehen sie.“

Krahn brummte schmunzelnd, drückte dem Vater Dortchens nochmals zustimmend die Hand und verließ ihn endlich unfern des Binnenhafens, wo ihre Wege sich theilten, mit großer Zufriedenheit. Beide Ohllander betrachteten ihre getroffene Abrede wie ein glücklich abgeschlossenes Geschäft, das allen dabei Betheiligten reiche Früchte tragen müsse.




3.

Moritz Krahn beeilte sich nach Kräften, um der erhaltenen Einladung Osten’s bald folgen zu können. Er hatte Dorchen so tief in die wunderbar sanften blauen Augen gesehen, daß er die schöne Landsmännin Tag und Nacht nicht mehr vergessen konnte, und daß er sich in der großen Stadt, wo es ihm auch an zahlreichen Bekannten nicht fehlte, trotz der vielen Geschäfte doch langweilte. Kaum war das Nöthigste besorgt und er selbst mit dem Rheder bezüglich der Abrechnung und der Uebernahme eines anderen Fahrzeuges im Reinen, als er das gesegnete Land zwischen Este und Schwinge aufsuchte.

Im Baumhofe Osten’s hatte man den Capitain schon erwartet und daher Vorkehrungen zu freundlichem Empfange des gern gesehenen Gastes getroffen, den man als Freund begrüßen und als einen engen Verwandten des Hauses nur wieder gehen lassen wollte.

Mit Dortchen hatte die Mutter unter vier Augen ein längeres Gespräch gepflogen, um das Herz der Tochter zu erforschen. Was ihr dabei von Seiten des jungen Mädchens mitgetheilt ward, beruhigte sie vollkommen und trug nur zur Erhöhung der Freude bei, an welcher alsbald alle Mitbewohner des Baumhofes aufrichtigen Antheil nahmen. Die accurate Hausfrau begann sofort die vornehmen Zimmer sauber aufzuräumen, die purpurroten, steiflehnigen Stühle mit den reich vergoldeten Zierrathen und den brokatenen, an allen vier Ecken mit Goldtroddeln versehenen Kissen abzustäuben, und Alles zum Empfange eines Ehrengastes herzurichten. Später kramte sie in den riesengroßen, auf Rollen stehenden, bunt bemalten Holztruhen, in denen die reichen Linnenschätze aufgespeichert lagen, um eine Menge der feinsten Gewebe aus denselben auszuwählen. Osten aber saß rechnend und Geld zählend ein paar Tage lang in seinem Dielenzimmer und ließ sich in diesem hochwichtigen Geschäfte nur stören, wenn seine persönliche Gegenwart zum Abschlusse eines Handels mit fremden Obstaufkäufern nicht entbehrt werden konnte.

Das sich rasch verbreitende Gerücht, Heinz Osten werde demnächst die Verlobung seiner Tochter mit einem der tüchtigsten Seeleute des Obstlandes feiern, sprach wahr. Osten aber hatte nicht so große Eile mit der Verheirathung seines Kindes, daß er über diese das rein Geschäftliche vergessen oder seinen eigenen Vortheil hintangesetzt hätte. Denn der Ohllander ist bei all seinen guten Eigenschaften, die er besitzt, doch ein großer Egoist, und als solcher schlau und berechnend in allen seinen Unternehmungen. Sein volles Vertrauen gewinnt nur der, welcher ihm verständig zu schmeicheln [564] weiß, seine eigenen Verdienste, wie die Vorzüge seiner Heimath willig anerkennt und auch selbst mit gegründetem Tadel klug zurückhält.

Ueber des Capitains Gesinnungen konnte Heinz Osten nicht lange im Unklaren bleiben. Jeder Blick des feurigen Seemannes sagte ihm, daß Moritz Krahn seine Tochter aufrichtig liebe und daß er bei Dortchen um Gegenliebe zu betteln nicht Ursache habe. Die Partie war nach Osten’s praktischer Auffassungsweise eine passende und für beide contrahirende Theile durchaus erwünschte. Der reiche Baumhofsbesitzer hatte längst schon gewünscht, mit weit entlegenen Gegenden in Verbindung treten zu können. Er war aber kein Freund der Agenten und Commissionaire, die ihn, namentlich in gesegneten Obstjahren, förmlich belagerten und durch ihr ewiges Feilschen und Bieten häufig genug recht verstimmten. Ihm wäre es weit lieber gewesen, er hätte wie ein recht behäbiger Holländer vor der Thür seines schönen Hauses sitzen bleiben und ohne viel Hin- und Widerreden den Ertrag seiner ungezählten Obstbäume immer direct an ihm bekannte Abnehmer verkaufen können.

Durch Krahn’s Mittheilungen war ihm nun der Grund klar geworden, der jedes Jahr verschiedene steife Englishmen nach seinem Gute führte. Sie kamen um ihm seine unreifen Früchte abzukaufen, die dann in schmackhafter Zubereitung nach Indien wanderten. Das Geschäft konnte und wollte Osten selbst machen.

Damit nichts versehen werde, sprach also Heinz Osten diese ihm so wichtige Angelegenheit mit seinem zukünftigen Schwiegersohne und dessen Vater in aller Ruhe durch, bis volle Uebereinstimmung unter ihnen herrschte. Darauf erst wurden Anstalten zur Verlobung Dortchens mit dem Capitain getroffen, wozu die Freundschaft beider Familien Einladungen erhielt.

Uralter Sitte gemäß giebt noch heutigen Tages der Bräutigam im „alten Lande“ seiner Braut am Verlobungstage ein Geschenk, gleichsam ein Handgeld oder einen Gottespfennig, durch dessen Ueberreichung der geschlossene Bund erst Gültigkeit und für beide Theile bindende Kraft erhält. Dies Geschenk besteht aber nicht in dem anderwärts überall üblichen goldenen Ringe, sondern in mehreren alten Silbermünzen von seltenem Gepräge. Schöne Wildemannsgulden, alte Speciesthaler und andere nicht mehr als Tauschmittel von Hand zu Hand gehende schwere Silbermünzen sind als solche Brautgaben am gewöhnlichsten. Jede altländische Familie besitzt dergleichen eine größere oder geringere Anzahl und veräußert sie nie. Vielmehr sieht es die Mutter gern, wenn der heirathsfähige Sohn ihr eigenes Brautangebinde bei der Wahl einer jungen Lebensgefährtin dieser wieder als solches überreicht. Die seltenen Werthstücke bleiben dadurch längere Zeit in ein und derselben Familie und gewinnen um so mehr an Werth, je älter sie sind und je seltener ähnliche Münzen von gleichem Gepräge vorkommen.

Diese Verlobungsgabe des Bräutigams an die Braut, das von dieser nicht erwidert wird, führt den sonderbaren Namen „die Echte“, vielleicht, weil durch dieselbe das Verlöbniß erst geheiligt wird und als ein zu Recht bestehendes, mithin als echt zu betrachten ist.

(Fortsetzung folgt.)





Ein vergessener Held der Befreiungsjahre.

„Wer ist denn dieser russische Windbeutel?“ frug der alte York die Officiere seines Stabes, als in der Schlacht von Großgörschen oder Lützen, wie sie Napoleon nannte (2. Mai 1813), ein blutjunger russischer Officier auf ihn zusprengte und ihm die Worte zurief: „Herr General, jetzt haben Sie Ihre Dörfer (Groß- und Kleingörschen, Rahna und Kaja) wieder und stehen mir für ihre Behauptung! Ich ziehe rechts dem Feinde entgegen!“ Als darauf der russische Major von Helldorf, der Adjutant dieses jungen Generals, den Namen des Prinzen Eugen von Württemberg nannte, brummte York etwas verdrießlich in den Bart: „Ein Teufelskerl, Ihr Prinz, der den Feldherrn wohl mit der Muttermilch eingesogen hat!“ Und in der That, der kaum 25jährige Prinz Eugen, welcher bis zu dieser Stunde nahe an 100 Schlachten und Treffen beigewohnt hatte, schien das außerordentliche Feldherrntalent, das er bei allen Gelegenheiten bewährte, mit der Muttermilch eingesogen zu haben; denn kaum hatte er jene Worte gesprochen, als er sich sofort an die Spitze von sechs russischen Bataillonen stellte und bis zur sinkenden Nacht gegen zwei französische Divisionen muthig Stand hielt.

Wenn auch Aster in seinem berühmten Werke über die Gefechte und Schlachten bei Leipzig in edelstolzen Worten dem Prinzen Eugen nachrühmt, daß er in der Schlacht von Wachau der Tapferste von allen Heerführern der Verbündeten gewesen, wenn er in seinem Lobe wörtlich fortfährt: „Durch seine persönliche Bravour, durch seine Ausdauer, durch seinen richtigen militairischen Blick, durch seine Theilnahme an den Gefahren der Soldaten, durch sein Beispiel stählte er auch den Muth seiner mit ihm treu aushaltenden Untergebenen; er veranlaßte sie auf diese Weise, ihrem geleisteten Eide und den ihnen anvertrauten Fahnen bis in den Tod treu zu bleiben; sie hielten Wort und lagen entseelt, aber in taktischer Ordnung geschaart, um ihres Kaisers Panier,“ – wenn auch nicht wenige andere Schriftsteller in ihren Werken dem Prinzen Worte freudiger Bewunderung und Anerkennung zollen: so ist doch sein Name im deutschen Volke bei Weitem noch nicht so anerkannt, als er es im reichsten Maße verdient, und es bleibt eine heilige Ehrenpflicht der Geschichtschreibung, dem absichtlich verkannten und zurückgesetzten Helden den schönsten Lorbeerkranz eines unsterblichen Ruhmes zuzuerkennen. Sicher werden es uns daher die Leser dieser Blätter ein wenig Dank wissen, wenn wir es unternehmen, das Leben und Wirken des Herzogs Eugen von Württemberg in einer Zeit, die vielleicht bald der Bilder großer Heldengeister bedarf, um sich an ihnen aufzurichten, in kurzen Zügen zu schildern, wobei wir die nachgelassenen „Memoiren des Herzogs Eugen von Württemberg“, sowie das jüngst erschienene Werk des Generalmajor von Helldorf „Aus dem Leben des Prinzen Eugen etc.“ zu Grunde legen.

In der Geschichte der preußischen Heere wird der Name Herzog von Württemberg zu wiederholten Malen rühmend genannt. Schon der Urgroßvater unseres Helden, Herzog Carl Alexander von Württemberg, diente unter den Fahnen des Prinzen Eugen von Savoyen; der Großvater Friedrich Eugen im siebenjährigen Kriege, und der Vater unseres Eugen, der den Namen des Großvaters führte und die Bestimmung traf, daß der Name Eugen, stolz auf das sich daran knüpfende Andenken, erblich in seiner Geschlechtslinie bleiben solle, bekleidete ebenfalls die Würde eines preußischen Generals. Ihm wurde am 8. Januar 1788 zu Oels, wo er als Chef eines Husaren-Regiments in Garnison stand, unser Eugen geboren, mit welchem er schon nach wenigen Jahren in die neuerworbene Standesherrschaft Carlsruh in Schlesien übersiedelte. Hier empfing der junge Eugen den für Prinzen in damaliger Zeit üblichen Unterricht, und besonders günstige Verhältnisse schienen ihm die glücklichste Laufbahn eröffnen zu wollen. Die Schwester seines Vaters war mit dem bizarren Kaiser Paul I. von Rußland vermählt und bewahrte bis an ihr Lebensende für Eugen ein seltenes mütterliches Wohlwollen. Ihrem Einflusse verdankte der achtjährige Prinz seine Ernennung zum russischen Oberst und schon nach zwei Jahren zum Generalmajor und Chef eines Dragoner-Regiments. Ausgezeichnete Geistesgaben und rastloses Streben nach allem Wissenswerthen, soweit solches namentlich in das Bereich des von ihm mit Vorliebe gepflegten Soldatenstandes gehört, rechtfertigen diese Bevorzugung des fürstlichen Knaben, dessen Glücksstern höher und höher stieg, als ihn im Jahre 1801 seine kaiserliche Tante an ihren Hof nach Petersburg berief. Dort empfing er auf Kaiser Paul’s Befehl den Generalmajor Baron Diebitsch, den Vater des nachmaligen Balkanübersteigers, der im polnischen Kampfe 1831 die Lorbeern wieder einbüßte, die er früher im Türkenkriege errungen, zum Gouverneur, während er zu gleicher Zeit dem Cadettencorps zugetheilt wurde. Noch herrschten am Petersburger Hofe die Einwirkungen aus der scandalösen Zeit Katharina’s II., obschon Kaiser Paul sie alsbald mit finsterer Strenge unschädlich zu machen suchte.

Prinz Eugen schildert in ergötzlicher Weise sein erstes Auftreten in Petersburg in folgenden Worten: „Als ich am ersten Cadettenhause auf Wassilii-Ostrow anlangte, empfingen mich eine Menge reich mit Silber beblechter Officiere und viele Dienerschaft

[565]

Prinz Eugen von Würtemberg.

mit Lichtern. Gleich darauf erschien ein mit vielen Sternen bedeckter General, ebenfalls in der Uniform des Cadettencorps, und gab sich als dessen ersten Chef, den Fürsten Plato Subow, zu erkennen. Dieser vornehme und unter Katharinens Regierung nicht wenig einflußreiche und mächtige Mann versicherte mich von Hause aus seiner Unterthänigkeit und verlangte meine Befehle. Ich hatte zuerst nicht übel Lust, ihm die Hand zu küssen, aber General Diebitsch hielt mich nicht nur davon ab, sondern raunte mir auch, in Folge meiner ersten Anrede, in’s Ohr: „„man nennt den Kerl nicht Durchlaucht!““ Kaum hatte der Fürst den Rücken gewendet, als Diebitsch in seinen Expectorationen fortfuhr: „„Wissen Sie auch, was das für ein Mann ist? Einer von den berüchtigten Courmachern der Kaiserin Katharina, die jetzt alle bei Hofe auf der Neige stehen. Dem machen Sie nur ja nicht zu viele Kratzfüße.““ Ich versicherte, für Hofcabalen noch ein Bauernjunge zu sein.“

Immer freundlicher lächelte dem jungen Prinzen das Glück. Der Kaiser Paul würdigte ihn einer ganz besonderen Gunst und hegte in seinem tollen Kopfe die Absicht, ihn mit seiner Tochter, der Großfürstin Katharina, zu vermählen, wobei er wiederholt die unvorsichtige Aeußerung that, er habe Pläne mit dem Prinzen Eugen vor, worüber die Großen seines Reiches noch Maul und Nase aufsperren sollten. Wir wollen nicht entscheiden, ob derartige Worte nicht Veranlassung zu argwöhnischem Mißtrauen in dem Herzen des Großfürsten Alexander gaben und die spätere Zurücksetzung des Prinzen herbeiführten. Nur wenige Wochen konnte er sich [566] des kaiserlichen Wohlwollens erfreuen, denn bereits in der Nacht vom 23. zum 24. März 1801 fand in Folge einer Palast-Verschwörung die Ermordung des unglücklichen, geisteskranken Kaisers Paul I. statt. Eugen’s kaiserliche Pflegerin ward durch diese Frevelthat auf das Tiefste gebeugt und traute sich nicht die Kraft zu, ihren Liebling gegen die vielleicht über ihr ganzes Haus hereinbrechenden Stürme schützen zu können; sie sandte ihn daher alsbald wieder heim zu seinen Eltern nach Carlsruh, um ihn in besseren Tagen wieder an den kaiserlichen Hof und an ihr Herz zurückzurufen. Hatte aber schon das gewaltige Ereigniß mit seinen blutigen Gräueln den Charakter des heranreifenden Jünglings gestärkt und gestählt, so fand dies in noch reicherem Maße zu Carlsruh statt, wo die glückliche Wahl seiner Eltern den preußischen Sec.-Lieut. Baron Ludwig von Wolzogen, Bruder des Schwagers von Schiller, zur ferneren Ausbildung Eugen’s berief.

