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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 8.   1862.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. 0Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Letzte seines Stammes.
Novelle von Fanny Lewald.
(Fortsetzung)


Graf Rottenbuel an seine Schwester.
„Paris, den 26. Juni 1791. 

„Theure Conradine! gieb Ordre, daß man in Rottenbuel die Zimmer Veronika’s zu ihrem Empfange in Bereitschaft halte, denn ich stehe auf dem Punkte, meine Frau nach Hause zu schicken. Paris ist jetzt kein Aufenthalt für Frauen. Die letzten Tage haben es mir furchtbar klar gemacht, welchen Irrthum ich begangen, als ich Veronika’s Bitten nachgegeben und sie mit mir nach Frankreich genommen habe.

Der König hat am zwanzigsten mit seiner Familie einen Fluchtversuch gemacht, der nicht gelungen ist. Die Wuth des Volkes droht alle Schranken zu übersteigen. Nur durch ein Wunder entging der Marquis von Lafayette an dem Tage, an welchem man die Flucht des Königs in Paris erfuhr, dem Tode, als er zur Beruhigung des Volkes auf dem Greveplatz erschien.

Seit gestern, seit man den König, der sonst so jubelnd in Paris empfangen wurde, wie einen Missethäter auf Umwegen in die Hauptstadt zurückgebracht hat, herrscht ein Schweigen, das mir furchtbarer erscheint, als selbst das Tosen der Volkswuth. Eine doppelte Reihe von Nationalgarden, nicht wir, die Schweizerregimenter, mußten den Weg des Königs von den elyseischen Feldern nach den Tuilerien beschützen. Der König ist in den Händen des ihm feindlichen Volkes und darf sich kaum mehr seinen bisherigen Dienern und Vertheidigern anvertrauen, ohne die Volkswuth wach zu rufen. Kein glückwünschender Zuruf begrüßte den König, kein Hut wurde vor ihm abgenommen – die treuen Gardes du Corps, welche auf dem Wagen des Königs saßen, sind von dem Volke in das Gefängniß geführt. – Die Sache des Königs ist abgeurtheilt und verloren in Paris, und der Haß gegen das Königshaus und gegen seine Anhänger wächst mit jedem Tage.

Es erhebt mich, der Volkswuth mich entgegenzustellen, mich der Aristokratie auf das Engste anzuschließen und in ihren Rechten nicht nur die legitime Herrschaft in Frankreich, sondern auch unsere eigene Herrschaft in Bünden zu vertheidigen und aufrecht erhalten zu helfen. Das Königthum und die Aristokratie sind solidarisch unter einander verbunden durch die ganze Welt, und in der Verfassung von Graubünden, die dem Niedriggebornen ungebührlich viel Raum ließ, ist es mir nie wohl gewesen. Ist der Adel des Blutes ein Vorzug, was Du selbst nicht bestreiten kannst, so muß er nicht nur rein erhalten werden, sondern mit seinem angestammten Blute auch seine angestammten Rechte zu erhalten wissen, und so lange mein Blut in meinen Adern fließt, werde ich dies thun. Ich fühle mich wohl in der Aussicht des Kampfes, der uns hier sicherlich bevorsteht, aber ich mag Veronika, welche diese Ansichten nicht mit mir theilt, nicht in mein Schicksal verflechten, und Du hast Recht, meine Schwester, daß Du auch Deinen Sohn zurückrufst. Ulrich wird, ich hoffe es, Veronika begleiten, und Ihr werdet es vielleicht über Euch vermögen, einst die Rechte, die uns von unsern Vätern überkommen sind, mit dem Bauer und dem Bürger friedlich zu theilen. Ihr werdet es vielleicht erlernen, ehrbar bescheidene Bürger zu werden und es zu vergessen, daß Ihr Edelleute seid und welches Blut in Euren Adern fließt. Ich kann und werde das nicht.

Mein Platz ist hier unter denen, die meine Gesinnung theilen, die eines Herzens und eines Sinnes mit mir sind, so Mann wie Weib. Ich lebe und sterbe mit der Sache, die die meine ist – und die ich vertheidigen werde bis zum letzten Athemzuge, wenn schon der Sohn und der Erbe mir versagt ist, für den ich die Prärogative unseres Standes zu erhalten wünschte. – Es sind schwere Tage, Conradine, in denen wir leben, und es ist ein Schmerz für mich, daß meine Frau nicht empfindet wie ich, daß ich allein stehe in meinem Hause und in meiner Blutsverwandtschaft. Ich empfinde das tief und habe dem Schicksal zu danken, daß ich wenigstens meine alten Freunde hier unverändert wiedergefunden habe.“




Die Briefe, welche sich der Zeitfolge nach diesem Schreiben des Grafen Joseph anschließen mußten, fanden sich nicht vor, indeß die Mittheilungen, welche Jungfer Ursula von ihrer Mutter erhalten hatte[WS 1], ergänzten das Fehlende und hatten den Vorzug, im Zusammenhange darzubieten, was die Schreiber jener Briefe in denselben, als sie sie schrieben, noch zu verschweigen nothwendig gefunden hatten. Nur der Anfang eines Briefes von der Gräfin von Rottenbuel an ihre Schwägerin lag noch in der Sammlung, und er hatte offenbar eine schmerzliche Herzensergießung beginnen sollen, welche die Gräfin dann bereut und aufgegeben hatte. Sie klagte sich in den ersten Zeilen der Verblendung an, mit welcher sie sich dem Rathe ihrer erfahrenen und weisen Schwägerin widersetzt und in die Uebersiedelung nach Frankreich gewilligt hatte, und bekannte, daß jene Heiterkeit, in der sie der Freifrau von Thuris nach dem ersten Begegnen mit der Marquise von Vieillemarin geschrieben, ihr nicht natürlich gewesen sei, daß sie vielmehr gleich damals das Herz voll böser Ahnungen gehabt habe, die sie sich nicht eingestehen mögen, weil es ihr unwürdig gedäucht, an dem [114] Worte und an der Treue ihres Gatten, oder gar an seiner Liebe für sie zu zweifeln.

Die Gräfin hatte eine innere Wahrhaftigkeit, welche es ihr fast unmöglich machte, an den Selbstbetrug in dem Herzen eines Anderen zu glauben. Solche Naturen sind edel, aber meist auch einseitig und streng, und ihre ernste Pflichterfüllung erschreckt und drückt denjenigen, welcher sich derselben nicht in gleichem Grade fähig fühlt.

