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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1863
Erscheinungsdatum: 1863
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[497]
Die unsichtbare Geistermusik.[1]
Ein Graudenzer Erlebniß.
Von Ludwig Walesrode.

Am 20. November des Jahres 1845 Vormittags fuhr ich zur Antretung meiner Haft in der Equipage des mir unvergeßlich im dankbaren Gedächtniß lebenden Kaufmanns W., begleitet von diesem und dem geistvollen Justizcommissarius H., nach der eine starke Viertelmeile von der Stadt auf hohem, schroffem Weichselufer liegenden Festung Graudenz. Ich leugne es nicht, es war ein eigenthümliches Gefühl, als der Wagen von dem eine imposant weite Aussicht auf den Weichselstrom und dessen Niederungen bietenden sanft ansteigenden Wege plötzlich über eine Zugbrücke in die Barriere des ersten Festungsaußenwerks einbog und zwischen den scharfen Mauerwinkeln und steilen Walldossirungen der Reduits, Lunetten und Ravelins hindurch endlich in das tiefe, wie ein Felstunnel dunkle Thorgewölbe der inneren Festung hineinrasselte. – Indeß stellte sich doch der Platz, mit dessen Topographie mich meine beiden Begleiter vertraut machen wollten, bevor ich dessen unbeweglicher Insasse wurde, dem ersten von der Neuheit überraschten Blicke nicht so ganz unfreundlich dar. – Die ringsum unter der rasenbewachsenen Wallerde in fortificatorischen Linien sich brechenden Casemattenfaçaden mit ihren zahllosen, schießschartenartigen Fenstern machten den Totaleindruck eines riesigen und antiquirten Palastes von gar barocker Architektur. – Von dem Oberthore, durch das wir eingefahren waren, führte als längster Durchmesser des Platzes eine etwa 600 Schritt lange Pappelallee, an welcher das an den beiden Schildwachen kenntliche Commandanturgebäude und einige gemüthliche bürgerliche Häuschen lagen, nach dem entgegengesetzten Niederthor. Ein drittes, das Wasserthor, befand sich an der sogenannten „Festungskehle“, die auf dem steilen mehrere hundert Fuß hohen Weichselufer gleich einer Mauerkrone saß. Man hatte durch dasselbe, wie durch einen rundbogigen Bilderrahmen, eine prächtige Aussicht auf die sich weit hinstreckenden Weichselkampen mit ihren schimmernden Dörfern und Gehöften. Auf der Place d’armes, einem geschlossenen Polygon gegenüber der Festungskehle, stand unter zahllosen Pyramiden von Geschützkugeln jeglichen Kalibers ein im steifen soldatischen Trophäenstyle ausgeführtes eisernes Monument für den braven Vertheidiger der Festung, den Feldmarschall L’Homme de Courbière, „König von Graudenz“, wie er sich dem französischen Belagerungscorps gegenüber nannte und unterzeichnete. Jene Franzosen des Jahres 1807 waren aber eigentlich großherzoglich hessische Truppen vom Rheinbunds-Contingent.

Soweit unsere Topographische Rundschau, die binnen zehn Minuten bequem erledigt war.

Nachdem ich so gehörig über die Aeußerlichkeiten meines künftigen Aufenthaltsortes orientirt war und meine beiden Freunde mit dem Versprechen, mich bald und recht oft oben zu besuchen, sich verabschiedet hatten – ein Versprechen, das sie ehrlich gehalten –, verfügte ich mich zum Platzmajor Hauptmann N., um mich zum Antritt meines Arrestes zu melden. Dieser theilte mir mit, daß ich schon seit drei Tagen erwartet worden und daß Alles für mich in Bereitschaft sei; zunächst aber müsse er mich auf die Commandantur begleiten, um mich der „Excellenz“, dem Generallieutenant v. Dedenroth vorzustellen. – Es erweckte in mir ein günstiges Vorurtheil, daß ich auf dem Arbeitstische des Commandanten Humboldt’s „Kosmos“ liegen sah, und der bald eintretende General selbst hatte Nichts in seiner Erscheinung, um diese vorgefaßte Meinung zu zerstören. Sein Gesicht, wie die ganze Haltung, hatte etwas Humanes. Er begrüßte mich mit allen Formen wohlthuender Höflichkeit, und selbst die unter den obwaltenden Verhältnissen allerdings eigenthümliche Aeußerung: „Es freut mich Sie hier zu sehen!“ war durchaus gut gemeint. – Es wurde mir gleich klar, daß die außergewöhnliche Casematten-Verfügung, von der man mir in der Stadt Graudenz erzählt hatte, nur in irrigen Voraussetzungen, welche die Berichte des Generalcommando über mich bei dem Commandanten erweckten, oder in einem directen Befehle von Königsberg her ihren Grund haben könnte; eine Ansicht, in der mich die Aeußerung des Commandanten bestärkte, er habe dafür Sorge getragen, daß mir eine recht gesunde Casematte auf der Sonnenseite der Festung eingeräumt worden; offenbar sollte ich in dieser Maßregel keine außergewöhnliche verletzende Strenge erblicken.

Der Platzmajor wurde beordert, mich nach dem mir bestimmten Gefängnisse zu führen. Auf dem Wege dahin engagirte derselbe zu meiner Bedienung einen alten Invaliden, den er sofort anwies, einige Kloben vom „Garnisonholz“ zur vorläufigen Heizung meiner Casematte herbeizuholen; – da ich nämlich auf die Alimentation der Staatsgefangenen, 5 Rthlr. per Monat, Verzicht geleistet hatte, so war ich auch verpflichtet, für Feuerung selbst zu sorgen. – Mein Gefängniß befand sich über dem Wachtlocale am Niederthor. – Obwohl es heller Mittag war, mußte der wachthabende Unterofficier Licht anzünden, mit uns hinaufzuleuchten. – Eine mächtige mit eisernen Ueberwürfen und Vorlegeschlössern verwahrte Eichenthüre, im Hintergrunde der Wachtstube, führte über eine stockdunkle Treppe in eine Art von Vorzimmer, dessen Wände [498] und Decke mit einem glänzenden Schwarz bekeidet waren, das sich bei näherer Untersuchung als lang verjährter, schön krystallisirter Ofenruß darstellte.

Dieses Vorzimmer war eigentlich ein Rauchfang. Abermals klirrten Schlösser und Riegel, abermals kreischte eine schwere Eichenthür in ihren Angeln, wir standen in der Casematte. Dieselbe war ein bombenfestes, rundbogiges Gewölbe, wohl 50 Fuß lang und etwa 12 Fuß breit. Der langgestreckte, sargartige Raum mit seinem frischen, blendenden Kalkanwurfe erinnerte mich an das übertünchte Grab der Schrift. Das Licht fiel durch eine schießschartenartige Mauerlücke herein, die nach innen mit dicken eisernen Traillen, sogenanten „schwedischen Gardinen“, versehen war. Mein Arm reichte nur mit knapper Noth durch die Mauervertiefung an die niedrigen Fensterflügel mit den kleinen blinden Scheiben. Ein Paar Eisenringe an der Wand deuteten darauf hin, daß manche der früheren Insassen dieser Casematten an der Kette gelegen haben müssen. An der Hinterwand, in der Nähe der Thüre, befand sich ein neuer riesiger Lehmofen, nach Art derer, wie sie in polnischen Dorfschenken vorkommen – man merkte es ihm an, daß er sich wohl nie mit etwas Anderem als schmaler Gefängnißkost befaßt hatte. Die vom Staate gelieferten Möbel von verzweifelt schlichtem Aussehen bestanden aus einem hölzernen Schemel und einem leeren Bettgestell; jedoch war es den „Festungsstubengefangenen“, wie die Staatsgefangenen zweiter Classe, zu denen ich gehörte, genannt wurden, freigestellt, sich einige Comforts aus eigenen Mitteln anzuschaffen.

Außerdem werden die Gefangenen dieser Kategorie nicht eingesperrt; der Platzmajor übergab mir vielmehr sämmtliche Schlüssel, die zu meiner Casematte gehörten. Am angenehmsten war es mir, zu hören, daß ich täglich sechs Freistunden, von 9–12 und von 2–5 Uhr hätte, in denen ich Besuche empfangen und innerhalb der Umwallung zwischen dem Ober- und Niederthor promeniren dürfe. Was ich sonst noch reglementsmäßig zu thun und zu lassen hätte, würde ich aus den gedruckten „Instructionen“, die mir im Laufe des Tages zugestellt werden sollten, durch Selbststudien erfahren. Während der Platzmajor mich so in meiner neuen Wohnung installirte, stand der zu meiner Bedienung angenommene Invalide, der sechs mächtige Kloben Eichenholz herbeigeschafft hatte, mit respectvoll angezogenen Armen im Hintergrunde. Aber kaum war der Platzmajor fort, als der alte Möbe, so hieß mein Invalide, ungemein beredt wurde. Er mußte mir vom Gesichte abgelesen haben, daß mir die eben bezogene unfreiwillige chambre garnie durchaus nicht behagte, denn er knüpfte seine Worte unmittelbar an diesen Gedanken an.

„Dat is ja niederträchtig,“ sagte er, „dat solche Herrens, wie Sie, Herr Leutnant, über dem Niederthor wohnen sollen; dat is ja gottserbärmlich. Sie sein ja kein Mörder oder so wat. Die andern Herren Stabsgefangenen wohnen alle da unten am Oberthor und viel besser, und zum Donnerwetter, Herr Leutnant, da gehören Sie auch hin!“

Möbe, der ein sonderbares, zwischen Platt und Hoch schwankendes Deutsch sprach, titulirte mich in einem fort „Herr Leutnant“, wie der italienische Cameriere oder Facchino jeden wohlgekleideten Fremden, von dem er ein Trinkgeld erwartet, mit „excellenza“ anredet. – Ich will gerade nicht behaupten, daß ich durch diese unverdiente Titulatur sonderlich bestochen wurde; aber Möbe gefiel mir. Er trug die „Pflaume“, wie die aus Kanonenmetall geprägte Medaille der Feldzüge von 1813–15 genannt wird, auf der linken Brust seiner Invalidenkutka; doch gemahnte sein ganzer Habitus frappant an „Just“ in Lessing’s Minna von Barnhelm. Er sah eben so ehrlich aus, so grob und so verschmitzt, und die Zornesröthe über die schlechte Welt, die permanent auf seiner Nase glühte, bewies, daß Möbe eben so wenig wie Just ein Verächter vom „veritablen Danziger“ oder irgend welcher anderen den Mäßigkeitsvereinen anstößigen Flüssigkeit war.

„Ja, guter Möbe,“ sagte ich achselzuckend, „da ist nun einmal nichts zu machen.“

„Wat? nischt? I, dat wäre ja!“ – brummte Möbe, während er ein gewaltig aufloderndes Feuer von Hobelspänen im Ofen entzündet hatte, „dat wollen wir doch einmal sehen!“ – und paff! kachelte er einen Eichenkloben mit solcher Gewalt in den Ofen hinein, daß dieser ordentlich dröhnte. „Da soll ja ein heiliges Donnerwetter drein schlagen, wenn dat nicht brennt.“ und – paff! paff! hinterher ein zweiter. „I, daß dich die Schwerenoth!“ – „Na, so wat lebt nich!“ – „Na, so muß’t kommen!“ u. s. w. und jeder derartigen Exclamation der Entrüstung schleuderte Möbe einen Kloben wie ein riesiges Ausrufungszeichen hinterdrein in den Ofen.

Es war ein Feuer, bei dem man bequem einen hochseligen Frankfurter Krönungsochsen hätte braten können. – Der gigantische Lehmofen mit seinen zehrenden Gluthen im Innern erschien mir wie das russische Kaiserreich – ein tönerner Koloß – nur daß ihm die Eisenfüße fehlten. – Eines schönen Tages – dachte ich – und – – – „Wollen der Herr Lieutenant nicht spazieren gehen? et könnte hier ja rauchen!“ sagte Möbe, sich wie Just in der Scene, wo er Tellheim seine Rechnung überreicht, den Rauch aus den Augen wischend, doch mit einem gewissen schlauen Seitenblicke. – Mir ahnte etwas von einer Katastrophe. Es war gerade Freistunde, und in der That fing der Ofen an zu rauchen; jedenfalls, dachte ich, wär’s discret, Möbe mit dem Ofen allein zu lassen und mich noch ein wenig draußen umzusehen; – außerdem war ich ja noch meinen Mitgefangenen am Oberthor die Antrittsvisite schuldig. – Es waren deren beim Antritt meiner Haft nicht viele.

Zwei Elbinger Kaufleute saßen wegen fahrlässigen Bankerotts; ein Artillerielieutenant v. Scz. – Pole bis zum Fanatismus – wegen Insubordination; ein Oekonom aus Gnesen, wegen schwerer Mißhandlung seines Dieners. Ein seltenes Verbrechen büßte ein gewisser Cl. ab; obwohl selbst katholischer Confession, hatte er in der Domkirche zu Kulm, während des Hochamtes am ersten Ostertage, aus der dichtgedrängten knieenden Menge hervorstürzend, das Crucifix vom Altar gerissen, auf den Boden geschleudert und, ehe noch die bestürzten Priester interveniren konnten, unter lauten Verwünschungen und Flüchen mit Füßen getreten. Das irre, scheue Wesen dieses Mannes, der mit Niemandem Umgang pflog, ließ kaum einen Zweifel darüber aufkommen, daß derselbe zweckmäßiger im Irrenhause als auf der Festung untergebracht worden wäre. Ein Fähnrich v. G. wurde auf Gesuch seines Onkels und Vormumds, des Generals v. G., durch besondere königl. Verfügung nun schon Jahr und Tag gefangen gehalten. Sein ganzes Verbrechen war, daß er nach dem vulgären pädagogischen Ausdrucke „nicht gut thun wollte“. Er erinnerte mich an Mirabeau, den der eigene Vater auf Grund einer ausgewirkten auf der Insel Rhé einsperren ließ – von anderen Aehnlichkeiten des Fähnrichs mit Mirabeau ist mir nichts bekannt geworden; interessant war’s mir jedenfalls, aus eigener Anschauung zu erfahren, daß es damals auch in Preußen lettres de cachet gab oder doch etwas dem Entsprechendes. – Ob der pädagogische Zweck mit dem Fähnrich erreicht worden ist, hab’ ich starken Grund zu bezweifeln; von mir wenigstens kann ich nicht sagen, daß ich die Festung gebessert verlassen hätte.

Von den Gefangenen am Oberthor vernahm ich denn auch die Bestätigung dessen, was ich in der Stadt gehört, daß sie seit meiner Ueberweisung nach Graudenz einer weit strengeren Controle als bisher unterlägen und daß meine Casematte am Niederthor wirklich als eine bisher nur von schweren Verbrechern bewohnte berüchtigt war. – In der That erschienen mir die Oberthorcasematten für die Festungsstubengefangenen weit wohnlicher, einige sogar freundlich. Sie lagen sämmtlich zu ebener Erde und waren daher ungewölbt, außerdem hatten sie größere und helle Fenster, und der Eingang vom Platze her war frei und führte durch keine Wachstube. einen ganz besonderen Reiz für die Herren vom Oberthor hatte die vis-à-vis-Nachbarschaft eines niedrigen einstöckigen Häuschens mit einigen gemüthlichen Linden davor. In demselben waren, nach kleinstädtischer Art, ein Materialwaarenladen, eine Bäckerei, eine Schnapskneipe und eine Weinstube vereinigt. Von den hier verkehrenden Artillerieofficieren wurde dieses Häuschen das „Zündloch“ genannt; für mich war’s im Laufe meiner Gefangenschaft ein wirkliches „Gasthaus“, d. h. gastlich im liebenswürdigsten Sinne des Wortes, obwohl eigentlich den Gefangenen der Verkehr daselbst wie an jedem anderen öffentlichen Orte, mit Ausnahme des Betsaales, untersagt war.

Doch ich will hier nicht zu weit vorgreifen. Muß ich doch ohnedies schon, um die Leser mit Ort und Verhältnissen vertraut zu machen, mehr erzählen, als streng genommen eigentlich zu dem Erlebniß, das ich hier mittheilen will, gehört.

Als ich nach etwa einer Stunde wieder in die Wachtstube am Niederthor trat, kam mir der wachthabende Unterofficier mit der [499] Meldung entgegen, daß ich jetzt wohl schwerlich mich in meine Casematte hinauf begeben könne; es müsse mit dem Ofen oben wohl nicht ganz in Ordnung sein, da der Rauch sich sogar hinunter in die Wachtstube gezogen. Ich witterte in diesem Rauche so etwas wie Moderluft. Auf meine Bitte begleitete mich der Unterofficier nach oben. Ein dicker Qualm wälzte sich uns schon auf der Treppe entgegen. In der Casematte selbst konnten wir uns nur durch rasches Oeffnen von Thür und Fenster des erstickenden Qualms erwehren und den Schaden in der Nähe besehen. Die breite Decke des Ofens war nach innen gestürzt und hatte denselben im Fallen, wie’s schien, aus den Fugen gerissen. Die Lehmruinen spieen nun Flammen und Dampf, gleich einem wüthenden Vulcan. An eine Feuersgefahr ist in den unter der Wallerde liegenden feuer- und bombenfesten Gewölben nicht zu denken; werden ja die Schornsteine niemals gefegt, sondern der überhandnehmende Ruß durch ein auf dem Heerde angezündetes Strohfeuer in Brand gesetzt, daß die Flammen lichterloh oben hinausschlagen. Aber was sollte ich bei der schon scharf eingetretenen Winterkälte in einem Casemattengewölbe ohne Ofen machen?

Auf mein Ersuchen schickte der Unterofficier sofort eine Ordonnanz an den Platzmajor mit der Meldung von dem Vorgefallenen. Dieser kam denn auch sofort in officiellster Hast angerannt; bald darauf stellte sich der Ingenieurofficier vom Platz ein, um den Fall technisch zu untersuchen. Möbe, der wieder mit straff angezogenen Armen und dem ehrlichsten Gesichte von der Welt im Hintergrunde stand, wurde scharf in’s Verhör genommen. Allein der blieb dabei, daß er den Ofen mit zartester Schonung und Rücksicht geheizt habe, daß es daher wohl an dessen schwächlicher Constitution gelegen haben müsse. Der Ingenieurofficier, der den Ofen erst vor kurzem und eigens für mich hatte setzen lassen, wußte nicht was er denken sollte, und der Platzmajor schüttelte in einem fort Kopf und Federhut. „Ein janz neuer Ofen, bei Jott, es ist unjlaublich!“ – Er war aus Sangerhausen in der Provinz Sachsen, und das weiche G war der einzige weiche Zug, den ich an ihm kennen gelernt.