Dieser Treffliche half mit scharfem Auge dem Unbeholfenen und fast Zierlichen ab, welches noch Eugen anhing und ihn wohl nie ganz verließ, denn noch in späteren Jahren, als bereits der Siegeslorbeer der Schlachten seine Stirn zierte, pflegten ihn seine Treuen in harmlosem Scherze mit dem Namen „Jüngferchen“ zu bezeichnen. Jetzt erst widmete er sich mit allem Fleiße an der Hand seines neuen Lehrers den militärischen Studien, und vorzugsweise beschäftigten sich Beide in vielfachen Gesprächen über die möglichen Vortheile eines Vertheidigungskrieges bei genauer Kenntniß des Terrains. Ohne in diesen Ideen auf bestehende Verhältnisse Bezug zu nehmen, unterhielten sich Beide, Lehrer wie Schüler, noch nach Jahren brieflich über diesen Gegenstand, der namentlich in Eugen’s Seele tiefer und tiefer Wurzel faßte und ihn bewog, lange bevor sich noch eine Aussicht zu dem französisch-russischen Feldzug von 1812 darbot, dem russischen Kaiser ein Memorial zu übersenden, in welchem er mit klaren Worten einen prämeditirten Rückzug mit Aufopferung aller nicht haltbaren Stellen vertheidigte. Er, der deutsche Fürst, war demnach der Erste, welcher dem russischen Kaiser den nachmals so hoch gepriesenen Feldzugsplan von 1812 anrieth und ihn auch später mit ausführen half.

Nach vollendeten Studien zu Erlangen, das der blutjunge Student in seinem 14. Lebensjahre besuchte, und nach mehrfachen Reisen ward der Prinz im Herbst des Jahres 1806 zum activen Dienst in der russischen Armee zurückberufen, fand unter Bennigsen bei Pultusk die erste Gelegenheit, seine Sporen zu verdienen, zeichnete sich während des Winterfeldzugs und auch im Sommer 1807 durch Muth und Tapferkeit in vielen Treffen und Schlachten aus, so daß er im November 1807 zum Brigadecommandeur ernannt wurde. Schon damals verehrten seine Truppen in ihm ein strahlendes Vorbild persönlicher Tapferkeit, ruhiger Ueberlegung und demnächst entschiedensten Handelns. Jeder Einzelne hing mit Innigkeit und aufopfernder Liebe an dem Prinzen, weil er das Wort „Selbstschonung“ gar nicht kannte, alle Strapazen mit seinen Untergebenen theilte und durch seine wahrhaft väterliche Fürsorge für Letztere Alle zu dankbarer Anerkennung verpflichtete.

Das Jahr 1812 war angebrochen. – Napoleon’s Augenmerk war, wie Eugen selbst berichtet, seit dem Frieden mit Oesterreich auf Spanien und Portugal gerichtet, wo ihm Wellington als gefürchteter Gegner reichlich zu schaffen machte. Dieser Krieg absorbirte denn auch die Hauptkräfte Napoleon’s, und er bemerkte, daß er dort, vor dem erneuerten Anbinden mit den östlichen Mächten, nicht zu Rande kommen könne. Da er voraus wußte, daß er diese nicht zu Athem kommen lassen dürfe und daß sie ihm im Herzen unmöglich geneigt sein konnten, so glaubte er sich wohl schon seit dem Jahre 1810 in die Nothwendigkeit versetzt, den Kampf auf beiden Enden Europas wieder aufnehmen zu müssen. Hier galt es bei ihm die Frage des „Seins oder Nichtseins“. Als Napoleon konnte er nicht still stehen, beim Vorschreiten mußte er auf Feinde stoßen und beim Rückschritt untergehen. Es konnte die Frage sein, ob Europa bei seiner Alleinherrschaft gewinnen oder verlieren werde: kein Zweifel aber blieb, daß er nach jener Herrschaft streben müsse, wenn er nicht selbst den Hals brechen wolle. Darum gab er denn auch, trotz des ihm lästigen Kampfes in Spanien, seine östlichen Aggressionen nicht auf. Er hatte nach und nach ganz Italien unter seine Botmäßigkeit versetzt, Holland, das ihm als eigenes Königreich noch nicht genug Ressourcen bot, mit Frankreich vereinigt, und die Grenzen dieses letzteren in Deutschland weit über den Rhein hin und rücksichtslos auch über das Land des mit dem russischen Kaiserhause verwandten Herzogs von Oldenburg ausgedehnt.

Auch Kaiser Alexander benutzte nach dem Waffenglück, das ihm im Kampfe gegen Schweden zu Theil geworden, und vertrauend auf den in Aussicht stehenden Frieden mit der Türkei die durch die Uebergriffe Napoleon’s sich ihm darbietende Gelegenheit, die Verletzungen des Tilsiter Vertrages als Repressalie zu gebrauchen und dem durch die Continentalsperre bis zum Aeußersten darniederliegenden russischen Handel durch Verständigung mit England und Wiederöffnung seiner Hafenplätze endlich, bevor es zu spät war, emporzuhelfen. Napoleon fühlte dies sehr wohl und betrieb daher seine ungeheueren Kriegsrüstungen mit unbeschreiblichem Eifer. Die maßlosen Zornesworte, in welchen er sich am 15. August 1811 gegen den russischen Gesandten, Fürsten Kurákin, in öffentlicher Versammlung ergoß, ließen jede Hoffnung auf Verständigung schwinden, die Maske war abgeworfen, der Würfel gefallen. Mit einer ungeheuren Heeresmacht von mehr als 600,000 Streitern rückte Napoleon in der ersten Hälfte des Jahres 1812 an die russischen Grenzen vor und überschritt dieselben, ohne die sonst übliche Kriegserklärung vorauszuschicken. Bekannt ist das russische Vertheidigungsystem, welches, wie bereits erwähnt, schon früher vom Prinzen Eugen vorgeschlagen und jetzt von Wolzogen und General v. Phull detaillirt worden war. Leser, welche sich hierüber genauer unterrichten wollen, verweisen wir auf die treffliche Auseinandersetzung in Eugen’s Memoiren S. 300.

Bereits im April 1812 war Prinz Eugen als Commandeur der 4. Division beim 2. russischen Corps bestätigt worden. In dieser Würde nahm er, mehrerer kleineren Treffen und Gefechte nicht zu gedenken, zunächst ruhmvollen Antheil an der blutigen Schlacht bei Smolensk am 17. August 1812. Von Neuem bewährte sich auch hier des Prinzen Feldherrntalent und unbeugsamer Muth. Denn schon hatten die Franzosen mehrere Vorstädte mit stürmender Hand genommen, als es dem Prinzen, der mit seiner Division hinter dem Oberbefehlshaber Barclay de Tolly hielt, auf seine Bitten gestattet wurde, mit seinen tapferen Truppen vorzurücken, die Angreifenden aus mehreren den Russen Gefahr drohenden Stellungen zurückzuwerfen und bis zum Abend Stand zu halten. Nur der Befehl seines Vorgesetzten konnte ihn zum Rückzuge bewegen. Und was war der Lohn für diese ausharrende Tapferkeit? Der St. Wladimirorden 2. Classe, während Eugen zwei Tage darauf zum Generallieutenant befördert wurde, nachdem er bei Gedeonowo als Commandeur der Arrièregarde mit äußerster Bravour die verfolgenden feindlichen Heeresmassen zurückgeworfen und hierdurch Barclay’s Armee vor sicherer Vernichtung bewahrt hatte.

Seit dem Schlachttage von Smolensk reiht sich in dem Leben Eugen’s Heldenthat an Heldenthat, und unsere reiche deutsche Sprache würde den Vorrath ihrer ehrenden Beiwörter bald erschöpfen, wollten wir in diesen wenigen Spalten jede einzelne Waffenthat des Prinzen mit der ihm gebührenden wohlverdienten Auszeichnung schildern. In der mörderischen Schlacht von Borodino am 7. September 1812 wurden ihm fünf Pferde unter dem Leibe erschossen; inmitten des furchtbarsten Feuerregens von Eisen und Blei, welcher Tausenden seiner tapfern Kampfgenossen das Leben kostete, hielt er unerschrocken Stand, keine feindliche Kugel traf sein theueres Leben, und unversehrt verließ er, ein neuer Achilles, das leichenbedeckte Schlachtfeld. Wo in den Annalen der russischen Kriegsgeschichte die Schlachttage von Tarutino am 18. October, Wjäsma am 3., Rjawka am 15., Merlino am 16., Larionowo am 17., Luschitza am 18. Nov. 1812 und Kalisch am 14. Februar 1813 a. A. m. verzeichnet stehen, da sollte auch hochherrlich vor Allen der Heldenname des Prinzen Eugen von Württemberg glänzen. Aber schon machten Neid und Intrigue sich geltend, und der bescheidene Feldherr, auf dessen Haupt andere Regierungen die reichsten Ehren und Würden gehäuft hätten, besaß während dieses ruhmvollen Feldzuges oft nicht so viel, um sein fadenscheiniges, durchlöchertes Waffenkleid durch ein neues ersetzen zu können.

(Schluß folgt.)

[567]
Erinnerungen an das dritte deutsche Turnfest zu Leipzig.
3.
Das Wettturnen. – Die Krönung der Sieger und ein frischer Kranz Alpenrosen und Edelweißblüthen. – Der letzte Festtag. – Treitschke’s Rede. – Ein Schreck. – Der Abschied. – Die Resultate des Festes.

Im Festleben bot auch der Dienstag viel des Interessanten. Die Morgenstunden auf dem Festplatze waren dem Schauturnen des Leipziger Turnvereins gewidmet, und am Mittag fand in der Halle das zweite Festessen statt. Man konnte dasselbe eigentlich als das Abschiedsmahl der Festgenossen betrachten, denn die speciell turnerische Feier schloß mit diesem Tage. Wieder trafen beim Festmahle eine Menge telegraphischer Grüße (u. A. aus Kronstadt, Tilsit) ein, und herzliche, aber auch inhaltsschwere Worte wurden gesprochen. Eindruck machte die begeisterte Rede des Advocat Wiggers aus Rendsburg, der Bezug nahm auf die zwar am Ehrenplatz der Festhalle aufgepflanzte, aber leider noch immer mit dem Trauerflore umhüllte Fahne seines geknechteten Vaterlandes, zu dessen Erlösung wohl noch eine Bluttaufe der mit Füßen getretenen Farben nöthig sein würde. Dem freien, einigen Deutschland, dem die Erlösung des nordischen Bruderstammes ohne Schwierigkeit gelingen müßte, brachte er ein Hoch. – Lecher aus Wien weihte ein Glas den verfassungstreuen preußischen Landtags-Abgeordneten, und einer derselben, Parisius aus Brandenburg, dankte durch ein Hoch auf Deutschlands Freiheit. Von gewaltigem Eindrucke war Benedey’s Rede, welcher gerührt bekannte, daß die beiden großen Tage, die er erlebt, jenen Einzug der deutschen Parlamentsabgeordneten in Frankfurt und dann wieder den gestrigen Festzug der Turner in sich faßten. Einmal habe er unter Spott und Hohn vor Schmerz geweint über die Verwirrung, welche jene mit Jubel begrüßte Versammlung dem traurigen Verfall zuführte; am gestrigen Tage aber vor Freude beim Festzuge der Turner, im vollen Bewußtsein des Sieges, den die gute Sache feierte. Den Gründern der Turnerei weihte er ein Hoch.[1]

Unmittelbar nach dem Festmahle begann das Wettturnen und zwar 1) im Wettlauf; 2) im Hochspringen und 3) im Steinstoßen und Weitspringen. Die hier sich kundgebende Gewandtheit und Kraftentwickelung war von großem Interesse, und man hatte für jede Abtheilung drei Preise (Siegeskränze) bestimmt.

Die für den Wettlauf abgesteckte Bahn entsprach dem griechischen Stadion (574 rhein. Fuß) und wurde von dem ersten Sieger in 26, von den beiden nächsten in 27 Secunden durchlaufen. Um einen Begriff von der Geschwindigkeit dieses Laufes zu geben, muß bemerkt werden, daß die deutsche Meile bei gleicher Schnelligkeit in etwa 18 Minuten zurückgelegt würde. Die Sieger im Wettlauf waren sämmtlich Preußen und zwar ein Merseburger und zwei Berliner.

Den höchsten Freisprung (mit Absprung auf kurzem Brete), 66 rhein. Zoll, erreichte ein Eßlinger. Die beiden nächsten Sieger, ein Uelzener und ein Hamburger, sprangen 62 Zoll hoch.

Die dritte Aufgabe war eine doppelte. Zuerst galt es einen Stein von einem Dritttheil Zollcentner Schwere mit einer Hand zu werfen oder zu stoßen. Von den drei jedem Bewerber gestatteten Würfen galt der letzte. Nachdem Alle geworfen hatten, wurde auch von Allen gesprungen, und das Resultat der zusammengerechneten Wurf- und Sprungweite war für die Zuerkennung des Preises maßgebend. Der erste Sieger war ein Gießener, der beim Steinstoß 17 und beim Weitsprunge 18 rhein. Fuß erreichte; der zweite, ein Münchner, hatte zwar beim Stoß 18, aber beim Sprung nur 16 rhein. Fuß erlangen können, und der dritte aus Asch gebürtige Sieger erreichte bei Stoß und Sprung gleichmäßig je 17 Fuß.

Nach den beendeten Uebungen wurden diese neuen Sieger vom Festpräsidenten Georgii auf dem Balcon am Steigerhause deln Publicum vorgestellt und mit den Siegeskränzen geschmückt. Bei Verkündigung der Namen herrschte stets eine lautlose Stille über den ganzen weiten Raum, der mit Menschen dicht besetzt war. Nur einmal wurde diese gespannte Aufmerksamkeit unterbrochen. Wie nämlich der Präsident als den ersten Sieger der dritten Abtheilung Haustein aus Gießen verkündete, da erschallte aus dem Häuflein der Londoner Turner von einer wahren Stentorstimme ein echt englisches Hurrah, das im geschlossenen Raume die Fensterscheiben zersprengt haben würde. Das Publicum, welches sich den Grund dieses Frendenrufes nicht erklären konnte, gebot auf der Stelle Ruhe, welche auch sogleich wieder eintrat. Später aber erfuhr man, daß Haustein früher in London dem hier vertretenen Turnvereine angehört und dort beim großen Turnfeste des vergangenen Jahres ebenfalls den ersten Preis errungen habe. Aus diesem Grunde hatte der Londoner Turngenosse seine Freude nicht zurückdrängen können, als er den Freund auch hier wieder als Sieger verkünden hörte.

