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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 7.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Bill Hammer.
Episode aus dem Bürgerkriege in Missouri.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Nur für einen Augenblick ging das Blut aus Bill’s Gesichte, als er das rothe Haar und den falschen Blick des Vorgetretenen erkannte; im nächsten schon zuckte es wie eine tiefe Verachtung um seinen Mund. „Du solltest doch richtig sagen, was Du weißt, Mulligan, wenn Du Dich auch mit der Wahrheit noch nie viel abgequält hast. Du weißt wohl, wie lange ich schon auf Mr. Anderson’s Farm bin, gegen den wahrscheinlich Niemand etwas einzuwenden haben wird, und daß ich so wenig nach der Stadt komme, daß ich erst gestern gehört habe, wie Du vom Müller Riese Prügel bekommen hast!“

Ein jolendes Gelächter brach bei den letzten Worten unter den Umstehenden los, der Rothkopf schien unter seinen neuen Gefährten sichtbar noch wenig Freunde gefunden zu haben; mit einem Ausdrucke erbitterter Bosheit aber schrie dieser: „Laßt ihn nur einmal: Hurrah für Jefferson Davis! rufen, und das richtige Fell wird sich gleich zeigen!“

„Wenn das solche Menschen, wie Du bist, rufen,“ erwiderte Bill, und nur der genaue Beobachter hätte bei der ausgesprochenen Zumuthung das Zucken in seinen Mienen wahrnehmen können, „so muß sich Jefferson Davis schämen und ebenso jeder rechte Mann, es nachzurufen!“

Ein tolleres Gelächter noch als vorher folgte der Abweisung, und der uniformirte Anführer sammt seiner Umgebung schien sich ausnehmend über die Scene zu amüsiren; als aber Mulligan mit einem bösen Blick auf den Burschen die Fäuste ballte, erhob sich der Officier und wies Jenen mit einer gebieterischen Handbewegung zurück. „Wir werden schnell wissen, woran wir mit ihm sind – visitirt ihn genau!“ rief er Bill’s Führern zu, und nach kaum zwei Minuten stand der Knabe bis auf’s Hemde entkleidet da, während von zehn verschiedenen Händen jeder Theil seines Anzugs untersucht, jede Tasche umgedreht und ihres Inhalts entledigt ward. Bill sah sein Messer und sein Portemonnaie in fremde Taschen wandern, sah sein buntseidenes Halstuch verschwinden, und fast schien es ihm, als schütze seine übrigen Kleidungsstücke nur die Nutzlosigkeit derselben für einen erwachsenen Mann vor einem gleichen Schicksale, aber keine seiner Mienen zeigte, daß er die kleinen Räubereien bemerkte, und in völliger äußerer Gleichgültigkeit legte er die ihm hingeworfenen Stücke seines Anzugs wieder an.

„Ich konnte mir gleich nicht recht denken, daß Jemand ohne Noth im bloßen Kopfe nach Jefferson-City marschiren sollte,“ sagte der Officier nach beendigter Durchsuchung sich seinem frühern Platze wieder zuwendend, „laßt ihn laufen!“ und schon drehte sich Bill, mit einer vielleicht zu raschen Bewegung, um sich nach seinem Rückwege umzusehen, als er seinen Arm wieder von einem seiner Wächter gefaßt fühlte.

„Halt, Cornel! einen Hut hat er gehabt, so wahr als die kleine Kröte uns Alle zu Narren machen will!“ rief dieser, und in dem rasch gehobenen Gesichte des Anführers blitzte wieder der frühere finstere Ausdruck auf. „Und wo ist der Hut?“ fragte er, einen Blick auf den Burschen richtend, der sich bis in dessen Innerstes bohren zu wollen schien; „lügst Du, Bursche, so sollst Du bei Gott für die in Pleasant-Grove ein warnendes Beispiel abgeben!“

„Fragen Sie doch die Männer, Sir, ob sie mich bis hierher eine Hand haben rühren lassen,“ erwiderte Bill, der sich plötzlich fast zu schwach fühlte, ein ihn überkommendes Zittern zu unterdrücken; „sie haben mich durch das Gebüsch geschleift wie einen gebundenen Hammel, und die Zweige haben mir den Hut abgestreift; aber ich denke, ich weiß, wo er liegt – kommen Sie nur mit mir, wenn Sie mir nicht trauen!“ setzte er wie in einem plötzlichen Entschlusse hinzu und wandte sich leicht nach dem Buschwerke, durch welches er den Platz betreten. Es war ihm klar geworden, als habe es ihm Jemand in’s Ohr gesagt, daß er jeder Aufsuchung des Hutes zuvorkommen müsse, wenn es eine Hoffnung zu seiner Rettung geben solle; war doch der ihm übergebene Brief unter dem Stirnfutter des Hutes befestigt, und mit einem Gefühle, als wollten ihm seine Beine den Dienst versagen, und doch zugleich zu jedem Wagniß bereit, sah er, wie ein loderndes Holzstück aus dem Feuer gerissen wurde, um das nöthige Licht zu schaffen, fühlte seinen Arm frei gelassen, zugleich aber auch einen Haufen Männer hinter sich und zu seiner Seite. Rasch schritt er den Büschen zu, und kaum theilten sich die ersten Zweige vor ihm, als sein geschärftes Auge in kurzer Entfernung auch schon den grauen Filz sich von den dunkeln Blättern abzeichnen sah. Es galt zu handeln, ehe ihm andere Augen zuvorkamen. „Dort ist er!“ rief er – höher hob sich der Feuerbrand, und in der nächsten Secunde waren die Vordersten wie Habichte nach dem hellen Punkte gestürzt; im gleichen Augenblicke aber war auch Bill seitwärts in dem Gebüsch verschwunden, ohne daß eine kurze Minute lang seine Bewegung bemerkt worden wäre; schon hatte er den offenen Wald, in welchem kein Unterholz seine Flucht hemmte, erreicht und flog in einer Seitenrichtung athemlos zwischen den Bäumen hindurch, um den an der Eisenbahn aufgestellten Posten nicht in die Hände zu fallen, als ein lautes Geschrei in seinem Rücken ihm die Entdeckung des Briefs oder seiner Flucht andeutete [98] – mit einem Angstblick sah er sich nach einem Schlupfwinkel um; aber links zeigte ihm ein matter Lichtschimmer nur den Ausgang nach der Eisenbahn, welche ihn augenblicklich seinen Feinden sicher in die Hände liefern mußte; und rechts ließ die Dunkelheit des Waldes keinen einzigen Gegenstand unterscheiden. Unwillkürlich drehte er den Kopf rückwärts und sah dort den Wald sich erhellen, schon meinte er, selbst von dem Lichte der auftauchenden Feuerbrände beschienen zu werden, und ohne sich Rechenschaft über sein Thun zu geben, nur instinctmäßig bestrebt, freie Bahn zu gewinnen, wandte er sich dem offenen Schienenwege zu; er durchbrach in blinder Hast das Strauchwerk am Rande der Böschung und stieß hart gegen einen der baumhohen Telegraphenpfosten, wie sie den Lauf der Bahnlinie bezeichnen; kaum aber hatte er das Hinderniß in seinem Wege erkannt und war durch einen mechanisch empor fliegenden Blick belehrt, daß die Mitte des Pfahls von dem herüber ragenden Zweige eines Baumes verdeckt wurde, als er auch wie eine Katze daran hinauf zu klimmen begann. Er hatte die Höhe des Zweiges gewonnen, sich zwischen den Blättern durchgearbeitet und suchte mit dem Fuße nach einem Stützpunkte, aber er traf zwischen dem Laube nur auf schwaches, dürres Holz, das bei jeder Berührung prasselnd zu brechen drohte, und schon vernahm er in der Nähe die Rufe seiner Verfolger, die unter dem rothen Scheine brennender Holzstücke wie eine losgelassene Meute die Umgebung abzusuchen begannen.

Die Beine fest um den rauhen Stamm schlingend, gab er jeden Versuch, sich einen besseren Halt zu verschaffen, auf und blieb, kaum wagend, seiner ungestüm athmenden Lunge freie Bewegung zu lassen, über den Blättern hängen, während sein Ohr scharf jede Bewegung und jeden Ruf seiner Feinde verfolgte. Er hörte die Versicherung von der Eisenbahn her, daß nichts Menschliches die Schienen gekreuzt habe, er hörte das Buschwerk am Rande des Waldes durchsuchen, sah bereits das Licht der improvistrten Fackeln das Laub unter sich durchdringen und meinte in seinen zitternden Knieen kaum mehr die Kraft zum Festklammern zu haben; dicht unter ihm klangen Antwortsrufe auf die Schreie aus den übrigen Theilen der nächsten Waldstrecke, und ein einziges Stückchen fallende Rinde, das sich durch die Schwere seines Körpers von dem Pfahle losgelöst, hätte ihn verrathen müssen – aber die Suchenden schritten unter lauten Flüchen weiter, der Lichtschein ward schwächer, und nach Kurzem klang nur noch ein entfernter Lärm zu seinem Ohre. Noch wagte Bill, hochausathmend, keine Bewegung, und erst als er seine Beine steif werden und das Blut in denselben stocken fühlte, begann er, mit peinlicher Vorsicht jedes Geräusch vermeidend, sich hernieder zu lassen. Eine Zeitlang saß er, tief in das Strauchwerk geduckt, am Boden und überlegte seine nächsten Schritte; er war eben zu dem Entschlusse gelangt, neben den Büschen fortkriechend die Eisenbahnlinie zu verfolgen, bis er hoffen durfte, aus dem Gesichtskreise der aufgestellten Posten zu sein, und dann, auch ohne Brief, seinen Weg nach Jefferson-City fortzusetzen, als eine Stimme so in seiner Nähe laut wurde, daß er sich, unwillkürlich noch tiefer unter die schützenden Blätter duckte. „Hier heraus kommt er nicht unvermerkt, wenn er noch im Walde steckt,“ klang es, „habt nur ein scharfes Auge auf die Querstraße, so kann er gar nicht entwischen, ehe wir nicht hier weg sind!“ Und Bill sah im Geiste die erwähnte Querstraße, die den Wald und die Eisenbahn durchschnitt, seinen weitern Weg ihm verlegen und erkannte, daß er nichts thun könne, als an irgend einem verborgenen Platze den Abzug der Secessionisten zu erwarten. Dann aber war auch jede Hoffnung verloren, dem bedrängten Heimathsorte Hülfe zu schaffen; die Feinde waren allerdings kaum fünfzig Mann stark, aber er kannte die wilde Verwegenheit dieser Menschen, die nichts zu verlieren hatten, und die Zaghaftigkeit seiner eigenen friedfertigen Landsleute.

Behutsam kroch er aus dem Busche hervor und suchte den Baum, von dem ein Zweig ihn bereits verborgen hatte; er fand ihn glücklicherweise nur so dick, daß ein leichtes Emporklimmen ermöglicht ward, und bald saß er, rings von Blättern dicht umhüllt, auf einem starken Aste. Unwillkürlich trat ihm Fred Minner’s Bild vor die Augen, der wohl jetzt die Männer in Pleasant-Grove mit der Hoffnung auf die erwartete Verstärkung ermuthigte und auf die Schlauheit Bill’s, der sich gewiß nicht fangen lassen werde, hinwies – und der Bursche hätte vor Erregung und Ungeduld, daß er hier eingeschlossen sitzen mußte, in das Holz des Baumes beißen mögen. Dann dachte er an seine Mutter, die sich wohl von Fred Auskunft über seinen Gang hatte geben lassen und mit Sorge ihm in Gedanken jetzt auf seinem Wege folgte. Er hatte nur diese beiden Menschen, die er auf der Welt liebte, und er liebte auch Beide mit der ganzen Ungezügeltheit seines Herzens – vor Allem aber hätte er seiner Mutter ein besseres Loos schaffen mögen, hätte er es auch mit seinem Herzblute thun sollen. Unwillkürlich blickte er zurück nach der Zeit, wo sein Vater noch gelebt hatte und wo Alles ein so anderes Aussehen gehabt. Sein Vater war Kaufmann und Postmeister in dem kaum entstandenen Orte gewesen und hatte seine Mutter, die als armes Mädchen mit Verwandten nach Missouri gekommen, mit dem frischen Muthe der Jugend geheirathet. Fred Minner, der später als Gehülfe in das Geschäft getreten war, hatte dem Knaben oft erzählt, wie lieb sich die Beiden gehabt. Aber der Mann war gestorben, ehe er etwas für seine Hinterbleibenden hatte zurücklegen können, und Bill hatte sich mit seiner Mutter in ein kleines Haus versetzt gesehen, in welchem die verlassene Frau lange Zeit ihre Tage nur mit angestrengter Nätherei und Thränen verbracht. Erst als Fred sich ein eigenes Geschäft gegründet, waren durch seine Vermittelung und Hülfe die Verhältnisse etwas leichter geworden, und er hatte auch den Knaben, als dieser kräftig genug geworden, nach der Farm des „Squire“ Anderson gebracht, der den anstelligen jungen Menschen wohl zu verwerthen gewußt. Und hier war Bill der Mitwisser eines Verhältnisses zwischen der Tochter seines Brodherrn und seines Freundes Minner geworden, welches der Alte nie gern gesehen zu haben schien, das aber seit Ausbruch der Rebellion und der Aechtung aller Deutschen ihn augenscheinlich zu Fred’s Todfeinde gemacht hatte.

Ueber den Burschen war, seit er auf dem Aste ein vorläufig sicheres Versteck gefunden, eine Abspannung aller seiner Kräfte gekommen – wie lange er hier gesessen und von seinen gegenwärtigen und vergangenen Verhältnissen geträumt haben mochte, wußte er nicht, aber er fuhr auf, als er sich von seinem Sitze gleiten fühlte, und nur ein rasches Fassen der nächsten Zweige verhinderte seinen Sturz. Er mußte trotz seiner gefährlichen Lage geschlafen haben, und eben überlegte er, ob er nicht hinabsteigen und einen behutsamen Blick über die Eisenbahn werfen solle, als ein Rauschen der Zweige, aus kurzer Entfernung kommend, seine Aufmerksamkeit erregte. Es war so dunkel um ihn geworden, daß nicht einmal mehr ein Lichtschimmer von der Waldöffnung her zu ihm drang, und alle Wahrnehmungskraft in seinem Ohre vereinigend, lauschte er. Bald meinte er halblautes Gemurmel zu vernehmen und deutlich unterschied er endlich gedämpft gegebene Befehle. Jetzt hörte er das Gesträuch an der Böschung der Bahn fortdauernd knacken und prasseln – er konnte sich kaum täuschen, seine Feinde waren im Abzug begriffen, aber die Vorsicht, mit welcher dies geschah, ließ eben so wenig Zweifel übrig, daß sie auf dem Wege zu einem Ueberfall auf Pleasant-Grove. Ein Schauer durchfuhr bei dieser Ueberzeugung den Knaben – seine Mutter! seine Mutter! und in derselben Secunde wußte er auch, daß er sein halbes Leben daran setzen mußte, um vor der Bande in dem Städtchen zu sein und Kunde zu bringen. Angestrengt lauschte er, bis das letzte Geräusch verstummt war. Dann glitt er von dem Baume herab und trat vorsichtig nach der Eisenbahn hinaus. Zu sehen vermochte er aber hier nichts. Der Himmel hatte sich mit dichtem Dunste umzogen und ließ den früher so erhellten Nachthimmel kaum erkennen, und nur durch das Gehör vermochte Bill zu entdecken, in welcher Richtung der abziehende Trupp sich entfernte.