Der kritische Casus war aber der: was mit mir anfangen? An einen Neubau des Ofens konnte für’s Erste nicht gedacht werden, eben so wenig daran, daß ich ohne Ofen daselbst aushalten sollte; nirgends aber war im gegenwärtigen Momente eine andere Casematte zu meiner Aufnahme frei oder geeignet. Es war Humor in der Situation: ein Gefangener, der nicht wußte, wo er sein Haupt hinlegen sollte! Ich wartete gutes Muthes die Lösung dieses Dilemma in der Wachtstube ab, während der Platzmajor und der Ingenieurofficier zum Commandanten sich verfügt hatten, um demselben die Angelegenheit vorzutragen. Endlich nach ziemlich langer Conferenz kam der Platzmajor mit dem Bescheide an mich zurück, Se. Excellenz habe angeordnet, daß Casematte Nr. 1, Coupure 1, am Oberthor bis morgen Abend zu meiner Aufnahme in Stand gesetzt werden solle und daß ich mich bis dahin in das Weise’sche Gasthaus, der Commandantur gegenüber, einlogiren könne, was ich denn auch mit Freuden that. Konnte ich dann doch noch eine Nacht als freier Mann schlafen! – Auf der Wachtparade des nächsten Tages ging die Ofengeschichte unter den Officieren von Mund zu Mund und erregte nicht wenig Heiterkeit. In dem eng abgeschlossenen Raum einer fernabgelegenen Festung, wo der Garnison ein Tag wie der andere in dienstlicher Eintönigkeit dahin geht, erhalten dergleichen Historien einen anekdotischen Charakter, sie gehen in die mündlichen Ueberlieferungen der stabilen Festungsbewohner über. Meine einjährige Gefangenschaft in Graudenz hat die Chronik dieses Platzes um manche heitere oder ernste Anekdote bereichert. Man wollte durchaus nicht glauben, daß der Ofen von selbst auf den Einfall gekommen sein könnte, einzufallen, um mich gewissermaßen so durch ein Elementarereigniß, durch höhere Gewalt aus dem wohlweislich mir zugedachten Silvio Pellico-Kerker zu befreien; man meinte steif und fest, daß ich selbst mit Hülfe Möbe’s die ganze Katastrophe in Scene gesetzt und durchgeführt hätte. Der arme Möbe! Glücklicherweise hatte er bereits als Invalide und Befreier Deutschlands, mit der „Pflaume“ auf der Brust, einem wöchentlichen Commißbrod und zwei Thaler monatlich, die höchste Staffel seines militärischen Ehrgeizes erklommen, so daß ein solcher Verdacht ihm in seinem weiteren Avancement nicht hinderlich sein konnte. Und was mich betrifft, so kann ich vor jedem terminirenden Assessor die drei Schwurfinger aufheben und beeidigen, daß ich bei besagter Ofenaffaire des Polonius weise Lehren befolgt und keinem in mir aufsteigenden Gedanken „die Zunge gegeben“. Ich lächelte blos, und Möbe fluchte, und der Ofen fiel ein – das war Alles.

Aber ohne „Aber“ giebt’s nun einmal nichts hienieden, selbst nicht einmal auf einer Festung, wo doch jedes „Aber“ als subordinationswidrig streng verpönt ist. Auch an meine humoristische Erlösung aus der fatalen Niederthorcasematte durch den „feurigen Ofen“ klammerte sich diese fatale Conjunctionsklette.

„Aber,“ sagte mir die alte polnische Schaffnerin im Weise’schen Gasthause, „zu beneiden sind Sie gerade nicht um Ihre neue Casematte am Oberthor.“

„Zu beneiden nun wohl nicht,“ meinte ich, „aber gewiß doch weniger zu beklagen.“

„Hm, das ist sehr die Frage. Am Niederthor hätte es doch wenigstens nicht gespukt!“

„Was, in meiner neuen Casematte spukt’s?“ lachte ich ungläubig in mein Glas hinein; „das habe ich in der That nicht gewußt, daß hier auch Geister in Garnison liegen.“

„Ja, lachen Sie nur, aber wahr bleibt doch wahr! Sie werden es schon erfahren.“ Weiter wollte sie, sichtlich mürrisch, meinem Unglauben nicht Rede stehen.

Am anderen Morgen besuchte ich zur Paradezeit, wo ich sicher war, keine Officiere dort zu finden, das erwähnte „Zündloch“, das der mir bestimmten Casematte schräg gegenüber lag. Man sah mich dort schon als Nachbarn an und kam mir mit der gemüthlichsten Aufmerksamkeit entgegen.

„Es ist uns recht lieb,“ sagte die freundliche, geschäftführende Cousine des Hauses, „Sie in unserer Nähe zu haben; Sie bekommen auch eine weit bessere Casematte, als die am Niederthor Ihnen zugedachte; aber es ist leider ein Uebelstand dabei –“

„Es spukt doch nicht etwa da?“ kam ich scherzhaft fragend zuvor.

„Nun, Sie werden sich selbst die Antwort auf Ihre Frage geben können.“

„Also wirklich? Von welcher Art sind aber die Geister oder Gespenster, die dort ihr Wesen treiben? Sie drehen Einem doch hoffentlich nicht den Hals um oder treiben sonst welchen gefährlichen Schabernack?“

„Das nicht! Im Gegentheil, sie musiciren. Sie werden manche Nacht ganze Concerte aufführen hören.“

„I, das wäre ja ganz vortrefflich – da hätte ich ja meine Hauscapelle – und die Geister machen hoffentlich gute Musik!“

„Wenn Sie das schauerliche Ereigniß kennten, das diesem Spuk zu Grunde liegt, würde es Ihnen schon unheimlich genug zu Muthe werden.“

„Würden Sie vielleicht die Freundlichkeit haben, mich darüber näher zu unterrichten?“

Meine neue liebenswürdige Nachbarin ließ sich nicht lange bitten. Ich erfuhr von ihr Folgendes:

„Es sind etwa sechs Jahre her, daß ein Edelmann aus dem Großherzogthum Poseu, Graf J-sky, wegen politischer Vergehen zu mehrjähriger Festungsstrafe condemnirt, Insasse der in Rede stehenden Casematte wurde, die schon seit langer Zeit auf unheimliche Weise berüchtigt war. War’s doch, als ob Melancholie, Verzweiflung und tragische Katastrophen ihre Opfer vorzugsweise in diesem Winkel suchten, denn in keinem Kerker der Festung waren je so viel grauenhafte Selbstmorde vorgekommen, als gerade hier. Mit dem Einzug des neuen Gefangenen jedoch schien der finstere Dämon, der hier herrschte, gebannt zu sein, gebannt wie der böse Geist des Königs Saul durch die Macht der Musik. – Gras J-sky, ein Mann von jener chevaleresken männlichen Schönheit und Tournüre, die das nationale Erbtheil des Sarmatenstammes geblieben ist, trotz aller Theilungen und Zerstückelungen Polens, hatte in seine Gefangenschaft seine treue Geige mitgebracht, auf der er Meister war. – Man hörte ihn den größten Theil des Tages bis spät in die Nacht hinein seine musikalischen Monologe halten. Bald vertiefte er sich in Etuden, deren technische Schwierigkeiten zu lösen die durch keine Zerstreuungen und Geschäfte gestörte Verlassenheit des Kerkers und die hingebende Geduld des Gefangenen ganz besonders geeignet sind, wie denn auch die Sage, daß Paganini sich während langer Gefangenschaft in einem italienischen Kerker zum unsterblichen Maestro gespielt, mag sie nun erfunden sein oder nicht, ihre sinnige Bedeutung hat. Bald rief er, voll sehnsüchtig jugendlicher Lebenslust, heitere Reminiscenzen des geselligen Lebens in klingenden Weisen herbei. Wer vermöchte [500] zu sagen, welche liebe, warme Erinnerungsträume aus den Takten der galanten Polonaise oder der feurigen Mazurka ihn umfingen, welche weiche Hand einer anmuthigen Tänzerin die seinige drückte, welches flammende Auge ihn aus vertrauten Tanzrhythmen grüßte? Bald erging er sich mit phantasirendem Humor in bunt sich jagenden Opernmelodien, wie Jemand, der wehmüthig ein Album durchblättert, um an flüchtigen Schattenzügen die dahin geschwundenen Momente erhabener Kunstgenüsse zu beleben. Dann spielte er wieder jene zwischen rührender Klage und keckem Uebermuthe wie trunken taumelnden Nationallieder, aus denen treu der polnische Volkscharakter und ein Stück polnischer Geschichte herausklingen.

So wurde Graf J-sky bald der musikalische Wohl- und Wunderthäter seiner Umgebung. Der in fester Gefangenschaft schmachtende Bewohner der oberen Casemattenwölbung lauschte, das bleiche Gesicht gegen die Eisentraillen des Fensters gedrückt, auf die herrlichen Töne, die ihm so menschlich und so göttlich klangen; selbst der an die harte Arbeit vorbeigeführte Baugefangene stand pausirend still, als fürchte er durch sein Kettengerassel das Spiel zu stören, und horchte hoch auf, während der escortirende Patrouilleur, die scharfgeladene Muskete bei Fuß gesetzt, ihn eine Weile gewähren ließ und eben so lauschte. In der Dunkelheit lauer Sommerabende aber schlichen flüsternde Gruppen von „Festungsdamen“ unter den Fenstern jener Casematte einher, um den polnischen Grafen auf der Geige phantasiren zu hören und auch wohl nach den Klängen einer Mazurka oder Cracovienne oder eines deutschen Walzers leise und unbelauscht ein Tänzchen zu machen.

Aber ein Pole, und noch dazu ein so jugendlich-feuriger wie der gefangene Graf, schwebelt und nebelt nicht platonisch auf deutsche Weise in dem Tonäther umher. Die lustige Unterhaltung mit seiner Geige genügte nicht seinem sehnsüchtig an das warme sinnliche Leben sich drängenden Herzen. Und so entspann sich, durch die müßige Einsamkeit des Kerkers gefördert, bald ein inniges Verhältniß zwischen ihm und der jungen Frau eines unten in der Stadt garnisonirenden Unteroffiziers, die, wie andere Unterofficiersfrauen, sich mit der Aufwartung von Staatsgefangenen befaßte. Sie war erst seit Kurzem verheirathet, selbst von polnischer Herkunft und von seltener Schönheit. Ihr Mann, wegen seines ehrenwerthen, biedern Charakters von seinen Vorgesetzten eben so geachtet wie bei seinen Cameraden beliebt, ließ es arglos zu, daß die junge Frau sich den Tag über oben auf der Festung aufhielt, um durch die Einnahme, die sie von den Staatsgefangenen zog, sich eine Aushülfe für die Haushaltung zu verschaffen, für welche die kümmerliche Unterofficiergage nicht ausreichte. Er hatte um so weniger dagegen, als ihr Leben bisher ein durchaus makelloses gewesen und er sich der Treue seiner Frau eben so sicher hielt, als er sie selbst über Alles leidenschaftlich liebte. – Allein auf der Festung giebt’s keine Geheimnisse. Die Mauern, so verschwiegen sie aussehen, plaudern, und der Teufel „Gerücht“ weiß eben so die Wallerde von den Casematten abzudecken, um zu erspähen, was im Innern derselben vorgeht, wie Le Sage’s hinkender Teufel es mit den Dächern der Häuser machte. – Bald war das Geheimniß von dem gar intimen Verhältniß des gefangenen Grafen und der jungen, schönen Unterofficiersfrau aus der Stadt ein öffentliches – und außerdem hat es noch keinem Othello, mag er weiß oder schwarz sein – an einem schadenfrohen Jago gefehlt.

Eines Tages war der sonst so dienstpünktliche Unterofficier ohne vorhergegangene Meldung von dem ihn treffenden Dienst ausgeblieben. Man schickte nach ihm – die Thüre seiner Wohnung war von innen verschlossen. Als diese gewaltsam geöffnet wurde, fand man die Unterofficierfrau mit zerschmettertem Hirnschädel todt auf ihrem Bette hingestreckt: eine blutige Axt neben ihr. Auf dem Boden aber wälzte sich unter unsäglichen Schmerzen ihr Mann, der sich als der Mörder seines treulosen Weibes bekannte. Er selbst hatte sich mit Schwefelsäure vergiftet und starb nach wenigen Stunden in entsetzlichen Todesqualen.

Man mag sich denken, welchen Eindruck der gewaltsame Tod der allgemein bekannten jungen und schönen Frau und des braven im blühendsten Mannesalter stehenden Unterofficiers in der Stadt und oben auf der Festung machte.

Seit jenem Ereigniß waren die Mazurka’s, Cracoviennes und die polnischen Volkslieder verstummt, die sonst so heiter aus der Casematte Nr. 1, Coupure 1, am Oberthor weit über den Festungsraum hinklangen. Graf J-sky schien seine Geige vergessen zu haben. Seine Casemattenfenster blieben fest geschlossen, wie seine nur den revidirenden Polizeiunterofficieren sich öffnende Thüre. Man sah ihn nicht, wie sonst wohl während der Freistunden, mit anderen Gefangenen promeniren, und obwohl er bis zehn Uhr Abends Licht brennen durfte, eine Erlaubniß, die er früher unbehindert über Gebühr ausdehnte, blieb nunmehr seine Casematte stets finster. – Eines Abends jedoch – es mochten wohl 14 Tage seit jener blutigen Katastrophe verstrichen sein – hörten die Umwohnenden wieder seine Geige durch das Dunkel der Nacht klingen. Es waren schwermüthig klagende Phantasien, unterbrochen von bizarren Passagen, die wie wahnsinnig gellend dazwischen lachten. Die Töne verklangen endlich melancholisch, wie ein leise verhauchendes Grabeslied. Es wurde still. Da plötzlich knallte durch das tiefe Schweigen der Nacht ein Schuß. Die erschreckten Nachbarn stürzten herbei, die Fenster der Gefangenen-Casematten öffneten sich; Ordonnanzen von der alarmirten Hauptwache am Oberthor hatten den Platzmajor und den Officier du jour herbeigeholt. Diese ließen die von innen verrammelte Thüre sprengen. Ein entsetzlicher Anblick zeigte sich ihnen und den ihnen nachdringenden Neugierigen. Der Graf hatte sich mit einem Pistolenschuß den Kopf zerschmettert, die Wände waren mit Gehirn und Blut bespritzt. Der grausig entstellte Leichnam lag mitten auf dem Boden der Casematte; nicht weit davon die zertrümmerte Geige, eine prachtvolle Amati von großem Werthe – sie war sichtlich mit einem Fußtritt zerstampft worden.

Es sind nunmehr bereits, wie gesagt, sechs Jahre seit dieser blutigen Katastrophe verflossen; aber noch immer ist deren unheimlich gespenstisches Echo nicht verhallt. Während der Stille der Nacht klingt eine leise, wie durch eine weite Ferne abgedämpfte Musik durch die Casematte. Alle späteren unfreiwilligen Bewohner derselben haben sie mit Grausen vernommen und waren froh, wenn sie durch Versetzung in einen anderen, wenn auch schlimmeren Kerker von der unheimlichen Geisternähe befreit wurden.“

So erzählte meine neue freundliche Nachbarin – und ich erzähle es ihr, wenn auch nicht in ihren eigenen Worten, doch inhaltstreu nach. Was ich gehört, hatte mich nicht gläubiger gemacht; allein ich lachte nicht mehr über die Spukgeschichte.

(Schluß folgt.)





Aus dem Leben deutscher Schauspieler.
Ein ernster Komiker.
Von Franz Wallner.

Am 13. Mai 1820 waren die Räume des alten Leopoldstädter-Theaters Zeugen eines damals unerhörten Theaterscandals. Ferdinand Raimund, der verwöhnteste Liebling des Publicums, der originelle Schöpfer der Bäuerlichen Possenfiguren, wurde bei seinem Erscheinen an jenem Abend ausgepfiffen, daß die Wände zitterten! Der Grund, warum das vielköpfige Ungeheuer Publicum die Schale seines entfesselten Grimmes über das Haupt des gefeierten Komikers ausgoß, war wohl der seltsamste, aus welchem je ein Schauspieler sich das Mißfallen des Auditoriums zuzog. Raimund hatte nicht heirathen wollen! Darum wurde er ausgepfiffen. So seltsam das klingen mag, so buchstäblich wahr ist das ganze Ereigniß.

Als Bräutigam einer blendend schönen Schauspielerin, Louise Gleich, der Tochter eines beliebten Localschriftstellers, erfuhr Raimund kurz vor der Hochzeit Dinge aus dem Vorleben seiner Braut, es wurden ihm Beweise über Thatsachen vorgelegt, die auch eine kaltblütigere Natur als die Raimunds erschüttert hätten. Und doch war der folgende Morgen zur Trauung bestimmt; nach derselben aber sollte eine zahllose Festversammlung das frohe Ereigniß der Vermählung zweier Lieblingsschauspieler der Residenz in dem prachtvollen Saale des k. k. Augartens mitfeiern helfen. Die einflußreiche Familie und die noch weit einflußreicheren hohen Gönner der Braut hatten ihre gewichtigen Gründe, dieselbe baldmöglichst unter der Haube zu wissen – und wie der arme, rathlose

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Ferdinand Raimund als Aschenmann.

Künstler auch seinen Verstand zermarterte – kein Ausweg aus dem Netze, welches er sich selbst gestellt! und doch einer, wenn auch originell und bizarr, wie das ganze Treiben des Sonderlings!

Eine schaulustige Menge drängte sich in der Kirche, dessen Altar festlich geschmückt des Brautzuges harrte. Aber nur der eine Theil hatte sich eingefunden. Der Bräutigam erschien nicht, ohne ein Wort der Entschuldigung war er ganz einfach ausgeblieben, alles Suchen nach ihm vergebens; nachdem stundenlang die Geduld der Anwesenden auf die härteste Probe gesetzt worden, kehrte die Braut in ihre Wohnung zurück, wo ein lakonischer Zettel meldete: „er habe sich die Sache anders überlegt, und wolle nun gar nicht heirathen.“

Mit Windeseile durchlief diese Nachricht mit monströsen Zusätzen und Verunzierungen die Stadt, deren entrüstete Bewohner sich um die gekränkte Künstlerin schaarten und in oben geschilderter Weise derselben Satisfaction zu schaffen suchten.