Nachdem Georgii noch zwei andre einfache, aber bedeutsame Liebesgaben: eine junge Eiche aus Lanz, dem Geburtsorte Jahn’s, von dort der Stadt Leipzig als ein Erinnerungszeichen an den Gründer der Turnkunst und an das herrliche, gegenwärtige Fest übersandt – und einen Strauß frischer Alpenrosen und Edelweißblüthen, der von den fernen Alpen als Gruß und Liebeszeichen für die beim Feste anwesenden Schleswig-Holsteiner hierher geschickt worden war – übergeben hatte, leerte sich der Balcon; aber kaum waren die bekänzten Sieger unten angelangt, als sich Tausende um sie drängten und sie jubelnd beglückwünschten. Dann wurden sie von kräftigen Turnern auf deren Schultern gehoben und im Triumph zur Festhalle getragen, wo man sie dem jauchzenden Publicum nochmals nannte und vorstellte. Alles drängte sich zu ihnen hin, und am liebsten hätte jeder Einzelne seinen Festwein oder sein Bier mit ihnen getheilt. Neben mir, jedoch leider zu fern von dem Standpunkte der gefeierten Sieger, befand sich ein augenscheinlich mit Glücksgütern reich gesegneter Turngenosse aus Pommern, der sein wohlgefülltes Portemonnaie in die Höhe hielt und dabei immer ausrief: er wolle die Sieger nicht in Rothwein, wohl aber in Champagner baden! Ehe er sich jedoch durch die dichte Menge Bahn brechen konnte, hatten die Gefeierten ihren Ehrenplatz schon wieder verlassen, und ich vermochte dem freigebigen Pommer nicht zu folgen, weiß deshalb auch nicht, ob der gute Mann seinen eben so menschenfreundlichen als gefährlichen Vorsatz ausgeführt hat. Der freundschaftliche und gesellige Verkehr in der Festhalle und auf dem Festplatze entwickelte sich aber heute womöglich noch herzlicher als bisher, denn die Scheidestunde, die für Viele sogar schon geschlagen hatte, rückte auch für die Uebrigen immer näher.

Der letzte Festtag (5. August) galt einer nicht minder erhebenden Feier: dem Andenken an Leipzigs große Tage vor funfzig Jahren, wo dieselben Fluren, die heute jubelnde Festgenossen belebten, von dem Blute der Freiheitskämpfer gedüngt wurden. Es war ein herrlicher Gedanke, das erhebende Friedensfest, welches deutsche Männer aus allen Gegenden des Vaterlandes hier vereinigte, auch der Erinnerung an eine Zeit zu weihen, welche den Beweis geliefert hatte, daß dem einmüthig auftretenden Deutschland kein Feind zu widerstehen vermochte.

Wieder versammelten sich die Turngenossen in den Morgenstunden zum gemeinschaftlichen Zuge nach dem Festplatze, wo jene ergreifende Feierlichkeit stattfinden sollte. Den Turnern schlossen sich heute auch die Sänger Leipzigs an, welche an der Feier thätigen Antheil nehmen wollten. Stand auch dieser Festzug an Stärke hinter dem am Montage zurück, so brachte ihm das Publicum doch wieder ganz dieselbe herzliche Theilnahme entgegen. Wieder waren die Straßen dicht besetzt, aus allen Fenstern wehten Tücher den Vorüberziehenden Grüße zu, und ein Blumenregen, der dem ersten nicht nachstand, ergoß sich von allen Seiten über den Zug. Man wollte den Gästen dadurch den Beweis geben, wie sehr man sie in den wenigen Tagen ihres Aufenthaltes liebgewonnen habe. Auch die Turner gaben ihre Freude und Dankbarkeit in jeder Weise zu erkennen. Der Verkehr zwischen ihnen und den gastfreundlichen Bewohnern der Stadt war ein wahrhaft freundschaftlicher geworden. Ueberall hörte man Turngäste beim Namen rufen, und wenn diese ihre Wirthsleute unter der Menge der Zuschauer erkannten, so ertönten Lebehochs und das mächtige Gut Heil, in das dann immer sämmtliche Landsleute des Begrüßten einstimmten; [568] denn sie betrachteten es als einen Liebesdienst für Alle, was man Einem von ihnen Gutes erwiesen hatte. Auch mannigfaltige Erfrischungen wurden den Zugtheilnehmern wieder von allen Seiten kredenzt und dankbar angenommen, denn eine glühende Hitze lag über der Stadt, und ferne Gewitterwolken prophezeiten eine spätere, unwillkommene Störung des Festes.

Als der Zug den Festplatz erreicht hatte, wurde ein mächtiger Halbkreis um den Balcon geschlossen, wo sich die Rednerbühne befand. Zwei von den sämmtlichen Männergesangvereinen Leipzigs vorgetragene Lieder (die Wacht am Rhein und das Schwertlied) eröffneten die Feier, und hierauf betrat der Festredner, Professor Dr. v. Treitschke, den Balcon.

Was der begeisterte Redner sprach, war nicht blos ein rhetorisches Meisterstüick, sondern auch der volle Erguß eines von Vaterlandsliebe überströmenden Herzens. In Hunderttausenden von Exetmplaren der verschiedenen Zeitschriften ist jene Rede schon über ganz Deutschland verbreitet, aber sie verdient, wie in die Paläste, so auch in die kleinste Hütte zu dringen und Eigenthum Aller zu werden. Die Jugend möge sie sich einprägen und das Alter sie als einen warnenden Spiegel der durchlebten Knechtschaft betrachten. Erheben aber wird sie Jung und Alt, und wo die Liebe zum großen deutschen Vaterlande noch nicht recht Wurzel schlagen oder noch nicht durchdringen konnte, da werden jene Feuerworte sich unwiderstehlich Bahn brechen. Neben der Verherrlichung der Helden des Freiheitskampfes war die Rede eine Mahnung vor Lauheit und Phrasenpolitik, und schlagend führte sie auch die Gebrechen unseres Vaterlandes Allen vor Augen. Es hieß darin:

„Noch steht unser Volk rechtlos, unvertreten, wenn die Völker tagen. Noch grüßt kein Salutschuß im fremden Hafen die deutsche Flagge; denn heimathlos ist sie auf dem Meere, wie die Farben der Seeräuber. Noch blutet die Wunde, die im Frieden nimmer heilen darf: die schmerzliche Erinnerung, daß dies große Deutschland dem sieglosen Sieger, dem schwachen Dänemark, ein Glied von seinem Leibe, der edelsten einen unter seinen Stämmen schmählich preisgegeben hat.“

Den großen Zweck des Festes schilderte der Redner wie folgt:

„Für Millionen unseres Blutes ist der Name „deutsche Einheit“ nur ein großes, wohltönendes Wort, nicht eine begeisterte Ueberzeugung, die jeden Entschluß des Mannes durchdringt und heiligt. So gehet denn hin, Ihr unsre lieben Gäste, und verkündet daheim, was Ihr hier geschaut. Verkündet, wie Ihr im bewegten Austausch der Gedanken und Gefühle, in der Uebung der gemeinsamen deutschen Turnkunst empfunden und im tiefsten Herzen erlebt habt, daß wir zu einander gehören, daß wir ein Fleisch und ein Blut. Erzählet, wie der Mann aus dem Norden dem Manne aus dem Süden das Wort von den Lippen nahm, und wenn Ihr nicht wisset, ob die Wirthe oder die Gäste, ob die Schwaben oder die Niedersachsen das Meiste gethan für die Freude dieses Festes, so gedenket: das ist ein Bild der deutschen Geschichte. Seit Jahrhunderten haben unsere Stämme im Wetteifer gewirkt für die Herrlichkeit unseres Volkes, und kein Weiser hat ergründet, welcher Stamm das Edelste gab, welcher das Größte empfing.“

Wohl ist es ein Unrecht, welches man begeht, nur einzelne Stellen jener Rede anzuführen; mich leitet dabei aber der Zweck, daß diejenigen, welche jenes Meisterstück noch nicht kennen lernten, dasselbe sich vollständig zu verschaffen suchen werden. Nur der Schluß sei hier noch angeführt: „Laßt es nicht von uns heißen, wie von dem großen Griechenvolke: die Väter retteten alle Schätze reiner Menschenbildung vor dem fremden Eroberer, die Söhne aber gingen schmachvoll zu Grunde, weil sie nicht vermochten, Zucht und Recht und Frieden zu bewahren auf dem befreieten Boden. Nein, diese blühende Jugend- und Männerkraft, die sich prächtig zusammenfand in unserer gastlichen Stadt, ein erhebendes Bild von dem Adel und der Stärke unseres Volks, sie wird das Werk unserer Väter nicht zu Schanden werden lassen. Sie wird helfen, es zu vollenden. Die Zeit ist dahin, für immer dahin, wo der Wille der Höfe allein die Geschicke dieses großen Landes bestimmte. Auch der Geringste unter uns ist heute berufen, mitzuwirken an der Arbeit unserer politischen Erziehung, auch der Geringste ladet eine schwere Schuld auf seine Seele, wenn er dieser heiligen Pflicht sich feig versagt.

Deutsche, geliebte Landsleute! Ihr, die Ihr wohnet, wo die Thürme von Lübeck und die weißen Felsen von Arkona dem heimwärtssegelnden deutschen Seemanne die Nähe seines Landes künden, und Ihr Mannen, die Ihr daheim seid, wo die Schweizer Alpen sich spiegeln in dem schwäbischen Meere, und Ihr, deren Wiege stand, wo die graue Pfalz aus dem Rheine steigt und in der Neujahrsnacht des großen Krieges Vater Blücher den deutschen Strom überbrückte! Ihr Alle, weß Stammes, weß Gaues Ihr seid, stimmet ein in den Ruf: Es lebe Deutschland!“

Vergeblich wäre es, die Wirkung schildern zu wollen, welche diese Rede hervorbrachte. Tief ergriffen stand Alles, und selbst dem losbrechenden Beifallssturme konnte man deutlich anhören, wie viele der in das Hoch einfallenden Stimmen vor gewaltiger Bewegung zitterten.

Kaum war diese herrliche Feier durch einen Schlußgesang beendet, so brach in der bis dahin ruhigen Natur ein orkanähnlicher Sturm mit Gewitter los. Man eilte in die Zelte oder in die Festhalle, doch sollten die in letztere Geflüchteten noch einen argen Schreck bestehen. Der Sturm riß nämlich die Holzbekleidung des einen Mittelthurmes los, und derselbe wurde durch die Gewalt des tobenden Elementes bedeutend zur Seite geneigt. Der Lärm der auf das Dach fallenden Breter und der Angstruf: „Die Halle stürzt ein!“ brachte eine furchtbare Verwirrung hervor, da Viele schon ein ähnliches Unglück wie bei der Frankfurter Schützenfesthalle vor Augen haben mochten. Die Angst war jedoch überflüssig gewesen, denn der Thurm senkte sich nicht tiefer; die Halle hätte aber auch noch stärkeren Stürmen getrotzt, und so war bald Ruhe und Festfreude wieder hergestellt, da auch der Himmel wieder im schönsten Blau strahlte.

Immer mehr aber lichteten sich die Reihen der Festgäste, denn jeder abgehende Eisenbahnzug führte viele Hunderte mit sich fort. In den Nachmittagsstunden wurde von einem Theile der Gäste der Grundsteinlegung des neuen Kugeldenkmales in der Marienvorstadt beigewohnt. Jenes Denkmal bezeichnet den Platz, wo am 19 Oct. 1813 das erste zu einem Vorwerke gehörige Haus Leipzigs von preußischen Freiwilligen und Landwehrmännern den Franzosen entrissen wurde. Mancherlei auch auf das Turnfest bezügliche Schriften und Gegenstände wurden dem Grundstein einverleibt, u. A. auch ein Kranz von der Körnereiche bei Wöbbelin, den die Grabower Turner zu diesem Zwecke hierher geschickt hatten. Begeistert von der patriotischen Feier nahm der Fahnenträger des Prager Turnvereins seine kostbar gestickte Fahnenschärpe und legte sie mit in den Grundstein.

Eine weitere Feierlichkeit fand vor dem Rathhause statt, wohin sich der Zug hierauf begab. Dort war als Erinnerungszeichen an das schone Fest eine von den Turnvereinen Deutschlands gestiftete prachtvolle Marmortafel eingemauert worden, und der Festprästdent Georgii enthüllte und übergab dieselbe dem Bürgermeister Dr. Koch mit tiefgefühlten, warmen Worten des Dankes für die den Festgenossen bereiteten schönen Tage. Jene Tafel trägt die Inschrift:

Zur Erinnerung
an das dritte deutsche Turnfest
den 2. bis 5. August 1863
die deutschen Turnvereine der Stadt Leipzig.

Der Bürgermeister dankte voll tiefer Rührung im Namen der Stadt und brachte den deutschen Turnern und ihren Führern ein Lebehoch, welches Georgii mit einem Hoch auf die Feststadt erwiderte.

Die fröhliche Feststimmung der vorhergehenden Tage hatte jetzt schwermüthigeren Gefühlen weichen müssen, denn auch für die letzten der Festgenossen schlug nun bald die Trennungsstunde. Wohin man nur blickte, konnte man Zeuge der rührendsten Auftritte sein. Hier brachte die Familie des Wirthes die Allen so liebgewordenen Turngäste zum Bahnhofe, und da wurden beim Scheiden so bittere Thränen vergossen, als trennte man sich auf Nimmerwiedersehen. Die Turner waren ja keine Fremden mehr, sie wurden als liebe Angehörige betrachtet, von denen man vielleicht für immer schied. Die Dankesworte, die mancher der Scheidenden vielleicht vorher im Geist recht wohl gesetzt hatte, sie wurden von Thränen erstickt, noch ehe sie vom Herzen bis zu den Lippen gedrungen waren. Wo gäbe es aber einen schöneren, beredteren Dank als jene Thränen? – Dort sah man wieder, wie den die Stadt verlassenden Turnern noch auf der Straße duftende Blumen überreicht wurden, mit der Bitte, dieselben in die Heimath mit zu nehmen, aber der Geber noch zu gedenken, wenn von jenen Blüthen nichts mehr [569] übrig sei. Dieser Bitte bedurfte es jedoch nicht, wie die Beschenkten versicherten, als sie die Blumen an ihr Herz drückten. – Ein alter, biederer Bürger der Stadt, der im vorigen Jahre die Todesnachricht seines einzigen in Rußland gestorbenen Sohnes erhielt, hatte seinem liebenswürdigen Turngast, einem Hanseaten, das Geleit zum Bahnhofe gegeben, und als der Alte nun traurig heimkehrte, meinte er: „Mir ist, als wenn mir heute mein Sohn zum weiten Male gestorben.“

Wie erhebend war die Abschiedsfeier, welche am Abend des 5. August die Schleswig-Holsteiner und die Tyroler im Hotel de Prusse begingen! Der Kranz von Edelweiß, welchen die Söhne der Alpen ihren nordischen Freunden übergaben, möge den in der Heimath zurückgebliebenen Brüdern der letzteren ein Zeichen sein, wie gewaltig man bis zu den fernsten Grenzen Deutschlands von dem verhöhnten Rechte des verlassenen Bruderstammes überzeugt ist und wie sehnlich man die Zeit herbeiwünscht, wo man statt Blumen Waffenhülfe senden könnte.