Einige Secunden stand er, sich ein Bild der ganzen Umgegend vor seinen Geist stellend; er wußte, daß bei Verfolgung der Eisenbahn ein Umweg gemacht ward, und daß, wenn es ihm nur gelang, den Wald in gerader Richtung zu durchschneiden, er mindestens eine halbe Stunde vor den Abmarschirten das Städtchen erreichen mußte. Er entsann sich der Querstraße, die sein Entweichen vereitelt – sie konnte kaum nach einem andern Orte als der niedergebrannten Mühle führen, und auf ihr hatte die Bande jedenfalls ihren soeben verlassenen Lagerplatz erreicht – er sprang die Böschung hinab und nach kaum hundert Schritten, welche er neben den Schienen hingeeilt, sah er den Seitenweg sich zwischen dem dunkeln Walde öffnen. Gern hätte er jetzt die neue Richtung im vollen Laufe verfolgt, aber die steinige, von Baumwurzeln durchgezogene Straße verlangte in der Dunkelheit volle Vorsicht, wenn nicht ein Sturz ihn vielleicht ganz unfähig zum Weitergehen machen sollte; schon jetzt mußte er zu Zeiten seinen Gang anhalten, [99] um den Schmerz, den das öftere Anstoßen an die Hindernisse im Wege ihm verursachte, vorübergehen zu lassen, und er tröstete sich nur damit, daß die Secessionisten-Truppe, sobald er seinen Weg durch den Wald zu nehmen hatte, noch schwierigeren Boden zu überwinden haben würde, als er selbst. Eine halbe Stunde mochte er mit möglichster Eile darauf los geschritten sein, und eine matte, sich über den trüben Himmel verbreitende Helle zeigte ihm den Anbruch des Morgens, als er plötzlich anhielt und seinen Körper rückwärts warf; ihm war es soeben gewesen, als habe er seinen nächsten Schritt in eine dunkele Tiefe hinab thun wollen, und er bedurfte einiger Secunden, um sich von dem schlagartigen Schrecken, der ihn ergriffen, zu erholen. Scharf blickte er vor sich, aber was sein Auge, das den Himmel gemustert, nicht sofort zu unterscheiden vermochte, das ließ ihn sein Ohr ahnen: tief unten vor seinen Füßen rauschte Wasser, bald entdeckte auch sein angestrengter Blick eine breite, dunkele Schlucht, und seine Hand berührte das obere Ende eines hinabgestürzten Balkens – die Secessionisten hatten die Brücke abgebrochen, um nach ihrem Angriff auf die Mühle jeder directen Verfolgung durch die Bewohner der Stadt vorzubeugen. Jetzt wußte auch Bill, warum sie den Umweg, die Eisenbahn hinab, genommen hatten, und einen Augenblick wollte die Verzweiflung ihre Krallen in sein Herz schlagen; der nächste Gedanke indessen schon brachte ihm hellen Trost. Er kannte den Bach, der hier unten floß, er wußte, daß er in geringer Entfernung im Walde einen Fall bildete und daß es dort leicht sein mußte, ihn zu überschreiten. Und mit dem Gedanken fühlte er auch seine volle Kraft wiederkehren; vorsichtig trat er von der Straße zwischen die Bäume hinein, dem Geräusche des Wassers folgend und sich bald mit den Händen an dem Gebüsche weiter fühlend, bald mit dem Fuße die Nähe der Schlucht erkundend – es war ein langsames, mühseliges Vorwärtskommen, und Bill meinte oft in der aufsteigenden Angst und Ungeduld vergehen zu müssen; lange währte es, bis das Geräusch des kleinen Wasserfalles zu seinen Ohren drang, und als er diesen endlich erreicht und oberhalb desselben das dämmernde Licht des anbrechenden Morgens sich in dem ruhigen Wasser wiederspiegeln sah, erkannte er erst, welchen Sprung es erforderte, das gegenüberliegende Ufer zu erreichen, ohne in den kleinen Strom, dessen Tiefe ihm fremd war, zu gerathen. Zu langem Besinnen hatte er indessen keine Zeit; er nahm auf jede Gefahr hin seinen Ansatz, spannte seine Muskeln zu voller Schnellkraft an und wenn er auch an dem schlüpferigen jenseitigen Boden ausglitt und in die Dunkelheit des Gesträuches stürzte, daß dieses wie mit Messern in sein Gesicht einschnitt, so war er doch trocken auf dem ersehnten Lande angelangt und eilte, kaum wieder recht zu sich selbst gekommen, durch Zweige und Gestrüppe sich arbeitend, nach der Straße zurück. Und jetzt schien er unempfindlich gegen alle Unebenheiten des Wegs geworden zu sein – er wußte, welche kostbare, unersetzliche Zeit er verloren; schon sandte der umwölkte Himmel die volle Morgenhelle hernieder, und in raschem Trabe eilte er vorwärts. In der Entfernung sah er bereits den Wald sich lichten – dort ging es zur Mühle hinab, und von da aus hatte er nur noch ein schmales Gehölz zu Passiren, um in Pleasant-Grove zu sein. Mehr und mehr begannen die Bäume von der Straße zurückzutreten, und der Knabe erwartete jeden Augenblick die Brandruinen der Mühle vor sich auftauchen zu sehen, als plötzlich, wie ein scharfes Prasseln, der Klang einer Anzahl von Schüssen an sein Ohr schlug, und kaum war er, wie von Schrecken an die Erde gebannt, stehen geblieben, als eine volle Salve dem ersten Gewehrfeuer folgte.

„Sie sind da, sie sind da!“ schrie Bill wie in Verzweiflung auf, seine Kniee drohten sichtlich unter ihm zu brechen; in der nächsten Minute indessen flog er wie ein gescheuchtes Reh dem Ausgangs des Waldes zu. Dort aber hielt er von Neuem an, und seine Augen blickten, wie im Entsetzen weit aufgerissen, in die Ferne. Links lag ein Haufen halb verkohlter, noch glimmender Balken, die frühere Mühle bezeichnend; rechts lief, eine leichte buschige Anhöhe hinab, der Weg nach der Stadt, und dort wälzten sich soeben schwarze schwere Rauchwolken empor, den Beginn einer Feuersbrunst anzeigend.

„O du Gott im Himmel!“ preßte es sich aus der Brust des Knaben, „und meine Mutter!“

Da zuckten die ersten spitzen Flammen durch den Qualm, und, als hätten sie nur andern Bahn brechen wollen, hoben sich an drei verschiedenen Orten gewaltige Feuersäulen ihnen nach; zugleich aber begann das Schießen von Neuem, bald wie Gliederfeuer, bald in rascher Aufeinanderfolge einzelner Schüsse; Schreien und Rufen klang vom Winde halb verweht herüber, und mit einem Aufschrei der Todesangst stürzte der Knabe die nach der Stadt hinabführende Straße vorwärts.

Aus den Gebüschen vor ihm trat schweißtriefend ein Mann in der gewöhnlichen Tracht der „kleinen“ Farmer, der beim Anblick des wie sinnlos heraneilenden Knaben seinen Schritt anhielt.

„Halt, Bill!“ rief er, als Jener, ohne nur von ihm Notiz zu nehmen, an ihm vorbeischießen wollte, und faßte kräftig des Burschen Arm, „hier läufst Du der Bande gerade in die Hände!“

„Laßt mich, laßt mich!“ erwiderte Bill angstvoll, als habe er die Worte kaum gehört, und versuchte sich eilig loszuwinden, „die untere Stadt brennt und meiner Mutter Haus mit!“

„Aber Du kannst nichts helfen, Junge, und wirst nur todtgeschlagen,“ gab der Mann zurück, „was sich hat retten können, ist nach der oberen Stadt geflüchtet, die scharf vertheidigt wird, und nun schießt die Mordbrennerbande nieder, was sich nur ihren Augen zeigt. Geh zurück oder komm mit mir, bis der Weg wieder frei wird!“

In des Knaben Gesicht begann sich ein Kampf zwischen Vernunft und Herzensangst zu spiegeln, bis er endlich wortlos und mit einem Ausdrucke unendlichen Jammers in das aufgehende Feuer hineinstarrte. Da klangen Schüsse in größerer Nähe als bisher, und von Neuem faßte der Mann Bill’s Arm. „Wir sind hier nicht sicher,“ rief Jener, den Burschen nach einem schmalen, abseits führenden Pfade ziehend; „warte wenigstens bei mir ab, wie die Sachen ausgehen, und dann thue, was Du willst!“ Und wie von aller Kraft verlassen, ließ sich Bill widerstandslos durch das Gebüsch führen, wo nach kurzem Gange ein rohes Blockhaus sich vor ihnen zeigte und das angstvolle Gesicht einer jungen Frau ihnen entgegenblickte. Bill hörte nichts von dem Wortaustausch der beiden Andern; kaum hatte er den innern Raum des Hauses betreten, als er wie gebrochen in einen Stuhl fiel und in ein krampfhaftes Weinen ausbrach; und je mehr der Mann Versuche machte, den Knaben durch Zureden zu beruhigen, je lauter schluchzte er, je stärker strömten seine Thränen – die Natur schien nach den übermäßigen Anspannungen der Nacht mit Gewalt ihr Recht zu fordern. Endlich rückte er zum Fenster, ließ den Kopf auf beiden untergestützten Ellbogen ruhen und horchte gespannt den sich bald nähernden, bald entfernenden Schüssen, nach kurzer Zeit aber vermochte er der wie Blei sich über ihn legenden Müdigkeit nicht mehr zu widerstehen und war eingeschlafen, ohne daß er es nur wußte. Sein letzter Gedanke, der wie ein Gespenst vor ihm stand, war, was aus seiner Mutter werden solle, wenn das Städtchen dem wilden Feinde zur Beute würde, und Fred Minner, selbst wenn er mit dem Leben davon käme, so arm würde, daß er mit sich allein schon übergenug zu thun haben werde.

Als er sich nach geraumer Zeit wieder aufgerüttelt fühlte, zog der Geruch von gebratenem Fleische dem Knaben in die Nase und weckte, trotzdem der erste Blick auf seine Umgebung ihm die letzte Vergangenheit klar vor die Seele rief, den Appetit der Jugend in voller Schärfe in ihm.

„Es ist Mittag, Bill, und Du hast noch kein Frühstück im Leibe,“ sagte der Farmer gutmüthig, „iß mit uns und dann thue, was Du willst; der Regen scheint den Mordbrennern das Pulver naß gemacht zu haben, und ich denke, Du hast jetzt freien Weg!“

Bill’s Auge flog unwillkürlich durch das Fenster in’s Freie, wo der Wind die Bäume bog, während die noch triefenden Scheiben einen kaum beendigten Regenguß andeuteten. Dann horchte er auf, aber das Schießen war verstummt, und nur das Sausen des Windes drang zu seinen Ohren. „Ich esse etwas, damit ich wieder Kraft bekomme,“ sagte er, dem Manne nach dem mit derber Kost besetzten Tische folgend, wo bereits die Frau ihrer harrte, „ich werde sie vielleicht heute noch brauchen!“ Und damit begann er schweigend und eifrig zuzulangen; kaum mochte er aber seinen Hunger gestillt haben, als er sich wieder erhob und seinem Wirthe die Hand reichte. Er fragte nach nichts, als scheue er sich vor jeder neuen Mittheilung, er nickte den Farmerleuten dankend zu und schritt dann hastig in’s Freie hinaus, durch die nassen Büsche den Rückweg nach der Straße suchend.

Starr die Augen vor sich gerichtet, eilte er der Stadt entgegen; der Wind umtoste ihn, aber er schien es kaum zu fühlen [100] und griff nur mechanisch dann und wann nach dem Kopfe, wie um seinen Hut fester darauf zu drücken. Da umbog er das letzte Gebüsch, und mit einem einzigen hastigen Blicke schien er jede Einzelnheit des vor ihm liegenden Bildes erfassen zu wollen. Die letzten vier, etwas abgesondert stehenden Häuser der langen Straße bildeten einen rauchenden, schwarzgebrannten Trümmerhaufen; sonst schien in der Doppelreihe der übrigen Gebäude nichts beschädigt zu sein – nach diesen zerstörten Wohnungen aber richtete der Knabe mit einem schluchzenden Laute seine beschleunigten Schritte. Ringsum war nicht ein einziger Mensch zu sehen, weder Freund noch Feind, und erst als Bill, bei den Trümmern angelangt, einen Blick voll Schmerz und Ratlosigkeit um sich warf, entdeckte er die Ursache dieser seltsamen Stille. Der Ausgang der eigentlichen geschlossenen Straße war durch eine Barrikade von Wagen und Fässern gesperrt – eine Befestigung, die jedenfalls Fred Minner noch zu rechter Zeit hatte herstellen lassen – und auf der Höhe derselben tauchte soeben ein Gesicht aus Bill’s Bekanntschaft auf. Der zugleich mit sichtbar werdende Gewehrlauf ließ den Zweck der Anwesenheit des Mannes leicht errathen.

„Um Gotteswillen, Mister,“ rief Bill hinauf, „wissen Sie nicht, was aus meiner Mutter geworden ist?“

„Halloh, Bill!“ kam die Antwort zurück, „krieche hier durch und sieh selbst in der Stadt nach; heute hat Niemand Zeit gehabt, sich um einen Andern zu bekümmern.“

„Es sind doch Alle aus den niedergebrannten Häusern hier gesund heraus gekommen?“ fragte Bill in einem Tone, dem er umsonst Festigkeit zu geben versuchte.

„Ich denke so, wenigstens habe ich bis jetzt von keinem Unglücke gehört,“ war die Erwiderung, „werden indessen wohl auch heute noch nicht erfahren, wie viel der Morgen gekostet hat!“

Ein schwerer Druck lag auf dem Herzen des Knaben, als er sich einen Weg zwischen dem verschiedenen Befestigungsmaterial hindurch bahnte, und schnellen Schritts wandte er sich der Mitte des Städtchens zu, von wo ihm der scharfe Wind Geräusch und verwirrte Laute entgegentrug. Links und rechts auf seinem Wege waren die Fensterladen und Thüren geschlossen, und außer einzelnen Bewaffneten, die hier und da sichtbar wurden, ließ sich nirgends ein lebendes Wesen erblicken.

An derselben Stelle, wo Bill am Abend zuvor der deutschen Unentschlossenheit eine Standrede gehalten, sah er jetzt fast die gesammte männliche Bevölkerung des Ortes bewaffnet und in einzelne Haufen geschieden stehen. Die kräftige Gestalt des Müllers Riese schritt ordnend und Befehle ertheilend dazwischen umher; vergebens aber sah sich der Knabe nach seinem Freunde Minner um. Er scheute sich, sich besonders bemerkbar zu machen, er fühlte es wie eine Art Schuld auf sich liegen, daß er seinen Auftrag nicht hatte ausführen können, daß er jetzt, nachdem sichtlich der Angriff der Secessionisten abgeschlagen worden, wie ein nutzloses Ding, das nichts geleistet und zu nichts taugte, zurückkehrte, und so wandte er sich nur an einige umherstehende Knaben seines Alters, um nach Fred, von dem er am ersten Auskunft über seine Mutter zu erhalten hoffte, zu forschen. Niemand aber wußte, wo dieser geblieben war, und selbst einzelne Anfragen in den Haufen der Männer führten nur zu einem Achselzucken als Antwort. Jeder schien im Augenblicke nur an sich und die allgemeine Gefahr zu denken. Dagegen traf Bill in dem Kreise seiner Altersgenossen auf einen mächtigen Enthusiasmus für den Müller Riese, welcher der Mann der Situation zu sein schien. Bill mußte gegen seinen Willen sich erzählen lassen, wie Riese mit einem einzigen Gehülfen die Mühle gegen die Secessionisten vertheidigt, bis ihnen fast die Flammen über dem Kopfe zusammengeschlagen; wie dann Beide dennoch glücklich entwischt seien und sich während der Nacht im Walde verborgen gehabt; wie sie dann heute Morgen die anrückende Bande bemerkt und noch zeitig genug die Stadt erreicht hätten, um den Räubern einen warmen Empfang bereiten zu können.

Fred Minner hatte mit dem Müller zusammen die anfängliche Vertheidigung geleitet – erfuhr Bill auf sein Befragen – nachher aber war von dem Erstern nichts mehr zu sehen gewesen; möglich, daß er verwundet sei, hieß es, und in irgend einem Hause liege.

(Fortsetzung folgt.)



Eine Besteigung des Monterosa.

Noch immer giebt es in der unwirklichen Nähe der Schneeregion der Alpenwelt Thäler voll prächtiger Landschaftsbilder, welche dem großen Touristenhaufen glücklich entgangen sind. Zu diesen gehörte lange Zeit auch das Vispthal, welches bis zu den Füßen des Monterosagletschers hinanreicht. Erst das Entstehen eines bequemeren Hotels, dicht an dem Rande der Eiswelt, und das Erdbeben, welches 1855 hier so gewaltig hauste, lenkte die Aufmerksamkeit der Naturfreunde auf diese Abzweigung des Rhonethals. Zu diesen gehörte auch ich. Es war im Jahre 1856, am 24. August, als ich im letzten Dorfe an der Visp, Zermatt, im Hotel zum Mont Corvin mein Nachtlager nahm. Hier erfuhr ich am andern Morgen von einem Engländer, daß er am folgenden Tage, falls er Begleiter fände, den Monterosa zu ersteigen gedenke. Sofort erklärte ich meinen Anschluß an die Partie und stieg freudig zum gewöhnlichen letzten Ziel der Reisenden, zur Riffelstation hinauf, von wo aus die Expedition beginnen sollte.

Im Laufe des Nachmittags mehrte sich die Zahl der Reisenden auf bedenkliche Weise, und zu meiner Ueberraschung erfuhr ich, daß nicht weniger als elf davon sich morgen unserer Expedition anzuschließen gedächten, lauter Engländer und Amerikaner, für welche außergewöhnliche Pläne stets besonderen Reiz gehabt haben. Mit zweien meiner künftigen Gefährten, Mr. B. und C., mußte ich denn auch, da ich in gewohnter ritterlicher Galanterie mein Zimmer einigen Damen abgetreten hatte, das Nachtlager theilen, und zwar, horribile dictu, in der Küche, wo wir im Rauche noch röstender Braten und beim Lärme der scheuernden Mägde auf jammervolle Lager gebettet wurden. In Anbetracht der kommenden Genüsse suchten wir uns jedoch den Humor nicht verderben zu lassen und thaten unser Möglichstes, um schnell einzuschlafen und mehr von Gletschern und Schneefeldern, als von angebrannten Coteletten und überkochenden Suppen zu träumen. Ein Glück, daß unser Vorsatz so ziemlich gelang, denn schon um zwei Uhr Morgens mußten wir uns vollständig gerüstet versammeln. Von diesen Ausrüstungen war nun jedenfalls meine die einfachste. Leichter Sommeranzug, bequeme aber dünne und wenig mit Nägeln beschlagene Stiefel, den Plaid lose über die rechte Schulter geschlungen, den Filz fest eingedrückt und einen kräftigen Alpenstock in den Händen: so stach ich bedeutend gegen die riesenhaften Engländer ab mit ihren massigen Fußbekleidungen, den doppelten, derben Körperhüllen, bewaffnet mit blauen Brillen, Schleiern, Fernrohren und anderem Reiseluxus. Fröstelnd begrüßten wir uns im Speisesaale bei flackerndem Kaminfeuer, das ein düsteres Licht über die matterleuchtete Tafel warf. Unter ziemlich einsilbiger Conversation goß jeder enorme Quantitäten von heißem Kaffee, Thee und Chocolade in den Magen, mit nicht unansehnlichen Flocken alten Brodes verdichtet. Denn dies mußte für wenigstens 16 Stunden der letzte warme Bissen sein, welcher daher von Jedem mit gebührender Aufmerksamkeit gewürdigt wurde. Doch fast hätte ich eine Hauptsache vergessen. Noch vor dem Frühstücke trat der Engländer, welcher die ganze Partie arrangirt hatte und wahrscheinlich Geistlicher war – sein Name ist mir entfallen – an den Tisch, hielt eine passende, kräftige Ansprache, warf sich auf die Kniee und flehte in schlichten Worten die Gnade des Herrn auf die Schaar herab, welche den Wundern seiner Schöpfung auf gefährlicher Bahn nahen und seine Größe in seinen mächtigsten Werken anstaunen wollte. Das Ganze war so einfach, so natürlich gesagt, daß sich Alle dadurch sichtlich erhoben fühlten. Leider verschwand für mich die frohe Stimmung sofort nach dem Frühstück. Denn als die von dem Wirth am Tage vorher für Jeden gepackten Ranzen mit Cognac, Brod, Käse, Chocolade, kaltem Fleisch und Backpflaumen – ein wenig probates Mittel gegen den Durst – visitirt wurden und Jeder mit seinem Führer sich bekannt machte, um das Letzte in Eile mit ihm zu verabreden, stellten sich mir nicht einer, sondern zwei Männer als für mich in Zermatt gedungene Führer vor. In Anbetracht meiner schwachen Börse und der Willkür des

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Das Herabsteigen von der Monterosa-Spitze.
Originalzeichnung von H. Jenny.