Ein gellendes Pfeifen, Toben und Scharren empfing den sonst so beliebten Komiker, der leichenblaß, mit finsterer Stirne die Lynchjustiz über sich ergehen ließ. Auf den Ruf: „Abbitten! Fräulein Gleich Satisfaction geben!“ etc. trat Raimund vor die ergrimmten Zuhörer, im Galgenhumor versichernd, daß es ihm während seiner theatralischen Laufbahn oft vorgekommen sei, daß ein Schauspieler „auf allgemeines Verlangen“ eine Rolle spielen müsse, aber daß ein Künstler auf allgemeines Verlangen heirathen solle, das sei gewiß neu.

Man kann sich keinen Begriff von der Wirkung machen, mit welcher diese kecke Anrede in das Publicum einschlug. Während ein Theil vor Lachen über die sonderbare Vertheidigung in tollen [502] Jubel ausbrach, pfiff und tobte der andere fort, indeß die Verehrer Raimund’s eben so wüthend applaudirten.

Der Vorhang fiel, die Vorstellung nahm ein verfrühtes Ende. Als Nachspiel heirathete der Komiker doch noch „auf allgemeines Verlangen“ die Schauspielerin Louise Gleich, aber nur, um in kurzer Zeit darauf eine rechtskräftige Scheidung einzuleiten und durchzuführen. Diese Scheidnug „von Tisch und Bett“, nach welcher er als Katholik nicht wieder sich vermählen durfte, war der schwarze Schatten, der das heitere Leben des Künstlers für immer verdunkeln sollte. Ein wackeres Mädchen, Fräulein A. W., schenkte dem Manne, der nur sein Herz, aber keine Hand mit diesem zu vergeben hatte, ihre erste Jugendliebe und blieb dieser treu bis übers Grab hinaus. Daß er seine „Toni“ nicht heimführen dürfte an den häuslichen Heerd, war für den redlichen Raimund eine fortwährende geistige Marter; die Demüthigungen, welche das arme Mädchen zu erdulden hatte, die Opfer, welche sie ihrer Liebe brachte, erkannte der Künstler dadurch an, daß er seine Geliebte zur Universalerbin seines beträchtlichen Vermögens einsetzte.

Im Juni 1790 wurde Raimund in Wien geboren. Leider reichten die Mittel seines Vaters, eines armen Drechslermeisters, nicht aus, um dem heißen Wunsche des Knaben, zu studiren und etwas Tüchtiges zu werden, Genüge leisten zu können. Nun, der Junge ist doch etwas Tüchtiges geworden, wenn gleich in anderer Sphäre, als er damals ahnen mochte. Zu einem Zuckerbäcker in die Lehre gebracht, übte er sich mit poetischen Erstlingsversuchen, als Bonbondevisen, welche letztere viel besser ausgefallen sein sollen, als der von ihm gefertigte süße Inhalt derselben.

Der Schauspieler Landner, ein früherer Schulcamerad und späterer College Raimund’s, mit dem er bis zu seinem Tode innig befreundet blieb, hatte einige Federproben aus jener Zeit aufbewahrt; so zum Beispiel eine burleske Grabschrift, die er bei irgend einer Gelegenheit für seinen eigenen Leichenstein pränumerando anfertigte:

Wandrer, steh’ still oder setze Dich nieder.
Hier ruhen eines Mannes Glieder,
Der Ferdinand Raimund hat geheißen,
Ganz jung mußt er ins Gras schon beißen;
Im rühmlichen Beruf hat er den Tod gefunden:
O Wandrer – ihm wär’s lieb, lägst Du statt ihm da unten!

Nach vielen gescheiterten Versuchen, in Wien oder wenigstens in der Umgebung der Residenz auf einem Sommertheater unterzukommen, begann er seine theatralische Laufbahn in Preßburg; diese Versuche fielen aber kläglich aus, und er mißfiel dem dortigen Publicum total. Nun begann für den Armen ein Wanderleben der entmuthigendsten und mühseligsten Art, auf’s Grellste contrastirend mit dem hohen Ideal, welches der unerfahrene begeisterte Bürgerssohn von der „hehren Kunst“ im Busen trug.

Es fehlt uns der Raum, um dem fahrenden Komödianten auf seinen Kreuz- und Querzügen zu folgen, und die Entwicklung seiner Fähigkeiten stufenweise zu beobachten. Im Jahre 1813 finden wir ihn schon als Gast mit großem Beifall in Wien auftretend, und 1817 gehörte er schon als überaus beliebtes Mitglied dem damals unübertrefflichen Komikerverein des Leopoldstädtertheaters an, für welches die Schriftsteller Meisl, Bäuerle und Gleich ihre hoch beliebten Zauberpossen schrieben. Der Zufall und die eiserne Nothwendigkeit drängten Raimund selbst auf die Bahn des Volksdichters, auf welcher er so reiche Lorbeeren zu ernten und alle seine Nebenbuhler zu überflügeln bestimmt war.

Er hatte Meisl die Idee zu einem Zaubermärchen mitgetheilt, welches zu seinem Benefize im Winter 1823 in Scene gehen sollte. Vergebens war alles Drängen und Mahnen des geängstigten Schauspielers, der Tag des Benefizes rückte näher und näher, ohne daß Meisl, schreibefaul wie immer, mehr als die Einleitungsscenen zu Papier gebracht hatte.

In seiner Desperation beschloß Raimund, selbst den kühnen Versuch zu wagen und das angefangene Opus, „der Barometermacher auf der Zauberinsel“, fertig zu schreiben, ein Versuch, der so glücklich ausfiel und seine hoffnungsreichsten Erwartungen so hoch überflügelte, daß er schon im nächsten Jahre mit einer neuen Zauberposse, „der Diamant des Geisterkönigs,“ vor das Publicum trat, deren Grundidee einem Märchen aus Tausend und einer Nacht entnommen war. In rascher Reihenfolge erschienen nun die Originalwerke: „der Bauer als Millionär“, „Monsasur’s Zauberfluch“, „die gefesselte Phantasie“, „der Alpenkönig und der Menschenfeind“, „die unheilbringende Zauberkrone“ und endlich „der Verschwender“.

Es ist hier nicht die Stelle, um auf Raimund’s unbestrittene Verdienste um die deutsche Volksbühne, seine reiche Erfindungsgabe, seine naive, nie verletzende Witzader als Schriftsteller näher einzugehen; als Schauspieler war derselbe eine Erscheinung, die kaum in der Geschichte des deutschen Theaters wiederkehren dürfte. Von glühender Begeisterung für seine Kunst erfüllt, trugen seine Bühnengestalten stets den Stempel des reifsten, charakteristischsten Studiums. Sein haßerfüllter Rappelkopf und die wehmuthsvoll weiche Erscheinung des Aschenmannes, welch’ ein Contrast!

Unser Bild bringt die Figur des letzteren, nach einem Original des genialen Kriehuber in Wien, in sprechender Aehnlichkeit in Haltung und Zügen, zur Anschauung.

Die Erkennungsscene im „Verschwender“, wo der arme treue Valentin seinen ehemaligen Herrn im Elend findet, gehörte in Raimund’s Darstellungsweise mit zu dem Vollendetsten, was die deutsche Schauspielkunst je aufzuweisen hatte. Und mit wie einfachen Mitteln erreichte der geniale Künstler die erschütterndste Wirkung! Valentin findet an der Schwelle des Palastes seines früheren Gebieters einen Bettler, der Arme will mit dem Aermeren theilen, er nimmt ein Geldstück, um es ihm zu schenken, die Züge des Bettlers scheinen ihm bekannt, er starrt ihm ins Gesicht, die ausgestreckte Hand bleibt unbeweglich, er wagt es nicht, dem Bittenden den bereit gehaltenen Groschen anzubieten. Der ehemalige Millionär fragt den fremden Mann erstaunt, was er von ihm wolle; dieser erkennt die Stimme seines geliebten Herrn, ein unarticulirter Schrei entringt sich der vollen Brust, ein Schrei, in dem sich der tollste Jubel und die innigste Wehmuth mischt; ein greller Ausruf: „Mein gnädiger Herr!“ Er überfliegt noch einmal die verfallene Gestalt des einst so hochgestellten Mannes, und leise stammeln die bebenden Lippen, welche die Hände des früheren Gebieters mit Küssen bedecken, unter einer Fluth von Thränen der Freude und des Schmerzes: „Mein gnädiger Herr!“ Wie Viele, auch Schreiber dieser Zeilen, haben es versucht, dieses zweimalige „Mein gnädiger Herr“ in ähnlicher Weise nachzusprechen, nachdem der Mund des Schöpfers für immer stumm geworden! keinem ist dies nur annähernd gelungen. Diese Töne einer aufjauchzenden und schmerzerfüllten Menschenbrust waren eben nur dem Dichter des „Verschwenders“ eigen.

Wer sollte nicht meinen, daß Raimund jetzt auf dem Höhenpunkte des Glückes angelangt sei? Getragen von der vollen Gunst der Elite des Publicums und der Achtung seiner Mitbürger, in glücklichen Vermögensverhältnissen, Besitzer eines reizenden Tusculums in dem schönsten Gebirgsthale der Monarchie, in Guttenstein, umgeben von der zärtlichsten Sorgfalt eines liebenden und geliebten Wesens, was konnte dem Beneidenswerthen noch fehlen? – Und doch wurde der überall Gefeierte seines Lebens und Wirkens nicht froh; weder die Anerkennung in der Heimath, noch die Erprobung seiner Verdienste auf weiten Gastspielreisen an den größten Bühnen Deutschlands, die sich durch die glänzendsten Erfolge zu wahren Triumphzügen gestalteten, vermochten die schwarzen Schatten der Hypochondrie zu verscheuchen, die sich um das Haupt des Musengünstlings gelagert hatten. Gerade bei seiner genialen Begabung lastete der Mangel an eigentlicher wissenschaftlicher Bildung doppelt schwer auf ihm; bei einem Herzen voll warmer Menschenliebe, unermüdlich im Wohlthun, mit stets offener Hand gegen ärmere Collegen, konnte er doch nie ein scheues Mißtrauen gegen alle Welt überwinden. Wie unglücklich sich der Mann fühlte, dem alle Herzen entgegen schlugen, der Alles erreicht hatte, was in seiner Sphäre zu erreichen möglich war, mögen die folgenden Blätter beweisen. Raimund liebte es, in losen Heften seine Empfindungen in Tagebuchform niederzulegen. Einige dieser Ergüsse hat sein Freund und College, der Schauspieler Landner in Wien, der Vergessenheit entrissen. Sie mögen hier eine Stelle finden.

Lose Blätter aus dem Tagebuche eines ernsten Komikers.
Wien 18–

Es ist seltsam! Je höher die Wogen des Beifalls mich umrauschen, je stürmischer mich die Gunst des Publicums erhebt, desto unzufriedener werde ich mit mir selber. Ich fühle in meiner tiefsten Brust, was ich mir kaum selbst zu gestehen wage, wie unzulänglich mein Genre ist, wie es in demselben so ganz und gar unmöglich ist, Großes zu leisten. Es ist recht traurig! Ein ganzes volles Menschenalter hindurch habe ich vergebens gestrebt und gerungen; [503] mit der letzten Scholle, die man einst meinem Sarge nachwerfen wird, ist auch mein Name der Vergessenheit anheim gefallen. Ihr Glücklichen, denen Mutter Natur ein Organ in die Brust gelegt, volltönend und kräftig genug, um Shakespeare’s, Schiller’s und Goethe’s herrliche Worte auf der Bühne erklingen zu lassen, jedes warme Zuschauerherz erhebend und begeisternd!

Warum mir gerade dieses schnarrende, mißlautige Instrument, zu meiner glühenden Seele passend, wie die Straßenorgel zum Kirchengesang! Warum mir gerade dieses tonlose Organ, eben gut genug, den Possenreißer zu spielen, um der johlenden Menge ein paar müßige Stunden zu verkürzen; ohne tieferen Eindruck, ohne bleibende Nachempfindung! Und an diese fluchbeladene Existenz gefesselt zu sein, wie der Galeerensklave an die Kette!


München.

Heute habe ich einen furchtbaren Abend erlebt. Der berühmte Eßlair spielte am Hoftheater den Tell, eine seiner Forcerollen. Ich fliege in’s Schauspielhaus, um die Künstlergröße anzustaunen, von welcher der Ruf so viel Günstiges erzählt. Was finde ich? Eine Ruine! Eine Ruine, zerfallen und ohne Spur ehemaliger Herrlichkeit. Ein alter Mann, zahnlos, kaum noch verständlich seine Aufgabe handwerksmäßig herablallend und das Publicum, das den einst Gefeierten in anerkennungswerther Pietät mit einem Sturm von Applaus empfing, im Verlaufe der Darstellung eisig kalt lassend. Ich kann nicht beschreiben, wie schneidend wehe mir der Anblick that. Die Erscheinung berührte mich um so schmerzlicher, als ich erfuhr, daß nur Geldnoth den Greis dazu trieb, seine früher errungenen Lorbeeren selber in den Staub zu treten. Ach, welch’ ein widerlicher Anblick ist doch ein alter Komödiant! Wird es mir einst auch so gehen? Von jetzt an will ich sparen, die Sorge für die Zukunft soll in Folge mein Cassenverwalter sein, und der heutige Tell möge ein warnend Schreckbild als Titelbild meines Aufgabebuches stehen. Ob es nicht besser wäre, mit einem raschen Pistolenschuß diesen Sorgen zuvorzukommen, während man noch auf dem Zenith des Ruhmes steht?


Wien, den –.

Heute Abend haben wir einen Theaterscandal zu gewärtigen. Die Krones tritt nach einer mehrmonatlichen Pause wieder auf. Der Leichtsinn dieser allerdings sehr talentvollen Person hat selbe in eine gräßliche Situation verwickelt. Ein reicher polnischer Cavalier sucht ihre Bekanntschaft zu machen, und läßt sich bei der beliebten Schauspielerin einführen. – Es soll dies – wie die böse Welt behauptet – eben nicht mit besonderen Schwierigkeiten verbunden sein. Kurz und gut, in wenig Wochen stehen die Krones und Graf Jaroschinsky auf so vertrautem Fuße, daß Erstere eine Einladung zum Mittagsessen in der Wohnung des Edelmanns annimmt. Es soll dort toll genug zugegangen sein. Während die Orgie im vollen Gange ist, wird der Graf abgerufen. Die Krones setzt sich an’s Clavier und trällert ein Modeliedchen. Plötzlich öffnet sich die Seitenthür, und Graf Jaroschinsky steht umgeben von Polizeidienern und Criminalbeamten, mit schweren Ketten gefeselt und mit todtenbleichem Antlitze, vor den Augen seiner entsetzten Gäste. Die Krones fällt in Ohnmacht, ob in eine wirkliche oder fingirte, will ich dahin gestellt sein lassen, wird aber durch die Hände der rauhen Sicherheitsbeamten in’s Leben zurückgerufen und muß nun über ihr Verhältniß zu dem Grafen – der eines Raubmordes angeklagt ist – genaue Auskunft geben. Es sollen dabei eben nicht die erbaulichsten Details an’s Tageslicht gekommen sein. Jaroschinsky hat wirklich, wie es sich bald ergab, seinen ehemaligen Lehrer, den siebenzigjährigen ehrwürdigen Professor Blank, mit kalter, henkersmäßiger Grausamkeit gemeuchelt und bestohlen und mußte vor wenig Wochen seine fluchbeladene That am Galgen büßen. Die Krones, hieß es damals, werde der Bühne entsagen und sich in ein Kloster zurückziehen. Und jetzt, nachdem kaum mehrere Monate über dies Ereigniß hingegangen, hat die Person die Frechheit, wieder vor die Augen des Publicums zu treten. Alles ist empört, und die Krones wird, trotz ihrer Beliebtheit als Künstlerin, ein gewaltiges Strafgericht zu überstehen haben.

Ich bin gottlob in der heutigen Vorstellung nicht beschäftigt; und geht mich gleich die ganze saubere Geschichte persönlich nichts an, so schäme ich mich doch in tiefster Seele hinein, daß solche Dinge beim Theater vorgehen können. Ich kann es nicht über mich gewinnen, mich unter die Zuschauer zu mengen, sondern ich werde mir irgend einen Winkel auf der Bühne suchen und die Resultate des verhängnißvollen Abends in banger Erwartung vorübergehen lassen.


Den folgenden Tag.

Die Krones ist gestern Abend mit einem Sturm von Applaus, ohne das geringste Zeichen von Mißfallen, empfangen worden! [2]

Ist es denkbar! Wahrlich, so sehr ich gestern fürchtete, unsern Stand beschimpft zu sehen, so empört war ich dennoch über den Ausgang. Ist dies dasselbe Publicum, welches ein Recht zu haben glaubte, sich in meine Privatverhältnisse einzumengen, und mich wüthend auspfiff, weil ich ein Mädchen nicht heirathen wollte, von deren Sittenlosigkeit ich mich leider während des Brautstandes vollständig überzeugt hatte? Ich wurde deshalb mißhandelt, und eine gemeine Buhlerin, deren Verschwendung Mitursache an einem Morde gewesen, wird mit einem Jubel empfangen, als träte sie nach einer großen That vor die Augen der Menge! Ja, um das Maß voll zu machen, wurden einige bezügliche Reden – man gab eine Parodie auf Spontini’s Vestalin – besonders aber die Worte der Krones: „das dumme Volk wird doch nicht im Ernste glauben, daß ich eine Vestalin bin?“ mit einem rasenden Beifallssturm aufgenommen. Die Röthe der Scham brannte mir auf der glühend heißen Wange; und die Menge jauchzte! Und diesem Götzen, charakterlos und launisch, bringt der Schauspieler sein Dasein, der Künstler den „Saft seiner Nerven“ zum Opfer!


Am Abend desselben Tages.

Heute zum ersten Male während einer zwanzigjährigen Künstlerlaufbahn drängt sich mir der Gedanke durch den Kopf, ob ich nicht besser gethan hätte, nach den Willen meines alten braven Vaters ein friedlicher Handwerker zu werden. Ich sehe ihn vor mir, den gutmüthigen Greis mit den Silberlocken, wie er mit rastlosem Fleiße schafft und sich müht um die Existenz seiner Familie.