An einem andern Orte der Stadt feierten wieder Schwaben, Oesterreicher, Preußen und Siebenbürgen ihr Abschiedsfest, und selbst im Theater fand an jenem Abend eine eigenthümliche Feier statt. Nachdem während des ganzen Festes zu Ehren der Festgäste in dem sinnig gschmückten Hause nur Stücke patriotischen Inhaltes aufgeführt und dieselben noch durch v. Meyer’s: „Heinrich von Schwerin“ abgeschlossen worden waren, erhob sich den stürmisch hervorgerufenen Künstlern gegenüber im Parterre ein Turner aus Berlin und brachte in fließenden Reimen der Bühne Leipzigs ein herzliches Gut Heil, welches einen nicht endenwollenden Wiederhall im ganzen Hause fand.

Schon am Mittwoch rief ein großer Maueranschlag in einfachen, aber tiefempfundenen Worten den Abschied und Dank der Turner aus Oesterreich den Bewohnern Leipzigs zu. Die Turner von Rostock und Schwerin, so wie die vom Mittelrhein folgten am nächsten Tag in ähnlicher Weise, und wochenlang brachten die Tagesblätter Leipzigs an jedem Morgen ganze Seiten voll Danksagungen aus allen Gegenden, überströmend von den innigsten Gefühlen.[2]

So war das herrliche Fest vorüber, begünstigt vom schönsten Wetter bis auf den letzten Tag, wo noch ein entsetzlicher Regenguß am Abend leider das Losbrennen des Feuerwerkes verhinderte. Wie stachen aber die darauf folgenden Tage mit ihrer wiederkehrenden Ruhe und Einförmigkeit von dem festliche Wogen und Treiben ab! Die Blätter der zahllosen Eichenlaubguirlanden waren verdorrt und rauschten unheimlich beim leisesten Lüftchen; dafür aber grünte in den Herzen Aller die erhebende Erinnerung an die köstlichen Tage, deren Segen unmöglich ausbleiben wird. Auge in Auge, Hand in Hand lernten sich die Söhne Deutschlands von den Alpen bis zur Nordsee, vom Riemen bis zu Mosel kennen, lieben und achten. Im Laufe des Festes stürzten mächtige Schranken zusammen, die bisher nur das Vorurtheil zwischen einzelnen Volksstämmen aufrecht erhalten hatte, und so geschah wieder ein gewaltiger Schritt zu dem uns immer deutlicher vorschwebenden herrlichen Ziele der Einheit. Das ist aber die große Bedeutung solcher Feste, daß sie uns in Liebe und in Frieden jener erhabenen Bestimmung näher führen. Und ist erst Deutschlands innere Feindschaft, der alte Hader glücklich überwunden, dann zeigt uns den äußeren Feind, den wir zu fürchten hätten!

Und somit Gut Heil Euch Allen, Ihr Festgenossen, die Ihr jetzt längst wieder in der Heimath weilt! Gedenkt noch manchmal der Stadt, die Euch so freudig begrüßte und die noch jetzt mit hoher Freude Euer gedenkt. Gut Heil dem Vaterlande!

A. B-l.



Aus jüngstvergangenen Tagen.
1. Die Frankfurter Kaiserdeputation im Jahre 1849.


„Kaiserstolz und Majestät
Zogen auf geschwinden Sohlen
Wir für’s deutsche Reich zu holen,
Wovon neue Sage geht.

Klang und Sage überall,
Soweit deutsche Zungen klingen:
Einen Kaiser heimzubringen
Rief der Völker Jubelschall.

Ach! wie sollten Dorn und Stein
An der Wandrer Sohlen reißen!
Zu den Scheinen, die nur gleißen,
Warf man unsern Kaiserschein.

Kaiserschein, du höchster Schein,
Bleibst du denn in Staub begraben?
Schrei’n umsonst Prophetenraben
Um den Barbarossastein?

Nein! und nein! und aber nein!
Nein! Kyffhäusers Fels wird springen,
Durch die Lande wird es klingen:
Frankfurt holt den Kaiser ein.

(E. M. Arndt: „Die Ausfahrt zur Heimholung des deutschen Kaisers“, Frankfurt 17. Mai 1849)


Zweihundertneunzig Stimmen in der deutschen Nationalversammlung hatten am 28. März 1849 den König von Preußen Friedrich Wilhelm IV. zum Kaiser von Deutschland gewählt. Der Präsident der Versammlung, Simson, hatte das Ergebniß der Wahl mit bewegter und erhobener Stimme verkündigt, und unter Bezugnahme auf die schönen Worte Goethe’s in „Hermann und Dorothea“:

Nicht dem Deutschen geziemt es, die unheilvolle Bewegung
Endlos fort zu leiten, zu schwanken hierhin und dorthin.
Dies ist unser! So laßt uns sagen und so es behaupten!

mit dem patriotischen Gebete geschlossen: „Gott sei mit Deutschland und seinem neugewählten Kaiser!“ Ein dreifaches stürmisches Hoch aus der Versammlung und von den dicht gedrängten Gallerien hatte diesen Wunsch bekräftigt, während von draußen herein das festliche Geläute der Glocken von allen Thürmen der Stadt, untermischt mit Kanonensalven, erschallte, und auf den Straßen und öffentlichen Plätzen zahlreiche Gruppen von Menschen sich erfreut zuriefen, daß endlich nun vorüber sei

Die kaiserlose, die schreckliche Zeit,
Und ein Richter wieder auf Erden.

Noch vor Vollziehung der Wahl hatte die Nationalversammlung den Beschluß gefaßt, „der erwählte Kaiser solle durch eine Deputation der Nationalversammlung eingeladen werden, die auf ihn gefallene Wahl auf Grundlage der Reichsverfassung anzunehmen.“ Zugleich hatte die Versammlung „das feste Vertrauen ausgesprochen, daß die Fürsten und Volksstämme Deutschlands, großherzig und patriotisch, in Uebereinstimmung mit der Nationalversammlung, die Verwirklichung der von ihr gefaßten Beschlüsse mit aller Kraft fördern würden.“

In der Frühe des 30. März brach die große, von dem Bureau der Nationalversammlung gewählte Deputation auf. Die verschiedenen Staaten und Stämme Deutschlands – mit Ausnahme Oesterreichs – waren in derselben möglichst verhältnißmäßig vertreten: Preußen durch die Rheinländer Arndt und Zell, den Westphalen von Hartmann, Göden aus Posen, von Deetz und Löwe (Calbe) aus der Provinz Sachsen, Fr. von Raumer aus Berlin, Stenzel aus Breslau, endlich den Präsidenten der Nationalversammlung, der als solcher auch das Haupt der Deputation war, Simson aus Königsberg – Baiern durch Barth, Bauer, Krafft, Sachsen durch Biedermann und Stieber, Hannover durch Freudentheil und Zachariä, Würtemberg durch Federer und [570] Rümelin, Baden durch Soiron, die beiden Hessen durch Cnyrim und Reh, Oldenburg durch Nüder, Thüringen durch Briegleb, Nassau durch Schepp, die Mecklenburg durch Sprengel, Schleswig-Holstein und Lauenburg durch Beseler aus Greifswald, Dahlmann und Riesser (der Letztere, als Berichterstatter in der Oberhauptsfrage, auch persönlich gewissermaßen gebornes Mitglied der Deputation), Luxemburg-Limburg durch Scherpenzeel, Braunschweig durch Hollandt, die Anhaltinischen Länder durch Pannier, endlich die freien Städte durch den Hamburger Merck. Zwei Mitglieder, Mittermaier und Schoder, konnten wegen nothwendiger Anwesenheit in der Heimath nicht Theil nehmen.

Man hatte absichtlich von den zwei Reiserouten nach der preußischen Hauptstadt die längere über Köln gewählt. Man rechnete darauf, daß der Wiederhall, den der Beschluß der Nationalversammlung, wie man zuversichtlich erwartete, von Tag zu Tag in immer weiteren Kreisen finden würde, eines starken Eindrucks auch in den maßgebenden Regionen Berlins nicht verfehlen könnte. Aus demselben Grunde sollte die Deputation nur in kleinen Tagereisen sich ihrem Ziele nähern und erst am vierten Tage in Berlin eintreffen.

So fuhren wir denn auf festlich beflaggtem Dampfschiff am 30. März den Rhein hinunter. Es war ein schöner, klarer Morgen, die Märzsonne schien so rein und warm, wie ein Jahr zuvor, da wir uns zum Vorparlament in der alten Krönungsstadt Frankfurt versammelten. Der königliche Rhein wälzte seine grünen Wogen so gewaltig dahin, als trage er auf seinem Rücken wirklich die Majestät des deutschen Volkes, das seine Ufer so oft siegreich fremden Eindringlingen abgekämpft und mit seinem Blute ihn recht eigentlich zu einem deutschen Strome getauft hat. Aber trotz all der Pracht, womit Himmel und Erde prangten, und trotz all der stolzen Erinnerungen, die mit der Welle des Stromes an uns vorüber rauschten, waren doch die Männer im Schiffe sehr ernst. Nicht, wie jene Siebener-Deputation, welche im Sommer des Jahres 1848 die Donau hinabzog, um einen Reichsverweser zu holen für das nach Einheit und einer obersten Führung dürstende Deutschland, fühlten wir uns getragen und gehoben von der Woge jugendlicher Begeisterung, welche damals die ganze Nation ergriffen hatte. – Dieser erste Rausch war längst verflogen; in strenger Arbeit, unter harten Kämpfen hatten wir uns fast ein Jahr lang gemüht, die Form zu finden und festzustellen, in welcher das Bedürfniß der Nation dauernde Abhülfe, der schöne Traum deutscher Einheit und Größe seine Verwirklichung finden sollte. Wir glaubten eine solche Form gefunden zu haben; der Mehrheitsbeschluß der freigewählten Nationalvertretung hatte dem Werke den Stempel der Gesetzlichkeit aufgedrückt; die Nothwendigkeit, die Verfassung endgültig zu Stande zu bringen, den schwankenden Zuständen wieder Festigkeit, dem erschütterten Vertrauen wieder eine sichere Grundlage zu verschaffen, die Unmöglichkeit, dieses Ziel zu erreichen, wenn dazu erst noch die ausdrückliche Zustimmung von einigen dreißig Regierungen und Ständeversammlungen eingeholt werden müßte – alles dies ließ wohl hoffen, daß die Berufung der Nationalversammlung an die Hochherzigkeit der Fürsten und den Patriotismus der Volksstämme Deutschlands keine vergebliche sein werde. Aber doch zagten wir, diese Hoffnung könne täuschen; zu heftig hatten die Gegensätze der politischen Parteien und der Stämme schon in der Paulskirche selbst sich geregt, hatten das Zustandekommen der Verfassung selbst beinahe unmöglich gemacht; zu entschieden hatten manche der deutschen Regierungen sich bereits gegen die von uns gewählte Form der Einheit erklärt, als daß wir nicht auf mannigfachsten Widerstand bei Ausführung unsrer Beschlüsse hätten gefaßt sein sollen. Wir wußten, daß eine entschlossene und in vielen Gegenden Deutschlands durch zahlreichen Anhang im Volke starke Partei, die demokratische, über diesen Ausgang der Verfassungsverhandlung bitter grollte und daß nur ein verhältnißmäßig kleiner Theil derselben seine Abneigung gegen die erblich monarchische Spitze höheren Rücksichten des Patriotismus zum Opfer gebracht hatte; daß eine andere, ebenfalls sehr einflußreiche Partei, die Ultramontanen, selber durch solche Rücksichten ihre starre Opposition gegen die Führerschaft des protestantischen Preußens nicht hatte erweichen lassen. Wir selber konnten nicht ohne Wehmuth an jene Zeit der ersten Bewegung des Jahres 1848 zurückdenken, wo Alles, soweit nur die deutsche Zunge klang, wahrhaft Ein Herz und Eine Seele zu sein schien, an jene feierliche Verbrüderung mit den Oesterreichern im Römer und in der reformirten Kirche zu Frankfurt, während des Fünfziger-Ausschusses, wo beide Theile im guten Glauben die Schranke für immer niedergerissen wähnten, welche so lange die deutschen Brüder jenseits des Böhmer Waldes von denen diesseits getrennt hatte, und dann wieder an die neue Trennung von eben denselben Oesterreichern, zu der wir uns, zwar mit schwerem Herzen, aber nach gewissenhafter Ueberzeugung und nach dem strengen Gebot der Verhältnisse hatten entschließen müssen.

Und wie stand es dort, wo allein die Kraft lag, unserm Bau den Schlußstein einzufügen, ohne welchen derselbe unvollendet bleiben und haltlos in sich zerfallen mußte? Wir hatten Alles auf einen Wurf gesetzt – wie, wenn dieser uns abschlug, wenn der Monarch Preußens aus legitimen Bedenken, aus Abneigung gegen eine Krone aus Volkes Hand, oder gegen eine Verfassung, welche ja freilich seinen Willen nach innen ebensosehr beschränkte, wie sie seine Macht nach außen verstärkte, oder aus sonst welchen Rücksichten das Anerbieten, welches wir ihm zu machen kamen, ausschlug? Was dann? Die Zaghafteren unter den Deputationsmitgliedern erinnerten an jenen Ausbruch schlecht verhehlter Bitterkeit, womit König Friedrich Wilhelm IV. einer andern Deputation der Nationalversammlung, beim Dombaufeste zu Köln im August 1848, als sie ihn begrüßte, die Worte zugerufen hatte: „die Versammlung möge nicht vergessen, daß es in Deutschland noch Fürsten gebe, und daß er darunter einer der Ersten sei!“ Die Hoffnungsreicheren beriefen sich dagegen auf die officielle Erklärung der preußischen Regierung nach der ersten Lesung der Reichsverfassung – eine Erklärung, die wenigstens in der Hauptsache eine Uebereinstimmung derselben mit der Mehrheit zu Frankfurt annehmen ließ; Einzelne, angeblich Eingeweihte, wollten auch wohl theils aus eigenem Wissen, theils aus Mittheilungen Gagern’s, der einige Zeit vorher ausdrücklich zu dem Zwecke nach Berlin gereist war, um die dortige Stimmung zu erkunden, sichere Erwartungen eines günstigen Erfolges schöpfen. Ein mit der Eigenthümlichkeit des Königs aus eigener Erfahrung wohlvertrauter Diplomat, Heinrich von Arnim (derselbe, der durch die Märzbewegung zum preußischen Minister des Auswärtigen erhoben worden war und, wie man sagt, den König zu jenem vielberufenen Umritt durch die Stadt, mit der deutschen Fahne in der Hand, vermocht hatte) – Heinrich von Arnim, der ein Stück Weges mit uns fuhr, aber in Neuwied unser Schiff verließ, empfahl uns beim Abschied Geduld, wenn es mit unserer Sendung in Berlin, wie er fürchte, nicht so bald zum Ziel kommen sollte.