Wirthes protestirte ich zwar gegen dies Verfahren; schließlich fand sich aber, daß auch die Gefährten je zwei Führer hatten, von denen der eine den Proviant trug und mit einem kräftigen Seile, dessen Gebrauch sich später zeigen wird, versehen war. Der andere Führer dagegen, welcher speciell zu persönlichen Handleistungen dienen sollte, hatte außer dem Seile nur noch ein axtförmiges Beil und die unentbehrliche Schnapsflasche.

Nach wenigen schnellen Schritten hatte ich die vorangeeilte Gesellschaft eingeholt, die nunmehr aus zwölf Personen mit den nöthigen Führern bestand, die größte Gesellschaft, welche bis jetzt den überhaupt erst seit wenig Jahren nahbaren Monterosa zu besteigen unternommen. Unter den Führern zählten die besten in der ganzen Schweiz, die Gebrüder Taugwald, von denen der ältere zum Commandeur der ganzen Truppe ernannt wurde, und der im Sprunge einer Gemse gleichende Simon.

Nachdem wir, der Dunkelheit wegen unseren Weg oft nur tastend, die steile, aus losem Geröll bestehende Seitenmoräne des Gornergletschers, welcher sich in mächtigem Bogen um das Monterosa-Gebirge herumzieht, bedächtig hinabgeklettert waren, betraten wir die Fläche des Gletschers selbst, ein blaues schimmerndes Eisfeld, meistens von spiegelnder Glätte. Nur selten erhoben sich Steine, welche von der schmelzenden Sonne wie Tische auf einem Eissockel gelassen waren, aber oft begegneten wir reißend dahin stürzenden Bächen, die sich in der Tiefe des Eises donnernd Weg gebrochen haben und über die wir, einmal nicht ohne Gefahr, in mächtigem Sprunge, meistens unterstützt durch die hinübergereichten [102] Stöcke der Führer und von deren nerviger Hand hinübergeschleudert, glücklich hinwegkamen. Dicht neben dem einen Bache fanden wir eine von den schauerlich schönen Vertiefungen, welche bei den von der Sonne an der Oberfläche ausgehöhlten und spitzig gezahnten Gletschern keine besondere Erscheinung sind, die aber auf dem flachen, stundenweiten Eisfelde des Gornergletschers, der sich wie ein festgeschlungenes Band zum Thale hinabzieht, in der Mitte nur selten angetroffen werden. Tiefe, dunkle Bläue spiegeln die geraden Eiswände wieder, tiefe, dunkle Bläue ruht auf den im Grunde sich sammelnden Wassern, und blau schimmert der Schnee ringsum, wo ihn der Stock oder die Fußspur eindrückt. Und nun die Scenerie um uns her! Wo findet die Sprache Worte, das Entzücken zu malen? Wer leiht Farben, um auch nur die Schatten des Bildes wiederzugeben? In mächtigem Gürtel zieht das Riesenvolk vor dem Blicke dahin, links, an die Cima de Jazi sich lehnend, der mächtige, untersetzte Monterosa, viergehörnt, im Winkel gelegen, daran der Lyskamm mit der langgestreckten, weißen Wand, ein Zwillingspaar von hellschimmernden Kuppen aussendend, die endlich über dem kräftigen Breithorn den Blick zu der Perle der Kette, dem wunderbarsten aller Berge führen, den man nur anstaunen, aber kaum begreifen konnte. Kühn steigt das Matterhorn aus dem Bergrücken, pfeilspitz sich gipfelnd, blendend weiß, unnahbar, die wahre nie zu erobernde Jungfrau. Dies das Gerippe. Aber nun der Ueberwurf, den die Beleuchtung ausspann über das Volk der Bergriesen? Silbern, wie nie wahrer, tanzte das Mondlicht auf den Kuppen der Berge, und in silberner Bläue zitterte jeder Lichtstrahl von ihnen zurück. Märchenhaft nahten die Berggeister in dem milden Dufte der Nacht, nicht phantastisch betäubend, wie ihre Verwandten der tropischen Zonen, nicht gemüthlich anheimelnd, wie ihre Schaaren im norddeutschen Heimathsland, aber durchscheinend, unbegreiflich, magische Kreise ziehend, überwältigend mit der klaren, festen Zeichnung der Gruppen und dem glitzernden, knisternden Hauch, der Alles in Silberglanz und Aetherbläue löst. Doch schon ziehen sich dunkle, undurchdringliche Tinten durch das eben noch so köstliche Blau, der Schnee wird immer grauer, der Mond bleicher und bleicher. Einen Moment trüben sich die Umrisse des Ganzen. Da plötzlich flammt ein Blitz auf der Spitze des Monterosa, erst ein Funke, dann flackert er auf, dann springt er von Spitze zu Spitze. Schon flammt das Matterhorn, immer heller wird die Gluth; jetzt scheint sie zu verlöschen, da flammt sie von Neuem auf, im Nu strahlt die ganze Bergkette, blau, roth, gelb, alle Farben des Regenbogens kreuzen sich auf der Netzhaut des Auges, bis endlich großes, allumfassendes, rosiges Glühen die Schneefelder und den Beschauer umfängt – der erste Blick der Sonne. Jetzt schwindet die Geisterwelt mit dem spukenden Silberglanz, und das Herz schlägt uns in unnennbarer Lust, im höchsten Gipfel des Lebens. Was bis dahin todt und starr erschienen, das athmet jetzt in dem rosigen Lichte, was kalt und groß, unnahbar und unbegreiflich geschienen, das tritt uns näher im warmen Hauche, das wird begreiflich, weil es mit uns von demselben Leben durchglüht scheint. Unwillkürlich entblößten wir das Haupt, trotz des eisigen Bodens, der noch in tiefer Nacht lag. Denn in solchem Momente fühlt man das Allumfassende, das Allerhaltende, das Allbelebende, wie nie. Und dieses unvergeßliche Schauspiel, das uns trunken machte vom Sonnenlicht, wie Bacchus vom ersten Trunke der Reben, war so vollkommen, so ungetrübt, daß selbst die Führer unser Glück priesen, und wir Alle in den nun schnell einbrechenden Tag mit dem Gefühle schritten, einen Augenblick durchlebt zu haben, wie er unserem kurzen Dasein vielleicht nie wieder gegönnt sei.

Wir hatten unterdeß den Gornergletscher überschritten und befanden uns nun auf dem Monterosagletscher, welcher sich von dem Fuße des Monterosa selbst ergießt und von dem Gornergletscher durch eine kaum bemerkbare Mittelmoräne getrennt ist. Nach mehrstündigem Wandern über den meilenbreiten Strom beschritten wir endlich das erste hartgefrorene Schneefeld, dessen sanfte Neigung glücklicherweise keine besonderen Anstrengungen erforderte, zumal gleich von Anfang die Vorsicht gebraucht worden, daß Jeder nach Indianerart in die Fußstapfen des Vorhergehenden trat und jede Anhöhe, auch wenn sie scheinbar leicht zu überwinden war, dennoch in zickzackförmigen Gängen betreten würde. Wenig erschöpft, aber doch von der frischen Morgenluft zu reger Eßlust gestachelt, machten wir endlich an den sogenannten schwarzen Platten, dem letzten Gestein, das im Sommer seine nackten Flächen durch die ewige Eis- und Schneekruste zu brechen vermag, Halt und ließen uns zu behaglichem Mahle nieder. Tapfer wurde den Vorräthen zugesprochen, und es bedurfte der Ermahnungen der Führer, daß wir nicht durch Uebermaß der so nothwendigen freien Beweglichkeit Abbruch thäten. Nur dem Einen von uns versagten schon jetzt die Kräfte, und das war der eine meiner Führer, welche allerdings nur zu den Holzfällern des Thales zu gehören schienen, denn er wurde in Folge der dünneren Luft beinahe unfähig zu jeder Bewegung.

Unterdeß wurde der Kriegsplan entworfen. Der eine Theil wollte vom Nordosten aus die Erklimmung versuchen, aber Taugwald der Aeltere, welcher die ersten beiden Besteigungen des Monterosa geleitet hatte und in der angegebenen Richtung niemals weiter, als auf die zweithöchste von dem obersten Gipfel durch eine tiefe Kluft getrennte Spitze hatte gelangen können, bezeichnete die westnordwestliche als die passendste, und seine erfahrene Stimme gab den Ausschlag. Zu gleicher Reihe und Ordnung, wie vorher, brachen wir um 9 Uhr auf. Die schon bedeutend steileren und hartgefrorenen Schneefelder ging es von Neuem nicht ohne Anstrengung mehrere Stunden bergan. Aber hierbei versagten bereits einem Zweiten die Kräfte, und das war mein zweiter Führer. Wahrlich, ein würdiges Paar, das jedem Reisenden auf spätere Fälle dringend zu empfehlen ist! Numero Zwei spürte jene verräterische Müdigkeit, welche so leicht Verderben und Tod bereitet, und bettete sich, ihr nachgebend, in den Schnee. Vergeblich stellten wir ihm die Gefahr vor, entweder nicht wieder aus dem Schlafe zu erwachen, oder von uns auf dem Rückwege nicht wieder aufgefunden zu werden. Er hörte weder auf wohlgemeinten Rath, noch auf das Gespött der übrigen Führer und verschwand bald als dunkler Punkt in dem weißen Schneetuche. Ich aber war fest entschlossen, meinen unvergleichlichen Führern die großen Aufmerksamkeiten, die sie mir erwiesen hatten, nicht mit den ursprünglich ausbedungenen 70 Francs zu lohnen.

Um 10 Uhr befanden wir uns am Fuße des letzten Kegels, der sich in mächtiger, wohl 45 Grad starker Böschung erhob und auf dessen äußerster Höhe ein schmaler, zerrissener Felsgrat, der Zugang zur letzten Spitze, aus dem Eise hervorragte. Wie aber diesen jähen, schlüpfrigen Eismantel erklimmen? Schon dachte ich mit Schrecken an die Geschichte von dem Gemsjäger, der sich die Fersen aufschneidet, um mit seinem Blute einen Halt an dem steilen Felsen zu gewinnen, und schon brannte mir bei dem bloßen Gedanken die betreffende Stelle meines Piedestales. Doch so grausames Loos hatten die Götter uns Sterblichen nicht beschieden. Allerdings hätten wir bei dem gelindesten Winde die Ersteigung aufgeben müssen, da sich dann die Luft mit scharfen Eisnadeln füllt, welche das schon so mühsame Athemholen erschweren und dem Auge die erforderliche Sicherheit nehmen. Die Luft war jedoch ruhig, und so reichten die Mittel, die wir besaßen, zur Ueberwindung aller Hindernisse hin. Hier zeigte sich die Nützlichkeit der von uns mitgenommenen Seile. Wir theilten die Gesellschaft nämlich in drei Theile, von denen die Glieder jedes einzelnen durch die zweimal fest um die Hüften geschlungenen Leinen miteinander verbunden wurden. An der Spitze jeder Kette stand ein Führer. Der von der ersten, Simon, hieb nun mit seiner Axt Schritt für Schritt Stufen in den gefrorenen Schnee und in das harte Eis, in welchen wir, oft allerdings nur durch die straffgespannten Seile im Gleichgewicht gehalten, für einen Moment festen Fuß fassen konnten. Nach einstündiger, unsäglicher Arbeit erreichten wir die Stelle, wo der Felsgrat aus dem Schnee zu Tage tritt. Auch jetzt hätten wir umkehren müssen, wenn es kürzlich geschneit hätte und die Zwischenräume zwischen den einzelnen Felsblöcken dadurch verwischt worden wären. Da uns jedoch das Glück auch diese Enttäuschung ersparte, so rüsteten wir uns nach kurzer Erholung in einer Nische, welche von dem ersten Felsblock gebildet wird, zum letzten, verwegensten Klimmen. Die Gefahren, welchen man auf diesem Felsgrat begegnet, sollen nach der Aussage eines Engländers, welcher den Montblanc und im vorigen Jahre den Monterosa bestiegen hat, Alles überbieten, was der erstere an Hindernissen aufzuweisen hat. Beim Anblick des bedenklichen Pfades verlor auch einer unserer Engländer, Mr. El., den Muth und mußte bis zu unserer Rückkehr in jener Nische bleiben, ein anderer, Mr. M., erlag beim ersten Schritt dem Schwindel und der dünnen Bergluft und theilte das Loos des ersteren mit schwerem [103] Herzen. Wir aber betraten nun den fußbreiten Grat, von dessen einer Seite sich ein schwindelnder Abgrund hinabstürzte, während sich auf der andern Seite eine Schneefläche in unabsehbarer Weite hinabsenkte, auf welcher auch der beste mit Nägeln beschlagene Stiefel keine Spur zurückließ. Die Anforderungen an unser ruhiges Auge und unsere Geschicklichkeit waren daher nicht gering. Bald mußten wir von einem Felsblock zum andern springen, der uns kaum den nöthigen Platz zum Stehen gewährte, bald, wo der Sprung zu gewagt schien, um den Fels auf schmaler Kante herumkriechen. Glitt nun der Fuß auf solcher zackigen Kante aus, so hing man über dem etwa 1000 Fuß tiefen Abgrunde und man konnte dann nur durch das Anziehen der Leinen von dem Vorder- und Hintermanne wieder auf die Beine gebracht werden. Bald auch erreichte man einen Fels nur auf schwacher Schneebrücke, oder wir standen gar vor einem Block, den wir nur schwebend hinaufgehißt werden konnten.

Welche Anstrengungen das Klettern erforderte und wie langsam wir trotzdem vorwärts kamen, wird man sich unschwer vorstellen können. Doch wir achteten keiner Mühe, wir achteten keiner Gefahr, geschoben und schiebend, selbst gezogen und selbst ziehend, drängten wir vorwärts, wie die Wilden, nur vorwärts, vorwärts. Endlich wurde unsere verzweifelte Arbeit belohnt. Nach zweistündigem Ringen wurden wir auf die letzte und höchste Felsplatte gehißt, nachdem wir schon vorher unsere Stöcke in eine Spalte gesteckt hatten, um im Nothfall auf allen Vieren fortkriechen zu können. Ich für meine Person fühlte mich zwar auch dann noch auf den beiden Füßen sicherer, als in gebückter Stellung, da ich keinen Schwindel kannte. Andere aber zogen die Hülfe der Hände vor, und Einzelne, wie mein Stubengefährte Mr. C., mußten sogar mit verbundenen Augen von den Führern über die gefährlichsten Stellen geschleppt werden. Wie dem aber auch war, endlich kamen wir oben, 14,284 Fuß über der Meeresfläche, mit Freudengejubel und Hurrahruf an. Zum Zeichen des gewonnenen Sieges und zum schwachen Signal für die Freunde, welche unsern Weg mit Fernröhren zu verfolgen versprochen hatten, zogen wir die Schnupftücher der Gesellschaft als Fahne an dem einzigen mitgenommenen Stock auf. Leider wurde dieses Signal der Entfernung wegen nicht wahrgenommen. Den Gipfel des Monterosa bilden zwei schräg aneinander stoßende Felsplatten, deren Bestandtheile, meinen schwachen geognostischen Kenntnissen nach, Gneis und Granit zu sein scheinen. Ein Stück von der äußersten Kante wurde sofort zum dauernden Andenken an diese Stunde abgeschlagen. In der durch jene beiden Platten gebildeten Vertiefung lagerten wir uns dann, um eine Uebersicht über die Pygmäenwelt unter uns zu erhalten. Obgleich ich eine Aussicht in ganz anderer Art erwartet hatte, als sie geringere Berghöhen darbieten, so war ich doch von der Eigenthümlichkeit des Schauspieles vollkommen überrascht. Das Panorama, oder besser gesagt die große Reliefkarte zu unseren Füßen erstreckte sich nach Norden über die ganze Schweiz bis zu den schwäbischen Alpen, nach Osten bis zum Splügen und Bernina. Im Westen sah man über die Savoyer Gebirge in das französische Rhonethal, und südlich lag die ganze lombardische Ebene ausgebreitet. Ueber letzterer lagerte aber in bedeutender Tiefe ein endloses wogendes Wolkenmeer, dessen Spiel im treibenden Winde zum Entzücken schön war, uns dagegen nur auf Augenblicke einen grünen Fleck Landes erspähen ließ. Desto klarer war die Schweizer Seite; denn wenige kleine Wolken konnten bei dem unermeßlichen Gesichtskreise nicht in Anrechnung kommen. Zwei hellschimmernde Punkte im Nordwesten erkannten wir deutlich als den Neuschateller und den Bieler See, während die näheren Seen uns durch die Perspective verdeckt waren. Einen ganz sonderbaren Eindruck aber machte es, daß die Berge, die vielleicht nur um tausend Fuß niedriger als unser Standpunkt waren, so unverhältnißmäßig klein erschienen, daß ich zuerst vergeblich nach dem Matterhorn suchte, diesem majestätischen Kegel, der sich dreitausend Fuß in beinah verticaler Höhe von dem benachbarten Bergrücken erhebt. Nur der Berg, der wirklich Herr über den Monterosa ist, der Montblanc, machte auch jetzt noch seine ganze Ueberlegenheit geltend. Die gelbliche Farbe, welche seine Schneefelder von Weitem zu haben scheinen, und die isolirte Lage seiner Gebirgsmassen waren allerdings nicht wenig geeignet, den Eindruck, welchen er machte, zu erhöhen. Doch verloren auch die einzelnen Spitzen an Bedeutung, so traten die verschiedenen Bergketten um so deutlicher hervor, links die Walliser Alpen, zu unseren Füßen hinter den Mischabel-Hörnern der mächtige Zug der Berner Alpen. Wollte ich sie alle nennen mit ihren Firnen und ihren Gletschern, wollte ich ihre breiten Eisgürtel verfolgen in allen ihren Verzweigungen, so würde wohl sonder Mühe eine Orographie der Schweiz entstehen. Nur Das will ich daher bemerken, daß mir nie der Zusammenhang der Alpenketten deutlicher geworden ist, als auf dem Monterosa, und daß der unbeschreiblichen Großartigkeit des Panorama nichts fehlte, als Wasser und Thäler. Denn an Flüssen sahen wir nur die blaukrystallisirten, eisigen Ströme der Gletscher, von Thälern erspähten wir nur das wilde, zerklüftete Thal der Visp (von den Schweizern Vieschp genannt) und südöstlich das Macugnagathal oder Val Anzasca, ein kleiner, lieblicher Streifen in der trostlosen, starren Alpenwelt.