An einem Sonntag, das einfache Mahl war verzehrt, das Tischgebet gesprochen, frug er mich mit herzlichen Worten: welchen Stand ich mir zu wählen gedenke? Und als ich hierauf mit scheuer Stimme antwortete, ich wolle Schauspieler werden: da wurde der alte Mann bleich wie der Tod, die gutmüthigen Augen umzogen sich mit einem hervorquellenden Thränenflor, nach langer Pause entrangen sich den bebenden Lippen meines armen Vaters die beinahe unhörbaren Worte: „Ferdinand, das kann dein Ernst nicht sein. Du wirst deine unglücklichen Eltern nicht vor der Zeit ins Grab bringen wollen!“ Da trat auch die Mutter an mich heran, und beschwor mich mit heißen Thränen, von meinem Vorsatze abzustehen, und meine liebliche Schwester Gertrude ergriff meine Hand und vereinigte ihre Bitte mit denen meiner theuren Erzeuger. Erschüttert gab ich den Meinen das Wort, nie mehr an die vorübergehende Idee zu denken, Schauspieler zu werden. Dankbar drückte mich der Alte ans treue Herz, Jubel scholl durch die Räume unserer sonst stillen Wohnung, ein Fest wurde improvisirt, es war, als sei ich meiner Familie zum zweiten Mal geboren worden. Nochmals mußte ich meinem Vater das feierliche Wort geben, dem unseligen Vorsatze „Komödiant“ zu werden zu entsagen.

Ich habe mein Wort nicht gehalten.

Zürnst Du mir deshalb noch, verklärter Dulder dort oben? Sieh, Du bist gerächt! Vollwichtig gerächt! Trotz allem, was man im gewöhnlichen Leben Glück nennt, habe ich während der langen, langen Zeit, daß ich der Bühne angehöre, mich nicht eines wahrhaft glücklichen Augenblicks zu erfreuen gehabt. „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ – Ich habe die letzten Wünsche der Meinen außer Acht gelassen, dafür stehe ich jetzt allein und freundlos in der Welt. Niemand, der mir angehört, alle meine Lieben ruhen im Schooße der Erde. In den bereits erbleichenden Locken wühlt kein liebes Kind, kein theurer Sprößling schaukelt auf meinem Kniee, welches die Hand stützt, in der das sorgenschwere Haupt ruht.

Du sollst Vater und Mutter ehren.

Und doch – war es denn meine Schuld? Konnte ich dem Drange widerstehen, welcher mich unaufhaltsam den verhängnißvollen Bretern entgegenriß? Konnte ich ankämpfen gegen die glühende Neigung zur Kunst, welche mir von meinem unausweichbaren Geschicke gleichsam als Pathengeschenk in die Wiege gelegt zu sein schien? Von dem Tage an, als sich mit dem Auschauen des ersten Bühnenwerkes eine nie geahnte Wunderwelt vor meinen erstaunten Blicken erschloß, konnte ich die fieberhafte Pein, die heiße Sehnsucht nach der Priesterschaft in dem für mich heiligen Tempel der Kunst nicht eine Minute los werden.

Kaum hatten wir den braven Vater hinaus getragen auf den [504] beschneiten Kirchhof, so waren die feierlichen Gelöbnisse vergessen, die ich in die jetzt erkalteten Hände gelegt. Treulos den Ladentisch verlassend, der mir zur Galeere geworden war, begann ich bei wandernden Truppen ein mühseliges, abenteuerliches Nomadenleben.

Damals war ich glücklich! – Die rasche Jugend half mir mit leichtem Sinne über Nahrungssorgen hinweg, dafür durfte ich die Kunstkenner in Stein am Anger und Oedenburg[3] entzücken, und beschwichtigte den knurrenden Magen, indem ich ihm eine neue Rolle vorlas und ihn mit meinen großartigen Hoffnungen und Plänen für die Zukunft tröstete. Alle diese Hoffnungen sind mehr als wahr geworden, alle meine Pläne habe ich realisirt, und dennoch – bin ich jetzt zufriedener als damals? – Du sollst Vater und Mutter ehren!




Leider reichen die uns zugekommenen Blätter nicht weiter, doch geben sie ein klares Bild von dem Seelenzustande des edlen und genialen Selbstquälers. Wenn auch die stets steigenden glücklichen Erfolge in seiner Doppeleigenschaft als ruhmgekrönter Dichter und Darsteller von Zeit zu Zeit die „Saulslaune“, die sich seiner bemächtigt hatte, nicht zum vollen Ausbruch kommen ließen, so stellte sie sich doch periodenweise um so gewaltiger ein. So auch am 26. August 1836, wo der Dichter sich auf seinen reizenden Landsitz zu Pernitz bei Guttenstein zurückgezogen hatte. Ein kaum nennenswerthes Ereigniß führte die verhängnißvolle Katastrophe herbei, welche dem Leben Raimund’s ein vorschnelles Ende machte.

Ein bissiger Haushund verletzte ihn leicht an der Hand, die Wunde war so unbedeutend, daß sie in ein paar Tagen bis auf die letzte Spur geheilt worden wäre. Da bemächtigte sich mit unabweisbarer Gewalt des armen Hypochonders der furchtbare Gedanke, „der Hund sei toll gewesen.“

Um sich zu zerstreuen und den Folterqualen seiner immer fester wurzelnden Ideen zu entgehen, unternahm er eine Reise zu dem wunderthätigen Madonnenbilde in Mariazell, welches bei allen Katholiken in hohem Ansehen steht, und wohin tausend und Tausende Belasteter wallfahrten, um ihr schweres Herz auszuschütten. Dort mag auch der geängstigte Poet seine Hände im Gebet gerungen und die gnadenreiche Heilige mit heißer Bitte angefleht haben, die furchtbare Todesart von ihm abzuwenden. Nach Hause zurückgekehrt, wurde sein unseliger Wahn noch bestärkt, als er erfuhr, daß der Hund in der Zwischenzeit erschossen worden sei, da er noch eine Person gebissen, und sich überhaupt „wie toll“ gebehrdet habe.

Der verwüstete Hofraum, die ringsum weit aufgewühlte Erde, die zerrissenen Trümmer der Einfriedigung des Grundstückes legten ein furchtbares Zeugniß ab für die Wuth des bösen Hundes. Vergebens alles Zureden seiner besorgten Umgebung, seiner treuen Toni. Endlich brachte ihn die Letztere zu dem Entschluß, mit ihr nach Wien zu fahren, und dort Rath und Hülfe eines berühmten Arztes in Anspruch zu nehmen.

Scheu in eine Ecke des Wagens gedrückt, stumm und regungslos saß der Märtyrer seiner Einbildung in furchtbaren Qualen, unzugänglich den Trostesworten und Bitten der sanften Freundin. Da brach ein so furchtbares Unwetter los, wie man sich eines ähnlichen seit Jahren nicht erinnerte. Der Donner rollte mit dröhnenden Schlägen, in dem Gebirgsthal ein hundertfaches Echo weckend, Regengüsse, gleich Strömen niederrauschend, machten die Wege unfahrbar und zwangen unsere Reisenden in einem kleinen Gasthof in Pottenstein zu übernachten. Man weiß, wie selbst die heiterste Stimmung durch einen unfreiwilligen Aufenthalt an einem langweiligen Orte bei schlechtem Wetter niedergedrückt wird. Und nun denke man sich Raimund, mit bitterer Verzweiflung im Herzen, Nacht, düstere Nacht um und in ihm, im unbehaglichen, düsteren Dorfwirthshause, und umtobt von dem Wüthen der Elemente! Immer finsterer, immer drohender umgaben die Schreckgestalten eines gräßlichen Todes den armen Künstler, mit leiser Stimme bat er seine Toni, ihm ein Glas Wasser zu besorgen. Diese hatte sich kaum entfernt, als ein dumpfer Knall sie zurückschreckte; mit düsterer Ahnung öffnet sie die Thüre – da liegt der Unglückselige; mit einem Taschenpistol, welches er stets geladen bei sich trug, hatte er sich in den Mund geschossen!

Wie ein Lauffeuer drang der Ruf der vorschnellen Schreckensthat nach Wien. Aerzte und Freunde des armen Mimen eilten nach Pottenstein, nur Trost, nicht Hülfe konnten sie an das Schmerzenslager bringen. Die Kugel des schwach geladenen Terzerols war im Gaumen stecken geblieben, noch acht qualvolle Tage mußte er seine Leiden, seine Reue tragen, ehe der Tod als Erlöser aus schwerer Pein an sein Sterbebette trat.

Als ihn sein vieljähriger Freund, der Schriftsteller Weidmann, besuchte, zeigte er diesem, während ihm heiße Thränen über die abgemagerten Wangen rollten, mit dem Finger in den Mund und wimmerte zu wiederholten Malen: „die Kugel! die Kugel!“

Und schließt mich einst die Kunst aus ihrem Tempel aus,
Verbirg mein graues Haupt in Deinem grünen Haus;
Dann mag sich meine Lebenssonne neigen,
Dann will ich in Dein kühles Brautbett steigen,
In Deinem Schooß ruh’ mein Gebein,
Mein Grabmal sei im Guttenstein!

 (An Guttenstein.)

Nach diesem seinem Wunsch, den er oftmals in seinen Poesien ausgesprochen hatte, wurden seine sterblichen Reste der Erde seines vielgeliebten Guttensteins anvertraut.

Am 8. September 1836 bewegte sich der endlos lange Zug der Leidtragenden – Leidtragende im strengsten Sinne des Wortes – in dem reizenden Gebirgsthale entlang, dem entschlafenen Freund und Kunstgenossen die letzte Ehre zu erweisen. Die Landleute der Umgegend, denen er stets Freund, Berather, Helfer in allen Nöthen war, die den „guten Stadtherrn“ alle innig liebten, hatten sich in reicher Zahl, angethan im Festschmucke, eingefunden, den „braven Herrn“ zur Gruft zu geleiten. Größere, festlichere Leichenbegängnisse mögen schon vorgekommen sein, ein ergreifenderes, schmerzlicheres wohl nie. Die Klänge des schönen Liedes: „So leb denn wohl, Du stilles Haus“, aus seiner besten Dichtung „der Alpenkönig und der Menschenfeind“, wirkten erschütternd auf die Menge, die mit heißen Thränen dem Sarge folgte. Sein ebenbürtiger College Ludwig Löwe, der den Lorbeer auf sein Grab gelegt, war vor schmerzlicher Aufregung nicht im Stande, die Worte der Liebe und Achtung, die dem Hingeschiedenen folgen sollte, zu vollenden. Schmerzlich weinend sank er mit gefalteten Händen am Sarge nieder, während die bebenden Lippen nicht einen armen Laut mehr hervorbringen konnten.

Und so möge denn auch meine Feder verstummen; vielleicht finde ich später Platz, auf einzelne Charakterzüge, so wie auf einen fast tragikomischen Streit um den gestohlenen Schädel des Todten, in diesen Blättern zurückzukommen. Jetzt mag die ernste Stimmung bei der Erinnerung an einen edlen Menschen, an ein großes, vor der Zeit untergegangenes Genie, an einen unvergessenen Darsteller den Schlußstein meiner Federzeichnung bilden.


  1. Als Probe aus dem nächstens bei E. Keil erscheinenden Volkskalender von B. Auerbach für das Jahr 1864.
  2. Factisch!
  3. Zwei kleinere Provinzstädte Ungarns, in denen Raimund seine Laufbahn begann.




Deutschlands Arbeiter.


Von H. Schulze-Delitzsch.


Mitten in schwerer Schädigung unserer nationalen Interessen, während Deutschland, bei tiefem inneren Zerwürfniß, äußeren Verwickelungen der verhängnißvollsten Art entgegensieht, vollzieht sich ruhig und stet ein Vorgang vor unseren Augen, der wohl geeignet ist, unsere Hoffnung auf das glückliche Bestehen der herannahenden Krisis, auf Begründung dauernder, dem Wesen und den Bedürfnissen des deutschen Volks entsprechender Zustände aufrecht zu erhalten. Es ist die deutsche Arbeiterbewegung.

Noch ist der Rückschlag von 1848 im frischen Gedächtniß, den wir einzig und allein dem Bruche innerhalb der großen liberalen Mehrheit des Volks zuzuschreiben haben. Geschreckt von den Forderungen, noch mehr von dem äußeren Auftreten eines im Verhältniß nur keinen Theiles der Arbeiter, sowie durch die Ereignisse in Paris, warfen sich die besitzenden Classen, in der Meinung, das Privateigenthum und alle Grundlagen eines geordneten Verkehrs seien gefährdet, der Staatsrettung um jeden Preis in die Arme, und so trieben wir in die Netze der Reaction. Erst langem Drucke blieb es vorbehalten, die Spaltung zu beseitigen und die allgemeine Ueberzeugung zu befestigen, daß, wie die geistigen, so auch die materiellen Interessen aller Classen nicht schlechter [505] gewahrt werden können, als unter dem feudal-büreaukratischen Regiment, welches von Neuem die Zügel ergriffen hatte. Da endlich, in dem gemeinsamen wirthschaftlichen und politischen Bedürfniß, in der auf Allen gleich schwerlastenden bedrohlichen Lage des Vaterlandes nach innen wie nach außen, fand man sich zu gemeinsamem Handeln wieder zusammen, und verständigte sich über die Ziele des Kampfes, über Mittel und Wege einer offenen und energischen Agitation mit gesetzlichen Mitteln für das verfassungsmäßige Recht, als Basis jeder weiteren Entwickelung. Obschon verkürzt um manches Recht von 1848, traten die Arbeiter rückhaltlos in die Reihen der liberalen Kämpfer und bewiesen durch ihr Feststehen gegen das Werben der Rückschrittsmänner, daß die Erfahrungen von 1848 und 1849 für sie nicht verloren seien.

Aber damit nicht genug. Mit dieser klaren Position auf politischem Gebiete wurde zugleich der Grund zu gesunden socialen Bestrebungen, zur dauernden Hebung der betheiligten zahlreichen Bevölkerungsschichten in ihrer materiellen Lage wie in ihrer ganzen gesellschaftlichen Stellung gelegt. Mit einem unsäglichen Eifer ergriffen die Arbeiter, zunächst in den größeren Städten, die ihnen von Männern der gebildeten Stände, von Vertretern der Wissenschaft, dargebotenen Hände, ihre Kenntnisse, ihre Bildung für Beruf und Leben zu erweitern. Zugleich wurden praktische Organisationen mannigfacher Art geschaffen, die materiellen Fragen in Beschaffung der Arbeits- und Unterhaltungsmittel, in Gewährung von Baarschaft und Credit, in Ermöglichung der gewerblichen Selbstständigkeit, zum Besten der Leute zu lösen. Eine Unzahl von Vereinen entstand und ist täglich im Wachsen. Während die Arbeiter, die Handwerker, die Gewerbe- und volkswirthschaftlichen Vereine die Fortbildung in technischer, gewerblicher und humaner Hinsicht vermitteln, befassen sich die Erwerbs- und Wirthschafts-Genossenschaften in der angedeuteten Art mit der Hebung der materiellen Lage ihrer Mitglieder. Eine Regsamkeit, ein rüstiges Erfassen, ein freudiges Schaffen herrschen überall, wie sie erforderlich waren, in kurzer Zeit, vor Ablauf eines Jahrzehnts, bedeutende Resultate hervorzubringen. Sicher kann die Zahl der Vereine nach jeder der beiden Hauptrichtungen hin mindestens auf tausend in Deutschland angeschlagen werden, und ihre Mitglieder auf zusammen einige hunderttausend. Während sich mehrere Bildungsvereine – wir nennen namentlich den großen Handwerkerverein zu Berlin und den Arbeiterfortbildungsverein zu Hamburg – zu wahren Arbeiterakademien emporgeschwungen haben, eigene großartige Locale, Bibliotheken und die besten Lehrkräfte und Lehrmittel jeder Art besitzen, haben die Genossenschaften – Vorschuß- und Creditvereine, Rohstoff-, Magazin- und Productivgenossenschaften, Consumvereine u. a. – im Jahre 1862 bereits für mehr als 30 Millionen Thaler Geschäfte gemacht und darunter gegen 25 Millionen baar unter ihren Mitgliedern in Umlauf gesetzt, auch durch allmähliche geringe Einlagen und Zuschreibung von Gewinnantheilen an eigenem, den Mitgliedern gehörigem Fond mehr als 1½ Millionen Thaler aufgesammelt, obschon die meisten dieser Vereine erst seit 2 bis 3 Jahren bestehen. Und bei allen diesen Bestrebungen – dies heben wir besonders als dasjenige Moment hervor, welches ihnen erst ihren rechten Werth giebt – stehn die Arbeiter durchaus und völlig auf dem Boden der Selbsthülfe!

Welche Freude, welches erhebende Gefühl, sein Vorwärtskommen in Bildung und Wohlstand, seine materielle Existenz, seine gesellschaftliche Stellung der eigenen Kraft zu danken, sich sein Geschick selbst gemacht zu haben, alle Unterstützung, jede Gönnerschaft mit der von beiden unzertrennlichen Einmischung und Beaufsichtigung, von sich abweisen zu können! Nur wer auf eigenen Füßen steht, wer sich selbst zu helfen weiß, ist ein freier Mann – und daß die Arbeiter dies recht wohl vermögen, wenn sie es nur recht angreifen, das zeigt sich alle Tage, und das giebt ihnen eben den frischen Muth, den nachhaltigen Eifer in allen diesen anstrengenden Mühen, diesen schweren Anfängen, die ihnen nicht erspart werden können, wenn sie sich dauernd emporringen wollen. „Der Mensch hat von Natur Bedürfnisse, an deren Befriedigung die Möglichkeit wie die Würdigkeit seines Daseins geknüpft ist; aber er hat zugleich von der Natur die Kräfte erhalten, deren Ausbildung und richtiger Gebrauch ihn zur Befriedigung seiner Bedürfnisse gelangen läßt,“ – dies die einfache unbestreitbare Wahrheit, aus welcher für jeden von uns die Pflicht der socialen Selbstsorge, der Selbstverantwortlichkeit für die eigene Existenz abgeleitet werden muß. Wer viel bedarf, muß viel leisten; jedenfalls sorge Jeder, daß seine Bedürfnisse nicht seine thätigen Kräfte überwuchern, sonst stimmt es nicht im Haushalt des Einzelnen, wie in dem ganzer Nationen. Mit sich muß jeder anfangen, wenn es gut, wenn es besser mit ihm werden soll. Seine Kräfte und Anlagen ausbilden und recht gebrauchen, das ist es, was den Einzelnen fördert, was ganze Gesellschaftsclassen, die ja doch eben nur aus vielen Einzelnen bestehn, einzig in die Höhe bringt. Hier durch ein Zusammenwirken Vieler die mancherlei äußeren Hindernisse wegräumen, welche dem Arbeiterstande bei solchen Bestrebungen entgegenstehen, die äußeren Bedingungen des Gelingens in Erwerb und Wirthschaft ergänzen, die sich dem einzelnen Arbeiter versagen, – z. B. die Beschaffung von Capital und Credit u. dergl. – das ist die Aufgabe. Zusammenwirken, die zersplitterten schwachen Kräfte der Einzelnen zu einer Großkraft im Dienste Aller vereinigen – dadurch wird etwas geleistet, das zeigen die Genossenschaften in der überraschendsten Weise. Aber freilich, die innere sittliche und geistige Tüchtigkeit, die technische und geschäftliche Befähigung, die müssen die Einzelnen in die Vereinigung mitbringen, die müssen sie Jeder in sich selbst ausbilden, das kann ihnen die Genossenschaft nicht sparen. Diesen Fond von Tüchtigkeit setzt sie vielmehr bei ihren Mitgliedern voraus, und nicht ihn zu ersetzen, sondern nur ihm die äußeren Mittel zuzugesellen, darin besteht die Aufgabe, die sie zu lösen vermag. Eine Genossenschaft von Untüchtigen wird niemals Erfolg haben, so wenig als eine Anzahl Nullen eine Summe giebt, weil ein untüchtiger Mensch durch den bloßen Zusammentritt mit anderen noch nicht tüchtig wird.