Die nächsten Eindrücke waren einer hoffnungsreicheren Auffassung unserer Sendung wenig günstig. Im Sommer vorher, als wir, die feierliche Deputation der Nationalversammlung zum Domfest, gleichfalls hier zu Thale fuhren, hatte uns allenthalben lauter Jubel und herzliche Verehrung begrüßt. Ganze Ortschaften waren uns von den Dörfern und den kleinen Städten aus längs dem Ufer hin, festlich geputzt, mit wehenden Fahnen, meist einen Priester an der Spitze, entgegen gewallt. In Coblenz hatte die Bürgerwehr paradirt. Von Köln aus war man weit den Strom herauf zu unsrer Einholung gekommen.

Von alledem fand jetzt nichts, oder das gerade Gegentheil statt. Wie verödet, lagen zu beiden Seiten die Ufer des Rhein, und wenn sich ja hier und da neugierige Gruppen sehen ließen, so warfen sie mehr mißtrauische oder übelwollende, als theilnehmende Blicke zu uns herüber. Diese Erscheinung war zwar nicht erfreulich, aber wohl erklärlich: die Bevölkerung längs des Rhein war überwiegend entweder streng katholisch, oder demokratisch, mancher Orten auch wohl beides zugleich; weder der einen noch der andern dieser Richtungen aber konnte unsere Sendung – zur Einholung eines monarchischen und protestantischen Reichsoberhauptes – sympathisch sein. In Köln, wo wir das erste Nachtquartier machten, wurden wir zwar von einer Deputation eines constitutionell-nationalen Vereins mit feierlicher Anrede empfangen, dafür brachte uns aber ein lärmender Haufe eine Katzenmusik in bester Form, und die löbliche Polizei ließ denselben ziemlich lange ungestört gewähren.

Damit war indeß der schlimmere Theil unserer Reise überstanden. Die folgenden Tage führten uns durch Landstriche, wo die öffentliche Stimmung sich ungleich günstiger erwies, zuerst durch protestantische Theile des Rheinlandes, wie Düsseldorf, dann durch das althohenzollernsche Besitzthum, die Grafschaft Mark. Selbst Dahlmanns schwer bewölkte Stirn heiterte sich hier auf, und um seine schmerzlich verzogenen Lippen begann es zu lächeln, als von Station [571] zu Station die sich herandrängenden Massen dichter, die Kundgebungen der Sympathie unzweideutiger und lauter wurden. Der greise Arndt vollends, der überall noch ganz besonders der Gegenstand und Mittelpunkt volksthümlicher Ovationen war, hatte vollauf zu thun, mit Alt und Jung Händedrücke zu tauschen, seine leichte blaue Reisemütze zu schwenken und in seiner gewohnten sprach- und bilderreichen Weise, obwohl schon in den ersten Stunden gänzlich heiser, allerhand bald allgemein patriotische, bald auf Landes- und Stammesart bezügliche Reden zu halten. Und in der That, eine für unsere vaterländische Vergangenheit hoch bedeutsame Gegend war es, durch die wir jetzt dahin zogen. Dort, aus nicht allzuweiter Ferne, winkten die Höhen des Teutoburger Waldes herüber, und das halbfertige, unvollendet gebliebene Standbild Hermann’s des Cheruskers mahnte verhängnißvoll an unser eigenes, des Abschlusses noch ermangelndes Werk, mahnte an all die Hemmnisse, welche der angestammte deutsche Volkscharakter und vor allem die Eifersucht und der Eigennutz der einzelnen Stammeshäupter jedem Versuch einer Einigung Deutschlands entgegensetzten.

Bald traten wieder andere vaterländisch geschichtliche Erinnerungen an uns heran, jene aus der ältesten Zeit ergänzend. Wir zogen nach einander in den Residenzen beider Zweige des einst so mächtigen Geschlechts der Welfen ein. In Hannover, wo wir am zweiten Tage unserer Reise übernachteten, wußten wir den alten, streng toryistischen König und sein Ministerium – leider auch den im Uebrigen so trefflichen Stüve – der nationalen Einheitssache feindselig abgewandt; um so erfreulicher waren uns die Huldigungen, welche die Stadt durch feierliche Bewillkommnungsdeputationen, die prächtige Bürgerwehr durch festliche Aufstellung vom Bahnhofe bis in unser Hotel uns brachte.

Einmüthiger zeigte sich die Stimmung in der zweiten Welfenstadt, Braunschweig. Hier hatten die höchsten Regierungsbeamten, die Minister selbst, – an ihrer Spitze der alte würdige Herr von Schleinitz, dessen freisinnige Richtung schon von vor 1848 her datirte, – mit der Blüthe der Bürgerschaft sich zu einem großen Festmahl für die Abgeordneten der Nationalversammlung vereinigt. Hier – das sah man wohl – war die Idee eines deutschen Kaiserthums, und zwar eines hohenzollernschen, populär, allerdings aber – denn auch das ließ sich nicht verkennen – eines solchen, welches – nach des unvergeßlichen Uhland Ausspruche – „mit einem Tropfen demokratischen Oeles gesalbt worden.“ Das bewies die allgemeine, lebhafte Zustimmung, als ein Redner daran erinnerte, wie die Unbotmäßigkeit des mächtigen Welfenfürsten einst einen der größten deutschen Kaiser in seinem Siegeslaufe aufgehalten, wie aber die Nationalversammlung bei Abfassung der Reichsverfassung Sorge getragen, daß sich Aehnliches nicht, zum Schaden Deutschlands, wiederholen könne, daß vielmehr die Vollkraft der Nation dem Oberhaupte des Reichs, jederzeit durch keinen andern als den Gesammtwillen eben dieser Nation beschränkt, zur Verfügung stehe.

In Magdeburg, unserm letzten Rastorte, brachte eine Deputation der deutschen Vereine aus dem Königreich Sachsen uns Gruß und Glückwunsch entgegen. Der letzte Theil unseres Weges führte durch die ältesten und getreuesten Landestheile des hohenzollernschen Hauses; daß wir hier immer wachsenden Sympathien begegneten, konnte uns nicht überraschen. Höchstens das durfte uns bedeutsam und hoffnungsverheißend erscheinen, daß in der alten preußischen Königsstadt Potsdam die Mitglieder der Regierung und anderer Behörden uns festlich bewirtheten und betoasteten; ließ sich doch daraus schließen, daß auch in jenen Kreisen, wo das specifische Preußenthum und die absolutistisch-büreaukratische Abneigung gegen parlamentarische Einrichtungen am meisten zu Hause zu sein pflegen, die Wichtigkeit unserer Sendung gewürdigt werde.

Während jenes Festmahles in Potsdam trafen mehrere Frankfurter Collegen bei uns ein, welche zugleich Mitglieder der preußischen Kammern waren und welche sich beeilt hatten, uns noch vor unserer Ankunft in Berlin die frohe Kunde entgegenzubringen, unter wie günstigen Sternen diese stattfinde. In der That klang, was sie mittheilten, so erfolgverheißend wie möglich. In beiden Kammern waren von den Ministern Erklärungen in Bezug auf die Reichsverfassung und die Kaiserwahl abgegeben worden.[WS 2] „Dieser Beschluß,“ war darin gesagt, „sei ein wesentlicher Fortschritt auf der Bahn der Entwickelung der deutschen Verhältnisse, und die Regierung werde Alles aufbieten, damit das erstrebte, jetzt nahe gerückte Ziel ganz erreicht werde.“ „Allerdings,“ hieß es weiter, „könne die Regierung, festhaltend an den schon früher kundgegebenen Ansichten, die Beschlüsse der Nationalversammlung nur für diejenigen Regierungen als gültig anerkennen, welche aus freiem Antriebe denselben beistimmen würden, allein sie werde nichts unversucht lassen, um ein solches Einverständnis zu fördern.“

Der Eindruck dieser Erklärung in den Abgeordnetenkreisen war, wie unsere Freunde uns sagten, ein durchaus günstiger gewesen.

Mit solchen Aussichten und in einigermaßen gehobener Stimmung langten wir am Abend des 2. April in der preußischen Hauptstadt an. Wir wurden in dieser Stimmung befestigt durch die vielen Mitglieder beider Kammern, die uns, nebst einer Deputation des Magistrats von Berlin, auf dem Bahnhofe empfingen. Die Stadt Berlin ehrte uns als ihre Gäste und hatte für unsere Einquartierung in den ersten Hotels gesorgt. Die Bevölkerung begleitete uns mit Zeichen sichtbarer Theilnahme, als wir in den für uns bereit gehaltenen Wagen dorthin fuhren. Kaum dort angekommen, erhielten wir eine Sendung von dem Ministerpräsidenten Grafen von Brandenburg. Er wünschte eine Privatunterredung mit dem Präsidenten der Deputation, womöglich noch an demselben Abend. Da Simson schon von Köln aus auf der ganzen Reise leidend gewesen war, begaben sich zwei andere Mitglieder der Deputation zu dem Grafen. Die vertrauliche Mittheilung, die sie von ihm in Betreff der vom König zu erwartenden Antwort empfingen, stimmte mit der den Kammern gemachten öffentlichen überein. Die Audienz beim König ward auf den folgenden Tag, Mittags zwölf Uhr, im Rittersaale des Schlosses, anberaumt.

Zu der angesetzten Stunde begaben wir uns, wiederum in städtischen Equipagen, in’s Schloß. Der König empfing uns, unter dem Thronhimmel stehend, in militärischer Uniform, den Helm in der Hand, umgeben von den Prinzen des königlichen Hauses, sowie den obersten Hof-, Civil- und Militärbeamten. Präsident Simson theilte in kurzen Worten die Beschlüsse der Nationalversammlung mit, welche uns hierher geführt, indem er zugleich ein Exemplar der Reichsverfassung überreichte. Dann fuhr er fort. „In Vollziehung dieses Auftrags stehen vor Ew. Majestät der Präsident und 32 Mitglieder der Nationalversammlung in der ehrfurchtsvollen Zuversicht, daß Ew. Majestät geruhen werden, die begeisterten Erwartungen des Vaterlandes, welches Ew. Majestät als den Schirm und Schutz seiner Einheit, Freiheit und Macht zum Oberhaupte des Reichs erkoren hat, durch einen gesegneten Entschluß zur glücklichen Erfüllung zu führen.“

Die Antwort des Königs, mit freier und gehobener Stimme gesprochen, begann ziemlich hoffnungverheißend. Er sprach von der Wichtigkeit unsrer Sendung, von dem „Anrecht“, welches die Wahl der Nationalversammlung ihm gebe, und dessen Werth er zu schätzen wisse. „Aber“ – und hier hob der König die Stimme noch mehr – „ein Blick nach oben in solchem wichtigen Momente macht das Auge hell.“ Diese Worte durchzuckten die Meisten von uns sogleich besorgnißerregend; wir ahneten, daß aus solcher Abwendung von den irdischen zu himmlischen Betrachtungen sich irgend eine, vielleicht wohlgemeinte, aber sicherlich nicht staatsmännisch praktische, weit eher romantisch befangene Anschauung der Sachlage entwickeln werde. Und so geschah es. Der König sprach zuerst von der gewissenhaften Achtung der Rechte Aller, welche ihm verbiete, einen entscheidenden Schritt ohne das Einverständniß der andern deutschen Fürsten zu thun. Noch war eine schwache Hoffnung vorhanden, daß damit nur die Freiheit der Annahme oder Ablehnung der Reichsverfassung im Ganzen vorbehalten sein solle, also entsprechend den Erklärungen vom Tage vorher – obschon Ton und Haltung des Königs Mehr und Schlimmeres befürchten ließen. Nur zu bald sollte auch diese letzte Hoffnung schwinden. Der König fuhr fort: „An den Regierungen der einzelnen Staaten wird es sein, in gemeinsamer Berathung zu prüfen, ob die Verfassung dem Einzelnen wie dem Ganzen frommt, ob die mir zugedachten Rechte mich in den Stand setzen würden, mit starker Hand die Geschicke des großen deutschen Vaterlandes zu leiten und die Hoffnungen seiner Völker zu erfüllen.“

Was der König noch weiter sagte – von dem Schwerte Preußens, das in der Stunde der Gefahr dem deutschen Vaterlande nicht fehlen werde, und Anderes mehr, das haben wohl nur die Wenigsten von uns recht gehört. Eine tiefe Wehmuth, eine fast betäubende Seelenerschütterung war über uns gekommen. In manchem Auge, das sonst ruhig und kalt blicke, sah man Thränen zittern. Die mühsame Arbeit eines Jahres, das Bollwerk unserer [572] nationalen Zukunft, die Hoffnung und Sehnsucht von Millionen deutscher Herzen – das Alles sahen wir in diesem Momente in sich zusammenbrechen, und an seiner Stelle, wohin wir nur blickten, ein Chaos von Ungewißheit, von neuen Kämpfen, von Wirrsalen ohne Ende emportauchen.