Während wir in dem Anblick dieser seltenen, imponirenden Scenerie schwelgten, wurde der Stärkung des Leibes nicht vergessen. Denn lange durfte unser Aufenthalt auf der luftigen Höhe nicht währen, wollten wir nicht zu Eissäulen gefrieren. Hatten wir auch unter den Anstrengungen des Kletterns keine Wirkung von der niedrigen Temperatur gefühlt, so machte sich die ewige Schneeregion jetzt um so empfindlicher bemerkbar. Das Thermometer war bis auf 14 Grad Réaumur gefallen, und die Felsplatten um uns strahlten eine so strenge Kälte aus, daß, als ich mit der vom Schnee genäßten Hand mich erheben wollte, dies nur mit Zurücklassen der Haut einiger Fingerspitzen gelang, und mir die Hände überhaupt in Folge der öfteren Berührung des Gesteins Monate lang stumpf und erfroren blieben. Fröstelnd hüllten wir uns in die Plaids und zwangen uns mit vieler Mühe einige Schluck erwärmenden Cognacs ein. Denn ließ auch die dünne Luft bei Keinem unserer Gesellschaft das Blut zu Nase, Augen und Ohren heraustreten, was ich eigentlich mit Bestimmtheit erwartet hatte, so fehlte es doch nicht an Symptomen, daß wir uns in außergewöhnlicher Höhe über dem Meeresspiegel befanden. Der Puls ging schnell, in leisen, stechenden Schlägen, Herz und Lungen arbeiteten heftig. Das Haupt unserer Gesellschaft, der würdige Geistliche, lag sogar in dem jammervollsten Zustande auf dem Schneefelde und mußte, statt aller erwarteten Genüsse, den Göttern des Landes und der Meere qualvolle Opfer spenden. Der Himmel, der im Thale im herrlichsten Blau geprangt hatte, erschien hier dunkel, grauschwarz, die Sonne verlor für unsere Augen einen Theil ihres blendenden Strahlenglanzes. Nachdem wir daher unsere Visitenkarten in eine leere Flasche gethan und diese unter den Felsplatten als Denkmal für kommende Geschlechter verwahrt hatten, ähnlich dem Seefahrer, von dessen Erlebnissen an fremdem Strand gespülte Flaschen erzählen, wurde nach halbstündigem Aufenthalte ein letzter Blick auf die unvergeßliche Alpenlandschaft geworfen und sodann zum Aufbruch geschritten.

Wiederum wurden die Ketten formirt, und dann ging es unter fortwährendem Rufe: „doucement! attention!“ vorwärts. Hatten wir schon beim Heraufsteigen Blut geschwitzt, so erschienen die bisherigen Anstrengungen im Vergleich zu den Gefahren des Herunterkletterns wie leichtes Kinderspiel. Ich gestehe, daß mich im ersten Momente eine unheimliche Furcht beschlich. Aber die Angst wich schnell der Aufmerksamkeit, welche jeder Schritt, jede Bewegung erforderte. Oft mußte man direct in den Abgrund springen, um durch das gleichzeitige Anziehen der Stricke vorn und hinten in der Diagonale auf die richtige Stelle hinüberbugsirt zu werden. Oft glitten zwei, drei auf der abschüssigen Eiskruste aus, und es kostete dann unsägliche Arbeit, sie wieder in die Höhe zu bringen. Einmal hingen in unserer Kette sechs hinter mir zu gleicher Zeit über dem Abgrund, nur ich und meine zwei Vordermänner standen noch fest. Krampfhaft hielt ich mit dem einen Arm den vor mir stehenden, glücklicherweise baumstarken Amerikaner umschlungen, während ich mit dem rechten meinen nächsten Hintermann zu packen versuchte. Aber zweimal stürzte dieser in dem Augenblick, wo er meiner Hülfe nicht mehr zu bedürfen schien, wieder auf die spiegelglatte Fläche hin, so daß sich unsere Eingeweide unter dem Druck der straff angespannten Seile wanden und wir Anderen bei dem unerwarteten Ruck, welchen der eine Sturz verursachte, beinah den letzten Halt verloren. Durch Aufbieten der letzten Kräfte kamen wir endlich wieder in Ordnung und gelangten auch endlich zum Fuße des gefährlichen Kegels, wo unsere hart mitgenommenen Magen von den Leinen befreit wurden und die Nachzügler sich während einer kleinen Rast sammeln konnten. Aber der Versuch, während dieses Aufenthaltes die müden Lebensgeister [104] durch Wein zu erfrischen, mißlang vollständig, so flau hatten uns die übermäßigen Strapazen gemacht.

Jetzt ging es wieder frei und ungebunden die Schneefelder hinab, wo sich jedoch im Laufe des Tages eine unangenehme Veränderung eingestellt hatte. Denn vermochten wir am Morgen kaum auf dem harten Boden zu haften, so war jetzt der Schnee so wirksam von der Sonne gelockert worden, daß wir beim ersten Schritt bis zu den Hüften hineinsanken. Oft auch stürzten wir bis zu den Schultern und bis über die Ohren in die nun unkenntlichen, verrätherischen Eisspalten und mußten mit Hülfe der Stöcke aus unserem weißen Grabe herausgezogen werden. Außerdem erlaubte aber die Glätte des unter den Füßen sich ballenden Schnees nicht zu gehen, die Menge des Schnees, der sich wie ein Wall vor der Brust aufthürmte, nicht zu gleiten. Und so stürzten wir denn kopfüber, kopfunter im wahnsinnigsten Lauf unaufhaltsam zwei Stunden lang hinunter. Beinahe aufgerieben vor Müdigkeit, halbtodt, mit zitternden Kniekehlen langten wir am Monterosa-Gletscher an, wandelnden Schneemännern ähnlich von Kopf zu den Füßen in einen Panzer von Eis gehüllt. Auf dem Gletscher hatte die Sonne aber auch Leben und Bewegung hervorgebracht. Ueberall rieselten kleine Bäche auf der Oberfläche dahin, oft höchst unerfreuliche kleine Cascaden bildend, überall krachte die unterhöhlte Oberfläche unter den Füßen. Anstatt uns also, wie gehofft, auf dem harten Gletscher trocken gehen zu können, mußten wir bis zu den Knöcheln im Wasser waten, was die Erwärmung unserer steifen Glieder wenig förderte. Klappernd vor Frost und beinahe der Müdigkeit erliegend erreichten wir in gerade nicht beneidenswerthem Aufzuge das Riffelhaus, von den Freunden mit Jubelrufen bewillkommnet. Um drei Uhr waren wir Morgens aufgebrochen, um ein Uhr hatten wir den Gipfel erreicht, und um sechs Uhr empfing uns die wärmende Stube des Riffelwirthes, so daß wir im Ganzen nur fünfzehn Stunden zu dieser ereignisreichen Expedition gebraucht hatten.

Doch wenn ich sage, daß wir uns am Kaminfeuer des Riffelwirthes wärmten, so gilt dies eigentlich nicht von mir. Denn da ein Unterkommen für die Nacht in dem überfüllten Hotel nicht zu erlangen war, und der sehnlichst erwartete Kaffee nicht fertig werden wollte, so entschloß ich mich sofort nach Zermatt hinabzusteigen, wo ich ein gutes Quartier zu finden hoffen durfte, und wohin mir die nach dem Trank der Levante lechzenden Söhne Albions nachzufolgen versprachen. Ich nahm daher bis auf Weiteres von meinen Gefährten Abschied, nachdem ich zuvor die Führer, welche mir so unvergleichliche Dienste geleistet hatten, großmüthig genug mit der größeren Hälfte des bedungenen Lohnes abgefunden hatte. Doch dies sollte mein Unglück werden. Denn auf dem, so viel mir bewußt, unfehlbaren Wege nach Zermatt hinunterwandernd, befand ich mich plötzlich in einem Gewirr von sich kreuzenden Pfaden, zu welchen ich vergeblich den Ariadnefaden suchte. Unschlüssig verfolgte ich den betretensten Weg, welcher unverkennbare Pferdespuren zeigte, sonst ein untrüglicher Wegweiser in den Schweizer Bergen. Aber nach kurzer Zeit mündete der Pfad auf einer jener gefährlichen Matten, der Verzweiflung des einsamen Wanderers, auf deren glattem Grase auch der scharfsichtige Sohn der Wildniß nicht die leiseste Spur eines Fußstapfens entdecken würde. Was nun thun? Wieder umkehren und meinen wankenden Knieen das Unmögliche eines nochmaligen Berganklimmens zumuthen? Da gewahre ich zu meinen Füßen Lichter, die meiner Berechnung nach von Zermatt heraufleuchten. Frisch gewagt, dachte ich, ist halb gewonnen, also nur gerade auf das Ziel zu! Doch bald gerathe ich in undurchdringliches Gebüsch, das einen abschüssigen Felshang verbirgt. Die Sonne ist unterdeß hinter die Berge gesunken, und schnell bricht tiefe Dunkelheit über mich ein. Nur mühsam tappe ich meinen Weg und springe endlich entsetzt von dem Rande eines schauerlichen Abgrundes zurück. Vergebens raffe ich allen Rest von Energie auf, um wieder aus dem Waldesdickicht hinaus zu gelangen. Die Muskeln versagen ihre Dienste, und kraftlos sinke ich am Stamme einer Fichte nieder. Nur das gelang mir noch, händevoll den rieselnden, schmelzenden Schnee wenigstens von der nackten Brust zu entfernen und meinen Plaid über die Schultern zu ziehen – dann umfing mich unter Fieberschütteln tiefer Schlaf.

Das Gekrächz einer Krähe auf dem Gipfel der Fichte erweckte mich. Es war Morgens, ungefähr fünf Uhr. Der Schnee, welcher mir am Abend noch an den Gliedern geklebt hatte, war spurlos verschwunden, und auf dem Plaid lagen die Perlen des frischen Thaues. Ich raffte mich auf, um von Neuem den verlorenen Weg zu suchen. Nachdem ich den Waldsaum glücklich hinauf gekrochen, entdeckte ich endlich am Ende einer Matte einen Pfad, der mir wenigstens zu Menschen zu führen scheint. So schnell, als die Kräfte erlaubten, ging es hinab. Aber der einsame Weg wollte und wollte kein Ende nehmen, und das Tempo meiner Schritte wurde schwächer und schwächer. In der ersten Aufregung hatte ich vergessen können, daß seit dem Frühstück auf den schwarzen Platten am vorigen Morgen einige Schluck Cognac Alles gewesen, was ich genossen. Jetzt stellten sich Hunger und Durst um so empfindlicher ein. Umsonst rief ich auf einer Wiese, wo die hölzernen Heuschober mich die Nähe von Menschen vermuthen ließen, nach irgend einer lebenden Seele. Nur das Echo höhnte den armen Verirrten, der sich endlich beinahe verzweifelnd in eine Waldblöße mit Blaubeeren warf, um seine brennenden Lippen an deren Safte zu kühlen. Endlich höre ich Pferdegestampf, und wer beschreibt mein Entzücken, als mir ein wohlbekannter Engländer mit seiner Frau entgegen kam! Sie waren gleichfalls auf dem Wege nach Zermatt, und unbewußt war ich also doch der wahren Richtung gefolgt. Die Gewißheit allein, nunmehr das Ziel nicht wohl verfehlen zu können, gab mir Kraft genug, um die Anerbietungen des freundlichen Engländers, das Pferd seiner Frau zu besteigen, abschlagen zu können. Im jammervollsten Costüme, das mir selbst ein Lächeln abzwang, kam ich an seiner Seite in Zermatt an, wo bereits die Meldung von dem verunglückten jungen Reisenden den Wirth und die Fremden erschreckt hatte. Mit Fichtennadeln und Blättern besäet, den Rock vom Gesträuch zerrissen, mit wunden Lippen, die Haut im Gesicht trotz des schützenden blauen Schleiers von den am Schnee abprallenden Sonnenstrahlen braun gebrannt und so zersetzt, daß sie in Lappen herunterhing: so begrüßte ich im Hotel zum Monterosa die neugierige Gesellschaft. Mein erster Ruf war aber dann: „Ein Bett!“ Denn daß sich die erlittenen Strapazen an dem übermüdeten Körper rächen würden, mußte ich von Stund an erwarten. Aber der Gott der Reisenden war mir gnädig, und statt des gefürchteten hitzigen Fiebers verspürte ich nur die behaglichste Wärme in dem lang entbehrten Lager. Und dieses Abenteuer hatte so wenig ernstliche Folgen, daß, wenn schon der Name des Monterosa mit seinen grandiosen Umgebungen mir unvergängliche Bilder überwältigender Naturscenen erweckt, die Erinnerung an die wunderbare Rettung aus den der Ersteigung folgenden Gefahren mich mit einem unaussprechlich erhebenden Wonnegefühle erfüllt.

B…d.




Zur Geschichte des Aberglaubens.
Nr. 6.     Das Nummerträumen.

Unserm Leserkreise ist jedenfalls durch die Zeitungen die Nachricht von dem gräßlichen Morde, welchen im October des vergangenen Jahres ein Mann an seinen vier Kindern und sich selbst beging, bekannt geworden. Der Schauplatz dieser entsetzlichen Begebenheit war Prag; und so gern sich der Blick von solchen Trauerbildern wegwendet, so müssen wir doch darauf zurückkommen, weil die naturwidrige That eines Einzelnen einer ganzen Generation das Feld des Aberglaubens wieder gedüngt hat.

Der fünffache Mord, heißt es in der Donauzeitung, hat viele Personen veranlaßt, auf gewisse Zahlen in der Lotterie zu setzen. Da die Leichen am 28. October aufgefunden wurden, die Zahl der ermordeten Kinder 4 betrug und der unglückselige Vater 43 Jahr alt war, so lag es nahe, die Zahl 28, 4 und 43 für die Lotterie zu wählen, und siehe da: in der letzten Brünner Ziehung wurden folgende Zahlen gezogen:

28, 4, 11, 18, 43.

Die Zahl der dadurch erzielten Gewinnste ist in Prag eine sehr bedeutende; in einer Collection allein wurden 200 Extraten, 30 Nominaten, 180 Ambo, 7 Ambo-Solo und 5 Ternen gewonnen. [105] Unter den Gewinnsten sind mehrere von beträchtlicher Summe. Es wird versichert, es seien von Seiten des Präger Lottoamts gegen 300,000 fl. an Gewinnsten ausgezahlt worden, die durch die Besetzung der genannten Nummern gemacht wurden.

Die Traumbücher, Kartenschläger, die klugen Frauen (wir meinen, mit gütiger Erlaubniß unserer Leserinnen, damit speciell die ganz besondere Classe, die sich mit Kaffeesatz und der Erforschung der Zukunft aus Blei und Eiweiß beschäftigt) haben einen Triumph gefeiert, und lange Zeit hindurch werden mit wesentlicher Vorliebe diejenigen Zahlen im Lotto besetzt werden, die in irgend welchen Beziehungen zu ähnlichen Schauderthaten stehen.

Der Aberglaube hat frische Nahrung erhalten, und selbst mancher Gebildete und sonst unbefangen Urtheilende schüttelt den Kopf über den merkwürdigen Zufall:

„Es ist doch wohl mehr als Zufall – Sie sagen ja selbst, es giebt keinen Zufall.“

„Nein, es braucht auch keinen Zufall zu geben, – er ist gar nicht nöthig, wenn ein solcher Fall der Uebereinstimmung vorkommt.“

„Also meinen Sie doch, daß –“

„Nichts meine ich – aber beweisen will ich Ihnen, daß dergleichen wunderbar scheinende Fälle eintreffen müssen, und daß es viel merkwürdiger wäre, wenn von den Tausenden und Abertausenden von Träumen und Prophezeiungen und Anzeichen und altem Weibergeschwätz nichts eintreffen wollte, als wenn Jemand im Schlafe eine goldene Zahl sieht und darauf das große Loos gewinnt.“

Ich habe einen Verwandten – er muß jetzt sehr alt sein, wenn er überhaupt noch lebt – derselbe war Officier in ***’schen Diensten und hatte als solcher wohl den reglementmäßigen Magen, aber außer dem Mittagbrod wenig hineinzuthun. Das bekümmerte ihn – denn er war sehr arm und zu leichtsinnigem Schuldenmachen zu redlich. Die Aussichten auf Avancement waren auch nicht die besten, er war Oberlieutenant und blieb Oberlieutenant, und das verbitterte ihm vollends die Stimmung, so daß er nicht einmal zu dem Leichtsinn kommen konnte, um ein reiches Mädchen zu werben.