Veronika war in dem festen Glauben an die Liebe ihres Gemahls, an eine unauflösliche Zusammengehörigkeit mit ihr nach Frankreich gekommen, aber es fiel ihr gleich Anfangs auf, wie sehr der bloße Eintritt in die alten Lebenskreise den Grafen veränderte, und wie das Leben in einem andern Lande und unter einem andern, ihr fremden Volke sich unmerklich und doch störend zwischen sie und ihren Gatten stellte. Veronika war des Französischen, wie damals jeder Wohlerzogene, völlig mächtig, indeß man hatte in ihrem Vaterhause nur deutsch gesprochen, sie hatte diese Gewohnheit auch in ihr eigenes Haus übertragen, und sie liebte ihre Muttersprache. Daß sie in der Gesellschaft französisch reden müsse, verstand sich von selbst; aber es that ihr leid, daß Graf Joseph sich des Deutschen völlig entäußerte, sobald sie den Boden Frankreichs betreten hatten, ja daß er ihr eingestand, er fühle sich mehr er selbst, er fühle sich freier und belebter, wenn er französisch reden könne. Daß dies der Fall sei, konnte sie gewahren, aber wer verzichtet gern auf den Klang der Sprache, in welcher er von geliebtem Munde die ersten Liebesworte sprechen hörte, und wer giebt es gern auf, sein volles Herz in die ihm angeborene Muttersprache zu ergießen?

Es war der Gräfin, als habe sich plötzlich eine unsichtbare Schranke zwischen ihr und ihrem Gatten aufgebaut, und selbst das Wohlgefallen, das Graf Joseph an den Huldigungen zu haben schien, mit denen man seine junge Frau empfing, vermochten ihr jene peinliche Empfindung nicht zu nehmen. Dazu hatte gleich das erste Zusammentreffen mit der Marquise die Gräfin erschreckt, denn dem aufmerksamen Auge Veronika’s war der böse und spöttische Blick nicht entgangen, mit welchem die Marquise sie betrachtete, und die Zuvorkommenheit derselben hatte das Gepräge einer so stolzen und sichern Zuversicht in sich getragen, daß Veronika erkannte, welche Macht Franziska in der freien Sicherheit der Weltgewandtheit vor ihr voraus hatte.

Veronika’s ruhige Seelenfreiheit hatte in des Grafen Augen stets ihren größten Reiz gebildet, und diese Freiheit ging ihr bald verloren. Sie war nicht eitel, sondern sehr bescheiden, und aufzufallen war ihr kein Genuß. Die gute Laune, mit welcher sie sich vor der Freifrau von Thuns ihrer Erfolge am Hofe gerühmt, war daher nur wie das laute Singen gewesen, mit welchem ein furchtsames Kind sich auf unbekanntem und einsamem Wege Muth zu machen sucht. Sie hielt sich selbst geflissentlich die Mittel vor, welche ihr zu Gebote standen, aber damit sie sich dazu entschloß, mußte ihr schon die Befürchtung gekommen sein, daß sie in die Lage gerathen könne, diese Mittel zu ihrer Vertheidigung zu gebrauchen.

Leider betrog diese Ahnung ihres Herzens sie nicht. Die Marquise hatte die eitle Unersättlichkeit der Herrschsucht. Je mehr sie erlangt hatte, um so mehr wollte sie erlangen, und die Umstände waren ihrem Ehrgeiz auf das Unerwartetste entgegengekommen.

Trotz aller Bitten der Königin hatte die Herzogin sich bei dem Beginne der Adelsauswanderung derselben angeschlossen und gleichzeitig mit dem Grafen von Artois Frankreich verlassen. Die Königin, welche sich auf diese Weise ihres nächsten Umgangskreises und ihrer eigentlichen Vertrauten und Rathgeber beraubt gefunden, hatte sich eine neue Umgebung bilden müssen, und die Marquise, welche weniger zu verlieren und mehr zu gewinnen hatte, als ihr Verehrer, der Graf von Artois, und ihre Cousine, die Herzogin, hatte es mit kluger Berechnung vorgezogen, auf einem Posten zu bleiben, der ihr, wie immer die Verhältnisse sich auch gestalten mochten, nur Vortheile zu versprechen schien. Triumphire das Königthum, so mußte das treue Ausharren der Marquise in den Augen der Königin den Sieg über die Herzogin davontragen, und sollte, was man damals in der Nähe der Königin noch für unmöglich hielt, die Macht des Volkes das Uebergewicht erlangen und das Königspaar selbst zu einer zeitweiligen Entfernung aus seinem Reiche genöthigt werden, das mit Hülfe der befreundeten Mächte wieder erobern zu können, man sich gewiß glaubte, so konnte die Marquise selbst gegen den Grafen von Artois, dem zu folgen sie sich geweigert hatte, ihre Treue an das Herrscherhaus als ein Zeichen ihrer allgemeinen Herzenstreue geltend machen.

Marie Antoinette hatte, so lange die Herzogin in ihrer Nähe gewesen war, wenig Neigung für die Marquise gehabt und sie richtig und streng beurtheilt. Jetzt glaubte sie ein Unrecht vergüten, eine verkannte Treue belohnen zu müssen, und die demüthige Bescheidenheit, mit welcher die Marquise die ersten Zeichen der königlichen Gunst und Zuneigung empfing, nahmen die Königin, welche Anhänglichkeit und Ergebenheit in diesen Zeiten höher noch als früher schätzen gelernt hatte, zu Gunsten der Marquise ein. Ja selbst jene Eigenschaften, welche ihr an Franziska bis dahin mißfällig gewesen waren, ließen sich jetzt mit anscheinendem Vortheil verwerthen. Die allgemeine Gefallsucht der Marquise, ihr Hang zu Intriguen brauchten nur in der zweckmäßigen Richtung geleitet zu werden, um hie und da Nutzen bringen und der Partei, welcher sie durch ihre Geburt und Stellung angehörte, vielleicht Anhänger aus den Reihen der Opposition oder doch mindestens Nachricht von den Absichten und Plänen derselben zuführen zu können. Und wann waren absolute Herrscher und deren Anhänger jemals schwierig in der Wahl der Mittel, wo es die Erreichung ihrer Zwecke galt?