Dies Alles haben die deutschen Arbeiter trefflich begriffen, und den wahren Grund bei sich selbst gelegt, mit Sparen und Lernen. Deßhalb hat sich denn auch der Schreiber dieser Zeilen nicht einen Augenblick über den Verlauf der ganzen Bewegung getäuscht, als er den Verleitungen der Gegner vom Wege der Selbsthülfe bei seinen Vorträgen im Berliner Arbeiterverein[1] das Wort entgegensetzte: „Die deutschen Arbeiter wissen es Niemandem Dank, der ihnen die Garantie ihrer Existenz von außenher – anders als durch die eigene Kraft – entgegenbringt, weil er in der Aufhebung der Selbstverantwortlichkeit und Selbsthülfe die Grundlage ihrer sittlichen Würde, ihrer bürgerlichen Gleichberechtigung, wie ihrer wirthschaftlichen Selbstständigkeit antastet, Dinge, ohne welche von einer wirklichen Hebung der arbeitenden Classen doch wirklich nicht im Ernste die Rede sein kann.“ (S. 142 des unten citirten Buches.)

In der That hätte die den Arbeitern als bequemes Heilmittel für Alles angepriesene Staatshülfe, ohne jenen tüchtigen Sinn und jene ernste, ehrliche Arbeit von Jahren, wohl Aussicht gehabt, wenigstens augenblicklich einen Theil von ihnen für sich einzunehmen. Wenn man gegen die Lockungen der Reaction von Haus aus voreingenommen war und sie wenig beachtete, bis auf einige unverbesserliche Zünftler, so war die Sache diesmal im demokratischen Gewande den Gefühlen und Anschauungen der Menge ungleich zusagender und näher gerückt. In einer Zeit tiefgreifender politischer Aufregung mußte die Agitation für das allgemeine gleiche Wahlrecht, welches die Reactionsperiode den Arbeitern entzogen hatte, eine anziehende Kraft ausüben, und die Aufforderung, sich durch dasselbe ausschließlich der Staatsleitung zu bemächtigen und diese zum Vortheil der Arbeiter auszunutzen, mußte für Leute ohne politische Bildung und ohne wirthschaftliche Einsicht – und dafür hielt man die Arbeiter – wirklich verführerisch sein. Mit den Geldmitteln und dem Credit des Staats sollten sämmtliche Fabriken in das Eigenthum der Arbeiter gebracht und diese sämmtlich zu Unternehmern gemacht werden u. s. w. Allein man hatte die Bildung und Einsicht der Arbeiter bedeutend unterschätzt, und jene schwindelhaften Vorspiegelungen fanden kein gläubiges Publicum. Vielmehr wurden sie im Großen und Ganzen nur belacht, da man soweit vorgeschritten war, das Unmögliche derselben in jeder Hinsicht recht wohl einzusehen. Da hatten die Leute denn doch die eigenen Augen zu offen, um sich einreden zu lassen, sie allein [506] wären der Staat, alle übrigen Classen ihnen gegenüber kämen dabei gar nicht in Betracht, und dieser blos aus ihnen bestehende Staat könne ihnen helfen, wenn sie selbst dies nicht vermöchten – und was dergleichen Verkehrtheiten mehr waren. Vielmehr zeigte sich der Segen der gegenseitigen Annäherung und des vielfachen Verkehrs der verschiedenen Gesellschafts-Schichten mit einander, in welchem man sich gegenseitig kennen und achten gelernt hatte. Die Arbeiter wußten die Sympathie und das Entgegenkommen der gebildeten und besitzenden Classen viel zu sehr zu schätzen, als daß sie sich gegen dieselben durch so hohle Vorspiegelungen zu einem traurigen Classenkampf hätten aufstacheln lassen sollen, von welchem Niemandem die Frucht zufallen würde, als der Reaction. Soviel hatte man gelernt, daß man sich nicht muthwillig in Zwiespalt bringen dürfe mit der ganzen bürgerlichen Gesellschaft, wenn man überhaupt etwas erreichen wolle, und daß die Interessen der Arbeiter nicht im Gegensatz ständen zu denen der übrigen Classen, sondern mit ihnen zusammenfielen. Die volle bürgerliche und wirthschaftliche, die Erwerbsfreiheit, die Verwirklichung des verfassungsmäßigen Rechtsstaates mit der Gleichheit Aller vor dem Gesetz, in welchem das allgemeine gleiche Wahlrecht ohnehin eine Hauptforderung bildet, die möglichste Selbstregierung in Staat und Gemeinde: das ist’s, was die große liberale Partei in ganz Deutschland erstrebt, und was den Arbeitern gerade eben so Noth tut, wie allen Uebrigen, so daß ihre Sache von der gemeinen Sache zu trennen nicht blos ein Verrath wäre am ganzen Volke, sondern zugleich ein Verrath an sich selbst, der sich an Niemand schwerer rächen würde, als an den Arbeitern.

Daß dies Alles so entschieden und besonnen aufgefaßt, so klar ausgesprochen ist in den eigenen Reihen der wackern Männer, das ist Etwas, um was uns unsere Nachbarvölker zu beneiden haben, so hoch ihnen auch sonst der Sinn steht, so weit sie uns in politischer Gestaltung und äußerer Machtentfaltung voraus sein mögen. Noch lastet die Furcht vor den socialistischen Arbeiterbewegungen wie ein Alp auf Frankreich, und hält es unter dem eisernen Scepter der kaiserlichen Militärallgewalt. Noch muß, soll Italien dauernd seine Stelle unter den europäischen Staaten ausfüllen, in dem größeren Theile des Landes ein eigentlicher Arbeiterstand mit bildungsfähigen Elementen überhaupt erst geschaffen werden; eine Aufgabe, welche der pfäffischen Verdummung gegenüber, die das Volk in Mittel- und Unteritalien Jahrhunderte lang niedergehalten hat, vielleicht schwerer auszuführen sein dürfte, als die Vertreibung der fremden Dynastien. Ja selbst in England, der Veste der bürgerlichen Freiheit in Europa, wo der praktische Sinn der Arbeiter dieselben am meisten vor socialistischen Abwegen behütet und am ersten den Wegen der genossenschaftlichen Selbsthülfe zugeführt hat, haben dieselben niemals eine so bewußte Stellung zu den großen Zeitfragen, zu der humanen und politischen Entwickelung der Nation eingenommen, als dies gegenwärtig bei uns der Fall ist. Darum, wie tiefe Nacht auch die Geschicke unseres Vaterlandes bedeckt, wie kläglich seine öffentlichen Zustände sein mögen: wo alle Schichten des Volks einmüthig von solchem Geiste beseelt sind, da kann der endliche Sieg nicht fehlen! Und noch mehr: da, und da allein, wo der politische Fortschritt mit gesunden wirthschaftlichen Grundlagen, mit humaner Reife Hand in Hand geht, ist die Garantie gegeben, daß einem siegreichen Durchkämpfen dauernde gedeihliche Zustände folgen, nicht jenes krampfhafte Hin- und Herschwanken zwischen großen Erhebungen und furchtbaren Rückschlägen, zwischen wilder Anarchie und starrem Despotismus, wie wir sie bei Völkern beobachten, die trotz mehr als einer siegreichen Revolution nicht zur Feststellung der Grundlagen wahrer bürgerlicher Freiheit bei sich gelangt sind.

Eben dieser tiefgreifenden Bedeutung halber scheiden sich an unserer Arbeiterbewegung die politischen Parteien so scharf, wie je in einer staatlichen Frage. Hier die Socialisten, mit den Feudalen, den Ultramontanen und allen sonstigen Heerschaaren der Reaction in schönster Einigkeit, und ihre Organe dazu, von der Berliner Kreuzzeitung bis zur Augsburger Allgemeinen, vom Nordstern bis zum Magdeburger Correspondenten und der Masse kleineren Nachtgevögels. Auf der andern Seite die ganze liberale Partei in allen ihren Schattirungen, mit sämmtlichen ehrenhaften Organen der Tagespresse ohne eine einzige Ausnahme. Und es ist wahrhaftig nicht zufällig, daß sich die Männer des socialen Staates und die des feudalen und Stände-Staates zusammengefunden haben, daß diese sogenannten Extreme, welche man als die entschiedensten Gegensätze zu betrachten gewöhnt ist, gerade bei diesem Punkte zusammengehen. Zur vollen Verwirklichung ihrer Pläne bedürfen Beide einer und derselben Voraussetzung, welcher die jetzige Arbeiterbewegung schnurstracks zuwiderläuft: unbewußte, nur für rohe, sinnliche Antriebe empfängliche Massen, die den Führern blindlings folgen. Nur mit solchem Material läßt sich an eine Ausführung ihrer politischen und socialen Ideale gehen, die mehr mit einander gemein haben, als es auf den ersten Blick scheint. Der fröhnende Leibeigene des Junkers und der Arbeiter unter Staatsgarantie – beiden ist durch die Enthebung von der Selbstverantwortlichkeit für die eigene Existenz jeder sittliche und wirthschaftliche Halt, jede Möglichkeit, jemals zu einer würdigen, gesellschaftlichen Stellung zu gelangen, unter den Füßen weggezogen. Mit Leuten, die denken, die sich selbst vernünftige Ziele setzen, sich über ihre wahren Interessen aufklären, sich durch eigene Kraft zu Bildung und bescheidenem Wohlstand emporarbeiten, macht man solche Experimente nicht, über die hat man keine Gewalt, und deßhalb taugen sie nicht für beide Lager. Daher der gleiche Geifer der beiderseitigen Clique gegen alle solche Bestrebungen der Arbeiter, weil die Leute dadurch dahin gelangen, an den großen Zeitfragen selbstständig mit Kopf und Herz Theil zu nehmen und sie nicht als bloße Magenfrage dem Bereich der brutalen Gewalt zu überliefern, welche der Frivolität und dem Ehrgeize derartige Dinge regelmäßig aus den Händen zu entwinden pflegt – ein Schmauß, auf den sich gewisse Leute bereits im Voraus – Gott sei Dank vergebens! – freuten.

Daher Ehre den deutschen Arbeitern! Sie haben sich um das Vaterland verdient gemacht – und den besten Dienst haben sie dabei sich selber geleistet.




Die Geburtsstätte eines Dichters.


Im Herzen Altenglands, in der Grafschaft Warwick, liegt am Avonflusse das Städtchen Stratford. In früherer Zeit ein nicht unbedeutender Verkehrsplatz, zählt es heute mit seinen drei- bis viertausend Seelen in dem Lande der Großstädte kaum für mehr als ein bescheidener Flecken. Aber dieser unscheinbare Ort ist ein Wallfahrtsziel für Hunderttausende von Anbetern, die dem Genius des gewaltigsten unter den unsterblichen Dichtern an seiner Wiege und an seinem Grabe das Opfer einer stillen Verehrung bringen. William Shakespeare wurde hier am 23. April 1564 geboren, und hier schloß er die Augen an seinem zweiundfunfzigsten Geburtstag im Jahre 1616.

„Die Stätte, die ein guter Mensch betrat,
Ist eingeweiht! nach hundert Jahren klingt
Sein Wort und seine That dem Enkel wieder.“

Wahrlich, nicht edler als mit diesen Worten unsres alten Goethe könnte das fromme Gefühl ausgesprochen werden, mit dem wir die Heimath eines großen Todten durchwandern. Und wie muß uns ein solcher Ort um so viel heiliger sein, je mehr ihn jener Mensch selbst geliebt hat, und je weniger uns sonst von dessen äußerer Umgebung bekannt und übrig geblieben ist! Die Worte scheinen wie gemacht auf den reizenden Fleck am Avon. Ohne Shakespeare würde Stratford in der Fremde kaum genannt werden. Aber mit diesem Namen verschlungen, hat es für Jeden, der seinen großen Bürger kennt und verehrt, das ganze Interesse und den ganzen Zauber einer kostbaren Reliquie. Hier durchspielte der Knabe, in der ungebändigten Muthwilligkeit des aufwachsenden Genius, unter munteren Genossen den goldenen Morgen seiner Tage. Aus den Eindrücken dieser Umgebung trank der feurige Jüngling die erste liebende Begeisterung. Dahin und immer wieder dahin zog es den Mann, wenn er, in der vollen Gluth des Strebens und Schaffens, vor dem Mittagsstrahl der eigenen Sonne einen Augenblick schattiger Einsamkeit suchte. Und da endlich genoß er den allzukurzen [507] Abend des reichsten Lebens. Hier, mit einem Worte, war und blieb seine Heimath. Er liebte diesen Ort, und so hat er ihn geweiht!

Stratford liegt in der Mitte einer weiten, ebenen Gegend. Das umliegende Land dehnt sich fernhin in sanftverschlungenen, kaum merklichen Wellungen, und nur im Nebel des Horizontes erheben sich bewaldete Anhöhen. Nicht Kühnheit und wilde Romantik sind der Charakter dieser Natur. Es ist jene einfach stille Anmuth, die die eigenthümliche Schönheit der englischen Niederungen bildet, und die das Gemüth des umherschauenden Wanderers zu einer wonnigen Beruhigung stimmt. Saftige Wiesen, von feuchtem Duft überhangen, der kraftstrotzende Baum, der nach allen Richtungen hin frei entwickelt in vollendetem Umriß prangt, der Bach, ein blauschimmerndes Band durch tiefgrüne Einfassung gewunden, und am Bache die Weide, über alle diesem ein lachender Himmel, mit weißen Wanderwolken besät: das sind Typen jener Gegenden. Dichter zweiten Ranges, Talente, empfangen aus einer solchen Umgebung den sentimentalen Zug, der bei Goldsmith, Thomson und so manchem anderen Engländer in den Vordergrund tritt. Das Genie aber, welches Kühnheit und Energie in sich selbst trägt, wird durch den Umgang mit einer solchen Natur in dem erhabenen Maß jener klaren, ruhigen Größe gehalten, in der Shakespeare so gewaltig, so fast übermenschlich dasteht.

Wie warm und innig der edle Mann den Zauber dieser stillen ländlichen Schönheit auffaßte, davon redet jedes Blatt seiner Schöpfungen. Wie kein Zweiter hat er an der Natur, und an dieser Natur, sich geschult und groß gezogen. Mit unbefangen genialer Naivetät mischt er gar häufig Bilder und Züge aus der ihm vertrauten Umgebung in seine Dichtung. So klingt umgekehrt, wenn wir die Gegend von Stratford durchstreichen, des Dichters Wort und That aus jedem neuen Eindruck uns wieder. Wem sollten nicht, wenn er die schilfgesäumten Ufer des Avon entlang unter den Weidenbäumen hinschlendert, die melancholischen Worte einfallen, mit denen die Erzählung von Ophelia’s Tod anhebt:

„Dort wächst ein Weidenbaum am Bach und spiegelt
Im klaren Naß sein silbergraues Blatt.“

Wem ahnte da nicht etwas wie ein Verständniß des tiefsinnigen Weidenliedes, welches die keusche Desdemona bei ihrem letzten Schlafengehen sang, und welches, allen Deuteleien zum Trotz, doch nun und nimmermehr ausgelegt, sondern ewig nur empfunden werden kann. Und so läßt die von dem Geheimniß einer solchen Oertlichkeit angeregte Phantasie Jeden, der ein wenig Verständniß für die unsichtbare Seele der ihn umgebenden Natur hat, tausend ähnliche Beziehungen ahnen.

Wo hundert Jahre der Vergessenheit die Lebensumstände eines großen Mannes, den erst ein spätes Geschlecht verstand und zu verdienten Ehren brachte, überschüttet haben, da kann die Sage, der dichtende Geist des Volkes, ein freies Spiel treiben. Sage ist denn ein guter Theil von Allem, was wir über Shakespeare’s Person und Verhältnisse wissen. Und von solchen Sagen lebt es in der Gegend von Stratford.

An der Landstraße zwischen Stratford und dem wenige Stunden entfernten Städtchen Bedford steht ein uralter wilder Apfelbaum. Die Leute der Umgegend nennen ihn den Shakespearebaum und erzählen folgende Geschichte. Bedford ist von Alters her durch sein vortreffliches Ale bekannt. Wo aber gutes Bier ist, da pflegt der Mensch den Durst hinzuzuthun. Und so hat sich die Einwohnerschaft von Bedford in dieser Beziehung stets eines entsprechenden Lobes zu erfreuen gehabt. Lustige Zechbrüderschaften pflegten früher von Zeit zu Zeit die Nachbarn aus den umliegenden Orten zu einem Wettgelage herauszufordern, um ihren Durst gegen einander zu messen. Eine solche Einladung erhielten denn auch einmal die Bürger von Stratford, und unter den Helden des Humpens, die sie auf Gastrollen aussandten, war ein gewisser William Shakespeare. Indeß obschon die wackeren Stratforder, die die Ehre ihrer Kehlen auf dem Spiele hatten, Alles dran setzten, konnten sie doch gegen Jene, die ihre Schule am Braubottich gemacht hatten, nicht lange Stand halten. Schon nach dem ersten Gang fiel das Häuflein Mann für Mann ab. Mit schweren Köpfen suchten sie im Dunkel der Nacht den Heimweg. Nachdem sie eine Strecke auf der Straße hingetaumelt waren, ließen auch die Füße sie im Stich. Unter jenem Apfelbaum stolperte der Vorderste nieder, und die Andern, William Shakespeare nicht ausgenommen, fielen hinterdrein. Dort blieb die saubere Gesellschaft, Einer über dem Anderen, die ganze Nacht hindurch liegen und schlief bis zum nächsten Morgen den Rausch aus. Der Dichter muß demnach den Becher, wie so mancher andere weise Mann und Sokrates vor Allem, auch nicht eben verachtet haben. Der Apfelbaum aber, dessen Zweige von der Schande und dem Jammer des geschlagenen Ritters zu sagen wüßten, ist ein Gegenstand der Neugierde und Verehrung geworden.