Seine einzige Hoffnung war die Lotterie, und doch getraute er sich nicht das Wagniß zu unternehmen. Das Risico war zu bedeutend. Wenn er nichts gewann, mußte er sich als den leichtsinnigsten Schwindler verabscheuen. Aber Tag und Nacht ging ihm das Glücksrad nicht aus dem Sinn. Er hörte alljährlich von großen Gewinnen und bereute nachher regelmäßig, die glückliche Nummer nicht besetzt zu haben. Da träumt ihm eines schönen Abends gegen Ende des Monats, es erschien ihm eine Fee. Sie kam, wie stets, in einer Wolke und trug einen unaussprechlich schönen, zarten und rosenrothen Anzug. „Hartmann,“ und dabei klopfte sie ihn mit einem Lilienstengel auf die Stirn, „Hartmann, Sie sollten doch in der Lotterie spielen – – Nun ja, ich weiß schon; sehn Sie nur, ob Sie nicht noch Einen dazu finden, ich sage nichts weiter, aber merken Sie sich die und die Nummer –“ und damit war sie verschwunden. Mein Vetter wachte auf, stand auf und schrieb sie auf – nämlich die Nummer für den Fall, daß er noch Einen dazu fände. Er fand ihn auch richtig, denn er war sehr beliebt, und so wurde denn das Loos genommen, – womit die Beiden durchfielen, daß ich’s kurz vermelde.

Der Eine lachte, und der Andere – das war unser Hartmann – ärgerte sich, und die Fee verlor sehr an Credit.

So verging wieder ein Jahr, und die Verhältnisse hatten sich noch nicht gebessert. Es kam wieder die Zeit der Hauptziehung.

Hartmann denkt nicht daran, sich zu betheiligen – „Träume sind Schäume“ – „sie kommen aus dem Magen“ – „Unsinn war’s schon das vorige Mal,“ – „es soll nicht sein.“ Mit solchen Gedanken legt er sich jeden Abend zu Bett.

Da wird’s plötzlich einmal in seinem Schlafzimmer hell um ihn, es wird Heller und Heller, und ehe er noch seine fünf Sinne zusammen bekommen kann, steht die Fee wieder vor ihm. „Lieber Hartmann,“ redet sie ihn an, und er richtet sich dabei im Bett halb auf, „seien Sie mir nicht böse, eine kleine Unvorsichtigkeit von meiner Seite – ich geb’s zu – aber wir können auch nicht allemal wie wir wollen, und Sie werden mir doch so was nicht nachtragen, Sie ständen sich selber im Lichte. Gehen Sie, nehmen Sie noch einmal ein Loos, die und die Nummer;“ weg war sie, aber in Goldschrift prangte vor Hartmann’s Augen die und die Nummer, welche dieselbe war, die er voriges Jahr besetzt hatte. „Einmal und nicht wieder!“ damit schlief er ein. Er konnte aber doch nicht unterlassen, seinen Traum des andern Tages an der Officiertafel zu erzählen. Man scherzte anfänglich darüber, dann fand man es doch wunderbar, daß gerade dieselbe Nummer wieder erschienen war, und nach kurzer Zeit erklärte sich eine Menge seiner Waffengefährten bereit, mit Hartmann das Loos zu spielen. Da er durchaus nicht darauf eingehen wollte, beschlossen die Uebrigen auf eigene Hand ihr Glück zu versuchen. Sie thaten’s, nahmen das Loos und – fielen durch.

Jetzt war Hartmann der, welcher lachte. Aber er lachte nicht mehr, als ihm das nächste Jahr, in der letzten Nacht vor der Ziehung, die Fee wieder erschien.

Diesmal redete sie nicht, sie schien überhaupt traurig und sah ihren Günstling so recht wehmüthig an, daß es ihm selbst leid that, ein so schönes Wesen, denn schön war sie, wie er jetzt erst merkte, vor dem ganzen Officiercorps compromittirt zu haben.

Er konnte die übrige Nacht nicht mehr schlafen, er wollte sich gern rechtfertigen, aber es war zu spät. Auch am andern Morgen brachte er die Erscheinung nicht aus dem Sinn, und in dieser seiner Unruhe kommt ihm der Gedanke, zum Collecteur zu gehen und zu fragen, ob das Loos von der bekannten Nummer noch zu haben sei. Er war zwar überzeugt, daß es längst verkauft sein würde, indessen glaubte er seiner schönen Freundin schon mit dieser Anfrage eine schuldige Artigkeit zu erweisen, und er fragt.

Wie erstaunt er aber, als er hört, daß unter der sehr geringen Anzahl der noch restirenden Loose das betreffende sich wirklich befindet. Das ist ihm zu deutlich gesprochen. Er kauft es, – und Jeder wird nun vermuthen, daß die Nummer zum dritten Male ungezogen bleibt – aber nein: am selben Tage noch fällt darauf der erste Gewinn. Der Oberlieutenant ist ein reicher Mann.

Ich erzähle rein Thatsächliches, wie ich es aus dem Munde meines Verwandten früher selbst erfahren habe, der in humoristischer Weise leicht darüber zu scherzen pflegte, wenn er das Thema berühren mußte; von selbst brachte er nie das Gespräch darauf. Die Sache mit den drei Träumen hat ihre Richtigkeit.

Es ist demnach thöricht, so kurzweg zu behaupten, daß Träume oder Prophezeiungen nie eintreffen. Ich habe zwei der eclatantesten Fälle dafür aufgeführt. Ich habe auch schon oben gesagt, daß von einem Zufall nicht die Rede ist, daß vielmehr eine natürliche Nothwendigkeit derartigen Eintreffens vorliegt, und da sich dies mit Zahlen mathematisch beweisen läßt, so wird hoffentlich der ärgste Materialist nichts dagegen haben.

Weil die beiden Beispiele, die wir gegeben haben, sich auf die Lotterie bezogen, und wir es also hier schon mit Zahlen zu thun haben, so wollen wir den Beweis, der uns zu führen obliegt, zunächst auch für solche Träume und Anzeichen führen, die sich auf dasselbe allgemein bekannte Spiel des Lotto’s oder der Lotterie beziehen.

Gesetzt, es betheiligten sich an einem Lotto, wo aus den Nummern 1 – 90 bei jeder Ziehung 5 Nummern gezogen werden, 300 Personen, alle leidenschaftlich mit dem Spiel beschäftigt. Es ist dann höchst wahrscheinlich, daß von diesen 300 Personen mindestens 180 in der Zeit, die der Ziehung vorherzugehen pflegt, Träume haben werden, in denen ihnen entweder direct Nummern erscheinen, oder die sich wenigstens auf Nummern deuten lassen; denn da sich der Geist solcher Spieler den ganzen Tag mit seiner Hoffnung beschäftigt, werden ihm auch Erinnerungen daran im Schlafe kommen. Den übrigen 120 aber wird wenigstens ein Anzeichen oder irgend ein kleines Ereigniß begegnen, es wird ein Glas zerbrochen, Einer wird einen Brief bekommen, ein Anderer wird ein Taschentuch vergessen, und da sich unter Geübten dergleichen Vorfälle alle in Zahlen von 1–90 ausdrücken lassen, so werden wir sicher darauf rechnen können, daß am Tage der Ziehung mindestens 300 geträumte oder gedeutete Nummern besetzt worden sind. Da es nur 90 Nummern giebt, so müssen mehrere der Spieler zusammen auf eine und dieselbe ihren Einsatz machen; und es ist eine Thatsache, die seit Jahrhunderten, seit überhaupt das Lotto bekannt ist, feststeht, daß, wenn eine große Anzahl Menschen einsetzen, ohne sich gegenseitig um die Nummern, die sie besetzen, zu kümmern, schließlich jede Nummer eine gleiche Anzahl Spieler und einen gleichen Einsatz repräsentirt.

[106] In die 90 Nummern theilen sich nun auch unsere 300 Träumer; und da die allerverschiedensten Naturen und Charaktere, Gerechte und Ungerechte, Sanfte und Hitzige sich darunter befinden, so sind die Träume und Vorahnungen sehr verschieden von einander, und alle 90 Nummern werden sich durchschnittlich gleicher Einsätze erfreuen. Und das ist gut. Denn damit ist die Gewißheit gegeben, daß ungefähr 15 von den 300 Träumen in Erfüllung gehen. Fünf Nummern werden gezogen, 15 Spieler haben dieselben besetzt. Diese sind die Glücklichen. Gewiß kann man, da von 300 Träumen 15 – also 5 Procent – in Erfüllung gehen, nicht mehr davon reden, daß Träume nie einträfen. Ein solches Quantum ist aber nicht nur alles Mögliche, sondern vielmehr das Gewisse; und es würde noch größer ausfallen, wenn die Spieler, statt die Auswahl unter 90 Nummern zu haben, nur von 20 oder gar nur von 10 Nummern träumen dürften.

Daß nun bei jeder Lotterie der Fall eben so steht wie bei dem einfachen Lotto, liegt klar am Tage. Nur müssen, weil die Anzahl der Loose eine viel größere ist, als die Zahl der Nummern im Lotto, sich auch nothwendiger Weise mehr Menschen mit dieser geistigen Speculation befassen. Indessen hat dies keine Schwierigkeit; jeder Spielende träumt auch hier früher oder später einmal von seiner Nummer oder wenigstens vom Spiel und legt dies natürlich allemal so aus, daß ihm der „große Gewinn“ bevorsteht; oder wenn er nicht selbst träumt, so besorgt dies seine Frau oder eins seiner Kinder oder ein Bekannter; und man kann sicher rechnen, daß bei Weitem mehr Menschen das große Loos im Kopfe spukt, als sich wirklich am Spiel betheiligen. Etwas geschieht immer, was ein eifriger Spieler in Beziehung zu seinem Glücke setzen kann, und Alle diejenigen, die etwas von Bedeutung gewinnen, – wenn es auch nicht das erwartete große Loos ist, sondern vielleicht nur der hundertste Theil davon – haben also rechtschaffene Symptome gehabt und werden als „lebende Beispiele“ bewundert. Dazu kommt, daß diejenigen, welche auf ihre schönen Träume nichts gewonnen haben, still sind und sich damit trösten, daß sie wahrscheinlich nicht richtig beobachtet haben und das nächste Mal besser aufzupassen sich vornehmen. Reden sie aber ja von ihren „Ahnungen“, so werden sie todtgeschwiegen. Kurz, es kommt nur die Kunde von den „glücklichen Träumen“ zur Illustrirung der alten Geschichte in’s Volk.

Mit den zufälligen Ereignissen, die durch merkwürdige Umstände auffällig werden, ist es eben so. Wie viel geschieht nicht in der Welt, über das man sich wundern könnte! Hier ist’s eine Mißgeburt, dort ein Todesfall. Gleichviel, der Spieler übersetzt die ganze Natur in seine Zahlen. Einige davon müssen das Nichtige treffen. Wenn man bedenkt, wie ungeheuer zahlreich die Vorfälle sind, auf welche hin „gesetzt“ wird, so ist es durchaus nicht wunderbar, sondern es erscheint nothwendig, daß einer davon einmal die Hoffnungen der Spieler realisirt, während tausend andere ähnliche Fälle vorher und tausend andere nachher sich als nichts bedeutend erwiesen. Daraus aber dann den Schluß ziehen, daß das Ereigniß selbst und die Lottoziehung in gewisser Verbindung und Abhängigkeit von einander ständen, das ist Aberglaube.

Der Traum hat mit der Lottonummer nichts zu thun. Daß die Zahlen, die sich aus ihm herauslesen lassen, auch gezogen werden, ist natürlich und nothwendig. Wie in jeder Compagnie einer immer der Liederlichste sein muß und diesem deshalb eigentlich kein Vorwurf darüber gemacht werden sollte, so muß eine Nummer auch den ersten Gewinn haben – und da sie schließlich alle geträumt waren, so ist ihr Spieler nicht besonders deswegen zu bewundern. Der beste Beweis, daß ein einzelner Traum keine Chance bietet, ist der große Gewinn, den die Lottocassen trotz aller Kartenschlägerei und Weissagerei und trotz alles Ahnens und Träumens machen.

„Aber noch eins,“ höre ich, „das kommt mir doch im höchsten Grade wunderbar vor, daß das Loos, auf welches der Herr Oberlieutenant den großen Gewinn erhielt, von noch Niemandem gekauft war; es scheint doch, als ob –“

„Richtig, das habe ich vergessen zu bemerken: der Collecteur hatte, weil jene Nummer bereits zweimal von dem Freunde unsers H. bezahlt worden war, diesem sie auch zum dritten Male zugeschickt. Da aber diesmal bis zum Ziehungstage Zahlung noch nicht eingegangen war, ließ sich der Collecteur kurz vor der Ziehung durch seinen Lehrling das Loos vom Herrn Lieutenant zurückerbitten.“




Carl Maria von Weber und sein Denkmal.

Eine Skizze von M. M. von Weber.
(Fortsetzung.)

Von großem Einflusse auf das Leben und den Ruf der vier Musiker, die damals um Vogler’s Hausorgel saßen, war ein Schutz- und Trutzbündniß, welches sie in aller Form geschlossen hatten und dessen Tendenz in kurzen Worten darauf hinausging, daß sie in ihrem Kreise sich mit scharfer Kritik die Schwäche jedes ihrer Werke aufdecken, nach außen hin aber einer vom andern nur Ruhm und Ehre verkünden und sich gegenseitig, durch alle erlaubten Mittel des gesprochenen und geschriebenen Wortes, so schnell als möglich zu großem Ruf verhelfen wollten. Vorstand des Bundes, dessen von Weber’s, Meyerbeer’s und Gottfried Weber’s Hand geschriebene Statuten noch existiren, war Weber, der Centralort Darmstadt, von dem aus die Operationen geleitet wurden. Der Bund zerfiel nach einem Bestehen von wenig Jahren, hat aber in dieser Zeit unzweifelhaft dazu beigetragen, den Ruf der Mitglieder schnell zu verbreiten, die dann zum Glück auch sämmtlich das Ihre danach leisteten. In Darmstadt entstand damals unter Weber’s Hand der „Abu Hassan,“ eine kleine komische Oper, die einen raschen Fortschritt Weber’s als dramatischer Componist bekundet, jetzt ganz mit Unrecht von den deutschen Bühnen fast verschwunden ist und damals sehr gefiel. Im Jahre 1810 sah er seine „Sylvana“ in Frankfurt geben. Diese Vorstellung, deren Erfolg eine Luftfahrt der Madame Blanchard zu Nichte machte, sollte verhängnißvoll für Weber werden. Er sah hier zum ersten Male Caroline Brand, die, damals noch halb Kind, die „Sylvana“ tanzte und sieben Jahre später seine Gattin wurde.

Zwei Jahre lang durchzog Weber Deutschland und die Schweiz, überall Verbindungen anknüpfend, überall das Lob seines Charakters und ruhmvolles Andenken an seine Kunstleistungen hinterlassend, überall gleichsam die Minen legend, in die später seine großen dramatischen Werke wie eben so viele Zündfunken fallen sollten. Eben bereitete er sich im Jahre 1812 in Prag zu einer längst projectirten Reise nach Italien vor, da wurde ihm unter verhältnißmäßig glänzenden Bedingungen vom Director des Prager ständischen Theaters, Liebich, der Antrag gemacht, die neu zu schaffende deutsche Oper zu organisiren und dann zu leiten. Seufzend gab Weber diesen Aussichten auf Ehre und Gewinn gegenüber die Reise nach Italien auf. Nicht wenig trugen die Verpflichtungen, die ihm gegen mehrere Freunde durch ansehnliche Darlehne derselben erwachsen waren, dazu bei, ihn zur Annahme dieser Stelle zu veranlassen. „Um als ehrlicher Kerl meine Schulden bezahlen zu können,“ schrieb er, „muß ich in den sauren Apfel beißen.“ Er ging so rüstig an’s Werk der neuen Organisation, daß er den erstaunten Pragern schon nach wenigen Monaten mustergültige deutsche Opern vorführte und das Institut auf eine Höhe hob, die es seit langer Zeit nicht eingenommen hatte; in vier Jahren schuf Weber Orchester, Chor und Personal der Oper in Prag und studirte nicht weniger als 31 neue Werke ein. Doch der Musiksinn der Prager, der sonst in so großen Ehren gestanden hatte, daß Mozart ihn im Sinne trug, wenn er beim Componiren an ein Publicum dachte, schlummerte; Mangel an Anregung und künstlerischem Umgang ließen Weber während dieser Zeit eigentlich nur auf seinen Kunstreisen schöpferisch wirken, während er in Prag nur seinen Directionsgeschäften und, seit dem zweiten Jahre seines Aufenthaltes, seiner Liebe zu Caroline Brand, die er als ausgezeichnete Soubrette nach Prag gezogen hatte, lebte. So reifte z. B. die Frucht seiner glühenden Begeisterung für das deutsche Befreiungswerk in München im Jahre 1815, die Cantate „Kampf und Sieg“; in Berlin etc. die Körner’schen Lieder „Leier und Schwert“, die [107] seinen Namen zu dem der edelsten Heeresfürsten in Herz und Mund des ganzen gährenden Deutschland brachte.

Der Mangel an künstlerischem Umgang war es, der ihm den Aufenthalt in Prag zuletzt unerträglich machte und ihn veranlaßt hätte, seine Stellung dort zu verlassen, wenn ihm auch nicht im Jahre 1816 der Ruf nach Dresden, wo es wieder eine neue, deutsche Oper zu gründen und zu leiten galt, eine neue Perspective voll ruhmreicher Thätigkeit gezeigt hätte. Anfang 1817 wanderte er im Vollbewußtsein der Schwere und Bedeutsamkeit der Aufgabe, die ihm hier gestellt war, aber auch im frohen Gefühle, die ihm bevorstehenden Kämpfe mit den Ritterwaffen bestehen zu können, die er sich zu Breslau, Carlsruh und Prag bei der Schöpfung neuer Operninstitute erworben hatte, nach der Residenz des kunstliebenden Königs Friedrich August, der ihn berief. Dahin holte er sich im November desselben Jahres den besten Bundesgenossen in diesen Kämpfen in Gestalt seiner liebenswürdigen Gattin mit ihrem unversiegbaren Frohsinne, ihrer Grazie, ihrem feinen Takte nach.

Gegen wie viel Streiche hat sie ihn geschützt, von wie viel mehr empfangenen Wunden ihn geheilt!