Mitten in dem drohenden Umsturz, nahe vor dem Abgrunde, welcher die Monarchie zu verschlingen drohte, genoß die Marquise Selbstbefriedigungen, wie sie solcher nie zuvor theilhaftig geworden war, und da ihre Schönheit eine herausfordernde war, so machte jeder neue Erfolg sie glänzender und kühner. Mit einer Freiheit, welche sich zuzuerkennen die Herzogin zu stolz und zu sehr in ihren Vorurtheilen befangen gewesen war, bewegte die Marquise sich aus einem Gesellschaftskreise in den andern. Ueberall hatte sie Verbindungen, suchte sie sich geltend zu machen. Sie hatte es dem Hofe als ein Zeichen ihrer Treue auszulegen gewußt, daß sie sich der Auswanderung nicht angeschlossen, sie verstand es in der Gesellschaft der oppositionellen Kreise, ihr Verweilen in Frankreich als einen Beweis ihrer Zuversicht in die Möglichkeit einer friedlichen Ausgleichung der Parteien und als Zeichen der Hoffnung auf eine beruhigte Zukunft darzustellen, welche der energische Edelsinn des dritten Standes und seiner Führer über das Vaterland herauszuführen nicht ermangeln könne.

Ihr Selbstgefühl war zu der Zeit, in welcher Graf Joseph seine Gemahlin zum ersten Male bei Hofe vorstellte, auf das Höchste gestiegen. Trunken von befriedigter Eitelkeit, wie die Marquise es war, hatten die Schönheit der Gräfin und die sichtliche Genugthuung, welche die Anerkennung derselben dem Grafen bereitete, dazu hingereicht, Franziska’s Abneigung gegen die Gräfin in eine entschiedene Feindschaft zu verwandeln und ihr die Wiedereroberung des Grafen als eine Ehrensache erscheinen zu lassen. Die Gelegenheit, sich beiden Gatten zu nähern, war eine der günstigsten. Veronika war fremd in Paris, fremd in den Sitten und in der Etiquette des Hofes. Eine Frau, welche sich, wie Franziska, schon lange auf dem glatten und gefährlichen Boden desselben bewegt, konnte der Gräfin leicht nützlich werden, ihr manche Dienste leisten, manche Unbequemlichkeiten ersparen; auch Graf Joseph hatte durch seine längere Entfernung von dem Hofe und mehr noch durch die gewaltsamen Umwandlungen, welche sich in seiner Abwesenheit vollzogen, nicht mehr die alte Kenntniß der Zustände und der Personen, die ihm sonst ein sicheres Bewegen möglich gemacht, und es war mit dem Anschein offensten Freimuths, daß Franziska sich den Ankömmlingen näherte, ihnen ihre Dienste anzubieten.

Nur wenige Tage nach ihrer Vorstellung bei der Königin saß die Gräfin eines Mittags in ihrem Boudoir, als man ihr die Marquise meldete, und noch ehe sie Zeit gehabt hatte, dem Diener eine Antwort zu ertheilen, trat dieselbe bei der Gräfin ein.

„Verzeihen Sie mir, meine theuere Gräfin!“ sagte sie, „daß ich so ohne Umstände bei Ihnen erscheine. Wir, die wir unsern Gebietern treu geblieben sind, haben uns eben hier, sehr wider unsern Willen, wie ich Sie versichern kann, von denjenigen unserer Sitten lossagen müssen, welche das sogenannte Volk in seiner sogenannten Gesellschaft nicht anzuerkennen für gut befindet.“ – Sie lachte und fügte mit erkünsteltem Uebermuthe hinzu: „Kommt und geht man doch jetzt auch in den Zimmern der Majestäten mit liebenswürdiger, bürgerlicher Freiheit und Ungezwungenheit. Also Vergebung, liebe Gräfin, und sehen Sie einen Beweis der Freundschaft [115] darin, daß ich Ihnen heute gleich ganz neidlos mein neuestes Promenadencostüme vorzuführen komme.“

Sie bot Veronika dabei die Hand und warf sich dann nachlässig in eine der Bergeren, so daß ihre hübschen Füße mit den hohen Hackenschuhen sichtbar wurden, die unter dem engen Ueberrock, welcher nach der neuesten Mode einen männlichen Zuschnitt hatte und den Pelerinen-Röcken der englischen Stutzer nachgebildet war, hervorguckten. Der kleine Hut mit der stehenden und von einem Bouquet gehaltenen Feder saß ihr dabei leicht auf einer Seite des Kopfes, und sie spielte, während sie sprach, mit dem hohen Spazierstock, den auch die Damen zu tragen begonnen hatten, seit sie sich häufiger als bisher auf den öffentlichen Promenaden zu zeigen pflegten.

Die Gräfin, welche auf ihren Landsitzen in Graubünden nicht Gelegenheit gehabt hatte, das allmähliche Entstehen dieser Moden zu beobachten, fand sie in ihrer ganzen Zusammenhangslosigkeit sehr abgeschmackt, und sie mißfielen ihr doppelt durch die herausfordernde und absichtliche Uebertreibung, in welcher die Marquise sie zur Schau trug. Sie dankte derselben indeß, wie sie es mußte, für ihren Besuch, aber Franziska bemerkte es, daß sie der Gräfin nicht gefiel, und mit aller der Keckheit, welche bei ihr das Zeichen mangelnden Ehrgefühls und eines öden Herzens war, richtete sie sich ein wenig aus ihrer halb liegenden Stellung auf, faßte ihren Spazierstock in beide Hände, stellte ihn vor sich hin, und den Kopf daran lehnend, sah sie plötzlich gedankenvoll vor sich nieder, so daß die Gräfin, an das gleichmäßige Betragen würdiger Frauen gewöhnt, sich in die Weise der Marquise kaum zu finden wußte.

Als diese ihr Haupt dann erhob und ihre Augen auf die Gräfin richtete, dünkte es dieselbe, als habe sie nicht mehr jene glänzende Erscheinung vor sich, welche eben so geräuschvoll und zuversichtlich bei ihr eingetreten war. Franziska’s Stirn hatte sich verdüstert, ihr Auge bewölkt, ihre Miene drückte Trauer aus. Und sich von ihrem Platze erhebend, machte sie Anstalt sich zu entfernen.