In der unmittelbaren Nachbarschaft von Stratford liegt Charlecote, der Landsitz der Barone von Lucy. Es ist ein altes Schloß aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, mit einem ausgedehnten Park von stattlichen Eichbäumen, durch die sich der Avon hindurchwindet. Auch an diesen Ort knüpft der Mund des Volkes eine Jugendgeschichte von unserem Dichter. Der große Shakespeare – so wird berichtet – war in seinen tollen Jahren von einer unbezwinglichen Jagdlust besessen. Durch sie verleitet ließ er sich beigehen, mit anderen Spießgesellen in jenem Park eigenmächtiger Weise dem Sport obzuliegen. Der damalige Besitzer, Sir Thomas Lucy, verstand indeß keinen Spaß. Er ließ die frechen Spitzbuben eines Tags auf frischer That einfangen und setzte sie ohne Federlesen vierundzwanzig Stunden in Dunkelarrest. Uebrigens scheinen sie mit einem derben Denkzettel davon gekommen zu sein. Shakespeare aber nahm die demüthigende Behandlung, die er wegen eines vermeintlich harmlosen Vergnügens von dem Edelmann erfahren hatte, höchlich übel. Er rächte sich mit seinen Waffen. Damals verfaßte er auf Sir Thomas Lucy ein beißendes Spottgedicht, von dem uns noch ein Vers überliefert wird, und klebte es über Nacht, sehr zum Aergerniß des vornehmen und mächtigen Herrn, an die Parkthüre. Es wird erzählt, daß jener wegen des neuen Frevels einen Criminalproceß gegen den Pasquillanten beabsichtigt und ihn durch die wenig erfreuliche Aussicht zur Flucht genöthigt habe. Dies soll denn nach Einigen die Veranlassung gewesen sein, die Shakespeare von seiner Heimath weg nach der Hauptstadt und zu einem abenteuerlichen Schauspielerleben trieb, aus welchem der große Dramatiker hervorging. Wahr oder nicht wahr, – jedenfalls war des Dichters Groll ein nachhaltiger. Als er viele Jahre später seine „lustigen Weiber von Windsor“ und „Heinrich IV.“ schrieb, führte er in diese Stücke die durch und durch lächerliche und alberne Persönlichkeit des „Justice Shallow“, zu Deutsch: „Landrichter Schwachkopf“ ein. Damit war Niemand anders als Sir Thomas Lucy gemeint, der ein Friedensrichter war und außerdem deutlich genug durch die „weißen Fische im Wappen“, welche seine Familie noch heute führt, gekennzeichnet ist. Wer also einen jungen Taugenichts in seinem Revier auf Jagdfrevel ertappt, der sei klug und lasse ihn ruhig laufen. Denn wenn das Schicksal aus dem Wilddieb einen großen Schriftsteller werden ließe, so könnte es ihm ergehen wie dem armen Sir Tom, der nun für die Ewigkeit zum allgemeinen Gelächter als ein Einfaltspinsel an den Pranger gestellt ist.

Nur wenige Spuren, die mit Bestimmtheit an Shakespeare erinnern, haben sich durch drei Jahrhunderte vor der schonungslosen Zerstörerin Zeit in unsere Gegenwart gerettet. Bei diesem verweilt natürlich der Besucher von Stratford mit besonderer Vorliebe und Andacht. Was uns freilich das Interessanteste sein würde, das Haus, welches der Dichter von dem weislich zurückgelegten Ertrage seiner Kunst erkauft hatte und in dem er seine letzten sorgenfreien Jahre gemächlich verlebte, hat eine vandalische Hand boshaft vernichtet. Dieses Haus, eine der schönsten Besitzungen in Stratford, mit der Einrichtung, wie sie Shakespeare selbst getroffen, und dem Garten, den er ganz nach seinem Geschmack angelegt hatte, kam nach mannigfachem Herrenwechsel um die Mitte des vorigen Jahrhunderts in das Eigenthum eines geizigen Pfaffen. Diesen ärgerte der zahlreiche Zuspruch von Fremden, die der Ruhm seines Vorbesitzers herbeizog. Er begann damit, einen prächtigen Maulbeerbaum, den nach der Sage der Dichter selbst im Garten gepflanzt hatte, abzuhauen und an den Ersten Besten als Brennholz loszuschlagen. Das Gebäude selbst war mit allerhand Abgaben belastet, und da der alte Filz sich von seinem blanken Gelde nicht trennen wollte, um sie zu bezahlen, ließ er es dem Erdboden gleich machen und – zog zur Miethe. So ist Alles, was noch unversehrt dasteht, des Unsterblichen Geburtsstätte und sein Grab. Als hätten wir aus dem irdischen Dasein des großen Mannes an seinen Werken genug, um uns übrigens mit dem Anfang und dem Ende begnügen zu können!

An der Hauptstraße von Stratford steht noch ein altes niedriges [508] Häuschen, ungetüncht, aus Holz und Fachwerk aufgeführt. Heutzutage macht es den Eindruck einer dürftigen Bauernwohnung. Vor dreihundert Jahren aber war es gewiß ein behäbiger und von Manchem beneideter Sitz. Um jene Zeit bewohnte es der Gentleman John Shakespeare, und in einer Oberstube desselben wurde ihm sein ältester Sohn William geboren. Beinahe wäre Europa durch einen amerikanischen Humbug auch um diesen unschätzbaren Rest gekommen. Vor längerer Zeit handelten ein paar Yankees, – die nach der Art ihrer Landsleute auf antiquarische Raritäten versessen waren, – um das Haus. Sie führten nichts Geringeres im

Shakespeare’s Geburtshaus.

Schilde, als es auf den Abbruch zu kaufen, Steine, Balken etc. einzupacken und über das Wasser zu schicken, um drüben in der neuen Welt den neuaufgezimmerten Phönix für schweres Geld sehen zu lassen. Aber England hat sich diesen Schimpf nicht angethan, und glücklich sind wir der Beschwerlichkeit überhoben, über den Ocean reisen zu müssen, um zu sehen, wo Shakespeare geboren wurde. Das Haus ist aus Staatsmitteln angekauft und Nationaleigenthum geworden. Der Beutel des britischen Volkes ist Gott sei Dank groß genug, um dem mürben Bau nun eine freie und anständige Altersversorgung zu sichern.

Die schmale Thür, die allerdings nicht für die stahlgespreizten Unholde unserer Tage eingerichtet war, die niedrigen bleigerahmten Fenster, kurz die Gedrücktheit des ganzen Baus, läßt freilich nicht ahnen, wer unter diesem Dache aufwuchs. Doch der Genius gedeiht überall! – Neben dem Eingang öffnet sich aus dem Hauserden

Shakespeare’s Ruhestätte.

auf die Straße ein Ladentisch. Hier hielt der alte Shakespeare feil; doch streiten sich die Gelehrten, was. Manche meinen, er sei ein Metzger gewesen; Andre dagegen erklären ihn für einen Wollkrämpler, und wieder Andre für einen Landwirth, der nebenbei einen Kram betrieben habe. Eine enge Treppe führt aus einer Kammer auf den Vorsaal des oberen Stocks. Von da treten wir in das Allerheiligste: die Stube, in der Shakespeare geboren wurde. Von jener Zeit her ist freilich nichts mehr übrig als die kahlen Wände. Ueber und über sind sie mit tausend und abertausend Namenszügen besät. Denn ein jeder Besucher pflegt sich in dieser Weise zu verewigen, so daß nachgerade auf den vier Seiten dieses eigenthümlichen Fremdenbuchs kaum noch ein Plätzchen leer geblieben ist, wo man seine paar Buchstaben schicklich hinbringen kann. Aber lassen will man’s doch auch nicht gerne, und wo Walter Scott, Macaulay und so viele andre Ehrenmänner sich eingezeichnet haben, da kann auch unser Einer ohne Schande diese kleine Schwachheit begehen. Shakespeare’s Stuhl und einige andre Gegenstände von Interesse, die früher das Zimmer zierten, sind jetzt in den Museen der Hauptstadt aufgestellt, um ihren Anblick einem größeren Publicum zugänglich zu machen. Das Einzige, was von Reliquien noch gezeigt wird, ist ein Stück von Shakespeare’s Maulbeerbaum. Leider soll nur dieser, wie oben erzählt, in den Ofen gewandert sein. Man würde am Ende wohl mit ebensoviel Recht den Klotz von dem leibhaftigen Maulbeerbaum herleiten können, unter dem ein grausames Schicksal den Pyramus und seine Thisbe, die es im Leben schied, im Tode zusammenführte. Und wer weiß, ob nicht Einer in einer solchen schwachen Stunde selbst daran einen Augenblick glauben könnte!

Am äußersten Ende des Städtchens, vom Friedhof eingeschlossen, liegt die Kirche der heiligen Dreifaltigkeit. Ein einfacher gothischer Bau aus alter Zeit, überragt von einem langgespitzten Thurm. Dicht daran gleitet, unter lispelndem Schilfe hin, der Avon vorbei. Ein breiter Gang ehrwürdiger Linden führt auf das Hauptportal zu. Stattliche Ulmen umschatten die Kirche und die Gräber umher. Ueber dem ganzen Ort ruht eine feierliche Stille, gehoben durch das Düster der mächtigen Bäume. Dies ist die Ruhestätte des Dichters. Da liegt er, fern den andern großen Todten des Landes, deren Grüfte die stolze Westminsterabtei überwölbt, in seinem eignen Tempel. Und wie er einen solchen verdiente, so hätte ihm auch wahrlich kein schönerer gebaut werden können, als diese bezaubernde Einsamkeit.

Das Innere der Dreifaltigkeitskirche ist in einem edlen reichen Styl verziert. Ein dämmeriges Licht fällt durch die hohen Bogenfenster, vor denen draußen das dichte grüne Gezweig lagert. Shakespeare’s Gruft liegt im Chor, gerade vor dem Altar. Ihm zur Seite ruhen die nächsten von den Seinen: zur Linken seine Gattin, Anna Hathaway, die ihn um mehrere Jahre überlebte; zur Rechten seine kluge Tochter Susanna, der Liebling ihres Vaters, und dann mehrere entfernte Anverwandte. In einer Nische der Seitenwand steht eine Büste des Dichters, die kurz nach seinem Tode von einem holländischen Künstler ausgeführt wurde. Sie und ein altes Oelgemalde sind die einzigen Portraits, die wir von ihm besitzen. Die Büste zeigt die hochgewölbte Stirn und das offne Auge, das frei und voll Zuversicht über das Grab hinwegschaut. Unter ihr trägt eine Tafel ein lateinisches Distichon folgenden Inhalts:

„Nestor an Sinn, an Witz ein Sokates, Bruder Virgilens,
Ruht er, von Allen beweint, drunten und lebt im Olymp.“

Seine trauernden Freunde setzten dem Hingeschiedenen dieses Denkmal. Eine solche Auszeichnung und der vornehme Platz der Gräber im Innern der Kirche beweisen, daß Shakespeare unter seinen Mitbürgern ein hochgeehrter und angesehener Mann war. Die Gruft selbst aber ist ohne Schmuck und Zierde, mit einer [509] einfachen Platte gedeckt. Vier Zeilen, von dem Todten selbst gereimt, sind auf den Stein gemeißelt:

„O lieber Freund, bist du ein guter Christ,
Laß ruh’n den Staub, der hier begraben ist.
Wohl geh’ es dem, der diese Steine ehrt;
Doch Weh auf ihn, der mein Gebein versehrt!“

War es ein Aberglaube aus düsterer Zeit, dem sich der große Mann nicht entzog, war es ein Spiel seiner Laune, was ihn diese Worte auf sein Grab zu setzen trieb? – Man hat ihn gescheut, den Fluch des Sängers. Es ist öfters angeregt worden, seinen irdischen Resten im Westminsterdom eine Stätte zu geben, die sie selbst noch mehr zieren als verdienen würden. Aber keine neugierige Frevlerhand hat es bis jetzt gewagt, dem Fluche trotzend an den Stein zu rühren!

Ein heimlicher Schauer überbebt den Wanderer, wenn er durch die Bogenhalle in den kühlen Dom und an die Gruft tritt. Zu dem Frieden des Gotteshauses und zu der Stille des Grabes gesellt sich hier die Erinnerung an den großen, den einzigen Menschen. An dem Orte, der das umschließt, was von ihm dahingegangen ist, tritt uns alles das vor die Seele, was er uns gelassen. Kennen wir ihn doch fast nur aus diesem! Sein leichter Scherz und die fürchterliche Macht seines Wortes, der tiefe, gewaltige Ernst und die erhabene Heiterkeit seiner Kunst, die ganze unendliche Welt, die er aus sich schuf, geht, in ein großes Bild gefaßt, an uns vorüber. Zum hundertsten Male staunen wir über den unerschöpflichen Reichthum dieses Geistes. Und hier löst sich in Wehmuth das Staunen.

Es ist nicht lange mehr hin, – kommendes Frühjahr – da wird das Städtchen Stratford der Mittelpunkt einer großartigen Feier sein. England wird den dreihundertjährigen Geburtstag Shakespeares begehen. Auch wir Deutschen werden dann einen Festtag halten, und wir haben ein gutes Recht, den Dichter zu ehren. Denn war er gleich von Haus aus nicht einer der Unsern, so ist er es geworden. Unter uns hat er ja seine Auferstehung gehalten!

J. H.



Der deutsche Schützenzug nach La Chaux de Fonds.
Von Wilhelm Jungermann.
1.

„Auf Wiedersehen in La Chaux de Fonds!“ Mit diesen Worten reichten uns die Schweizer im vorigen Jahre zu Frankfurt beim Abschied die Hand. „Es gilt!“ war die Antwort, und wir schlugen Alle freudig ein. Freilich hat das Wort gegolten, aber – daß wir es nur offen und ehrlich gestehen – mehr bei den Schweizern als bei uns. In der Schweiz glaubten sie, wenn die kleine Schweiz mit 1100 Schützen in Frankfurt gewesen, so werde das große Deutschland doch wenigstens mit 4000 kommen, und als ihnen die Frankfurter schrieben, sie möchten keinenfalls auf so Viele rechnen, da antworteten sie: nun, wir würden willkommen sein, so viele es unser auch seien, aber auf 1000 deutsche Schützen zählten sie denn doch ganz bestimmt. Tausend deutsche Schützen! – Wir wußten in Frankfurt besser, wie es stand, und waren froh, als in den letzten Tagen vor dem 10. Juli die erste Hälfte des dritten Hundert vollzuwerden versprach: 243 standen in der Liste, und wenn wir die Nachzügler noch hinzuzählen, so werden es auch so viele gewesen sein.

Die Schweizer haben diesen spärlichen Besuch mild und gerecht beurtheilt; stehen wir daher nicht hinter ihnen zurück. Die geringe Zahl von deutschen Schützen, die mit den Schweizern einen Wettkampf überhaupt wagen können, die zahllosen Ausgaben bei der Gründung und ersten Einrichtung unserer jungen Schützenvereine, die großen Landesschießen in Baden, in der Pfalz, in Baiern, am Niederrhein und in Thüringen, das Turnerfest zu Leipzig, das Sängerfest zu Braunschweig, die hoch gespannten politischen Zustände in Preußen, vielleicht auch die Scheu vor der französischen Sprache in La Chaux de Fonds – so kamen der Ursachen viele zusammen, die unser Häuflein schmal machten. Erfreulich ist es nur, daß unser Zug sich aus so vielen einzelnen Städten und aus den verschiedensten Theilen Deutschlands zusammengefunden hatte; so kommt doch, wie ich hoffe, in jeden fernen Winkel deutschen Landes irgend ein lebendiger Zeuge zurück, der daheim erzählen kann, mit welchen Ehren und mit wie viel Liebe die Schweizer uns empfangen und was für ein herziges, tüchtiges, freiheitliebendes Volk wir da draußen getroffen.

Nur Eines hätte wohl sollen anders und zwar besser sein: ich meine, wir hätten in Deutschland auch ein wenig daran denken sollen, daß wir den Schweizern nicht blos unsere besten Schützen, sondern auch unsere besten Männer zu senden hatten, Männer, die unser Volk auch auf der Rednerbühne und, wenn es sein mußte, auch im ernsten, politischen Rath würdig vertreten konnten. Denn so war es doch nun einmal, daß das Urtheil der Schweizer sich danach feststellen mußte, wie die 250 deutschen Schützen sich gaben und gefielen, die da, der Einladung der Schweizer folgend, zwar nicht im Auftrag, aber doch im Namen des deutschen Volkes mit der schwarz-roth-goldenen Fahne in die Schweiz gezogen kamen. Es ist auch so gegangen, und wir dürfen unseren Schützen keinen Vorwurf machen. Es hätte aber auch anders kommen können, und für künftige Fälle will ich hiermit recht dringend gewarnt haben, jemals wieder einen deutschen Schützenzug so auf’s Gerathewohl in die Fremde ziehen zu lassen. Die Schweizer hatten es im vorigen Jahr und die Italiener haben es diesmal ganz anders gemacht.