Ohne Uebertreibung kann man sagen, daß es niemals den Carl Maria von Weber, der Freischütz, Euryanthe und Oberon schrieb, ohne Caroline Brand gegeben hätte. Ihr praktischer Sinn und in reicher Erfahrung geschulter Takt ersetzten dem Meister in stiller Studirstube die Stimme des Publicums, die Wirkung seiner Schöpfungen bemaß er nach der Wirkung auf ihren offenen Geist, ihrem Rathe folgte er nie ohne Erfolg, wenn es zu kürzen, umzustoßen, bühnengerecht zu machen galt, sie eroberte die Herzen für ihn, die zu gewinnen er nicht Zeit oder Stimmung hatte. Niemals hat sich ein Paar vollständiger im schönsten Sinne der Ehe ergänzt, als Carl und Caroline Weber.

Weber begann seine Wirksamkeit in Dresden unter den schwierigsten Verhältnissen. Im Grunde genommen bot ihm nichts helfend die Hand, als ein Theil der Kapellmitglieder und sein edler Chef, der Graf Vitzthum von Eckstädt. Nichts erhob und stützte ihn, als die Zustimmung und der Beifall der intelligenten Mittelschichten des Publicums. Der König Friedrich August hieß nicht mit Unrecht der Gerechte, darum schätzte er Weber’s Thätigkeit und Charakter, hat aber, als warmer Freund der italienischen Musik und Kunst, für seine Werke nie Sympathien gezeigt. Noch kurz vor seinem Tode schrieb Weber, der dem Könige mit größter Liebe und Treue anhing, von London, schmerzlich bewegt:

„Alle Welt erkennt mein Streben an, nur mein König will Nichts von mir wissen!“ Am Hofe hatte Weber keine Freunde, außer den beiden edlen Prinzen Friedrich August und Johann, für die er wahrhaft enthusiastische Verehrung hegte. Die demzufolge in höheren Schichten gegen Weber und sein Wirken vorherrschende Antipathie wurde von seinen Gegnern, an deren Spitze der damalige, fast allmächtige Cabinetsminister Einsiedel und der College Weber’s, Morlachi, standen, zu allerhand Waffen für Bekämpfung seiner Thätigkeit umgeschmiedet. Für Einsiedel und seine Günstlingscoterie, in der sich das Princip des damaligen „geheimen“ Beamtenthums personificirte, in deren Kreisen das Wort „deutsch“ und „demokratisch“ fast gleichbedeutend war und die deshalb auch sogar hinter deutscher Musik Umsturz-Tendenzen witterte, war Weber mit seinem graden, die Öffentlichkeit liebenden und, trotz seines Hofkapellmeistertitels, in bis dahin unerhörter Weise frei mit dem Publicum verkehrenden Sinne eine „höchst unbequeme Persönlichkeit“. Diese Unbequemlichkeit potenzirte sich natürlich noch in den Augen der Anhänger der italienischen Oper und ihrer Partei, die sich aus den höchsten Ständen der Gesellschaft rekrutirte, da sie nur zu deutlich sahen, wie Weber’s Streben der Exclusivität im Kunstgeschmack schnurstracks entgegenwirkte. Diese Partei, zu der leider auch, wenigstens im Anfange, viele Mitglieder der Kapelle gehörten, ist es gewesen, die es verhinderte, daß Weber’s große Talente für Sachsen in angemessener Weise nutzbar gemacht wurden, die es bewirkte, daß ihm niemals ein leuchtendes Zeichen der Zufriedenheit von oben her zu Theil wurde, daß ihm kein einziges Werk für die Kunstanstalt, der er vorstand, in Auftrag gegeben wurde, und die sein Wirken für dieses Institut auch dann noch mit der Calculator- und Hofraths-Elle maß, als über Weber’s und jener Kunstanstalt Ruhm die Sonne nicht mehr auf- und unterging.

Trotz alledem beschritt er seinen Weg nach bestem Wissen und Gewissen. „Wie Gott will!“ Dreißig Tage nach seinem Dienstantritte führte er die erste deutsche Oper: Mehul’s „Joseph in Aegypten“, mit neugeschaffenem Chor und neuen oder erst herangezogenen Sängern, in einer Weise auf, daß die Gegner staunten und die Freunde jubelten. Rasch gewann er sich, der 31jährige Meister, das Vertrauen der Kapelle und seines Personals durch milde Strenge, Energie, seltenes Dirigententalent, richtig angewandten Fleiß, der nur das that, was andere schwächere Kräfte nicht auch thun konnten, und bald sah er sich als einen der Mittelpunkte des geistigen Treibens von Dresden, für das er und seine Gattin belebende Zierden wurden. Sein gastfreies Haus versammelte in heitern Cirkeln, neben dem „Liederkreise“, die heterogensten Elemente geistiger Bedeutsamkeit in zwanglosem Verkehre. Ludwig Tieck war hier eben so gern gesehen, fand sich ebenso behaglich wie Tiedge, Hell oder Kind; Kügelgen verkehrte hier gern mit Vogelstein und Friedrich; Marschner musicirte hier mit Spohr, Morlachi und Polledro. Alle Jene irren, die Weber’s Persönlichkeit aus seinen Werken herausconstruirt haben, ihn sentimental, ernst, romantisch gestimmt darstellten. Ernst und streng, oft schroff im Geschäft und Dienst, war Weber Lebemann vom Kopf zum Fuß im geselligen Kreise, und „dulce est desipere in loco“ eine seiner gangbarsten Maximen. Heiter, derb, oft sarkastisch in seinen Aeußerungen, anspruchslos in seinen Freuden, ohne allen Künstlerdünkel, verschmähte er es nicht, in heitern Cirkeln, damit die jungen Leute tanzen könnten, stundenlang am Clavier zu sitzen, in Schattenspielen den Teufel zu agiren, worin er eine ganz besondere Meisterschaft besaß, auf Maskeraden das Tollste vom Tollen zu bringen, und Niemand verstand so aus vollem Herzen, wie er, den „holden Unsinn“ zu treiben und zu belachen. Trefflich unterstützte ihn bei allen dem seine liebenswerthe Gattin, deren geselliges Talent außergewöhnlich war. Nichts glich der Wirkung, welche das Paar mit dem Vortrage komischer Lieder, die er auf Piano oder Guitarre begleitete, hervorbrachte. Die gehaltenste Gesellschaft wurde dann zum Lachchore, und in den Augen der ernstesten Künstler und Geschäftsmänner perlten die Thränen, welche die selige Zwerchfellerschütterung erpreßte.

Während Weber so die Herzen des Publicums gewann, die Organisation der Kapelle und Oper immer mehr emporblühte, eine gelungene Opervorstellung auf die andere folgte und ein Dienst, der ihn (besonders durch die häufigen Urlaubsreisen und Krankheiten seines Collegen Morlachi, welcher fast die Hälfte seiner Dienstzeit im Auslande zugebracht hat) mit circa 400maligen Functionen im Jahre belastete, seine Kraft so in Anspruch nahm, daß ihn nur die Erholung, die ihm der Sommeraufenthalt in seinem geliebten Hosterwitz bot, aufrecht erhielt: vermehrten sich in gewissen Kreisen die Mißstimmungen gegen ihn durch die Anerbietungen, durch die man ihn für Berlin und Wien zu gewinnen trachtete. Man nahm es ihm übel, daß er mit den Theaterverwaltungen in jenen Orten verkehrte und zuletzt gar durch Uebernahme der Composition des „Freischütz“ für Berlin, der „Euryanthe“ für Wien und des „Oberon“ für London für fremde Bühnen thätig war, während man ihm in Dresden – keine Aufträge und keine Gelegenheit gab, seine Kräfte angemessen zu verwenden. Man entzog ihm die Möglichkeit, Ehre in seinem amtlichen Wirkungskreise zu erwerben, und verargte es ihm doch, wenn er sich Künstlerruhm von außen holte. Konnten nun auch die aus diesen Antipathien erwachsenden Kundgebungen, die sich besonders durch auffällige Bevorzugung seines ausländischen Collegen kennzeichneten, sein Schaffen nicht lähmen; konnten auch, unter all den Kränkungen, meist in ländlicher Abgeschiedenheit in Hosterwitz, die Jubelcantate, die Jubelouvertüre zum Jubiläum des Königs, die Aufforderung zum Tanz, Preciosa, zwei große Messen, davon eine zur Jubelhochzeit des Königspaares, die großen Sonaten für Piano, eine Menge Lieder und Instrumental-Werke und endlich Freischütz, Euryanthe und Oberon entstehen, so reizten doch die Nadelstiche jener Plackereien die zartbesaitete Seele des Künstlers zu fortwährender fieberhafter Spannung, die ätzend und zerstörend auf seinen ohnehin schwächlichen Organismus einwirken mußte.

Mit seinem „Freischütz“ traf Weber mit nie vorher dagewesenem Glücke das innerste musikalische Leben des deutschen Volkes. Es schien, als habe es sich nach dessen Ausdruck schon lange gesehnt, mit solchem Jubel wurde das Werk begrüßt, als er es im Jahre 1821 in Berlin aufführte. Kein Ort der Welt wäre damals fähiger gewesen, diese deutscheste Musik zu empfangen, als das im damals „deutschesten Deutschsein“ lebende Berlin. Die [108] Schlachten bei Großbeeren, an der Katzbach und bei Leipzig und die Einmärsche in Paris hatten den Boden in den preußischen Herzen bestellt für die jubelnde Empfängniß des deutschen „Freischütz“.

Dem Triumphe des „Singspiels“ wünschte Weber, angestachelt von den Aeußerungen der Anhänger Spohr’s, Spontini’s und Rossini’s, die es anzweifelten, daß ihm die zur Schöpfung einer großen Oper nöthigen tiefen Musikkenntnisse beiwohnten, den großen Erfolg einer solchen aus seiner Feder folgen zu lassen, und ergriff begierig die Gelegenheit hierzu, als, am Schlusse des Jahres 1821, der neue Pächter der Wiener Bühne, der „Theater-Nabob“ Barbaja, eine Oper für die Stagione von 1823 bei ihm bestellte.

Eine nach Wien zu Anfang 1822 zum Zweck der Kenntnißnahme von Kapelle, Sängern und Hörern unternommene Reise ließ Weber die schönsten Hoffnungen schöpfen, ein vortreffliches, intelligentes Publicum und ein sehr brauchbares Personen-Material an der Bühne erkennen. Nur machte ihn der Erfolg des Freischütz, dem er dort beiwohnte, an jeder Möglichkeit der Steigerung des Beifalls verzagen. „Der verdammte Freischütz,“ rief er aus, „wird seiner jungen Schwester das Leben verteufelt sauer machen!“ Und dies Alles trotz der Torturen, die man der armen Oper in Wien angethan hatte! Den Samiel hatte die Censur, das Schießen hatten die schwachen Nerven des Kaisers gestrichen, statt des muntern Kugelgießens in der Wolfsschlucht wurden, auf das Langweiligste, Bolzen in einem hohlen Baume gefunden u. s. w.!! Daher der Musik allein die Ehre!

Weber reizte der Kampf mit Rossini, seinem ebenbürtigsten und daher gefürchtetsten Gegner, nachdem er Spontini fast besiegt hatte. In seinen Empfindungen gegen seinen großen italienischen Rivalen erkennt man den sonst so frei und edel denkenden Weber kaum wieder. Er hatte die Schwachheit, ihn zu hassen, weil ihm seine musikalische Richtung antipathisch war. Ja noch mehr! Er gestand Rossini nicht einmal jene bedeutenden Eigenschaften zu, die er erkannt haben muß, weil sie unverkennbar sind. Ihm war und blieb er der musikalische Antichrist!

Doch er haßte Rossini zwar, aber er kannte seine Macht leider noch nicht im ganzen Umfange, denn er hatte den „Barbier“ noch nicht gesehen!

Die Frau Helmine von Chezy dichtete ihm nun einen Text, so absurd, so unpraktisch, so undramatisch, daß es kaum faßbar ist, wie ein so klarer Geist wie Weber sich durch den Wohllaut der Verse in dem Maße bestechen lassen konnte, ihn zu componiren. So wurde die „Euryanthe“ geschrieben. Die Wiener sagten später sehr treffend: Der Lysirat singt ja selbst die beste Kritik der Oper:

„Die Weise tadl’ ich nicht;
Doch wohl die Worte vom Gedicht!“

Inzwischen hatte Barbaja, im Verein mit seinem Freunde Rossini, für die Stagione, die auch „Euryanthe“ bringen sollte, eine italienische Truppe zusammengebracht, die in Bezug auf Vollkommenheit der Darstellung fast ohne Gleichen in der Kunstgeschichte ist. Da sangen die Rossini-Colbran, die Fodor-Mainville, die Eckerlin[WS 1], da war Lablache, Douzelli, David, Ambrogi, alles Lichter erster Größe, und sie führten den zu Musik gewordenen Jubel, den „Barbier von Sevilla“, die „Italienerin in Algier“, den „Othello“, die „Donna del Lago“ auf, diese Feuerwerke von Melodiefunken, diese Cascaden von musikalischem Schaumweine, diese elektrisirenden Thorheiten voll Schönheit und Glanz! Und der alle Herzen von Neuem erobernde Rossini, der trillernde, funkelnde, liebenswürdige „Schwan von Pesaro“, war kein finsterer Spontini, der sich schon Heere von Gegnern durch sein Erscheinen, Gehen und Reden schuf!

Als Weber immer mehr von dieser Oper, diesen Darstellern hörte, wurde er tief nachdenklich, und als er 1823 mit seinem Schüler, Julius Benedikt, nach Wien abreiste, um die Euryanthe aufzuführen, hörte man öfter als je aus seinem Munde seinen gottergebenen Wahlspruch: „Wie Gott will!“


(Schluß folgt.)


Lessing und Wolfenbüttel.

Der Mann, dessen Wahlspruch lautete: „Jeder sage, was ihm Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen!“ – dieser Mann war sein Lebelang ein treuer, freier, unerschrockener Schriftsteller für die Menschheit und Dichter für sein deutsches Volk, aber erst die Gegenwart hat ihn auch dem Volke näher geführt, die deutsche Bühne hat diesem einen Theil seines Wirkens verständlich gemacht, die deutsche Kunst hat ihm Denkmale errichtet, deutsche Städte feiern ihm jährliche Erinnerungsfeste. In einer solchen Zeit wird man es in der Ordnung finden, wenn wir auch vor der kleinen engen Häuslichkeit des großen Mannes den Vorhang aufziehen und unseren Freunden einen Einblick in diesen Theil seines Lebens eröffnen.

Wolfenbüttel, der Ort wo Lessing das letzte Decennium seines Lebens zubrachte, ist die zweite Stadt des Herzogthums Braunschweig und war bis 1753 die Residenz der Herzoge von Braunschweig-Wolfenbüttel. Als Lessing im Jahre 1770, durch die Vermittelung des Erbprinzen Carl Wilhelm Ferdinand, von Hamburg kommend, mit 600 Thaler Gehalt als Bibliothekar dort angestellt wurde, war kurze Zeit zuvor für die Stadt eine der traurigsten Perioden angebrochen, welche sie erlebt hat. An die Stelle eines glänzenden Residenz-Treibens, wie es seit den Tagen des prachtliebenden Anton Ulrich, des Erbauers von Salzdahlum, hier geherrscht hatte, war durch die Verlegung des Hoflagers durch Herzog Karl I. nach Braunschweig die Oede einer kleinen Landstadt getreten, und ungeachtet die beiden ersten Landes-Collegien, das Consistorium und das Oberlandesgericht, dort blieben, war doch die Einwohnerzahl von vierzehntausend Seelen auf beinahe die Hälfte gesunken; ganze Häuser standen unbewohnt, die mit Gras bewachsenen Straßen waren menschenleer; während in Braunschweig sich seit der Gründung des Carolinums durch den an diesem damals blühenden Institut wirkenden Kreis bedeutender Männer, wie Ebert, Gärtner, Zachariä, Jerusalem, Schmied, Eschenburg, neben dem Hofleben auch ein reges geistiges Leben entwickelte, fehlte in Wolfenbüttel jede Anregung der Art, und die Klage Lessing’s, der hier jedes geselligen Umgangs entbehrte, weil er „den Umgang, den er haben konnte, nicht haben mochte“ – war nur zu begründet.– Er bemerkte bald: „daß er die Einsamkeit, in der er zu Wolfenbüttel nothwendig leben müsse, und den gänzlichen Mangel des Umgangs, wie er ihn an andern Orten gewohnt gewesen sei, auf mehrere Jahre schwerlich würde ertragen können. Er würde, sich gänzlich selbst überlassen, an Geist und Körper krank; immer unter Büchern vergraben sein, dünke ihm wenig besser, als im eigentlichen Verstande begraben zu sein;“ – und sein Bruder sagt, damit übereinstimmend, in seiner Biographie des Dichters: „Lessing traf in Wolfenbüttel gar keine Freunde an, ob er sich gleich nachher einige erwarb. Der Ort ist an und für sich stille und hat alle die herrlichen Dinge nicht, die Lessing zuweilen zerstreuen konnten. Die Bibliothek war das Einzige, was ihn beschäftigte und vergnügte.“ –

Besser wurde dieser Zustand, nachdem Lessing sich am 7. October 1776 zu Hamburg mit Eva Hahn, der Wittwe seines Freundes König, verheirathet hatte; sie machte ihm sein „verwünschtes Schloß“, wie er die Bibliothek und seine daran stoßende Dienstwohnung nannte, lieb und heimisch, bis nach einem kurzen glücklichen Jahre der Tod dieser liebenswürdigen Frau den alten Zustand um so fühlbarer zurückkehren ließ. Drei Tage nach diesem traurigen Ereigniß schreibt er an Eschenburg: „Ich muß nun wieder anfangen, meinen Weg allein so fort zu duseln. Ein guter Vorrath von Laudanum literarischer und theologischer Zerstreuungen wird mir einen Tag nach dem andern schon ganz leidlich überstehen lassen.“ – Ward es ihm dann einmal gar zu enge in den einsamen „vier Wänden“ – dann eilte er, meistens zu Fuß, nach dem zwei Stunden entfernten Braunschweig, wo er im Verein mit Zachariä, Ebert, Leisewitz, Schmied und Andern erquickende Stunden verlebte.