Die Gräfin fühlte ein inneres entschiedenes Abmahnen gegen die Marquise, aber sie war in diesem Augenblick ihr Gast, und die Befürchtung, sie verletzt zu haben, gab Veronika die Frage ein, was Jene zu so eiliger Entfernung bewege. „Sie hätten nicht kommen sollen, Frau Marquise,“ sagte sie verbindlich, „wenn Sie genöthigt waren, mich augenblicklich wieder Ihre Gesellschaft entbehren zu lassen.“

Es war das eine Redeform, Franziska aber griff dieselbe auf. „Freilich, ich hätte nicht kommen sollen!“ wiederholte sie; „aber wollen Sie es mir verargen, Frau Gräfin, wenn ich des Glaubens lebte, daß die Gattin des Grafen Joseph von Rottenbuel, die Erwählte des großmüthigsten Mannes, den ich je gekannt, ihm ähnlich sein müsse in der Tugend vertrauensvoller Herzensgröße? “

Eine tiefe Röthe überzog der Gräfin Antlitz, und gelassen, wenn schon im Tone der Abwehr, entgegnete sie: „Zürnen Sie mir nicht, wenn ich diesem Anruf nicht so würdig, als ich sollte, zu begegnen vermag. Ich war –“ sie zögerte auszusprechen, was sie dachte, und während sie noch mit sich zu Rathe ging, ob sie besser thue, ihr wahres Empfinden zurück zu halten oder es kund zu geben, trat der Graf herein.

Zum ersten Male, seit Veronika ihn kannte, war seine Ankunft ihr unerwünscht. Nicht daß sie Mißtrauen oder gar Eifersucht gegen ihren Gatten in sich getragen hätte, es verdroß sie nur, der Marquise durch ihre zurückhaltende Unentschlossenheit einen Vortheil über sich eingeräumt zu haben, den Franziska mit begieriger Schnelligkeit für sich zu benutzen eilte.

„Willkommen, Graf!“ rief sie ihm entgegen, „und dreimal willkommen, obschon es eigentlich dem Gaste nicht zusteht, den Herrn des Häuser in solcher Weise zu begrüßen. Aber Sie sind mir in diesem Momente mehr als Sie selbst, Sie sind mir ein Zeichen des Himmels, denn nun bleibe ich hier!“ – Sie legte ihren Stock fort, zog ihre Handschuhe ab und setzte sich noch einmal auf ihren frühern Platz nieder, als habe sie vor, es sich für eine längere Zeit bequem zu machen. Sie beachtete dabei kaum die verbindliche Begrüßung des Grafen oder das Erstaunen seiner Frau. Sie schien nur mit sich selbst beschäftigt, von einer Gedankenreihe hingenommen, für deren Mittheilung sie die rechte Form noch nicht gefunden hatte, denn sie begann zu sprechen, hielt nach den ersten Worten inne, hub dann noch einmal an, verstummte wieder und sagte darauf schnell und lebhaft, als müsse sie sich Gewalt anthun, um nicht abermals von ihrem Unternehmen zurück zu schrecken: „Als ich vorhin zu Ihnen kam, theuere Gräfin, geschah es mit einer ganz bestimmten Absicht, die auszuführen Ihr Empfang mich hinderte; und ich war eben daran, meinen Vorsatz aufzugeben, als ich mit jenem Aberglauben, um dessenwillen Sie, Graf Joseph, mich so oft verspottet haben, den Himmel anflehte, mir ein Zeichen zu geben, das mich belehrte, wofür ich mich entscheiden solle; ob ich gehen und dies Haus für immer meiden, ob ich bleiben und versuchen müsse, auf den Trümmern einer unheilvollen Vergangenheit einen Neubau und in ihm vielleicht eine Zuflucht für uns Alle aufzurichten.“

Sie hatte das mit großer Wärme gesprochen, schöpfte Athem und fügte dann mit einer freudigen Bewegung hinzu: „Sie traten ein, Graf Joseph, nun wußte ich, was mir zu thun oblag!“ und ihre Hände dem Grafen und seiner Gattin reichend, rief sie: „Ich bleibe, ja, jetzt bleibe ich!“

Wer an ein natürliches und einfaches Handeln gewöhnt ist, kommt selten in die Lage, große Erklärungen zu machen, besonders Auftritte herbei zu führen, und hat deshalb eine Abneigung gegen die billigen Gefühlserregungen, mit denen unwahre und herzlose Menschen sich ebenso vor dem eigenen Bewußtsein als vor ihrer Umgebung auszuschminken lieben. Es war daher nur eine nothwendige Folge ihrer Natur, daß Veronika sich von der Marquise an jenem Mittage noch mehr als früher zurückgestoßen fühlte, und ihre Mißempfindung wurde durch die Bemerkung nicht verringert, daß der Graf in dem Betragen von Franziska nicht eben etwas Unangemessenes oder Auffallendes zu finden schien. Er versicherte ihr mit herkömmlicher Galanterie, daß er es ihr nicht verziehen haben würde, hätte sie ihn nicht erwarten wollen, aber sie wehrte diese Zuvorkommenheit entschieden von sich ab und sagte: „Keine Unwahrheit mehr, mein theurer Freund, wo mir gar nichts obliegt, als der Gräfin die Ueberzeugung zu geben, daß Niemand Ihr Glück, mein Freund, mit größerer Genugthuung zu würdigen weiß, als eben ich, welche es einst so leichtsinnig verschmähte, die glückliche Urheberin dieses Glückes zu werden!“ – Und die Hand der Gräfin nochmals in die ihre schließend, sagte sie sanft und ernst: „Vertrauen Sie mir, meine theuere Gräfin, glauben Sie mir, daß Sie von mir, daß Sie für Ihren Frieden, für die Liebe Ihres Gatten nichts zu fürchten haben. Das Leben hat mich über meine Irrthümer furchtbar genug aufgeklärt!“

Veronika war blaß geworden, des Grafen ganze Haltung veränderte sich, auf seiner Stirn brannte das Roth des Zornes. „Es giebt Voraussetzungen, Frau Marquise,“ sagte er mit eisiger Kälte, „welche man nicht machen darf, ohne demjenigen eine Beleidigung zuzufügen, auf den sie sich beziehen. Als ich es wagte, der Gräfin meine Hand und meinen Namen anzutragen, wußte ich, daß sie von meinen Erinnerungen an die Vergangenheit für ihren Frieden nichts zu besorgen hätte; und was einst –“

„Hören Sie mich, Joseph!“ rief die Marquise, die trotz ihrer Schminke ihre leidenschaftliche Empörung über diese Zurückweisung kaum verbergen konnte. „Hören Sie mich, Joseph! – Wir leben in Paris, nicht in den Wäldern Ihrer Heimath, und es gilt hier mehr als die Befriedigung einer Gemüthsaufwallung. – Wir stehen auf einem Punkte, auf dem wir weithin sichtbar sind. Der kühle Empfang, den die Gräfin mir neulich in den Gemächern der Königin bereitet, als ich ihr so arglos und freudig entgegenkam, ist aufgefallen. Man hat ihn besprochen, beurtheilt, man hat darüber gelächelt. Sollen wir –“