In solcher Stimmung kamen wir in unsere Wohnungen zurück! Wir versammelten uns sogleich bei dem Präsidenten der Deputation. Die Aufregung war allgemein. Der Entschluß, sofort abzureisen, ward von den verschiedensten Seiten energisch kundgegeben. Der erhaltenen Einladung zur königlichen Tafel zu folgen, erschien Vielen nach solchem Vorgange rein unmöglich. Dennoch siegte – nach langer, lebhafter Debatte – die kältere Ueberlegung, daß in so großem und verhängnisvollem Momente jedes Gefühl persönlichen Unbehagens, selbst nach so berechtigter Erregtheit, schweigen und nur das Interesse der Sache, in deren Dienst wir ständen, den Ausschlag geben müsse. Wenn wir jetzt abreisten, so war jede Brücke der Verständigung zwischen Berlin und Frankfurt abgebrochen. Die Nachricht dieses scharfen Bruches, sobald sie in die Paulskirche kam, würde dort einen Sturm hervorrufen, dessen nicht zu berechnende Folgen die ohnedies so verwickelte Lage noch rettungsloser verwirren möchten. So ward endlich beschlossen, zu bleiben und Alles zu thun, was wir nur könnten – ohne unserer Verantwortlichkeit und der Würde der Nationalversammlung etwas zu vergeben – um, wenn möglich, den gefaßten Entschluß des Königs noch zum Bessern zu wenden. Der erste Entwurf einer Erklärung an das Staatsministerium, von drei damit beauftragten Mitgliedern verfaßt, ward von der Mehrheit zu mild und entgegenkommend gefunden; er sprach aus, daß und warum auf eine Revision der Reichsverfassung nicht eingegangen werden könne, machte auf die Gefahren des Vaterlandes aufmerksam, und ersuchte den König – unter Bezugnahme auf die officielle Erklärung der Regierung an die Kammern – die Führung der obersten Gewalt nach Maßgabe der Reichsverfassung zunächst wenigstens für seine und für die Länder derjenigen deutschen Regierungen zu übernehmen, welche die Reichsverfassung entweder schon anerkannt hätten, oder in nächster Zeit anerkennen würden. Die verschärfte Fassung, die Arbeit des Präsidenten Simson, war streng juristisch gehalten; sie constatirte einfach, daß „die Einladung, auf Grundlage der Reichsverfassung die auf ihn gefallene Wahl anzunehmen, in dem Augenblick als von dem König abgelehnt angesehen werden mußte, in welchem Se. Majestät Ihre Willensmeinung dahin zu erkennen gaben, daß die von der verfassunggebenden Reichsversammlung in zweimaliger Lesung beschlossene Verfassung überhaupt noch keine rechtliche Existenz und Verbindlichkeit habe, einer solchen vielmehr erst durch gemeinsame Beschlußnahme der deutschen Regierungen theilhaftig werden könne.“

Noch stand uns Peinliches bevor, zuerst das Diner in Charlottenburg, dann ein Besuch des Theaters, wozu wir von der Stadt als deren Gäste eingeladen waren. Der König zeigte sich bei den Gesprächen vor und während der Tafel, wie schon früh bei der Vorstellung der einzelnen Deputationsmitglieder nach der Audienz, scheinbar munter gelaunt, angeregt, sorglos, witzig; er schien den Ernst der Lage hinwegscherzen zu wollen. Von den mancherlei bezüglichen, auch wohl anzüglichen Bemerkungen, die er einzelnen Deputationsmitgliedern hingeworfen haben soll, und die alsbald mündlich und schriftlich circulirten, ist Vieles erfunden oder entstellt. Ein Wort, das er an den alten Arndt richtete, ward damals nicht verstanden, auch von Arndt nicht erklärt, hat aber später seine Erläuterung gefunden. „Sie sind also doch gekommen!“ sagte er zu demselben. Man weiß jetzt (aus der nach Arndt’s Tode veröffentlichten Correspondenz zwischen ihm und dem König), daß Arndt vor der Kaiserwahl schriftlich dem König wegen Annahme der Krone angelegen, der König aber schon damals, mit ehrenwerther Offenheit, seine Abneigung kund gegeben hatte, eine Krone anzunehmen, die ihm nicht von den Fürsten, sondern vom Volke geboten werde. Arndt hatte von diesem Bescheid niemals, so viel bekannt, etwas verlauten lassen; er mochte gehofft haben, der König werde doch vielleicht Angesichts der vollendeten Thatsache einer auf ihn gefallenen Wahl anderen Sinnes werden.

Gegen ein anderes Deputationsmitglied äußerte sich der König mit unverhohlenem Mißbehagen über den, eben damals, nach Ablauf des Waffenstillstandes von Malmoe, wieder begonnenen Krieg gegen Dänemark, doch fügte er, vielleicht weil er Erstaunen über eine solche Aeußerung in den Mienen des Angeredeten las, ein paar Worte hinzu, welche den Eindruck der früheren abschwächen sollten, indem sie die Schuld des Krieges auf Dänemark warfen.

Wir fanden in Charlottenburg eine Deputation der braunschweigischen Stände vor, welche gekommen war, um in deren Namen Vorstellungen wegen Annahme der Kaiserkrone und Wiederherstellung eines festen und geordneten Zustandes in Deutschland zu machen. Auch eine deutsche Regierung – leider nur eine, und zwar eine der kleineren – hatte sich beeilt, das Gewicht ihrer Stimme in gleichem Sinn in die schwankende Wagschale der Entscheidung zu werfen. Es war die Regierung des dem königlichen Hause von Preußen nahe verwandten Großherzogs von Sachsen-Weimar; der dirigirende Staatsminister von Watzdorf selbst war zu diesem Behufe nach Berlin gekommen.

Im Theater waren wir der Gegenstand achtungsvoller Begrüßungen und einer fortdauernden wohlwollenden Theilnahme von Seiten des zahlreich versammelten Publicums; nur leider hatten wir, in unsrer damaligen Stimmung, dafür wenig Sinn, für die Vorstellung selbst natürlich noch weniger. Wir entfernten uns, sobald es nur schicklicher Weise geschehen konnte, um der letzten Pflicht dieses so schweren und verhängnißvollen Tages zu genügen, dem Besuch einer Soirée beim Prinzen von Preußen, wozu wir gleichfalls eine Einladung empfangen hatten.

Die Eindrücke, die uns hier erwarteten, waren glücklicherweise von den bisherigen wesentlich verschieden. Der Prinz empfing uns mit großer Freundlichkeit, ließ sich die Einzelnen vorstellen und begann dann, während wir ihn in einem Halbkreise umstanden, ein allgemeines Gespräch. Mit einer militärischen Geradheit, welche uns nun doppelt wohlthat, ging er sofort auf die brennende Tagesfrage ein. Wir hielten mit dem lebhaftesten Ausdruck unseres Schmerzes über den so wenig tröstlichen Ausgang unserer Sendung nicht zurück. Der Prinz versuchte es, die Entscheidung seines Bruders zu rechtfertigen; er legte dabei den Accent auf die Nothwendigkeit einer freien Zustimmung der Fürsten, auf die moralische Unmöglichkeit, ein hohenzollernsches Kaiserthum auf anderm Wege, wohl gar mit Gewalt der Waffen, den übrigen deutschen Staaten aufzuzwingen. Wir bemerkten ihm dagegen, daß nicht dies für uns der entscheidende und unsere Hoffnungen zerstörende Punkt in der Antwort des Königs sei; die vorbehaltene Zustimmung der andern Regierungen würde ja wohl auf völlig friedlichem Wege, durch deren eigene patriotische Einsicht und durch das moralische Gewicht der öffentlichen Meinung, zu erlangen gewesen sein, sobald nur von hier aus die Annahme der Krone und der Reichsverfassung erfolgt wäre. Aber daß man an letzterer rütteln, daß man das Werk der Nationalversammlung wieder in Frage stellen, und damit diese selbst von der Stellung, welche sie kraft einer unabweisbaren Nothwendigkeit und zum Heil des Ganzen eingenommen, herabdrücken wolle – das sei es, was die Hoffnung auf Verständigung und die Aussichten auf die Zukunft der Nation so schmerzlich trübe. Der Prinz schien diese Auslegung der königl. Antwort entschieden als eine irrthümliche zurückzuweisen; ein Bruch mit der Nationalversammlung sei durchaus nicht beabsichtigt, vielmehr erkenne man die Bedeutung der Gesammtvertretung Deutschlands und des von ihr gemachten Anerbietens vollkommen an. Das Gespräch ward bald darauf von ihm abgebrochen, indem er ging, um seine Gemahlin einzuführen, damit auch diese uns empfange. Die Prinzessin richtete erst einige allgemeine Worte an uns, dann sprach sie mit den Einzelnen, wie diese ihr, Einer nach dem Andern, vorgestellt wurden. Ueberall vom Nächsten und Persönlichsten anhebend, kam sie immer und immer wieder auf das Allgemeine zurück, welches uns Alle und, wie man deutlich sah, sie selbst ausschließlich beschäftigte und in innerster Seele ergriff. Sie gab sich keine Mühe, ihre tiefe Erregung zu verbergen; mit bewegter Stimme ermahnte, beschwor sie uns, nicht vorschnell die Hoffnung aufzugeben, oder den Weg der Verständigung abzubrechen. Was wir erstrebten, sei ja so schön, so groß, so nothwendig, daß es zum Ziel kommen müsse und nicht aufgegeben werden dürfe. Wir Alle waren von diesem Empfange auf’s Tiefste bewegt; es war das erste Mal, daß wir an solcher Stelle einem so klaren Verständniß und einem so warmen und wahren Gefühl für die große nationale Aufgabe begegneten.

Auch dem jungen Prinzen wurden wir, ohne förmliches Ceremoniell, beiläufig Einer und der Andere vorgestellt; er zeigte sich als ein junger Mann von einfachem, anspruchslosem Wesen, der um öffentliche

[573]

Die Uebergabe der deutschen Schützenfahne am Gabentempel von La Chaux de Fonds.
Nach der Natur auf Holz gezeichnet von H. Jenny.

[574] Dinge manchen Bescheid wußte und darüber mit Interesse, verständig und zugleich mit jugendlicher Bescheidenheit sprach. Der Abend verging uns sehr angenehm. Der Prinz und die Prinzessin von Preußen machten äußerst liebenswürdige Wirthe, indem sie, zwischen den einzelnen Tischen umhergehend, an denen die Gäste bei einem einfachen und zwanglos servirten Mahle Platz genommen, da und dort stehen blieben und sich bald mit Einzelnen, bald mit Mehreren zugleich unterhielten, wobei sie nicht gestatteten, daß der Angeredete sich von seinem Sitze erhöbe.

Wir harrten noch einen Tag in Berlin aus. Auf unsere Erklärung ward uns lediglich eine eingehendere Mittheilung der Regierung direct an die Nationalversammlung in Aussicht gestellt. Interpellationen in den Kammern erfolgten erst nach unsrer Abreise und blieben ebenfalls wirkungslos.

Unsere Rückreise ging durch Mitteldeutschland. In Halle, Weimar, Erfurt, Eisenach wurden wir mit warmen Sympathien und hochgespannten Erwartungen empfangen, die wir freilich sehr herabstimmen mußten. Nur auf der letzten Station geschah uns das Gleiche, was den Schluß unseres ersten Reisetages in Köln so ominös bezeichnet hatte. Die Hanauer Straßenjugend, untermischt mit einigen Erwachsenen, begleitete, im Vollgefühl republikanischen Freiheitsdranges, die ihnen längst verhaßten „Kaisermacher“ bei der Abfahrt mit Pfeifen und Zischen zum Städtchen hinaus.

Im trüben Abendgrauen kehrten wir nach Frankfurt zurück, das wir vor sieben Tagen beim klarsten Morgen verlassen hatten. Es war ein Bild unserer Sendung. Hell und klar lag die Zukunft Deutschlands vor uns, wenn die Hoffnungen, mit denen wir unsere Reise begannen, sich verwirklichten, wenn Deutschland ein Oberhaupt erhielt, umgeben von einer mit kostbaren Rechten ausgestatteten Nationalvertretung. Vor der vollendeten Thatsache würde auch der hartnäckige Widerstand verstummt sein; in der Vereinigung von Ordnung und Freiheit, von monarchischen und parlamentarischen, volksthümlichen Einrichtungen wäre eine Versöhnung und Ausgleichung selbst des strengeren Conservatismus mit dem weitergehenden Demokratismus angebahnt gewesen. Das Ausland hätte schwerlich gegen diese Selbstconstituirung der deutschen Nation etwas Ernstliches unternommen, so wenig, als es dies gethan gegenüber der viel kleineren Schweiz im Jahre 1847; hätte aber eine fremde Macht eine solche Einmischung gewagt, so wäre dies sicherlich der stärkste Hebel für die Befestigung der jungen Einheit gewesen. Deutschland wäre eine Großmacht geworden und hätte als solche den drohenden europäischen Verwickelungen nicht nur ruhig entgegensehen, sondern selbst bei deren Schlichtung ein gewichtiges Wort mitreden können.

Es hatte nicht sein sollen! Eine dunkle Nacht brach nochmals über Deutschland herein – der Unfreiheit und der wildesten Reaction im Innern, der Ohnmacht und Erniedrigung nach außen.

Und doch – ganz fruchtlos sind jene Bestrebungen, ganz eitel sind jene Hoffnungen des Jahres 1848 nicht gewesen! Der Gedanke der deutschen Einheit, wie oft auch seitdem von den Gegnern verlästert, verhöhnt, unter die Füße getreten und zu den Todten geworfen, ist doch immer und immer wieder auferstanden und hat, wie der lebendige Fruchtkeim, jeden, auch den härtesten Widerstand überwunden. Wie im März 1848 unter dem Druck äußerer Verhältnisse, die Regierungen nachgiebig die Hand boten zu dem Versuch einer Neugestaltung Deutschlands, so haben heut die deutschen Fürsten selbst, diesmal ohne äußern Drang und Zwang, lediglich getrieben durch die unwiderstehliche Macht der in der Nation lebenden und mit innerer Nothwendigkeit wirkenden Idee, sich in eben jener alten Krönungsstadt Frankfurt, wo damals das Parlament tagte, versammelt, um den gleichen Versuch von sich aus zu wagen. Neidlos wollen wir, die wir damals unternahmen das große Werk der Einigung Deutschlands zu vollziehen – neidlos wollen wir es ansehen, wenn die erlauchte Versammlung, glücklicher als wir, das hinausführt, woran wir gescheitert. Was damals die Inschrift über dem Präsidentenstuhle in der Paulskirche uns, den freigewählten Vertretern der Nation, mahnend zurief:

Des Vaterlands Größe, des Vaterlands Glück,
O bringt sie, o gebt sie dem Volke zurück!

das rufen heut wir den Fürsten zu. Mögen sie ein Werk schaffen, wie es dem Ganzen frommt! Die Nation wird ihnen dankbar sein und das Gebotene, wenn es die Probe einer unbefangenen Prüfung aushält, nicht darum zurückweisen, weil es auf einem andern Wege zu Stande gekommen, als den wir 1848 beschritten. Der Wege zum Ziele mag es vielerlei geben, das Ziel selbst wird stets nur Eins sein können: eine gesicherte Machtstellung Deutschlands nach außen, feste Bürgschaft des Rechts und der Freiheit nach innen!

K. Biedermann.



Blätter und Blüthen.


Berliner Gespenster. Von jeher war Berlin trotz seiner gepriesenen Intelligenz und Aufklärung ein fruchtbarer Boden für den Aberglauben. Im achtzehntem Jahrhundert trieben hier die sogenannten „Rosenkreuzer“, eine mystische Secte, welche bald mit den Freimaurern, bald mit den Jesuiten und Pietisten in Verbindung standen, ihr frevelhaftes Spiel. Ueberall tauchten kühne Abenteurer auf und rühmten sich im Besitze besonderer Geheimnisse zu sein; sie speculirten auf die vorwaltende Stimmung und Unwissenheit der Menge, auf die Habsucht und Lebenslust der Vornehmen, denen sie unerschöpfliche Goldquellen und die Verjüngung ihrer durch Ausschweifungen aller Art verbrauchten Körperkräfte versprachen. Einer der interessantesten jener Betrüger war der berüchtigte Cagliostro, der als Geisterbeschwörer und Wundermann ganz Europa in Erstaunen setzte und zahllose Gläubige in Frankreich, England, Deutschland und auch Rußland fand, bis er endlich entlarvt in dem Kerker der Inquisition zu Rom starb. Jahre lang täuschte dieser raffinirte Abenteurer durch seine imponirende Erscheinung, durch den Zauber seiner ihm ohne Zweifel zu Gebote stehenden Ueberredungskraft, durch seine Taschenspielerkünste nicht nur den Pöbel, sondern vorzugsweise die sogenannten höheren Kreise und selbst gebildete Männer und Frauen, unter Anderen selbst die edle Elise von der Recke, die bekannte Freundin des Dichters Tiedge. Er rühmte sich im Besitze der alten ägyptischen Priesterweisheit zu sein und erfand ein eigenes maurerisches System, welches er als das der ägyptischen Maurerei bezeichnete und von dem Propheten Elias herleitete. Er selbst stellte sich als den Nachfolger dieses Propheten dar und ließ sich von seinen Anhängern als Groß-Kophta verehren. Den Gläubigen versprach er eine vollkommene Verjüngung ihrer geistigen und physischen Kräfte vermittelst einer wunderbaren Mixtur, von der einige Tropfen genügten, um das Leben auf 50 Jahre zu verlängern. Nach seinen Angaben konnte man durch stete Erneuerung dieses Experiments ein Alter von 5557 Jahren bequem erreichen. Außerdem gab er vor, Hanf in Seide, Blei in Gold verwandeln und aus kleinen Demanten große machen zu können; außerdem verkaufte er ein Schönheitswasser, das besonders von den leichtgläubigen Damen der Haute volée in Paris ihm mit Gold aufgewogen wurde.