In Wolfenbüttel waren Lessing’s Gesellschafter ein gewisser

[109] Kammerherr v. Döring und sein Hausarzt Topp; ersterer war sein Begleiter auf dem täglichen Spaziergange um die Stadt, mit Topp aber, einem kleinen, buckligen Männchen, machte er die gewohnte Partie Schach, wie er sie früher in Berlin mit Moses Mendelssohn und in Hamburg mit Klopstock und Büsch gespielt hatte.

Nun mache der Leser einen kurzen Gang mit uns durch die Straßen Wolfenbüttels bis zu dem vor achtzig Jahren von dem großen Dichter und Denker bewohnten Hause. – Jetzt, nachdem das ganz Deutschland überdeckende Eisenbahnnetz auch hieher seine belebenden Fäden gezogen hat, und in den letzten vierzig Jahren besonders an die Stelle der ehemals die Stadt umgebenden Festungswerke freundliche Anlagen und lachende Obstgärten getreten sind, ist das in einer Niederung gelegene, von zwei Seiten durch schöne Buchenwaldungen begrenzte Wolfenbüttel mit den blauen Harzbergen im Hintergrund ein bei Weitem belebterer und freundlicherer Ort geworden. – Die über ihre Umgebung hervorragenden weitläufigen Gebäude des verlassenen Schlosses, das schöne Kuppeldach der Bibliothek und der schlanke Thurm der Neuen Kirche erinnern immer noch an die Residenz. Das Schloß, ein ursprünglich massives Gebäude aus dem fünfzehnten Jahrhundert, wurde in dem Alles französirenden achtzehnten Jahrhundert vom Herzoge August Wilhelm mit einer hölzernen Façade umbauet, aus deren Dache der mit einer Gallerie versehene alte Schloßthurm ehrwürdig hervorragt. Die im Geschmack Ludwigs des Vierzehnten mit einer Menge allegorischer und mythologischer Figuren gezierte Schloßbrücke bietet jetzt einen ruinenhaften Anblick, die sie einst schmückenden Statuen sind theils in den unten fließenden Strom gesunken, oder haben wenigstens der Alles verzehrenden Zeit einen Theil ihrer classischen Glieder als Tribut dargebracht.

Lessing’s „verwünschtes Schloß“ in Wolfenbüttel.

Denselben Eindruck macht das große Gebäude mit seinen zerschlagenen Fenstern und wankenden Giebeln im Allgemeinen. Drinnen aber ist dem Apoll ein Tempel aufgebauet; – aus dem großen Prachtsaale des Schlosses entstand 1835 ein freundliches Theater, das mit Lessing’s „Emilia Galotti“ eröffnet wurde und auf dem die Mitglieder des Braunschweiger Hoftheaters wöchentlich eine Vorstellung geben. – An diesen seinem Verfall entgegengehenden Fürstensitz knüpfen sich die interessantesten Erinnerungen, sowohl aus den stürmischen Tagen der Reformation, wo Heinrich der Jüngere, der bekannte Widersacher Luther’s, hier residirte, als auch aus dem dreißigjährigen Kriege, wo Wolfenbüttel, als einer der festesten Plätze Niedersachsens, ein Hauptzankapfel der streitenden Parteien wurde. Am 23. Januar 1623 beherbergte es den unglücklichen „Böhmer Winterkönig“ Friedrich V. von der Pfalz, nachdem er, in Folge der unglücklichen Schlacht auf dem weißen Berge bei Prag um die kaum erworbene böhmische Krone gebracht, länderlos umherirrte. – Auf diesem seinem väterlichen Schlosse starb auch am 6. Juni 1626 jener kühne Parteigänger des dreißigjährigen Krieges, Herzog Christian, der, gerührt von dem Unglück der schönen Gemahlin Friedrich’s, Elisabeth Stuart, voll echt ritterlichen Sinnes den Degen für die Dame zog und mit dem Handschuh derselben am Hut und dem Motto: „tout pour Dieu et pour elle“ auf der Fahne, an der Spitze eines Heldenhäufleins, im Verein mit Mansfeld, ein Schrecken der katholischen Länder wurde. Wie bei Bernhard von Weimar und bei Herzog Georg von Celle, dem Ahnherrn der englischen Könige, schrieb man den frühen Tod des „kühnen Halberstädter“ einer Vergiftung zu; jetzt ruht er in der Gruft der Neuen Kirche in einem Sarge von Zinn, das zum Haupte desselben angebrachte Wappen zeigt auch den Hosenbandorden, mit welchem König Jakob I. den jugendlichen Helden geschmückt hatte. –

Einen sehr freundlichen Anblick gewährt der von zwei Reihen junger, schöner Linden eingefaßte Schloßplatz, der zur linken Hand, vom Schloß ab gesehen, von dem durch Heinrich Julius, den berühmten Bischof von Halberstadt, erbaueten schönen Zeughause begrenzt ist. Daneben, indeß vom Platze zurücktretend, steht die Perle Wolfenbüttels, die Bibliothek. Der Gründer dieses jetzt beinahe zweimalhunderttausend Bände zählenden und namentlich an alten Handschriften reichen Bücherschatzes war der von 1634 bis 1666 regierende Herzog August, einer der gelehrtesten und tüchtigsten Regenten seiner Zeit. Den Anfang zu dieser Sammlung machte er schon als apanagirter Prinz auf seiner bescheidenen Residenz zu Hitzacker, weit hinter der Lüneburger Haide an der Elbe; als er 1634 das Land erbte, brachte er dieselbe mit nach Wolfenbüttel. Mitten unter den Drangsalen des dreißigjährigen Krieges fand der gute Haushalter Zeit und Mittel, dieselbe so zu vermehren, daß sie, als er 1666 fast achtundachtzig Jahr alt starb, schon 80,000 Bände zählte; noch heute sieht man auf der Bibliothek die von dem fleißigen alten Herrn eigenhändig geschriebenen Kataloge. Das jetzige Bibliothekgebäude wurde 1708 vom Herzog Anton Ulrich erbaut, auf dem ersten Absatze des schönen Treppenhauses [110] steht das anfangs auf dem Schloßplatze aufgestellte Denkmal Lessing’s aus blauem Blankenburger Marmor, mit Lessing’s Büste daran und den Inschriften:

G. E. Lessing, Weiser, Dichter, Deutschlands Stolz –

einst der Musen und seiner Freunde Liebling.

Ihm errichteten dieses Denkmal einige seiner dankbaren Zeitgenossen.

MDCCLXXXXV.

Es war dieses lange Zeit das einzige äußerliche Zeichen dankbarer Erinnerung an den größesten Mann, den Braunschweig auszuweisen hat, bis ihm 1853 das „deutsche Vaterland“ durch Aufstellung der herrlichen Bronzestatue von Rietschel auf dem neu getauften Lessingsplatze in Braunschweig ein würdigeres Denkmal errichtete. Unter den auf der Bibliothek aufbewahrten Autographen Lessing’s befindet sich auch das saubere Manuscript des von ihm bearbeiteten, aber ungedruckten alten Heldengedichtes „der Renner“, dabei verschiedene Bücher aus seiner Handbibliothek, mit fleißig an den Rand geschriebenen Bemerkungen; ein eigenhändiger Brief von ihm hängt eingerahmt neben einem gleichen Luther’s an den Kurfürsten von Sachsen in einem Cabinete. – Neben der Bibliothek, mit einem grünen Rasenplatze und einigen schönen, alten Linden vor der Thür, steht Lessing’s ehemalige Wohnung. Das Gebäude ist einstöckig, aber ziemlich geräumig und hat zwei nach dem Platze auslaufende Flügel, der dazwischen liegende gepflasterte Hof ist nach der Straße zu durch ein hölzernes Gitter mit einer Thür abgeschlossen. Das Haus hat, bis auf die Neutapezierung einiger Zimmer, seit des großen Mannes Tode gar keine Veränderung erlitten; anfangs bewohnte er das rechts vom Eingange gelegene freundliche Zimmer mit einem Cabinet dahinter und mit der Aussicht auf den Schloßplatz, nach dem Tode seiner Frau aber bezog er das einsame Stübchen nach dem Garten hinaus, worin diese gestorben war; hier schrieb er den „Nathan“ – wobei ihm ein freundlich an ihn attachirtes Hauskätzchen, das schnurrend auf dem Schreibtische lag, Gesellschaft zu leisten pflegte. – Der im Mittelgebäude befindliche Gartensaal ist noch ganz im Geschmack jener Tage decorirt, einige steinerne Stufen führen von dort in ein hinter dem Hause liegendes und auch das Bibliothekgebäude mit einschließendes Gärtchen, das noch einige alte Bäume hat, in deren Schatten Lessing einst mit Gleim, Jacobi, Klopstock und andern von Zeit zu Zeit bei ihm einkehrenden Freunden wandelte.

Lessing starb, wie bekannt, nicht in diesem Hause, welches immer noch Dienstwohnung des herzoglichen Bibliothekars ist, sondern in seinem gewöhnlichen Absteigequartier im ersten Stock des Angott’schen Hauses am Egidien-Markt zu Braunschweig. Auf dem St. Magni-Kirchhofe unter düstern Tannen ist sein seit einigen Jahren reich mit Blumen bepflanzes Grab, um das sich Joachim Heinrich Campe[WS 2], der Verfasser des „Robinson“, dadurch, daß er es mit einem einfachen Steine bezeichnete, das Verdienst erwarb, auch diese geweihete Stätte der Nachwelt erhalten zu haben.
C. S.




Der Letzte seines Stammes.
Novelle von Fanny Lewald.
(Fortsetzung)

Die Papiere, welche sich in meinen Händen befanden, enthielten, wie gesagt, keine fortlaufende Briefsammlung. Es scheinen gelegentlich große Zwischenräume in der Correspondenz eingetreten zu sein. Graf Rottenbuel und seine Frau wohnten der Freifrau von Thuris so nahe, daß man sich häufig sehen und deshalb des Briefwechsels entrathen konnte, und die späteren Vorgänge machen es wahrscheinlich, daß Conradine die Briefe ihres Sohnes aus jener Zeit nicht aufzubewahren für gut befand. Der erste Brief, welcher sich nach dem Schreiben Ulrich’s wieder vorfindet, ist der Brief der Gräfin an die Freifrau, aus dem Sommer 1790, welcher hier folgt.

Die Gräfin von Rottenbuel an die Freifrau von Thuris.

„Sie thun mir wirklich Unrecht, meine theuere Schwester, meine geliebte mütterliche Freundin, wenn Sie mich einer schwachen Nachgiebigkeit gegen meines Mannes Wünsche anklagen; und weil ich Ihnen dies gern auseinander setzen möchte, beste Conradine, so benutze ich die Abwesenheit Joseph’s, der nach Chur hinunter gefahren ist, um Ihnen in aller Ruhe zu erklären, was mir selbst die von meinem Manne beabsichtigte Rückkehr nach Frankreich wünschenswerth) und als etwas Zweckmäßiges erscheinen läßt.

Sie selbst, theuere Schwester, haben mich, ebenso wie mein lieber verstorbener Vater, dazu angehalten, mich bei den Ereignissen nicht zu beunruhigen, sondern ihren Ursachen nachzuforschen.

Das habe ich denn auch in unserm Falle gethan, und ich finde es seitdem sehr natürlich, daß mein Mann sich in ein bewegteres Leben, in eine angeregte Geselligkeit und in den Wirkungskreis zurücksehnt, in welchem er sich bis zu seiner Heimkehr in die Schweiz stets wohl befunden hat.

Sehen Sie, liebe Conradine! Joseph ist als Militair erzogen, ist in Paris in der glänzenden Gesellschaft des Hofes aufgewachsen, und Sie wissen das ja selbst, er hat niemals aus freiem Antriebe daran gedacht, das Dasein eines Landedelmannes zu führen.

Es waren Ihre Vorstellungen – und auch nicht einmal diese – es war das Duell und die Herzzerrissenheit, die ihn zu uns nach Graubünden brachten, und ich segne für mein Theil die Stunde, in welcher sein Fuß unser Land betrat, von ganzem Herzen und an jedem Tage.

Meines Mannes Seele ist aber jetzt längst genesen von seinem Zweifel an den Frauen, seine Liebe ist mir ein heiliger, unverlierbarer Besitz. Indeß unsere Ehe ist kinderlos, wir sind allein, und der Graf, an die Pariser Geselligkeit gewöhnt, findet keinen Geschmack, keine Befriedigung an dem ausschließlichen Umgang mit unsern Nachbarn und Verwandten. Die Landwirthschaft, die Jagd, der Gelderwerb, ja selbst der verhältnißmäßige Einfluß und die Macht, welche unser Besitz ihm gewährt, haben keinen Reiz für ihn, haben denselben auch nie für ihn gehabt. Er hat ja von Anfang an nicht daran gedacht, sich dauernd bei uns niederzulassen, und deshalb seinen Abschied nicht gefordert, sondern bisher nur von dem ihm bewilligten Urlaub Gebrauch gemacht.

Hätte ich, wie der Graf, meine Jugend in der großen Welt zugebracht, so würde er sich vielleicht mit mir zusammen leichter an diese Zurückgezogenheit gewöhnen. Gemeinschaftliche Erinnerungen würden den Stoff unserer Unterhaltungen vermehren, ich selbst würde besser im Stande sein, zu beurtheilen und zu ersetzen, was mein Mann entbehrt, und ist für uns in der Zukunft ein dauernder Aufenthalt in Bünden möglich, so wird er das nur dann sein, wenn wir eine Weile in Frankreich gelebt haben, und der Graf Gelegenheit gefunden haben wird, sich zu überzeugen, ob Paris und die Pariser Gesellschaft ihm jetzt noch so reizend erscheinen, als vor unserer Verheirathung, als in den Tagen, in welchen die herzlose Gesellschaft einer eiteln Frau ihn in beständiger Aufregung erhielt.

Gewiß, meine theure Conradine! Sie machen sich unnöthige Sorge um mich, um uns, und könnten mit dieser vielleicht grade dasjenige hervorrufen, was Sie zu vermeiden wünschen; Sie könnten Joseph und mich an der Liebe zweifeln machen, die uns zu unserm Glücke verbindet.

Sehe ich aber ganz von mir und ihm, von unserer Liebe und unseren häuslichen und ehelichen Verhältnissen ab, so muß ich meinem Manne darin beipflichten, daß es, wie die Lage der Dinge sich in Frankreich gestaltet, jetzt für ihn eine Ehrensache ist, seinen Dienst wieder anzutreten und auf seinen Posten zurückzukehren. Die Angelegenheiten werden in Paris immer verwickelter, der König hat sicherlich die Nähe seiner Treuen nöthig; wenn ich daher vielleicht auch wünschen könnte, daß Joseph niemals unter den Schweizern gedient hätte, so vermag ich jetzt doch nicht, ihn von der Erfüllung einer doppelten Ehrenpflicht zurückzuhalten, und es freut ihn, daß wir auch in diesem Punkte uns so ganz in Uebereinstimmung befinden.

Kurz, meine theure Freundin, Sie sehen, ich bin entschlossen, und Sie werden sich hoffentlich in nicht zu ferner Zeit überzeugen, [111] daß ich diesmal das Richtige für uns treffe. Beruhigt sich die Aufregung in Frankreich, so werde ich dann selbst den Grafen bitten, seinen Abschied zu fordern.

Meine Neugier und meine Lust, doch auch ein wenig von der Welt zu sehen, werden übrigens sicher Befriedigung durch unsere Reise erhalten. Ich werde, wie ich hoffe, auch eine sehr elegante Dame werden, und wenn ich das zufällige Glück haben sollte, dem Grafen mit meiner Person in der Gesellschaft einigermaßen Ehre zu machen, so wird das – ich kenne ihn darauf – meinen Werth in seinen Augen nicht verringern. Da können Sie an diesen letzten Aeußerungen gleich gewahren, wie schon der bloße Gedanke an Paris den Menschen umgestaltet. Es muß etwas Bezauberndes in sich schließen, dieses Paris! – Hat doch auch der gute Ulrich mit all’ seiner Liebe für sein Vaterland es bei uns nur wenig Monate ausgehalten, und sich schnell wieder nach dem blendenden Lichte der Hauptstadt hingewendet, an dem ich nun auch – mir die Flügel verbrennen gehen will.

Ich umarme Sie und küsse Ihnen die Hand! Glauben Sie mir, meine theure Schwägerin, daß ich es nie vergesse, welche liebevolle Erzieherin und Führerin Sie mir gewesen sind, und nun fassen Sie guten Muth, wie ich selbst ihn habe. Joseph muß durchaus wieder froh und heiter werden. Hier bleiben und ihn so oft niedergeschlagen und mißmuthig sehen, das geht über meine Kraft. – Von Herzen Ihre Ihnen ganz ergebene
Veronika, Gräfin von Rottenbuel.“ 


Die Gräfin von Rottenbuel an die Freifrau von Thuris.
„Paris, den 20. October 1790. 

„Meine verehrte Schwägerin! Wir sind vor drei Wochen grade an dem Tage hier angekommen, an welchem unser verehrter Landsmann Herr Necker, müde der Leitung eines Schiffes, das vom wilden Strudel erfaßt ist, abermals sein Amt niederlegte, um sich auf seine Besitzungen in seine und unsere Heimath zurückzuziehen; und ich habe Ihnen noch nicht geschrieben, meine Freundin, weil ich Mühe habe, mich und meine Gedanken in dem Sturme zurecht zu finden, der mich umgiebt.

Ich komme zum ersten Male in eine große Stadt und finde ihre sämmtlichen Verhältnisse wie aufgelöst, ich komme an den Hof, in dessen Sonnenstrahlen Alles sich drängte, und finde, daß seine treuesten Anhänger sich von demselben zurückziehen, ich sehe zum ersten Male einen König, einen edeln, sanften, guten König, und er steht fruchtlos kämpfend einer Gewalt gegenüber, die stärker ist, als er, und die mit jedem Erfolge, den sie erringt, und mit jeder Niederlage, welche das Königthum erleidet, sich ihrer Macht deutlicher bewußt wird. Eine Reihe von Vorstellungen drängten sich mir hier bei meiner Ankunft auf, die eben so schnell durch die Erfahrung weniger Wochen als Truggebilde vor meinen Augen in ihr Nichts versanken.