„Frau Marquise!“ fiel der Graf ihr in die Rede, „das geht zu weit!“

Aber Franziska beachtete das nicht. „Sollen wir das Gespött des Hofes werden,“ fuhr sie fort, „sollen wir den Fluch des Lächerlichen auf uns laden, wo es in unsere Hand gegeben ist, unsere Vergangenheit zu rechtfertigen, indem wir uns die Anerkennung unserer Freundschaft für alle Zukunft zu erwerben suchen?“

„Schonen Sie mich, Frau Marquise!“ rief Veronika, „oder erlauben Sie mir, daß ich mich entferne.“

„Nein, Veronika, Du bleibst!“ befahl der Graf. „Was die Frau Marquise und ich noch mit einander gemeinsam haben, das gehört auch Dir, mein theueres Weib! das sollst und mußt Du hören!“

„Gewiß, gewiß!“ stimmte Franziska ihm bei, und schnell sprechend, als wollte sie die Geduld ihrer Hörer nicht ermüden, sagte sie: „Ich weiß, daß Graf Joseph nicht der Mann ist, ein [116] Geheimniß vor der Frau zu haben, die seinen Namen trägt, der er seine Ehre anvertraut hat. Eben darum aber möchte ich nicht – es ist die einzige Vergütung, die ich Ihnen, mein theurer Joseph, für all den Kummer und die Leiden bieten kann, welche meine Verblendung und meine Irrthümer über Sie verhängten – eben darum möchte ich nicht, daß ein unbegründetes Mißtrauen der Gräfin die Welt berechtigte, uns noch jetzt für schuldig zu halten! Ich kam, um Sie zu bitten, Gräfin, vertrauen Sie mir, erkennen Sie die Freundschaft an, die ich noch heute über alles Vergangene und Vergessene hinaus für Graf Joseph in meinem Herzen fühle, und die ich Ihnen biete. Ihr Leben war einfach, Sie waren immer glücklich, Gräfin! Es ist Großmuth, die ich von Ihnen fordere –“

Veronika, die vor Zorn und Kränkung Thränen vergoß, schüttelte verneinend das Haupt, der Graf hatte sie in den Arm genommen. „Weine nicht, Veronika!“ bat er, „die Marquise kennt die Liebe, kennt das Vertrauen nicht, die uns verbinden; weine nicht!“

Aber als hätte es nur des einen Wortes bedurft, um die ganze Stimmung Franziska’s umzuwandeln, so heftig fuhr sie empor. „O!“ rief sie, indem sie beide Hände vor das Gesicht schlug, „o! also auch das Letzte mußtest Du mir rauben!“ – Sie legte das Haupt auf den kleinen Tisch, der an ihrer Seite stand, und fing leidenschaftlich zu weinen an.

Der Vorgang war für beide Gatten ein äußerst peinlicher, der Graf besonders befand sich in einer sehr widerwärtigen Lage. Er wünschte Veronika zu beruhigen, und Franziska schien Trost von ihm zu erwarten. Wie gern er seine Gattin auch vor dieser Scene behütet hätte, fühlte er doch, daß er sie nicht entfernen dürfe, ohne ihr Veranlassung zu einem Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit und Ursache zum Mißtrauen zu geben.

Er trat zu der Marquise hin und sprach ihr ernsthaft zu. Er hielt ihr ruhig vor, daß er ihr Alles verziehen habe, was er um sie gelitten, daß er sich in Frieden mit sich selbst und in einer glücklichen Ehe befinde, die er nicht stören, nicht antasten lassen werde. Er sagte, daß er gehofft hätte, auch sie verändert und beruhigt zu finden, daß die Zeit nicht danach gemacht sei, sich in eigensüchtigen Herzenserregungen zu verzehren, sondern daß man die Aufgabe habe, sich zu sammeln, um alle Kraft und Fähigkeit dem Dienste des unglücklichen Herrscherpaares zu widmen, das in seinen Rechten auch die Rechte und Vorrechte des Adels und der Besitzenden vertrete; und die einfache Würde, mit welcher er zu ihr redete, schien auf die Marquise Eindruck zu machen. Sie hörte allmählich zu weinen auf, lieh ihr Ohr schweigend seinen Worten, und nachdem ihre Züge mehr und mehr den Anstrich ernster Sammlung angenommen hatten, erhob sie sich zögernd von ihrem Sitze. Sie hatte das Ansehen eines Menschen, der, von schwerem innerem Kampfe ermattet, nur mühsam Herrschaft über sich gewinnt, und es dünkte den Grafen, obschon er in diesem Augenblick gar nicht in der Verfassung war, auf die Schönheit der Marquise zu achten, als habe er sie nie anmuthiger, nie einnehmender gesehen, als eben jetzt, da ihr Feuer gedämpft, Ihre Kraft gebrochen, ihre Selbstgewißheit vernichtet zu sein schien.

Langsam, mit erschöpfter Miene, näherte sie sich der Gräfin. „Verzeihung, Gräfin!“ sagte sie matt. „Es ist ein Irrthum meines Verstandes, kein Uebelwollen meines Herzens, für das ich hier Ihre Vergebung fordern muß. Ich vergaß, daß es ein Unrecht giebt, welches uns alle Aussicht auf seine Sühne, alle Aussicht raubt, es zu vergüten oder es durch Andere vergütet zu sehen. Sie haben nicht die Pflicht, großmüthig gegen mich zu sein! Die Liebe des Grafen ist Ihr wohlverdientes Eigenthum – was kümmert Sie die Unglückliche, welche dies kostbare Gut einst von sich stieß, welche Jahre lang die treuste Hingebung, das liebevollste Vertrauen zu täuschen vermochte, welche Jahre lang ihr frevles Spiel mit einem Herzen trieb, das ihr gehörte, ihr allein!“