In den von ihm gestifteten Logen ließ er auch Geister erscheinen und mittelst eines geeigneten Mediums Engel und Propheten citiren. Zu diesem Behufe wurde ein Kind benutzt, welches die „Taube“ hieß. Cagliostro oder einer der Eingeweihten legte ihm die Hand auf’s Haupt, hauchte es an und rieb ihm den Kopf mit dem „Oele der Weisheit“ ein. Hierauf wurde das Kind in einen Verschlag gebracht, wo es in die Hand oder in eine Schüssel mit geweihtem Wasser blicken mußte, während die Versammlung die vorgeschriebenen Gebete sprach. Sogleich kam der Geist über das Kind; es sah Engel, Propheten und andere Erscheinungen, sprach mit ihnen und erhielt von ihnen passende oder oft auch unpassende Antworten, welche sorgfältig protokollirt wurden. Natürlich waren, wie dies hinlänglich feststeht, diese Kinder vorher von Cagliostro unterrichtet, wie sie sich zu benehmen hätten. So groß war die Gewalt, welche dieser geniale Abenteurer auf die Gemüther seiner Anhänger und Schüler ausübte, daß diese ihn förmlich anbeteten, Stunden lang zu seinen Füßen lagen, ihn wie einen Gott verehrten. Man trug Ringe, Fächer und Medaillons mit seinem Bilde und dem Bilde seiner Frau, und stellte seine Marmorbüste mit der Unterschrift auf: „Divo Cagliostro“. Bekannt ist das Aufsehen, welches die Halsbandgeschichte des Cardinal Rohan verursachte, in die auch Cagliostro verwickelt war. Dieses Ereigniß, welches dem Königthum in Frankreich einen empfindlichen Schlag versetzte und vielfach als ein Vorläufer der Revolution betrachtet wird, gab Goethe die Veranlassung und den Stoff zu seinem „Groß-Kophta“, der das Ebenbild Cagliostro’s sein sollte.

Ein nicht minder interessanter Abenteurer und Geisterbeschwörer war der bankrotte Gastwirth Johann Georg Schrepfer in Leipzig. Aehnlich wie Ciagliostro verstand auch er einen Kreis blinder Anhänger und Verehrer um sich zu versammeln. Zu diesen gehörte unter Andern der Herzog von Kurland, der Conferenzminister von Wurmb, der Kammerherr von Heynitz, der Baron von Hohenthal in Dresden und vor Allen der damals noch in sächsischen Diensten stehende Herr von Bischofswerder, der später nach Preußen ging und eine solch einflußreiche Rolle am Berliner Hofe spielte. Schrepfer hatte vorgegeben, im Besitze unermeßlicher Schätze zu sein, welche ihm die Jesuiten anvertraut und die er seinen Freunden zuwenden wollte. Das ungeheuere Vermögen, das aus mehreren Millionen Steuerscheinen bestehen sollte, war nach seiner Erklärung bei den Gebrüdern Bethmann in Frankfurt a. M. niedergelegt. Diese

[575] bestätigten auch auf geschehene Anfrage, daß sich in ihrer Verwahrung ein wohl eingepacktes und versiegeltes Packet, dem Anscheine nach die Papiere enthaltend, befände. Man glaubte ihm um so mehr, da er außerdem seinen Angaben durch die von dem Herzog von Kurland gewünschte Geisterbeschwörung einen unwiderleglichen Beweis zu geben wußte. In dem Palais des Herzogs, welches nach dessen Tode mit dem Dresdner Zeughause verbunden wurde, ließ Schrepfer den Geist des verstorbenen Chevalier de Saxe vor der ganzen Gesellschaft erscheinen. Der Eindruck war so mächtig und grauenvoll, daß der Herzog in Ohnmacht fiel und der Kammerherr von Heynitz fast darüber den Verstand verlor. Trotzdem erwachte bald wieder das Mißtrauen seiner Anhänger; sie verlangten das versprochene Geld, so daß Schrepfer sich genöthigt sah, das in Frankfurt deponirte Packet kommen zu lassen. An dem Tage, wo dasselbe in Dresden anlangte, entfernte sich Schrepfer nach Leipzig, wo er in Gegenwart seiner vertrautesten Schüler, der Herren von Hopfgarten und Bischofswerder, auf einem Spaziergange nach dem Rosenthal seinem Leben durch einen Pistolenschuß ein Ende machte.

Seine Papiere und verschiedene physikalische Apparate, welche sich in seiner Wohnung vorfanden, sollen in den Besitz des Herrn von Bischofswerder gekommen sein, der nach diesem Vorfall in Berlin am Hofe eine Anstellung fand und später im Verein mit dem berüchtigten Wöllner und der liederlichen Gräfin Lichtenau den schwachen, leichtgläubigen König beherrschte. Zu diesem Zwecke wurden allerhand verwerfliche Mittel und vorzugsweise auch Geistererscheinungen angewendet. In dem Palais der Gräfin unter den Linden fanden diese Vorstellungen statt, bei denen mit Hülfe der von Bischofswerder und seinen Mitverschworenen geschickt dirigirten Apparate die Geister Cäsar’s und des berühmten Philosophen Leibnitz beschworen wurden. Ein andermal mußte auf Veranlassung der Lichtenau dem Könige sein und ihr im zarten Alter verstorbener Sohn, der von Friedrich Wilhelm II. abgöttisch geliebte Graf von der Mark, erscheinen, um ihn an seine Pflichten gegen die Gräfin zu mahnen und das schon etwas gelockerte Band zwischen Beiden von Neuem zu befestigen. Dieses freche Gaukelspiel wirkte so mächtig auf die zerrüttete Constitution des Königs, daß er von kaltem Schweiß bedeckt in eine Ohnmacht sank und von krampfhaften Zuckungen ergriffen wurde. Mit Hülfe dieser und ähnlicher Taschenspielerkünste herrschten die Pietisten und politischen Intriganten an dem Hofe Friedrich Wilhelm’s II. zum Verderben des preußischen Staates.

Auch in neuester Zeit hat es in Berlin nicht an Geistererscheinungen und Geisterbeschwörern gefehlt, an deren Spitze der vor Kurzem erst verstorbene geheime Registrator Hornung stand. Derselbe versammelte in seiner Wohnung ein Häuflein Auserwählter und Gläubiger, zu denen der reiche, ebenfalls vor nicht langer Zeit heimgegangene Kaufmann Ravené, der General v. Pfuel, ein zwar höchst geistreicher, aber von allem Wunderbaren nur zu sehr eingenommener Herr, un der ihm befreundete Gesandte am Turiner Hofe, Herr von Willisen, so wie mehrere ältere Herren und Damen aus den höchten Ständen gehörten. Mittelst des sogenannten „Psychographen“, eines dem Storchschnabel ähnlichen Instrumentes, verkehrte die Gesellschaft mit den abgeschiedenen Geistern und Seelen. So wurde eines Tages durch Herrn Hornung der Geist des todten Dichters Heine citirt, um über seinen jetzigen Aufenthalt Aufschluß zu geben. Aber der ungezogene Liebling der Grazien hatte auch im Jenseits seinen kaustischen Witz nicht eingebüßt und beantwortete die durch den Psychographen an ihn gestellten Fragen mit so vieler Ironie und solchem Spott, daß man froh war, ihn wieder in sein Grab schicken zu können. Besonders entwickelte der Psychograph eine große Thätigkeit während des Krimkrieges, wo sich hochgestellte Staatsmänner und Diplomaten bei ihm Raths erholten und Herr Hornung selbst eine einflußreiche politische Stellung einnahm. Chgarakteristisch ist das Ende des Herrn Hornung, das durch seinen Aberglauben herbeigeführt wurde. Ein junger Mann, der ihm als Medium diente, machte sich laut Verabredung mit einigen lustigen Gesellen den Scherz, dem Geisterseher einen in der Nähe von Berlin befindlichen Schatz zu verkünden. Sogleich machte sich der getäuschte Hornung in Begleitung eines seiner Freunde und Anhänger auf den Weg, um den Schatz zu heben. Mit Hacke und Schaufel bewaffnet gingen die beiden Schatzgräber um Mitternacht an’s Werk, belauscht von den muthwilligen jungen Leuten, welche mit Hülfe von Knallerbsen und Kanonenschlägen einen Höllenspectakel machten und den Geisterbeschwörern solchen Schreck einjagten, daß sie davonliefen. In Folge der in jener Nacht ausgestandenen Furcht erkrankte der arme Herr Hornung und büßte seinen Aberglauben mit dem Leben.

Ein eigenthümliches und interessantes Licht über diese Geistererscheinungen verbreitet die neueste optische Erfindung eines Engländers Henry Dirks, dem es gelungen ist, Personen oder vielmehr das Bild derselben so erscheinen zu lassen, daß sie ganz wie Gespenster aussehen und denselben schauerlichen Eindruck hervorrufen. Den ersten Versuch in dieser Weise machte der Professor Peper in dem Londoner polytechnischen Institut; bald bemächtigte sich die Bühne der neuen Erfindung, und der speculative Schauspieldirector Laue in Haxton ließ ein besonderes Drama zu diesem Behufe schreiben, worin das Gespenst einer ermordeten Pfarreswittwe ihrem Mörder erscheint. In Paris citirt der bekannte Taschenspieler Robin verschiedene Geistererscheinungen, unter Anderm einen Zuaven, der bei Inkerman gefallen und aus seinem Grabe beim Schalle der gedämpften Trommeln emporsteigt und bleich über das Podium schreitet, indem er mit der Hand auf das Kreuz der Ehrenlegion und auf die klaffende Wunde seiner Brust zeigt. Im Theater Du Chatelet spielen die Gespenster in einem dem Englischen entlehnten Drama. Im letzten Act sieht man einen durch den Mond schwach erleuchteten Wald. Es schlägt Mitternacht; da tritt ein Mann auf, in den blutbefleckten Händen ein Packet Banknoten, die er seinem von ihm ermordeten Herrn geraubt hat. Scheu sieht er sich um, da erblickt er mit Entsetzen wenige Schritte entfernt den Geist seines Opfers. Schaudernd taumelt er zurück, dann stürzt er sich auf das Phantom, welches ein gräßliches Gelächter aufschlägt. Der Mörder stößt nach ihm mit seinem Dolch, und die Gestalt zerfließt vor seinen Augen, um nach wenigen Augenblicken wieder zu erscheinen, diesmal mit einer breiten Wunde unter dem blutigen Hemde. Von Neuem greift der Mörder nach einer Hacke, und dasselbe grauenvolle Schauspiel wiederholt sich noch einmal. Zum Schlusse erscheint ein ganzer Geisterreigen, der den Schuldigen umkreist, biß er sich dem Richter selbst überliefert.

Diese Gespenster sind nichts Anderes, als die Bilder von Personen, die in der ersten Versenkung des Theaters verborgen von einem Spiegelglase ohne Folie reflectirt werden. Stellt man sich nämlich in einem vollkommen dunklen Zimmer vor einen großen vertical angebrachten Spiegel ohne Folie und beleuchtet seine Person mit einer Lampe, so wird man alsbald das eigene Bild auf der entgegengesetzten Seite des Glases erblicken. Wenn sich dann jenseits des Glases andere Personen, z. B. die Schauspieler auf der Bühne, in derselben Entfernung befinden, in welcher man selbst vor dem Spiegel steht, so wird das reflectirte Bild gerade neben oder mitten unter diesen Personen sichtbar werden. Der ganze Apparat besteht demnach aus einem kolossalen Spiegel ohne Folie, der in vertikaler Richtung mit der Rampe des Theaters sich erhebt und auf der Bühne eine schräge Glaswand bildet, welche theils wegen ihrer Durchsichtigkeit, theils wegen der nothwendigen Dunkelheit von den Zuschauern nicht wahrgenommen werden kann. Das Gespenst oder die Gespenster, welche erscheinen sollen, befinden sich in der ersten Versenkung des Podiums, dessen Schieber offen bleiben. Ein intensiver Lichtstrom beleuchtet die Gruppe; derselbe wird durch einen elektrischen Apparat bewerkstelligt, und auf ihm beruht zum größten Theil die Wirkung.

Mit Hülfe dieser Vorrichtung werden die Geistererscheinungen hervorgebracht, und es läßt sich annehmen, daß schon vor dem jetzigen Erfinder die früheren Geisterbeschwörer wie Cagliostro, Schrepfer etc. sich im Besitz ähnlicher Apparate befunden haben. Die neue Erfindung aber liefert die Erklärung zu mancher jener geheimnißvollen Geistererscheinungen, die ohne Ausnahme auf Betrug oder Selbsttäuschung beruhen.



Guarapo. In den südlichen Ländern, wo das Zuckerrohr gedeiht, besonders in Südamerika, Neu-Granada, Ecuador und Peru, bereiten die dortigen Einwohner aus dem Saft des Rohres ein ganz vorzügliches Getränk, das ich schon einmal in meinem „Achtzehn Monate in Südamerika“ genau beschrieben habe. Da aber dieses Buch doch nicht in Jedermanns Händen ist und die Zeit heranrückt, wo unsere deutschen Zuckerpflanzer – die Herren von der Runkelrübe – ihren Zuckersaft gewinnen, so möchte ich die Bereitung desselben hier noch einmal mittheilen. Möglich doch, daß sich ein oder der andere Besitzer einer Zuckerfabrik veranlaßt findet, einen ähnlichen Versuch mit dem Zuckersaft der Rübe zu machen, der aller Wahrscheinlichkeit nach das nämliche Resultat liefern wird.

Das dortige Getränk, Guarapo genannt, hat einen weinsäuerlichen, außerordentlich angenehmen Geschmack, und ich will hier die Bereitung, wie sie in jenen Ländern stattfindet, genau angegeben. Eine Quantität Zuckersaft, gleichviel wie groß und sich natürlich nach den Gefäßen richtend, wird eingekocht, nachdem man zuvor ein Viertheil Wasser dazu gesetzt hat. Beim Kochen muß es gut und viel abgeschäumt werden. Ist das Ganze bis auf die ursprüngliche Quantität Saft (ehe das Viertheil Wasser hinzugethan wurde) eingekocht, so läßt man es abkühlen und gießt es dann in ein irdenes oder hölzernes Gefäß zum Gähren. Das Gefäß wird leicht zugedeckt.