Der Schützenverein und die Jugendwehr von Frankfurt hatten es sich nicht nehmen lassen, uns am Morgen des 10. Juli vom Römer aus nach dem Bahnhof das Geleit zu geben. Unter den Klängen des deutschen Schützenfestmarsches zogen wir, zehn schwache Züge stark, durch die menschengefüllten Straßen, und mit einem letzten tausendstimmigen Hoch von den Frankfurtern und Frankfurterinnen entlassen, traten wir um 8 Uhr im hellsten Morgensonnenschein, jedoch nicht ohne eine gewisse erwartungsvolle Aufregung, unsern Festzug nach dem Schweizerlande an. In Heidelberg und Offenburg begrüßten uns die Schützen, in Emmendingen und Müllheim die Turner mit Musik, Gesang und Böllerknall; sonst nahm man aber im deutschen Land weiter keine Notiz von uns. Fünf Uhr war herbei gekommen, als uns, eine halbe Stunde schon vor Basel, die Artillerie der Baseler Cadetten ihre ersten Begrüßungssalven entgegensandte. Endlich hielt der Zug im festlich geschmückten Bahnhof an. Wir vereinten uns, so gut und so rasch es ging, und zogen dann auf den freien Platz vor den Bahnhof, wo die Cadetten und die Schützen sich in Reih und Glied aufgestellt, um uns vor der zahllosen Menschenmenge Platz zu machen. Es ist eine schöne und nebenbei gesagt eine echt deutsche Sitte in der Schweiz, daß man dem Gast, der einem so recht vom Herzen willkommen ist, als ersten Willkomm einen frischen Trunk entgegen bringt. So ist uns am folgenden Tag auf allen Stationen, wo wir hielten, begegnet worden, so geschah es in La Chaux de Fonds nach jeder feierlichen Begrüßung der neu ankommenden Schützen eines Cantons, und so empfing uns auch die Stadt Basel, die treue Hüterin der Schweiz an der Grenze gegen Deutschland und Frankreich. In purem Silber und Gold ward uns der Ehrentrunk gereicht; es waren lauter Schützenbecher, die die Baseler sich auf den Bundesschießen geholt hatten, auch mancher Frankfurter war mit darunter. Dann hieß uns Dr. Brenner im Namen der Stadt Basel mit warmen kräftigen Worten willkommen, uns, die Vertreter des deutschen Volkes, das er sehr wohl von seinen Regierungen zu unterscheiden wisse. Consul v. Heymann aus Bremen, Mitglied des Centralcomité’s für das nächste deutsche Schützenfest, dankte in unserm Namen. Dann hieß es: „Gradaus, vorwärts Marsch!“ und die Baseler Cadetten voran, die Baseler Schützen als Schluß, die Fahnen und die Comité’s von Frankfurt, Bremen und Basel in der Mitte, so zogen wir unter dem Schalle zweier Musikcorps in die reich mit Blumen, Inschriften und Fahnen geschmückte Stadt hinein.

Das Herz schlug uns hoch vor Stolz und Freude über solchen Empfang, und mit lautem Hurrah grüßten wir auf unserm Marsche bald eine Fahne, bald eine besonders ansprechende Inschrift, bald die Frauen und Jungfrauen Basels, die uns von den Fenstern herab mit Blumensträußen willkommen hießen. Für den Abend waren wir in das dicht am grünen, rasch strömenden Rhein gelegene Gesellschaftshaus der drei Innungen von Kleinbasel zum Abendimbiß

[510] eingeladen. Die Namen der besten und größten deutschen Männer, von Guttenberg und Berthold Schwarz bis zu Schiller, Stein und Humboldt, grüßten uns hier von den Wänden herab; ein prachtvolles Feuerwerk warf von einem Schiff im Rhein seine sausenden Raketen und Feuerräder zu dem dunkeln Abendhimmel empor, und dazwischen setzte magisches Roth- und Weißfeuer die dicht vom Volk umlagerte Brücke und die schwarzen Wogen des Rheines in eine zauberhaft schöne Beleuchtung. Auch der Humor fehlte nicht: ein riesiges Schattenspiel bewegte sich an den Wänden der jenseit des Rheines gelegenen Häuser, und noch weit in die stillen Gassen hinein scholl mir der Jubel der Baseler und der deutschen Schützen nach, als ich endlich gegen Mitternacht mich losriß. „Sie haben Recht, es wird wohl morgen ein heißer Tag für Euch werden,“ sagte Dr. Brenner zu mir, als ich ihm zum Abschied die Hand reichte. Ich verstand kaum, was er damit sagen wollte; aber am folgenden Tage, als es uns heiß und immer heißer um’s Herz wurde über all die Liebe und Ehre, die man uns entgegen trug, da hab ich oft an diese vielsagenden Abschiedsworte denken müssen.

Es giebt Erlebnisse, die fassen auch eines Mannes Herz mit erschütternder Gewalt, also daß er sich nicht retten und bergen kann vor der Rührung, die ihn beschleicht. Es ist schwer, die Stimmung mit Worten wiederzugeben, in der solches möglich ist. Man weiß selbst nicht, wie es kommt; aber plötzlich zuckt es um den Mund und das Auge schwimmt und man tritt still hinter die Andern, um heimlich die Thräne abzuwischen, die über die Wange rollt – hinter die Anderen, die ab und zu sich selber seitwärts wenden, um ganz verstohlen mit der Hand nach den Augen zu fahren. So ist es gar Manchem von uns geschehen, als wir am 11. Juli von Basel nach La Chaux de Fonds fuhren, und ich denke, man wird uns deshalb noch keine Weichlinge schelten. Was uns die Stadt Basel Liebes und Gutes angethan, werden wir ihr allezeit dankbar gedenken. Aber es war doch nur eine Stadt, die uns so empfangen, und wir wußten uns zu fassen. Auch auf den ersten Stationen, die wir nach Basel zu passiren hatten, hielten wir aller Herzlichkeit gegenüber noch guten Stand. Als wir aber weiter und weiter fuhren und uns überall dieselbe Wärme und Liebe in der ungesuchtesten, einfachsten und darum nur um so eindringlicheren Weise empfing, als wir erkannten, daß hier nicht blos diese und jene Gemeinde, nein daß uns das ganze Schweizervolk jubelnd und achtungsvoll willkommen hieß, da schwand allmählich auch bei den Festesten von uns die Fassung, und mehr als Einen habe ich mit erstickter Stimme vor sich her sagen hören: „Zu viel, zu viel!“ Es ist wohl mancher Fürst schon durch sein Land gezogen, und die Glocken haben geläutet und die Fahnen haben geweht und Alles hat im Festgewand ihm entgegen gejauchzt. Aber das Alles reicht doch lange nicht daran, wenn ein Volk das andere so recht von Grund des Herzens in voller freiwilligster Freudigkeit bei sich willkommen heißt, denn das ist erst das rechte Volksfest, das ein Volk zu Ehren des andern bereitet. Die Schweizer aber mögen es uns glauben, wir wußten gerade von ihnen, von einer so freiheitstolzen, so zurückhaltenden, so republikanisch-ernsten Nation, so hohe Ehren vollauf zu schätzen, und ich denke, noch im nächsten Jahr sollen sie erkennen, daß selbst nach Jahresfrist der Dank des deutschen Volkes noch warm ist für das, was sie am 11. Juli an den deutschen Schützen und damit am deutschen Volke selbst gethan.

Der große Nationalheld der Schweizer, Wilhelm Tell, war es selbst, der unseren Zug geleitete. Vorn an der festlich geschmückten Locomotive unter Blumen, Bändern und Fahnen stand seine und seines Knaben Figur, als sollte er schirmend wachen, daß uns, den lieben Gästen seines Schweizerlandes, kein Unheil auf unserer Fahrt begegne. So ging es fort von Basel im hellsten Sonnenschein, und wo auch nur unser Zug hielt, in Muttenz, Pratteln, Liestal, Sissach, Läufelfingen, Olten, Langenthal, Herzogenbuchsee, Solothurn, Grenchen, Pieterlen, Biel, Twann, Neuenstadt, Saint Blaise, Neuenburg, Chambrellieu, Hauts Geneveys, überall waren die Bahnhöfe reich geschmückt, überall schallte uns Musik und Kanonendonner entgegen, überall ward uns aus silbernen Bechern der Ehrentrunk gereicht. Doch dabei blieb es in den meisten Fällen nicht. Vielfach war auch ein Redner zur Stelle, der uns in warmen Worten begrüßte, oder die Jugendwehr hatte sich als Ehrenwache aufgestellt. Es war indeß nicht die Pracht des Empfangs, die uns so ergriff, sondern meist gerade die treuherzige Einfachheit und das warme lebendige Gefühl der Freude, das Ungemachte und Ungeheuchelte, das aus allen Anordnungen herausblickte. Da hatte jeder Ort sich selbst etwas herausgesucht, womit er seine ganz besondere Aufmerksamkeit beweisen wollte.

So hatte sich in Pratteln und Sissach ein junger Bursch in eine alte eiserne Rüstung gesteckt, um uns mit gravitätischem Ernst die Honneurs zu machen; so hatte Herzogenbuchsee seinen Triumphbogen mit Ritterrüstungen und uralten Fahnen, Hellebarden und Schwertern ausgeputzt; so hatte gar Neuenstadt die stolzesten Zeugen seines vergangenen Ruhmes, zwei alte verrostete, wunderlich geformte Kanonen hervorgeholt und uns zu Ehren aufgestellt – es war Kriegsbeute aus irgend einer siegreichen Schlacht gegen die Herzöge von Burgund oder sonst einen Feind der Schweizerfreiheit. Aber nicht blos mit alten Schwertern und Waffen grüßte man uns. In Sissach und Olten standen die hübschesten kleinen Mädchen mit weiß-rothen und schwarz-roth-goldenen Schärpen, um Alpenrosen an uns zu vertheilen, und die Langenthaler und Solothurner hatten gar ihre schönsten Jungfrauen nicht für zu gut gehalten, um uns den Ehrentrunk zu reichen. In Solothurn begrüßte uns noch obendrein ein vierstimmiger deutscher Männerchor und der deutsche Verein mit seiner Fahne, in Biel waren es die Turner, die uns bewirtheten, und in dem vor Allem reich und prachtvoll geschmückten Neuenburg lud uns die Stadt selbst in ihr Rathhaus zum Vesperbrod mit bestem Neuenburger und Champagner zu Gaste. Aber auch wo der Zug nicht hielt, grüßte man uns. Die alte Festung Aarburg hatte noch einmal ihre Wälle mit Kanonen bepflanzt, um uns ihren Gruß entgegen zu donnern; in Murgenthal war uns zu Ehren auf dem Bahnhof wenigstens ein riesiger Blumenstrauß aufgestellt, der uns seine Wohlgerüche entgegen senden sollte, und vor Solothurn hatten sich mitten im freien Felde etwa 20 kleine Bauernmädchen der Bahn entlang aufgestellt, um uns mit ihren kleinen Schweizerfähnchen ihren Gruß zuzuwehen. Es war wirklich so, wie uns in Pratteln am Bahnhof ein treuherziger, schmuckloser Vers sagte:

„Blei und Pulver und Kanonen
Bezwingen Städte und Cantonen.
Deutsche Schützen mit Pulver und Blei
Erobern in Liebe unser Ländchen frei.“

„In Liebe“ erobert – ja das war das richtige Wort! Anders als „in Liebe“ läßt sich wohl auch die wehrhafte Schweiz nicht erobern, und anders als „in Liebe“ will auch das deutsche Volk keine Eroberungen machen. Aber bei dieser unserer neuesten Eroberung, die wirklich und allein nur „in Liebe“ gemacht ist, soll es hoffentlich nun für immer sein Bewenden behalten.

Den tiefsten Eindruck machte indeß auf uns der Aufzug der 1200 Cadetten aus den Cantonen Aargau und Bern vor dem Bahnhof zu Olten und das große Manöver, das sie unter der Führung des Obersten Schwarz von Aarau in der Nähe der Stadt Olten im Feuer ausführten. Schon von weitem hatte uns ihre Artillerie gegrüßt, während die Infanterie, als wir in den Bahnhof einfuhren, rechts und links Spalier bildete. Dann, nachdem uns Präsident Kully von Olten in warmer hinreißender Rede willkommen geheißen und wir selbst uns zwei Glieder hoch rangirt, zog die ganze junge Mannschaft mit klingendem Spiel und fliegenden Fahnen im Paradeschritt an uns vorüber. Es war für die meisten von uns ein ganz neues unbekanntes Schauspiel, diese 1200 Buben im Alter von 10 bis 17 Jahren, die da in voller feldmäßiger Ausrüstung an uns vorbeidefilirten. Ihre Kanonen zogen sie sich selbst, ihre Officiere waren Buben wie sie selbst. Kinder waren es, die da vor uns marschirten, ihre leichten Gewehre waren nicht zum Kriegführen, ihre Säbel taugten nicht für eine Männerfaust, ihre Kanonen hätten keinen ernsten Feind aufgehalten; aber aus all dem Kindertreiben schaute denn doch wieder ein so mächtiger Ernst heraus, daß es uns das Herz zusammendrückte: das war die wahre Volksarmee, die wahre Armee der Zukunft, das waren die wahren Bürgen für die stete Freiheit und Unabhängigkeit der Schweiz. So lange die Schweizer-Berge stehen und solche Buben noch in ihnen hervorwachsen, so lange die Schweizer es noch verstehen, in so naturgemäßer Weise den soldatischen Beruf unzertrennlich mit dem Sinn für bürgerliche Selbstständigkeit zu verbinden, so lange wird nie ein fremder Eroberer es wagen dürfen, an ihre Selbstständigkeit die Hand zu legen. Unsere Frankfurter Jugendwehr ging auch mit im Zuge. Sie grüßte uns stolz mit ihrer frisch gewonnenen deutschen Fahne, und die Buben traten so fest und kräftig auf und schauten so ernst und mit so blitzenden Augen drein, nicht rechts und nicht links, als [511] hätten sie die Ehre von ganz Deutschland zu vertreten. Bei dem nun folgenden Manöver hatten sie einen Ehrenplatz erhalten, sie kamen nach den Plänklern des angreifenden und siegenden Theiles in der Vorhut, und wie ich mehrfach gehört, haben sie auch ihre Sache gut gemacht, wenigstens so gut, daß sie sich unter ihren geübteren, flinken Schweizer Cameraden mit Ehren sehen lassen konnten. Ueber den Verlauf des Manövers, dem wir aus möglichster Nähe zusahen, kann ich leider wenig berichten. Es entspann sich kunstgerecht langsam, und die Aufgabe bestand darin, daß der vom Hauenstein her kommende Feind den Uebergang über die Aarbrücke bei Olten erzwingen und die Schweizer dies zu verhindern hatten. Das Gefecht war aber eben erst bei der Zügelhütte vor Olten, an der entscheidendsten Stelle mit aller Heftigkeit entbrannt, als uns der Zug wieder weiter und nach Langenthal führte.

Wenn ich oben darauf verwies, es sei nicht rathsam, einen deutschen Schützenzug so auf’s Gerathewohl in die Fremde ziehen zu lassen, so hatte ich dabei vor Allen die nicht zu vermeidenden Situationen im Auge, bei denen es sich darum handelt, im Namen der Gesammteit ein Wort in freier Rede an die Gastgeber zu richten. Wir hatten uns nach dieser Seite hin kaum vorgesehen und mußten bei den Begrüßungsreden der Schweizer auf gut Glück zusammenraffen, was wir von Rednern nur unter uns hatten. Im Ganzen freilich war die Aufgabe nicht schwer, aber immerhin wollte sie gelöst sein. Es war Ein Gedanke, der durch die Reden der Schweizer hindurchging, und Ein Gedanke, der aus unseren Antworten herausklang: das Bündniß der freien Schweiz mit einem freien Deutschland sollte hier auf dem schweizerischen Gebiet erneuert und bekräftigt werden. Unsere Wahl fiel in Olten als ersten Redner auf Dr. Heineke aus Bremen und als zweiten auf Dr. Carl Grün aus Frankfurt, welcher Letztere denn auch in so hinreißender Weise unseren Dank aussprach, daß die Schweizer nicht weniger als wir selbst davon ergriffen wurden. In Langenthal, wo Oberst Geise uns begrüßte, antwortete Max Wirth aus Frankfurt; in Herzogenbuchsee dankte auf die Anrede des Oberst Im Obersteg von dort Jungermann aus Bockenheim; in Solothurn, wo Regierungsrath Schenker uns empfing, Dr. Plater aus Bremen; in Neuenburg, wo Dr. Guillaume die Anrede hielt, antwortete Dr. Sigmund Müller aus Frankfurt deutsch und Dr. Grün französisch, und in Hauts Geneveys endlich erwiderte auf die Rede von Dr. Scheurer aus Fontaine nochmals Max Wirth in französischer Sprache.

Es war schon dunkle Nacht und fast 10 Uhr, als wir endlich in La Chaux de Fonds ankamen. Nach all den Beweisen herzlichster Freundschaft, die wir den ganzen Tag über erhalten hatten, waren wir einigermaßen überrascht, als gerade in La Chaux de Fonds, am Ziel unserer Fahrt, am eigentlichen Festort, Niemand sich eingefunden hatte, der uns willkommen geheißen hätte. Der Grund lag in Mißverständnissen aller Art, nicht aber etwa in bösem Willen; denn es war uns ein glänzender Empfang von dem Comité, der Gemeindebehörde, den Schützen und der Jugendwehr zugedacht gewesen. Nun, nach so viel Begrüßungsscenen konnten wir, müde und einigermaßen abgespannt, eine weitere, und wäre sie noch so glänzend gewesen, schon missen. Es berührte uns daher auch weiter nicht, als wir uns so auf eigene Hand in den Festort und unsere Quartiere einführen mußten; wir stellten uns vielmehr am andern Morgen ganz mit demselben guten Muth zum Festzuge ein, als hätten wir zu unseren achtzehn Begrüßungsacten in La Chaux de Fonds auch noch den neunzehnten hinzuzufügen gehabt.