„Frau Marquise, schonen Sie mich!“ bat Veronika mit flehender Stimme, und auch der Graf versuchte, den Bekenntnissen Franziska’s Einhalt zu thun, aber die Wirkung, welche sie auf ihn hervorbrachten, war doch eine andere, als diejenige, welche sie auf die Gräfin machten. Auch brach die Marquise plötzlich, auf des Grafen Mahnung, ihre begonnenen Geständnisse ab. Das melancholische Lächeln schwand aus ihren Mienen, ihr Antlitz hellte sich auf, man sah, daß sie sich Gewalt anthat. Sie schaute mit einem Blicke in dem Gemach umher, als wolle sie sich seine Einzelheiten einprägen, reichte dann dem Grafen die Hand und sagte: „Leben Sie wohl, mein Freund! ich habe jetzt die Stätte des Glückes und des Friedens gesehen, an der Sie Trost gefunden für die Leiden, welche ich über Sie verhängt. Ich weiß jetzt, daß ich diese Stätte nicht wieder betreten, daß ich Sie selbst, mein Freund, niemals anders als in den kalten Cirkeln der Gesellschaft wiedersehen darf, da es mir nicht gelingt, der Gräfin das nöthige Vertrauen zu mir und zu Ihnen einzuflößen, da die Gräfin mir ihre und ihres Gatten Freundschaft, die ich mir zu verdienen wünschte, nicht vergönnt.“

Sie verneigte sich mit erzwungener Zurückhaltung und ging hinaus. Der Graf gab ihr ebenso schweigend und zurückhaltend das Geleit, um vor der Dienerschaft kein Aufsehen zu erregen. Veronika aber warf sich mit einem unterdrückten Aufschrei in den Sessel nieder.

„O, ich hasse sie!“ rief sie bitter und schmerzlich. „Ich hasse sie, die ihn um seine Jugend betrogen hat! Und sie wird mein Glück zerstören und das seine!“

(Fortsetzung folgt.)


Ludwig Richter.

Schon seit vielen Jahren erfreuen uns die lebensvollen Zeichnungen eines Künstlers, der mit seinem tiefinnigen Wesen, seiner naturwahren Auffassung uns das deutsche Kinder- und Familienleben vorführt, wie es nur noch in Dörfern und Landstädten zu finden ist, in den Kreisen der Kleinbürger und Handwerker, im Treiben jener Menschen, die in ihrer abgeschlossenen Welt ein beschauliches Leben führen, ohne von den Anregungen der Zeit ergriffen zu werden, und sich so ihr Eden schaffen, wozu der Großstädter trotz allen Grübelns und Jagens selten gelangt.

Dieser Künstler ist Ludwig Richter in Dresden, dessen Schöpfungen dem deutschen Publicum längst in’s Auge und Herz gedrungen sind, der in seinen Holzschnittillustrationen vielleicht segensreicher gewirkt hat, als mancher Moralist von Metier, da seine gemüthsreichen Gebilde die treuesten Spiegelbilder seiner innersten Natur sind. Die feinste Beobachtung für Volks- und Familienscenen, die herzinnige Liebe, womit er seine Kindergruppen behandelt, der idyllische Reiz, der den landschaftlichen Theil seiner Zeichnungen durchweht, die Naivetät, womit er Thiere und selbst leblose Gegenstände behandelt – dies Alles zeugt, wie der Künstler mit ganzer Seele bei seinem Schaffen ist, wie ihn nicht allein die technisch durchbildete Hand leitete, sondern auch das Herz, dessen kindlichreines Fühlen sich der Meister noch in ungetrübtester Frische bewahrte. In seinem „Kinderleben“ erschließt er uns eine Fülle von Gemüth – ein Zauber harmlosen Glücks, wie er nur die Kindheit umschwebt, entfaltet sich vor uns und führt uns in jene Tage zurück, die niemals wiederkehren. Da lebt Alles in reinster Herzenseinfalt unter und durcheinander – selbst die Blößen, die hie und da fadenscheinige Kleider sehen lassen, stimmen uns nicht trübe, denn ihre Träger sind nicht Bewohner finsterer Städtemauern – es sind glückliche Dorfkinder, die des kleinen Schadens nicht achten, denn eine milde Luft umweht sie, und ein sonniger Himmel lacht über ihnen. Selten fehlt hierbei der treue Dorfspitz, der in seiner hypochondrischen Stimmung den stummen Beobachter spielt, oder auf Zucht und Ordnung hält, oder, ist er gut gelaunt, sich von einer kleinen Stumpfnase an den Ohren zausen läßt.

[117]

Ludwig Richter.

Das deutsche Familienleben schildert der Meister in seinem „für’s Haus“ und „Beschauliches und Erbauliches“; während „der Sonntag“, der Tag des Herrn, uns einer höheren Richtung zuführt. Im „Goethe-Album“ und in den Illustrationen zu „Hebel’s alemannischen Gedichten“ tritt der Künstler als Commentator eben so feinsinnig wie in seinen selbsterfundenen Werken auf, und die Zeichnungen zu „Auerbach’s Volkskalender“ geben auf’s Neue das erfreuliche Zeugniß von seiner reichen Erfindung und unversiechbaren Schaffenskraft. Die Kraft und Lust zu diesem Schaffen findet er in dem fleißigsten Studium der Natur, und nie sieht [118] man den Künstler auf seinen einsamen Spaziergängen ohne Griffel und Skizzenbuch – einsammelnd und eintragend. Sachsens liebliche Dorfschaften mit den zum großen Theil noch patriarchalischen Bewohnern liefern ihm reichlichen Stoff hierzu, und in dieser Situation bildet sein Erscheinen oft selbst den Mittelpunkt einer Dorfidylle, zumal wenn ihn eine gaffende Kinderschaar in ihrer liebenswürdigsten Zudringlichkeit umringt.

Die Lebensgeschichte unseres Künstlers, die wie das Leben der meisten bedeutenden Künstler „ruhig, wie ein stiller, schöner Strom dahinfließt“, bietet natürlich nichts von jenem pikanten Beischmacke, der heutzutage von einem verwöhnten Leserkreise erwartet wird. Keine außergewöhnliche Phase hat dieses stille Künstlerleben beirrt noch bereichert, das nur zu seiner schönsten Reife gedeihen konnte, indem es wechselvollen Schicksalen fern blieb.