In dem dortigen heißen Klima bedarf der Guarapo drei Tage, bis er seinen Gährungsproceß durchgemacht hat – und ist das Gefäß, in das man ihn schüttet, ein neues, so daß es noch keine Säure angenommen hat, auch wohl noch etwas länger. Hier in Deutschland müßte das freilich erst Alles ausprobirt werden. Süß, mit einem leichten, angenehmen, säuerlichen Geschmack bleibt er dort etwa drei Tage, nachher wird er mehr herbe. Uebrigens berauscht er auch, wenn man zuviel davon trinkt. Die Gefäße, die man dort benutzt, um den Guarapo gähren zu lassen, sind entweder große irdene Urnen bis zu 4 Fuß Höhe, auf die dann blos ein Deckel gelegt wird, oder auch hölzerne, ausgehauene Tröge.

Das ist die ganze einfache Bereitungsart des Guarapo aus Zuckerrohrsaft, und da der Saft der Runkelrübe genau dieselben Eigenschaften hat, nur vielleicht nicht so zuckerhaltig ist, so weiß ich nicht, weshalb man nicht ein eben so gutes Getränk daraus bereiten sollte. Möglich ist nur, daß es hier nicht nöthig würde, soviel Wasser zuzusetzen, wie bei dem Zuckerrohrsafte – vielleicht nur ein Achtel, vielleicht gar keins, um durch das Einkochen das überflüssige Wasser zu entfernen. Jedenfalls müßten das einige Versuche herausstellen, die man je mit verschiedenen kleinen Quantitäten machen könnte.

Ein anderes Lieblingsgetränk der Peruaner ist die sogenannte Mais-Chicha, deren Bereitung aber etwas schwieriger erscheint und in Deutschland schwerlich Nachahmer finden wird. Die Maiskörner werden nämlich von unbeschäftigten Personen (in Peru meist von älteren, achtbaren Frauen) gekaut und dann sorgfältig in einen gemeinschaftlichen Topf gespuckt. Das Ganze wird dann mit Wasser übergossen und, wenn es ausgegohren hat, mit Leidenschaft getrunken. Die Mais-Chicha hat einen herben, bei heißem Wetter aber sehr kühlenden Geschmack, und ich selber habe sie, ehe ich zufällig mit ihrer Bereitungsart bekannt wurde, häufig getrunken. Später aber versagte ich mir diesen Genuß.

Fr. Gerstäcker.



Wie viel wiegt die Luft? das heißt die ganze Atmosphäre, welche die Erde umgiebt? In runder Summe: einmal hundert und zwanzigtausend Billionen Ctr., oder in Ziffern geschrieben: 120,000,000,000,000,000 Ctr.; – und das gewöhnliche Wetterglas ist die Wage, in welcher der obere Quecksilberspiegel die Zunge bedeutet, die uns mit größerer Sicherheit jenes Gewicht angiebt, als sie uns bevorstehende Witterungswechsel vorher verkündet.

[576] Die Höhe des Quecksilbers in der Barometerröhre ist auf der ganzen Erde, an der Oberfläche des Meeres genommen, ziemlich gleich: ohngefähr 28 Zoll. Ihre Schwankungen sind unbedeutend und gleichen sich in fortwährendem Wechsel immer wieder aus. Da nun das Quecksilber in der Glasröhre höher steht als außerhalb derselben, dasselbe aber nur durch den Druck der äußern Luft stattfinden kann, so muß diese Luft, sie mag sich so hoch über uns aufbauen, als sie immer will, eben so viel wiegen, als eine Quecksilberschicht wiegen würde, welche um die ganze Erde in einer Dicke von 28 Zoll gelagert wäre. Ein Quadratzoll dieser Schicht aber wiegt, wie man sich leicht überzeugen kann, 15 Pfund; ein Quadratfuß 2160 Pfund, eine Quadratmeile (die Meile zu 25,000 Fuß) 13500 Millionen Centner. Die ganze Atmosphäre, welche auf der über 9 Millionen Quadratmeilen großen Erdoberfläche ruht, repräsentirt demnach ein Gewicht von weit über 120,000 Billionen Centner.

Obwohl in der Luft nur gegen 5 Zehntausendstel Kohlensäure enthalten sind, jenes Gas, das sich aus dem perlenden Champagner, aus vielen Mineralquellen (sogenannten Säuerlingen) entwickelt, das bei der Gährung, bei der Verbrennung sich bildet und von den Lungen der Menschen und Thiere beim Athmen ausgehaucht wird, obwohl dieser Kohlensäuregehalt nur ein Zwanzigstel Procent beträgt, so schwebt davon doch allein über dem Königreiche Sachsen fortwährend ein Gewicht von 1836 Millionen Centner.

Aus dieser Kohlensäure der Luft bilden die Pflanzen ihre Organe; Holzfaser, Stärke, Zucker u. s. w. entstehen daraus, und weitergehend erhält sich das Thierreich durch ihren Consum. Denn die Kohlensäure enthält, wie schon der Name andeutet, Kohlenstoff, jenen schwarzen Körper, den wir in unsern Oefen verbrennen. Aus der Esse entweicht die Kohle in unsichtbarer Gasform und mischt sich der Atmosphäre bei; in solchem stetigen Kreislaufe erhält sich das wechselnde Leben.

Der Kohlenstoff- (nicht Kohlensäure-) gehalt der ganzen Atmosphäre beträgt mehr als 17 Billionen Centner! Es würde, wenn wir ihn gesondert darstellen könnten, daraus sich eine Kugel von 11/3 Meile Durchmesser bilden lassen; wenn wir ihn aber über die ganze Erde vertheilen wollten, so würde die Schicht doch nur die Dicke eines Messerrückens erhalten. Dagegen ließe sich eine Straße von 30 Fuß Breite und 300 Millionen Meilen Länge einen Fuß hoch damit belegen; das ist eine Länge, welche 15 Mal die Entfernung der Sonne und beinahe 6000 Mal den Abstand des Mondes von der Erde in sich faßt.

Das ist die Menge des Kohlenstoffs, welche in der Kohlensäure der Luft enthalten ist.


Die Strickmaschine. Auf der vorigen Weltausstellung in London hat eine Wirkmaschine großes Aufsehen gemacht. Neuerdings aber wird eine Strickmaschine für Strümpfe und Wämser in Amerika gefertigt, welche von fast so großer Bedeutung zu werden verspricht, wie die Nähmaschine. Wirth und Sonntag in Frankfurt a. M. haben eine solche aus Amerika importirt und dieselbe vollständig bewährt gefunden. Es lassen sich mit dieser Maschine, welche mittelst einer Kurbel durch die Hand gedreht wird, 5000 Maschen in der Minute stricken. Man kann damit abnehmen und zugeben, dichter und loser stricken. Die Maschen werden natürlich ganz egal. Nur die Fersen müssen mit der Hand hineingestrickt werden. Ein Mißstand, den die Maschine anfangs hatte, ist nun aufgehoben. Wenn nämlich der Faden reißt und die die Kurbel drehende Person giebt nicht Acht und dreht weiter, ohne den Faden wieder anzudrehen, ehe er abgelaufen ist, so fällt der Strumpf aus den Hacken, und man braucht eine halbe Stunde, um die Maschen wieder einzuhängen. Diesem Uebelstand ist nun durch eine Vorkehrung vorgebeugt, vermöge welcher die Maschine sich feststellt, sobald der Faden abgerissen ist. Mit dieser Vorkehrung braucht die Maschine nur zugerichtet zu sein, um von einem Kinde von 6 Jahren bedient zu werden.

Diese Maschine, von der ein Modell in der Frankfurter Ausstellung angesehen werden kann, eignet sich besonders für große Familien und für arme Leute. Ein junges Paar, welches sich verheirathet, hat selbst in der geringsten Stellung, als Knecht und Magd, ein paar hundert Gulden sparen können. Kauft es daher neben dem nothwendigsten Hausrath nur eine Näh- und Strickmaschine, so kann die Familie sich allmählich zur Wohlhabenheit emporarbeiten. Sobald die Kinder heranwachsen, können sie die Strickmaschine drehen, welche die Mutter nur zu beaufsichtigen braucht. Es kann zu dem Verdienst des Mannes täglich von Frau und Kind auch noch nahe 1 Thaler verdient werden.



Reclame überall. Unter diesem Titel veröffentlicht die „Deutsche Klinik“ in der Nummer vom 27. Juni dieses Jahres eine Warnung vor einem neuen Toilettenmittel, das von einer Münchener Parfümerie- und Seifenfabrik (Korn) in den Handel gebracht wird: Fluid-Ozon.

Nach der Gebrauchsanweisung ist dasselbe ein ganz vorzügliches Mund- und Waschwasser, das bei richtigem Gebrauche alle übeln Gerüche des Mundes nimmt und „ohne alle nachtheiligen Nebenwirkungen dieselbe (die Haut) reinigt, schädliche Ausdünstungen und Absonderungen auf das Vollkommenste zerstört und als natürliches Desinfectionsmittel durch Sauerstoff in der eigenthümlichen Weise des Ozons wirkt.“

In der That ist aber das sogenannte Fluid-Ozon nichts weiter als eine wässerige Lösung von übermangansaurem Natron, mit Spuren von Glaubersalz und Kochsalz verunreinigt, und zwar enthält die Lösung auf 9 Theile Wasser 1 Theil des übermangansauren Salzes. In der Herstellung kostet die Kanne davon höchstens 2 Silbergroschen, wozu der Verkaufspreis in keinem Verhältniß steht.

Dies sowohl als der Umstand, daß diese Anwendung des wirksamen Salzes durchaus nichts Neues ist, indem dasselbe schon längst als ein wesentlicher Bestandtheil der geruchzerstörenden, desinficirenden Mittel benutzt wird, macht das Fluid-Ozon zu einem würdigen Bruder der Revalenta Arabica.

Dadurch, daß der berühmte Chemiker Freiherr Justus von Liebig in München bei dem Fabrikate gern Pathenstelle vertreten und ihm ein Creditiv mit auf den Weg gegeben hat des Inhalts: „daß dasselbe vollkommen unschädlich sei und wegen seiner großen Nützlichkeit und Wirksamkeit für die bezeichneten Zwecke alle Empfehlung verdiene,“ – dadurch wird die Sache in unsern Augen zwar delicater, aber nicht besser. Jeder Chemiker erkennt auf den ersten Blick, mit wem er es bei dem Fluid-Ozon zu thun hat, und es ist, gelind gesagt, die Gefälligkeit gegen einen marktschreierischen Fabrikanten etwas weit getrieben, wenn demselben durch eine gewichtige Empfehlung die Mittel an die Hand gegeben werden, sich ohne Mühe, lediglich auf Kosten des Volksvertrauens zu bereichern.

Unser Publicum ist glücklicherweise noch nicht gewöhnt, die Namen seiner großen Gelehrten im Vereine mit Geldmachern nennen zu hören; es trägt der Wissenschaft noch jene jungfräuliche Pietät entgegen, die Forscher und Laien in gleicher Weise ehrt. Aber diese Unbefangenheit zu erhalten und alles Unkraut im Keime zu ersticken, was sie überwuchern könnte, sehen wir für unsere Pflicht an, und darum ziehen wir hier einen Gegenstand an das Licht, der durch die medicinischen Fachjournale einem nur kleinen und am wenigsten betheiligten Leserkreise sonst bekannt werden dürfte.


Die deutsche Fahne vor dem Gabentempel zu La Chaux de Fonds.[3]

Hier ward ein alter Bund eneut,
Ein neuer Völkerbund geschlossen,
Der Eintracht Saat in’s Herz gestreut
Und frisch mit Wort und Wein begossen.

Gedeihe sie und trage Frucht
So reich, wie sie der Haß getragen,
Der uns Jahrhundert’ heimgesucht
Und uns am tiefsten selbst geschlagen.

So ist es. Deutsche, Schweizer und Italiener haben in gegenseitiger Anfeindung, Bekriegung, Verfolgung und Vernichtung so Großes geleistet, daß sie den blutigen Stoff zu vielem Feldherrnruhm geliefert; die Blätter ihrer Geschichte sind voll Großthaten des Nationalhasses und des Glaubenswahns, ja das dicke Buch ihrer Geschichte würde um Vieles dünner werden, wenn alle jene Blätter voll Jammer und Jubel des Kriegs plötzlich herausfielen, aber auch um so viel ärmer würde es an den bitteren Lehren, welche erst in der Gegenwart verstanden werden. Deutsche, Schweizer und Italiener haben ihr Rütli gefunden vor dem Gabentempel zu La Chaux de Fonds. Wohl sind es auch hier nur einzelne Männer gewesen, die das Wort für ihr Volk führten, aber aus den Herzen der Besten dieser Völker haben sie gesprochen, und je weiter der Geist wahrer Freiheitsliebe die Massen erleuchtet, um so mehr wird der Handdruck des Friedens und der Achtung, den hier die wenigen Männer sich gaben, von den Völkern anerkannt und zu voller Gültigkeit erhoben werden.

Das ist die hohe Bedeutung der Uebergabe der deutschen und italienischen Fahne als Ehrengaben für die schweizerischen Schützenvereine, jener beiden Fahnen, die von denen aller Nationen allein die Ehre genossen, den Gabentempel mit zu schmücken. Unser Bild erklärt sich selbst. Die Fahne, die Niemand mehr die schwarz-roth-goldne zu nennen braucht, die sich den Ehrennamen der deutschen errungen, begrüßt das Schweizervolk zuerst vom gesammten Ausland als das Zeichen der deutschen Nation. Wird es, wenn sie wieder von deutschen Schiffen weht, noch einmal den Staatslenkern Englands einfallen, sie für eine Piratenflagge zu erklären?

H.


  1. Es ist nicht möglich, hier den Inhalt dieser und der übrigen Reden genauer wiederzugeben; dieselben sind in den „Blättern für das dritte deutsche Turnfest“ meist wörtlich enthalten, ebenso die Specialitäten über Wett- und Schauturnen u. s. w.
  2. Auch der Redaction der Gartenlaube sind von vielen Seiten Briefe heimgekehrter Festtheilnehmer zugekommen, welche von den freudigen Rückerinnerungen berichten und von den dankbarsten Gesinnungen gegen die Feststadt überfließen. Das Schreiben eines Schleswig-Holsteiners, der im Namen seiner Landsleute auf wahrhaft rührende Weise für die gastliche Aufnahme und das herzliche Entgegenkommen sowohl einzelner, namentlich angeführter Bürger, als auch der ganzen Bevölkerung Leipzigs dankt, ist ein neuer Beweis (wenn es dessen überhaupt noch bedürfte) von der treuen Liebe, mit welcher jener brave Volksstamm am deutschen Vaterlande festhielt. Aber wir können diese Dankesergießungen nicht annehmen ohne den Gegendank für die herrlichen unvergeßlichen Tage, welche die Stadt ja eben nur dem Erscheinen so vieler von treuester Vaterlandsliebe durchdrungener Festgenossen zuschreiben kann. Ja, wo die Gäste und die Gastgeber gleichen Genuß hatten, da muß die Festfreude gewiß eine reine, erhebende gewesen sein!
    D. Red.
  3. Hierzu das Bild auf S. 573. – Vergl. Gartenl. Nr. 33, S. 521.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Bauerhofbesitzer
  2. Vorlage: wornen