Ich hatte geglaubt, hier in Paris die Verehrung des Königthums verstehen und theilen zu lernen, und denke jetzt nur mit um so größerer Liebe an die Verfassung in der Heimath. Wie schön war es, wenn das Vertrauen seiner Mitbürger meinem Vater die Verwaltung und Leitung der gemeinsamen Angelegenheiten übertrug! Wie anders erscheint uns die Herrschaft der freien Uebereinkunft, wenn man sie mit der Alleinherrschaft vergleicht, gegen welche hier ein ganzes Volk in Waffen steht, und die zu vertheidigen und aufrecht zu erhalten, grade dem gütigsten und schuldlosesten der Könige auferlegt wird. Während ein König meine ganze Neigung und Verehrung gewinnt, lerne ich die Bürde der Krone und die Verantwortlichkeit ihres Trägers als eine schwere Last erkennen, und während Sie mit Recht erwarten, daß ich Ihnen Kunde gebe von dem Eindruck, welchen Paris auf mich macht, und Nachricht von unserm persönlichen Ergehen, spreche ich Ihnen von dem Allgemeinen. Aber die Aufregung ist hier so groß, die Gefahr für Alle so drohend, daß man es verlernt, an sich selbst und an seine eigenen Angelegenheiten wie an etwas besonders Wichtiges zu denken.

Nach dem, was ich Ihnen bisher gesagt, werden Sie sich denken können, wie gnädig mein Mann von den Majestäten aufgenommen worden ist. Die Herrschaften haben so viel Untreue und Verrath zu dulden, daß die Treue und Anhänglichkeit ihnen schätzenswerther als vielleicht zuvor erscheinen, und der König hat dem Grafen gleich nach dessen Ankunft die Stelle eines Obristen verliehen, welche eben durch den plötzlichen Tod ihres Inhabers erledigt worden war.

Joseph sieht schön aus in seiner Uniform und noch schöner in der sichtlichen Zufriedenheit, die ihn erfüllt. Seine Züge sind wieder fest, sein Auge hell, sein Mund hat das stolze Lächeln wieder gefunden, und da ein Theil der Gnade, welche die Majestäten ihm beweisen, auch auf mich zurückfällt und man ihn versichert, daß ich – – nun, lachen Sie mich immer aus, liebe Conradine, daß ich schön sei, so scheint er sich auch wieder darauf zu besinnen, daß er mich selbst einst schön genannt hat, und das abgespannte, melancholische Lächeln, das nur in Rottenbuel so oft das Herz beschwerte, ist wie aus seinem Antlitze entschwunden. Er hat Vergnügen daran, mich zu schmücken, und ich selbst finde hier am Hofe den Schmuck ein heiteres Ding. Er hat Behagen daran, seine Freunde in seinem schönen Hause zu empfangen, und der Reichthum erscheint mir hier, wo man ihn so angenehm verwerthen kann, ein weit größerer Vorzug als in Rottenbuel oder in meinem lieben stillen Gunta. Kurz, ich bin sehr zufrieden mit Paris und mit meinem Eintritt in die mir neue Welt, wenn schon mir dabei das schöne Wort einfällt, das unser Ahn in Gunta über unser Portal hat meißeln lassen: „Herr, segne meinen Eingang und meinen Ausgang!“

Was nun, um Ihnen, theure Freundin, Alles zu beichten, die schöne Marquise anbetrifft, so habe ich sie schon zum öftern gesehen, und sehr schön ist sie wirklich; aber sie hat jetzt Anderes zu thun, als einen treuen Obristen der Schweizergarden in ihr Liebesnetz zu locken, da derselbe auch gar keine Neigung zeigt, sich wieder einfangen zu lassen. Sie hat jetzt, wie mir scheint, höhere Ziele und eine schwerere und lohnendere Aufgabe für sich gefunden.

Sie genießt das Vertrauen und die Gunst der Königin und ist, aus Ergebenheit für diese und für das Königthum, auf das Eifrigste bestrebt, den glänzenden und flatterhaften Grafen von Mirabeau zu fesseln. Es muß eine gar beneidenswerthe Aufgabe für die ehrgeizige Schöne sein, dem allgemeinen Besten und den eigenen Wünschen so gleichzeitig dienen zu können – und damit ich’s Ihnen gestehe, es ist mir nicht eben unlieb, daß mein Mann es sieht, wie sehr die Marquise sich selbst nur ein Mittel für ihre Zwecke ist.

Ehe noch Joseph mich ihr vorstellen konnte, kam sie an dem ersten Abende, an welchem ich bei Hofe präsentirt ward, mit lebhafter Freundlichkeit mir entgegen. „Ich bin Ihnen sicherlich keine Fremde,“ sagte sie, „und ich will hoffen, Frau Gräfin, daß der Graf Ihnen von mir im Sinne der vieljährigen Freundschaft gesprochen hat, die uns verbunden, ehe ein schmerzlicher Mißklang sie zu stören kam. Aber das liegt fern hinter uns, und mich dünkt, wir Alle, die wir das Blut des wahren Adels in uns fühlen, haben jetzt nur die eine Aufgabe, Freunde zu sein und uns als solche um das geliebte, so schwer gekränkte Königspaar zu schaaren. Ihre Hand darauf, meine theure Gräfin!“

Es kam mir vor, als habe sie sich diese Anrede im Voraus überlegt, und die Marquise erschien mir nicht eben wahrhaft oder edel, während sie dieselbe sprach; auch dem Grafen mißfiel sie, und als sie diesem mit den Worten: soyons amis, Cinna! lächelnd die Hand zum Kusse reichte, sah ich, daß er eine Art von Scham empfand, sie nicht würdiger vor mir dastehen zu sehen – und – nun, nennen Sie es immer eine Anwandlung beruhigter Eifersucht – ich wußte es der Marquise Dank, daß sie sich selbst entthronte. – Joseph war sehr kalt gegen sie, und trotz der Schminke, die sie trug, bemerkte ich, daß sie die Farbe wechselte. Sie verließ uns dann auch bald, und meines Mannes Blick und Händedruck verriethen mir, daß – ich wohl gethan, hierher zu gehen.

So viel von uns, theuere Schwägerin! Ulrich ist wohl und ist ein gar schöner, schöner Mann geworden, stark und kräftig, wie es Ihrem Sohne zukommt! Ich sage ihm täglich, daß er nach Hause gehen müsse, daß er Sie nicht allein lassen dürfe, und ich bringe Ihnen damit ein großes Opfer, denn Joseph ist durch seinen Dienst so vielfach hingenommen, und wenn ich einsam bin, kommt mir die Stadt mit ihren langen Straßen, mit ihren hohen Häusern unheimlich vor. Ich sehne mich nach einem Blick in’s Freie, und das Herz wird mir schwer, wenn ich in die Stille unseres Hofes und Gartens den Wiederhall eines jener Volksaufläufe zu mir dringen höre, von denen kaum ein Tag oder eine Nacht ganz frei ist. Ulrich’s Nähe ist mir dann ein großer Trost.

Er schafft mir sichere Kunde von dem, was draußen vorgeht, er sagt mir die Wahrheit, wo Andere mich nur zu beruhigen streben; und ich habe hier fast an jedem Tage die Gelegenheit, es an der Todesangst meines Herzens zu ermessen, wie mein Leben an dem [112] Leben meines Gatten hängt. O! mich dünkt, wer noch nicht für seine Liebe gezittert hat, weiß noch nicht, wie sehr er lieben kann, und wie sehr er liebt.

Die Schweizergarden haben jetzt einen schweren Dienst, sie üben ihn mit grenzenloser Hingebung; aber ich werde den innern Zwiespalt darüber nicht los, daß Joseph einer Sache dient, die nicht die seine ist, daß er sein Leben daran setzt, eine Verfassung und Zustände aufrecht erhalten und vertheidigen zu helfen, die er in seinem Vaterlande nicht eingeführt zu sehen wünschen würde. Ich bewundere, ich ehre sein starkes Pflichtgefühl, und beklage doch den Tag, an welchem der erste Schweizer jemals fremde Dienste nahm. O! Sie haben sehr wohl daran gethan, theuere Conradine, daß Sie Ulrich vor diesem Dilemma bewahrten, daß Sie ihn einen freien Mann bleiben ließen – denn seine Freiheit ist jetzt ein Glück für ihn, für Sie und, so lange er noch hier bei uns bleibt, auch für mich.

Indeß ich versichere Ihnen und verspreche Ihnen, daß ich nicht egoistisch sein und ihn nicht halten werde.“


Die Freifrau von Thuris an ihren Sohn.
„Thuris, den 30. Mai 1791. 

„Dein Brief, mein Sohn, hat mich bekümmert, ohne mich zu überraschen. Da Du meiner Bitte nicht Gehör gabst, Paris vor Ankunft Deines Onkels und Deiner Tante zu verlassen, war ich sicher, daß Du für’s Erste überhaupt nicht nach Hause kommen würdest, und ich mache die Erfahrung, daß das Alter und seine Einsamkeit und seine Sorgen sich mir nähern und früher an mich herantreten, als ich es naturgemäß erwarten müßte.

Da beschleicht dann wohl der Zweifel an dem eigenen Thun und an der Nichtigkeit meines Handelns gelegentlich mein Herz, und ich habe mich in den letzten Monaten je bisweilen gefragt, was ich für mein eigenes Glück und für das Glück der Menschen, die ich liebe, mit meinem Festhalten an meinen Ueberzeugungen und an den Principien Deines Vaters gewonnen habe.

Ich komme mir denn in meiner Zurückgezogenheit wie eine jener unglücklichen Sibyllen vor, die in einsamem Felsgebirg, den Blick auf ihren geheimnißvollen Krystall gerichtet, das Nahe und das Ferne, das Gegenwärtige und das Zukünftige an ihrem Auge vorüberziehen sehen, und die trotz der vollen Erkenntniß des Unheils, das heraufsteigt, mit ihren Warnungen und Beschwörungen das Unglück nicht verhindern können, sich zu vollziehen.

Du schreibst nicht, Ulrich! Wie soll ich mir das deuten? Auch Dein Onkel und Deine Tante schweigen, und doch müßt Ihr mir nachempfinden können, wie jede Kunde, die aus Frankreich, aus Paris hieher zu mir gelangt, meine Sorge um Euch Alle steigert. Ihr müßt mit Euch selbst gar sehr beschäftigt, Ihr müßt von den Ereignissen, die Euch umgeben, sehr hingenommen und verwirrt sein, daß Ihr meiner ganz vergessen und meine Unruhe als ein Unwesentliches betrachten könnt.

Ulrich, höre mich, wie fern ich Dir auch sein möge! Du stehst an einem Abgrund, der Dich zu verschlingen droht – wende ihm den Rücken. Was hast Du, der freie Mann, zu suchen in dem tobenden Kampfe, der in Frankreichs Hauptstadt die Parteien wild und maßlos an einander hetzt? Hier ist Dein Platz, denn hieher ruft Dich Deine Pflicht. Oder glaubst Du, der Kampf der Parteien klinge hier nicht nach, bedrohe nicht auch uns, unsere Herrschaft, unseren Besitz? – Auch hier ist Unzufriedenheit, auch hier droht uns wilde Forderung und Umsturz; und es ist vielleicht jetzt noch an der Zeit, durch maßvolles Gewähren ungemessenem Verlangen entgegen zu treten. Kehre heim! Die Aristokratie muß sich verbinden, sich einigen und gemeinsam handeln, ehe das Volk sich geeinigt ihr entgegen stellt. O, daß Dein Vater, und daß der kluge Gunta noch am Leben wären! daß Du den Sinn hättest, mir zu folgen, und den Ehrgeiz, versöhnend ihre Stelle einzunehmen!

Was willst Du in Paris? was willst Du in der Nähe Deiner Tante? – Deiner Tante, die Du liebst!

Kehre heim, Ulrich! Arbeit wird Dir zu Hülfe kommen. Ich will versuchen, Dir die Heimath lieb zu machen – leide ich doch genug durch den Kummer unserer Veronika, den sie mir vergebens zu verbergen sucht. Veronika ist unglücklich – und wie fest hatte ich ihr und meines Bruders Glück durch die Verbindung dieser Beiden zu sichern gewähnt! Der kurzsichtige Mensch sollte darauf verzichten, das Schicksal seiner Geliebtesten leiten zu wollen, und doch kann mein Mutterherz es sich nicht versagen, dem einzigen Sohne zuzurufen: mißtraue Dir und kehre zu mir zurück!“

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.


Rettungsstationen. Mit Bezug auf den Artikel: „die Rettungsstationen an den deutschen Küsten“ empfangen wir nachstehende Mittheilung: Am 27. und 30. Dec. v. J. fanden die ersten Probefahrten mit dem auf der Insel Langeroog stationirten Rettungsboote statt, und zwar mit günstigem Erfolge. Die zweite Rettungsstation auf der Insel Juist ist ebenfalls eröffnet, und auch zur Etablirung der übrigen Stationen auf Baltrum und Spiekeroog hofft der Verein bald im Stande zu sein.

Die großen Vortheile, welche dieses Institut bringen wird, könnten aber noch vermehrt werden, wenn man eine andere, durchaus nicht schwierige Einrichtung treffen wollte. Wenn nämlich ein Schiff an einer Küste strandet, die mit Rettungsstationen versehen ist, so dauert es doch in der Regel lange, bis die Apparate, in Sturm und Nacht vielleicht, zur Stelle geschafft sind. So sahen wir vor einigen Jahren mehrere Hundert Auswanderer an der amerikanischen Küste zu Grunde gehen. An den meisten Küsten sind aber noch gar keine Stationen. Diesem Uebel ist leicht abzuhelfen, wenn jedes Schiff seinen Apparat an Bord hat. Ein Geschütz ist ja ohnehin da, Tauwerk auch, ein Korb, allenfalls mit Korkabfällen gefüttert, damit er beim Eintauchen in’s Meer nicht untersinkt, ist leicht beschafft. So wird aller Verzug vermieden, der Schuß vom Schiff auf’s Land ist sicherer als umgekehrt, der Seewind begünstigt ihn meistentheils, und es bedarf keiner großen Mittel, um die Sache in’s Leben zu rufen.

Warum sieht nun die Behörde, die, um ihren Hafen in gutem Renommé zu halten, jedes Auswandererschiff visitirt, nicht darauf, daß wenigstens diese und andere Passagierfahrzeuge einen Rettungsapparat haben? warum drängt nicht Publicum und Auswanderer darauf, daß es geschieht? Es ist, man sollte es kaum glauben, der allerdings den Sorglosen und Fahrlässigen sehr bequeme Aberglaube, daß jeder Rettungsapparat dem Schiff unfehlbar Unglück bringt!!

Sie können nichts der Sache Nützlicheres thun, als diesen Aberglauben ausrotten helfen. D.     



Kleiner Briefkasten.

H. B. in Graditz. „Drei merkwürdige Jahre und der November“ – recht hübsch für Liebhaber von Zahlen und Namen, aber zu unerquicklich für die Gartenlaube. – Hinsichtlich Rob. Schumann’s ablehnender Dank. Manuscript zur Disposition.

Wilhelm Bauer und „die unterseeischen Kameele“ betreffend. Unser Artikel: „Ein deutscher Erfinder“ hatte die erfreuliche Folge, daß sofort werkthätige Theilnahme sich für ihn kund gab. Es trafen folgende Sendungen für ihn ein:

Von einem armen Bergmann in Halle a. d. S. (wie bereits berichtet) 15 Sgr. – Von einem Landmann aus dem Oderbruch (Postzeichen Wrietzen) 20 Thlr. – Von dem „Arbeiterverein“ zu Frankfurt a. M. (als erste Sendung bezeichnet) 2 Thlr.

In Folge der Veröffentlichung unsers Artikels über die neue Schiffhebung durch die unterseeischen Kameele und die Taucherkammer kamen ohne eine besondere Aufforderung unsererseits zur Anstellung von Sammlungen – folgende Sendungen und Zuschriften:

Von Eimbeck (wo sich schon eine halbe Stunde nach dem Eintreffen der „Gartenlaube“ eine Gesellschaft gebildet hatte, um von jedem Leser je 3 Sgr. einzusammeln, als erste Gabe) 6 Thlr. – „Deutschem Fleiße ein Scherflein zur Nacheiferung von einigen Lesern der Gartenlaube in Dessau“ 1 Thlr – Aus Chemnitz (gesammelt im Stern und im blauen Engel für den Erfinder des unterseeischen Schiffs, als erste Gabe) 10 Thlr. – Von Mecklenburg in Berlin 1 Thlr. – Von Wanda Emmel in Stenszewo 1 Thlr. – Von Koch in Nossen 1 Thlr. – Von Waldem. Astor in Rennersdorf 1 Thlr. – Durch Herrn H. Rösler in Krieblowitz (von fünf Gartenl.-Lesern) 15 Sgr. – Einige der Ackerbauschüler zu Riesenrodt 1 Thlr.

Die in derselben Angelegenheit eingegangenen Briefe aus Pömmelte und Swinemünde werden besonders beantwortet.

E. W. P. in Meißen. Ihr Wunsch, daß die Sortimentshandlungen die Sammlungen für Bauer’s Schiffhebung in die Hand nehmen, müssen wir uns noch überlegen.

Otto Wolke. Für „die Reise nach dem Harz“ sammt lyrischem Anhang bitten wir um nähere Adresse zur Zurücksendung.

Der Wunderarzt. Nicht zum Abdruck geeignet.

H. in K. St. „Das Ende eines kleinen Königreichs“. – Zu oft und besser schon geschildert und deshalb unbrauchbar.

N. N. Ihr Artikel: „Blondin im Krystallpalast zu Sydenham“ eignet sich nicht für die Gartenlaube.

Einige Freunde des Seidenbaus. Soll geschehen.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Ekherlin
  2. Vorlage: Johann