„Adrian Ludwig Richter ward am 28. September 1803 zu Dresden geboren. Er erhielt den ersten künstlerischen Unterricht durch seinen Vater, einen geschickten Kupferstecher im landschaftlichen Fach aus Zingg’s Schule, der den Sohn ebenfalls zum Kupferstecher bestimmte. Allein es neigte sich dieser bald mehr der Oelmalerei zu, wurde aber an einer freien künstlerischen Entwicklung durch bedrängte äußere Verhältnisse behindert. Besonders zogen ihn Chodowiecki’s Radirungen an, die nicht ohne Einfluß auf seine spätere Richtung blieben. Mit Vergnügen folgte er 1820 dem Fürsten Narischkin als Zeichner auf einer Reise nach Frankreich. Im Sommer 1821 nach Dresden zurückgekehrt, bot ihm der dortige Buchhändler Arnold (der Beschützer so manches andern jungen Talents) die Mittel zu einem mehrjährigen Aufenthalte in Italien, wo er 1823–26, von den neuen Eindrücken mächtig angeregt und gehoben, sich bildete und bereits 1824 sich durch eine Gebirgsgegend des Watzmann allgemeine Anerkennung erwarb. Ergriffen von der Bedeutsamkeit des damaligen künstlerischen Umschwungs, sann er darauf, die Landschafts- mit der Historienmalerei zu vertauschen; doch gab er diesem Wunsch nicht Folge und fand den nächsten Zielpunkt seines Strebens darin, eine bedeutendere Belebung der Landschaft durch die menschliche Gestalt zu gewinnen. Aus dieser Richtung ging eine Verschmelzung von Genre und Landschaft hervor, welche als eine neue Gattung der Malerei zu betrachten ist.

In den zahlreichen Bildern, die Richter fortan bis 1847 vollendete, prägt sich mit wunderbar poetischer Kraft das innige Zusammengehören des Menschendaseins und des Naturlebens meisterhaft aus. Großenheils sind die Gegenstände dem italienischen Naturleben entnommen, wie das Thal von Amalfi, die Gegend von Rocca di Mezzo, Aricia und Civitella, Gegend bei Palestrina, Erntezug italienischer Landleute, eine Osteria bei Tivoli, der Brunnen bei Grotta ferrata u. s. w. Manche gehören aber auch dem deutschen Leben an, wie das Lauterbrunner Thal, die Ueberfahrt am Schreckenstein, Genoveva in der Waldeinsamkeit, die Dorfmusikanten, der Brautzug im Frühling etc. Manchmal ist das Figürliche, manchmal das Landschaftliche überwiegend; immer aber erhöht das Eine die Stimmung des Andern und verschmilzt mit ihm zu einer harmonischen Einheit. – Seit 1828 an der mit der Meißner Porzellanfabrik verbundenen Zeichenschule angestellt, wurde Richter 1836 an die Dresdener Akademie berufen, wo er seit 1841 als Professor und Vorstand des Ateliers für Landschaftsmalerei wirkt.“

Es sind demnach nur Mußestunden, die der Künstler jenen Zeichnungen widmet, die wir nie ohne Liebe und Mitgefühl betrachten können, die dem deutschen Charakter so recht nach Herzen sind, weil er sich in ihrer edeln Einfalt und Schlichtheit so treulich wiederfindet. Und darum wird Ludwig Richter in seinen Werken fortleben, so lange noch jener schlichte Sinn unter uns waltet, der ein Grundzug unseres Wesens und das beste Restchen alter guter Sitte ist.

H. Kg.


Carl Maria von Weber und sein Denkmal.
Eine Skizze von M. M. von Weber.
(Schluß.)

Es kam, wie Weber im Stillen gefürchtet hatte. Trotz des Beistandes der gut deutsch gesinnten, literarischen Blätter Wiens, trotz Kanne’s, Bäuerle’s, Castelli’s rastlosen Federn, die das Publicum im Voraus mit den Intentionen und Schönheiten der Euryanthe vertraut zu machen suchten, trotz des Beistandes der gewaltigen Gesellschaft „Ludlamshöhle“, deren Mitglied Weber, mit dem Ehrenprädicate „Agathus der Zieltreffer“ war, trotzdem, daß die Hauptrollen der Euryanthe in den Händen der Sontag, der Grünbaum, Heitzinger’s, Forti’s waren, trotzdem daß man bei den ersten drei Vorstellungen einen mächtigen Enthusiasmus forcirte, errang die Euryanthe doch nur einen Succès d’estime.

Gekürzt, zusammengestrichen, ließ sie bald die Häuser leer. „Das ist ungemüthliche Musik,“ hatte Franz Schubert gesagt. „Das Ding ist gut, lassen Sie es, wie es ist,“ sagte aber der Altmeister Beethoven auf Weber’s Frage. Und Weber ließ es, wie es ist, und das war wohlgethan; die jetzt herrschende Meinung von der Oper beweist es.

Die unermeßlichen Aufregungen auf der Reise nach Wien hatten, verbunden mit einer heftigen Erkältung, das Uebel, dessen Vorboten Weber schon lange spürte, zum Ausbruch gebracht; unheilbar lungenkrank kam er zurück. Mit tieferem Verständnisse und hohem Enthusiasmus für den Meister wurde die Oper 1825 in Berlin aufgenommen, nachdem endlose Intriguen des Ritter Spontini sie fast zwei Jahre lang von der Bühne dort fern gehalten hatten. Weber dirigirte sie selbst, war aber schon kaum mehr vermögend, sich dem Orchester verständlich zu machen, und sprach durch einen Dolmetscher mit den Fungirenden.

Ruhe, Ruhe sollte nun die Losung des kränkelnden Meisters sein, Bäder und Landluft dem Stoffe die Kraft geben, noch einige Zeit dem Ringen des nach seiner Heimath sehnsüchtigen Genius zu widerstehen. Aber je durchsichtiger der Schleier wurde, der dem Meister das Jenseits verhüllte, je deutlicher er fühlte, daß er bald seine theure Caroline und die beiden Söhne, die sie ihm gegeben hatte, für immer werde verlassen müssen, umso eifriger ergriff er die Mittel, durch die er hoffte, den geliebten Seinen eine sorgenfreie Existenz nach seinem Tode sichern zu können.

Das Covent-Garden-Theater zu London bestellte den „Oberon“ bei ihm, dessen Text Planché gedichtet hatte. Er nahm die Bestellung und die Anträge, ihn selbst aufzuführen, Concerte in London zu dirigiren und zu geben, in der Hoffnung auf reichen Gewinn, an. Bei der Composition dieser Oper fand sich sein Genius auf den Weg zurück, den er bei Schöpfung des „Freischütz“ betreten hatte und auf dem Niemand nach ihm wieder mit solchem Glanze wandeln wird. Es ist in den Melodien des Oberon ein überirdischer Reiz, als hätten die Stimmen einer lichten Welt die schwerathmende Brust, das gebeugte Haupt des kranken Meisters schon umtönt, und wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, wie er es wollte, nachträglich dem Werke, für die Darstellung in Deutschland, die Rundung und künstlerische Vollendung zu geben, welche die Tiefe des deutschen Sinnes verlangt, es würde unstreitig weitaus seine vollendetste Schöpfung geworden sein.