Ein Festzug bei einem schweizerischen Schützenfest hat einen ganz anderen Charakter und eine ganz andere Bedeutung, als wir nach dem Vorbild des unvergeßlichen Tages von Frankfurt uns vorzustellen geneigt sind. Alle unsere großen Nationalfeste gewinnen bei uns dadurch einen eigenthümlichen Schwung und eine höhere Weihe, daß sie allein bis jetzt Gelegenheit bieten, uns als eine Nation, als ein einziges großes Ganzes zu fühlen. Wir haben kein Parlament und keine oberste Reichsgewalt, wir werden durch keine einzige gemeinsame Institution daran erinnert, daß wir ein Volk, ein einiges Volk sind; so hat sich denn der Drang nach Einheit und nationalem Leben, der augenblicklich wieder so mächtig durch uns hingeht, in anderer Weise und auf nicht politischem Gebiet die Möglichkeit schaffen müssen, uns wie in einem Spiegelbild in unseren gemeinsamen Festen unsere nationale Einheit und Zusammengehörigkeit zu zeigen. Vor Allem war dies der Fall auf dem großen, wunderbar herrlichen Schützenfest in Frankfurt, durch das ein Rausch des Enthusiasmus, ein einziger großer Accord brüderlichen Gesammtgefühls hindurch klang, daß bis auf diesen Tag sogar die Schweizer nur in tiefer Bewegung sein gedenken können. Alle Weihe und Poesie des Frankfurter Festes gipfelte aber in dem großartigen Festzug, bei dem 8000 deutsche Schützen aus allen, auch den entlegensten Theilen des deutschen Landes sich zusammen gefunden hatten und gemeinsam dem ergreifenden Act der Weihe der deutschen Bundesfahne beiwohnten. Und dieses Beisammensein aller deutschen Schützen bei dem großen Festzug war für das Gelingen und das ganze Gepräge des Festes so nothwendig, daß eben das Fest nicht das gewesen wäre, was es war, wenn nicht eben in den 8000 deutschen Schützen aus Preußen und Tyrol, aus Bayern und Sachsen, der eigentliche Zweck des ganzen Festes, nämlich die Offenbarung der Einheit aller deutschen Volksstämme, sich vor aller Welt Augen deutlich und sichtbar manifestirt hätte. Das ist in der Schweiz ganz anders. Die Schweizer ringen und streben nicht mehr nach Einheit und Freiheit, sie haben sie, und der Bundesrath und die Bundesversammlung zu Bern liefern ihnen alljährlich und alltäglich den Beweis, daß ihr nationales Staatsleben bereits einen festen Abschluß gefunden hat. Die Schützenfeste der Schweizer haben daher nicht die Bedeutung und können sie nicht haben, daß sich in ihnen erst noch der Gedanke der Einheit aller Schweizercantone ausprägen soll; die Schützenfeste der Schweizer sind vielmehr nichts mehr und nichts weniger als das was ihr Name besagt, nämlich gemeinsame festliche Zusammenkünfte aller schweizerischen Schützen zum gemeinsamen Wettkampf in der uralten nationalen Kunst des Schießens. Der Festzug aber ist dem entsprechend in der Schweiz auch nichts weiter, als der einleitende Act der Eröffnung des Festes. Dazu kommt nun noch, daß bei der großen Anzahl von Schützen in der Schweiz und der verhältnißmäßig geringen Einwohnerzahl der Städte, nur sehr selten es möglich sein würde, daß die Schützen aller Cantone zu gleicher Zeit zum Bundesschießen zusammen kommen können, daß vielmehr, einer feststehenden Sitte zufolge, die Cantone nur nach und nach zum Feste einzutreffen pflegen. Beim Festzug aber, als beim Beginn des Festes, sind regelmäßig gerade die wenigsten Schützen anwesend, und der Zug selbst könnte schon aus diesem Grunde nur eine geringe Ausdehnung haben. Rechnen wir dazu, daß Frankfurt 75,000, La Chaux de Fonds 19,000 Einwohner zählt, daß Frankfurt auf fünf großen Eisenbahnen von einem Dutzend volkreicher Städte in wenig mehr als einer Stunde er[r]eicht werden kann, während La Chaux de Fonds hoch oben im Jura 3500 Fuß über dem Meere, abgeschnitten von den großen Verkehrsstraßen und dicht an der französischen Grenze liegt, so ergiebt sich von selbst, daß, wie jeder Festzug in der Schweiz seiner inneren Bedeutung nach ein anderer ist und sein soll, als der Frankfurter Festzug, so auch der Festzug von La Chaux de Fonds, ungeachtet an ihm über 3000 Personen Theil nahmen, keinen Vergleich an Pracht und Ausdehnung und zuschauendem Menschengewühl mit dem Frankfurter Festzug aushalten kann.

Die Cadetten von La Chaus de Fonds, die vier in altschweizerische Tracht gekleideten Vertreter der Urcantone (Schwyz, Uri, Unterwalden, Luzern), die Zeiger mit rother Blouse und rothem Fez, die Warner mit blauer Blouse und rotem Fez, und – die deutschen Schützen in Joppe und Schützenhut bildeten außer den 25 Fahnen die einzigen malerischen Elemente im Zug. Ernst und schweigsam schritten die Schweizer bei dem feierlichen Geläute der Glocken durch die nicht sehr überfüllten Straßen, und nur wir Deutsche waren es, die etwas Leben und Bewegung in den Zug wie unter die Bevölkerung brachten, indem wir mit lautem Hurrah und lustigem Hüteschwenken den Damen für die uns zugeworfenen Blumensträuße dankten oder eine deutsche Fahne oder ein ansprechendes Transparent begrüßten. Am Gabentempel erfolgte dann mit Rede und Gegenrede die Uebergabe der Fahne des schweizerischen Schützenbundes durch den Vorsitzenden des seitherigen Centralcomité’s, Herrn Odermatt aus Nidwalden, an den Vorsitzenden des neuen Centralcomité’s zu La Chaux de Fonds, Herrn Buchhändler Lesquereux; dann wurde unter dem Donner der Kanonen die Bundesfahne auf dem Mast des Gabentempels aufgehißt, der Ehrentrunk in den silbernen Bechern umhergereicht, und – das eidgenössische Bundesschießen war eröffnet.

[512] Nur um Eins habe ich bei der einfachen prunklosen Ceremonie die Schweizer beneidet: um das stolze Gefühl, in dem der greise Präsident Odermatt bei der Uebergabe der Fahne sagen konnte: „Die Freiheit ist es, die uns trotz aller Verschiedenheit zu Brüdern macht. Ihr danken wir unseren hohen Bürgersinn und das Blühen unserer Bildungsanstalten, unseren Wohlstand, unser Glück.“ Wann werden wir in Deutschland solche Worte sprechen können?



Vom wiedererstandenen „Ludwig“.

Wer um die Mitte des Juli dieses Jahres von Lindau nach Rorschach fuhr, wurde sehr bald auf drei der gewöhnlichen Bodensee-Schleppschiffe aufmerksam gemacht, die etwa drei Viertelstunden von Rorschach und eine halbe Stunde vom sogenannten Rheinhorn entfernt, fortwährend von Booten und Gondeln umschwärmt, vor Anker lagen. „Dort,“ sagten die baierischen Dampfschiffsleute, „hat der Bauer den „Ludwig“ bis auf 18 Fuß gehoben, aber er soll schon wieder e Bissel hinunter sein. Er wird ihn schwerlich gar ’raus kriegen.“

Diese drei Schiffe waren der „Delphin“, welchen die badische Dampfschiff-Verwaltung in Constanz für die „Erprobung des deutschen Taucherwerks“ gratis und aufs Beste ausgerüstet Herrn Bauer zur Benutzung überlassen hatte, der „Welfe“, welcher von der würtembergischen Verwaltung in Friedrichshafen, und der „Trabant“, welcher von der baierischen Verwaltung in Lindau (letzterer für Verankerung etc. sehr mangelhaft ausgerüstet) gemiethet worden war. Zwischen Delphin und Trabant schwammen die Ballone, Kameele und Fässer, welche den Ludwig trugen. Auf jedem Schiffe arbeitete eine Locomobile (von Welter in Mülhausen) für je zwei der Bauer’schen Luftpumpen, deren lange Gutta-Pertscha-Schläuche theils in den Taucherhelm, theils zu den am Ludwig befestigten Hebekörpern liefen. Der „Welfe“, abseits geankert, diente als Magazinschiff.

„Er ist schon wieder e Bissel hinunter!“ Diese Worte konnte man in Rorschach stets hören, wenn Besucher früh am Morgen oder gleich nach einem starken Wehen zum „Ludwig“ gekommen waren. Wunderlicherweise deutet dieser halb bedauerliche, halb tadelnde Ausspruch auf einen der größten Vortheile und zugleich auf die großartige Sicherheit dieser Bauer’schen Schiffshebeweise hin: ist nämlich das gesunkene Schiff bis in die Nähe des Niveau gehoben, so spielt Bauer förmlich mit der Last, er läßt sie nach Belieben sinken und wieder steigen. Ersteres geschieht nun stets bei drohendem Unwetter, um die zu hoch über dem Niveau schwimmenden Ballons wieder so tief ins, Wasser zu bringen, daß auch der stärkste Wellenschlag sie nicht losreißen oder sonst beschädigen kann. Es wird dies einfach durch Ablassen von so viel Luft aus den Ballons bewirkt, als zum Versenken des gehobenen Schiffs um so und so viel Fuß sich nöthig zeigt. Die hohen Ballons am „Ludwig“ wurden jeden Abend durch Niedersenken des Schiffs vor etwaigen Stürmen der Nacht gesichert. Nach ein- bis zweistündigem Auspumpen der Ballons erreicht das Schiff wieder die vorher gewonnene Höhe. Wer mit dieser ruhigen und sichern Procedur das Heben der Schiffe mittelst mechanischer Kräfte vergleicht, bei welchen der geringste Sturm durch fortwährendes Zerren, Stoßen und Reißen hebende wie zu hebende Schiffe stets schwer beschädigt und oft zertrümmert, der wird den außerordentlichen Werth der Bauer’schen Durchführung dieser Erfindung auch in dieser Beziehung gerecht würdigen.

Nachdem die an sich sehr schwierige Arbeit der tieferen Befestigung der Ballons und Kameele am „Ludwig“ durch die schlimmen Winde sehr verzögert worden war, konnte Bauer endlich die Abführung desselben von seiner letzten Hebestelle nach dem Schweizerufer wagen.

Dieser Festtag, der 21. Juli (ein Dienstag), kam jedoch nicht mit günstigen Aussichten. Von Constanz her drohte der alte Taucherfeind Wind und zeigte die weißen Köpfe seiner näher und näher springenden Wellenkatzen. Dennoch arbeiteten die Locomobilen fleißig zum Auspumpen der Ballons. Gegen 9 Uhr trat das Hintertheil des „Ludwig“ immer mehr hervor, und bald begann auch das Vordertheil zu steigen. Um ½10 Uhr stand zum ersten Male das Deck des Hintertheils so hoch, daß Obertaucher A. Schrof als der Erste den Ludwig betrat und zwischen den Trümmern des Steuerrades und seiner zerstörten Umgebung herumging. Die ungeschickte Heberei des Hochholzer, der bekanntlich nach Bauer’s ersten Hebearbeiten im Jahre 1861 den „Ludwig“ mit mechanischen Mitteln herausholen wollte, zeigte nun ihre traurigen Früchte. Alles Hervorragende am „Ludwig“, das seine Haken und Schlingen (die er nicht durch Taucher hatte befestigen lassen, sondern mit denen er blindlings von oben am gesunkenen Schiffe herumfischte, um feste Haltpunkte zu finden) erreicht hatten, war abgebrochen, abgerissen und starrte in Fetzen, Splittern und Stücken hervor: für die Taucher die schlimmste Gefahr und eine außerordentliche Erschwerung der Taucherarbeit.

Das erste Möbel, welches Schroff in die Hand fiel, war ein Fußschemelchen neben den Trümmern der Bank rechts vom Steuerrad. Der Ludwig stieg immer mehr. Die Radkasten treten hervor, die Glocke wird sichtbar. Es ist ¾10 Uhr – und im Westen rückt der lange schwarze Strich vom Untersee her, der die höheren Wellen bezeichnet, näher und näher.

Da faßt Bauer den Entschluß, den „Ludwig“ noch heute vor den Zufällen eines abermaligen Wellenspiels zu sichern. Abfahrt zum Hafen! geht’s von Schiff zu Schiff. Die badische Flagge wird am Delphin aufgehißt. Sie bedeutet für die in Rorschach wohnende Gattin Bauer’s das Zeichen, einen würtembergischen Dampfer von Friedrichshafen telegraphisch zum „Ludwig“ herbeizurufen. Zugleich kommt Bauer’s Kanone, aus Eisen vom dänischen Christian VIII. gegossen, auf das Deck und verkündet der Schweizerküste die Hebung und Abfahrt des „Ludwig“. Alles voll Leben und Thätigkeit, die Luftschläuche wandern von Ballon zu Ballon, von Kameel zu Kameel, um jede Tragkraft auf ihre Höhe zu bringen.

Gegen 2 Uhr näherte sich die Rauchsäule des „Wilhelm“ und um ½3 Uhr fuhr er am „Ludwig“ vor. Während Bauer an Bord desselben stieg, arbeiteten fortwährend alle vier Pumpen (die beiden „Bremen“, „Nürnberg“ und „Stettin“) am Auf- und Nachpumpen der Ballons und Kameele. Mit einem Male brauste es auf zwischen den Arbeitsschiffen, und da stand der Ludwig mit beiden Radkästen vollkommen gleich 3 Fuß über dem Wasser, sodaß die Fenster desselben ganz frei waren und den Einblick in das Innere gestatteten. Aus der Küche langte Taucher A. Schroff eine Flasche Cognac heraus, welche sofort von Mund zu Mund wanderte; in der Küche stand von dem Geschirr noch Vieles in hübscher Ordnung. Weiter gingen die Forscherblicke vor der Hand noch nicht. Allmählich kam das Geländer zu beiden Seiten der Radkasten zum Vorschein. Auch der Stern trat wieder in’s Freie.

Während Bauer mit dem Dampfer „Wilhelm“ den Bogen nach dem Rheinhorn und Staad zu bis zum kleinen Hafen von Rorschach, als den für den „Ludwig“ bestimmten Lauf, befuhr, hatte der Telegraph die Kunde von Dem, was da geschehen sollte, so rasch in die Schweiz getragen, daß der nächste Bahnzug ganze Heerhaufen herbeizog, die nun den heranbrausenden Dampfer „Friedrichshafen“ Kopf an Kopf anfüllten; zugleich mehrten sich die vom Schweizerufer herbeieilenden Gruppen von Gondeln und Booten. Endlich kam Bauer zurück, um die letzten Hebearbeiten anzuordnen und den Transport vorzubereiten. Nachdem die Arbeitsschiffe sich ankerfrei gemacht, setzte sich 5 Minuten nach 5 Uhr der ganze Zug in Bewegung; voraus der Dampfer „Wilhelm“, dahinter an ihren drei Tauen die beiden Arbeitsschiffe Delphin und Trabant mit dem „Ludwig“ in der Mitte wie in Reih’ und Glied; rechts zwischen dem „Wilhelm“ und dem „Ludwig“ – Wilhelm Bauer in einer Gondel, um den Lauf der Schlepptaue zu beaufsichtigen und den der Schiffe zu dirigiren; hinter dem Ludwig, an ihn befestigt, zwei mächtige Kameele, auf dem einen derselben Taucher Franz Schroff stehend, dahinter ein großes Boot der Arbeiter am „Ludwig“ und ein ganzes Geschwader von Kähnen und Gondeln. Rechts und links immer mehr heranziehende Fahrzeuge.

Die nothwendigen einzelnen Commandorufe waren für einige Minuten plötzlich die einzigen menschlichen Stimmen, die in dem stattlichen Geschwader laut wurden, einen so ernsten Eindruck übte der fest und stät dahin wallende Zug aus – für die armen Unglücklichen im Schooße des „Ludwig“ der großartigste Leichenzug. Aber neue Eindrücke verwischen die Stimmung der Trauer und heben das allgemeine Gefühl noch höher. Der Dampfer „Leopold“ kommt heran, grüßt mit der Flagge und mit drei Schüssen und schließt sich dem Zuge an, um dem wiedererstandenen alten Bruder „Ludwig“ das Ehrengeleite in’s Leben zurück zu geben. Herrlich, ohne Anstoß, ohne die geringste Störung, zieht die Flotille in weitem Bogen, dem Ufer von Staad sich nähernd, dahin, die beiden Arbeitsschiffe ununterbrochen thätig, matter werdende Ballons aufzupumpen. Um ¾7 stößt der „Ludwig“ auf Grund, kurzer Aufenthalt, Aufpumpen der Kameele und untersten Ballons, und flott ist er wieder, und wieder geht es, und zwar in weitem Bogen, in den tieferen See zurück, prachtvoll und feierlich dahin. Ein baierischer Dampfer fährt nach Lindau vorüber, aber diesmal fehlt ihm die Flagge nicht. Um 7 Uhr beginnt der Kanonendonner vom Ufer her und erstreckt sich immer weiter von Berg zu Berg. Der „Wilhelm“ donnert seinen Gruß entgegen, die Böller des „Leopold“ und einzelner Boote folgen nach, alle Flaggen gehen grüßend und festlich auf und nieder. Da wird auch der „Ludwig“ lebendig, die Taucher Hoch und Aug. Schroff in ihrem Tauchanzug erscheinen auf demselben, und während Hoch die deutsche Fahne schwingt und auf dem rechten Radkasten des „Ludwig“ aufpflanzt, läßt Aug. Schroff zum ersten Male nach zwei Jahren vier Monaten die wohltönende feierliche Stimme des Erstandenen, die Schiffsglocke des Ludwig, erschallen. Da will das Hoch kein Ende nehmen, und Vielen stehen dazu die Thränen in den Augen. Mitten in diesen Jubel donnert der Gruß des würtembergischen Dampfschiffs „Königin“ darein, das sich ebenfalls dem Triumphzug einer deutschen Erfindung anschließt. Und wieder vorwärts geht es, jetzt mit vollem Vertrauen auf die Tüchtigkeit der Hebeapparate und mit voller Siegesgewißheit nicht mehr ängstlich und besorgt das sichere Ufer entlang, sondern kühn gerade aus über Abgründe von 180 und 240 Fuß Seetiefe dahin. Immer näher braust das Hoch der Volksmenge am Ufer, an welchem endlich bei anbrechender Dämmerung die stolze Flotille hält und der „Ludwig“ zwischen seinen getreuen Begleitern an’s Land stößt.

Das war der Triumphzug des „Ludwig“, der Triumphzug Bauer’s und seiner Erfindung. Sie ist erprobt, sie hat ihre beiden schwersten Aufgaben gelöst: ein Schiff, das fast dritthalb Jahre im See gelegen, ist aus einer Tiefe von fast 80 Fuß zur Oberfläche emporgehoben, und, auf der Höhe fest erhalten, hat es eine fast dritthalbstündige Fahrt bestanden. Hätte das Ufer um Rorschach herum einen Hafen mit einer Schiffswerfte, so würde das gehobene und transportirte Schiff auch sofort geborgen sein. Das Schweizerufer bietet diesen Schutz und diese Hülfe nicht, und eben darum muß Bauer das Schiff noch bis über die Kajütenfenster emporheben, den Leck verstopfen, den Schiffsraum durch Auspumpen von seiner Wasserlast befreien und damit das Fahrzeug wieder flott machen.

Eine genaue Beschreibung des „Ludwig“, seines äußeren und inneren Zustandes, soll die getreue Abbildung desselben begleiten.

Fr. Hofmann.


  1. Dieselben sind im Verlage von E. Keil in Leipzig unter dem Titel: „Capitel zu einem deutschen Arbeiterkatechismus, 6 Vorträge im Berliner Arbeiterverein,“ erschienen und bei directen Bezügen von mehr als 25 Exemplaren bei der Verlagshandlung zu 5 Sgr. = ⅙ Thlr. oder 17½ Xr. rhein. zu haben. Möge ihre Gesammtbeziehung hiermit allen Arbeiter,- Handwerker- und Gewerbevereinen empfohlen sein!
    Sch.-D.