Am 16. Februar 1826 stieg Weber mit seinem Freunde, dem berühmten Flötisten Fürstenau, die halbvollendete Partitur des „Oberon“ unterm Arme, in den Wagen und begab sich, in kurzen Tagereisen, über Paris, wo ihm die glänzendste Aufnahme wurde und man in ihn drang, so bald als möglich für dort eine Oper zu schreiben, nach London. Bleischwer lag die trübe Atmosphäre und der kühle Nationalcharakter Englands auf der kranken Brust des Meisters, maßlose Anstrengungen bei der Direction der von ihm übernommenen Concerte, seines „Freischütz“ und endlich bei den Proben zu Oberon absorbirten rasch den Rest seiner Lebenskraft. Und dabei arbeitete er doch fort an der Partitur, nicht allein dieser Oper, sondern auch der von ihm unvollendet hinterlassenen, in London spurlos verschwundenen, komischen Oper „die drei Pintos“, und die Melodien quollen in unversiechbarem Strome aus einem Wesen, dessen Körper eben so hinfällig, wie seine Seele heimwehkrank war. Je mehr er seine Kräfte schwinden fühlte, um so heißer, unablässiger wurde diese Sehnsucht nach der Heimath, nach den Seinen, die [119] keine Pflege, keine Vorsorge des edlen Mannes, bei dem er wohnte, Sir George Smart, kein Zuspruch seiner deutschen Freunde, Fürstenau, Dr. Kind, Moscheles, Göschen etc., lindern konnte. Was half es ihm, daß die sonst so zurückhaltenden Engländer bei seinem Erscheinen in dem Theater sich jubelnd erhoben, ihn, Hüte und Tücher schwenkend, grüßten, daß ihm Ehren zu Theil wurden, wie nie einem Tondichter zuvor, daß der „Freischütz“ und der „Oberon“ unendlichen Erfolg hatten? - - Heim! heim! war seine Losung, fast sein einziger Gedanke! Kaum gönnte er sich noch Zeit, sein Concert zu geben, das ihm wenig eintrug, er gab die Rückreise nach Paris auf, kürzte seinen Aufenthalt ab: „Gott, Gott, nur erst im Wagen sitzen!“ war sein häufigster Ausruf. – Am 4. Juni Abends schied er von den Freunden, zum Tode krank, mit den Worten: „Wieder einen Tag dem Wiedersehen näher!“ begab sich ohne Hülfe in sein Zimmer, legte sich nieder – und schlief hinüber, wo alle Sehnsucht sich in seliges Wiedersehen in der ewigen Heimath wandelt. – Am 5. Juni fanden ihn die Freunde, nachdem sie spät am Tage sein Zimmer erbrochen hatten, wie ruhig schlummernd todt im Bett.[1] – Seine Leiche wurde in feierlichem Begängniß am 9. Juni 1826 in den Grüften der katholischen Moorfield-Capelle zu London beigesetzt.

Doch es war, als sei die Heimath-Sehnsucht des todten Meisters nicht mit ihm gestorben, als bewegte sie edle Herzen, die ihn ehrten, auch seine Asche dahin zu führen, wohin sein unsterbliches Theil längst zurückgekehrt war.

Deutsche Freunde traten im Jahre 1842 zu dem vermorschenden Sarge in Moorfield, der in den nächsten Jahren mit „an der Reihe war“, aus der Gruft „weggeräumt“ zu werden. Dr. Gumbihler forderte die Deutschen auf, die Asche eines ihrer populärsten Künstler nicht in alle Winde verstreuen zu lassen; Ferdinand Heine, der langjährige Freund Weber’s, aber rief: „Führt seine Asche nach dem Lande seiner Sehnsucht, zu den Seinen, in die Mitte des deutschen Volks zurück!“ Der Aufruf fand Anklang, der würdige alte Buchhändler Arnold legte Subscriptionsbogen aus, der Dresdner Gesangverein „Liedertafel“ gab, von seinem Liedermeister, Richard Wagner, angeregt, ein großes Concert zur Beschaffung von Mitteln für die „Translocation von Weber’s Asche“.

Diese Gesangsgesellschaft behielt fortan das Geschäftliche der Angelegenheit in Händen, sie wählte ein Comité, aus Richard Wagner, Hofrath Schulz, Professor Löwe, Anwalt Flemming, Ferdinand Heine, Tonkünstler Brauer und Banquier Lötze bestehend, das für diesen Zweck thätig sein sollte. Aufrufe an die Bühnen wurden erlassen, Vorstellungen zu geben. Die Bühnen zu Dresden und Berlin folgten dem Aufrufe und lieferten die Gesammterträge von zwei Vorstellungen in die Hände des Comité’s ab. Kein Abzug war von den Erträgnissen gemacht worden, außer dem Honorar, das sich Frau Jenny Lind-Goldschmidt für die Darstellung der Agathe hatte zahlen lassen.

Die so erzielten Summen reichten für den Zweck aus, und im Jahre 1844 begab sich Weber’s ältester Sohn nach London, um bei den die Auslieferung der Leiche und den Transport derselben betreffenden Geschäften, denen auch Weber’s zu London lebender Schüler Julius Benedikt und der preußische General-Consul Hebeler thätige Beihülfe liehen, mitzuwirken.

Inzwischen war nach Semper’s Zeichnung eine Gruft von einfach edler Form auf dem katholischen Kirchhofe zu Dresden erbaut worden. Weber sollte nicht der Erste sein, der sie bewohnte. Das jüngste Mitglied seiner Familie, sein Sohn Alexander, ein zu schönen Hoffnungen berechtigender Maler, schied aus der Fülle des Lebens, kaum zwanzig Jahre alt, um ihm auf dem dunklen Pfade voran zu gehen. Der einfache Leichenzug des Jünglings beschritt am 2. November 1844 denselben Weg, den am 15. December desselben Jahres der unermeßliche Conduct, der die Asche des Meisters zur letzten Ruhe führte, unter Gesang, Musik und Fackelglanz und der Theilnahme von vielen Tausenden durchmaß.

Nachdem dies Ziel erreicht war, der theure Todte in der Heimath schlief, fanden sich noch überschießende Mittel vor. Da tauchte der Gedanke auf, sie als Anfang eines Fonds zu betrachten, der zur Errichtung eines Monuments für C. M. v. Weber zusammen zu bringen sein würde. Das Comité entwickelte nun neue Thätigkeit. Neue Aufrufe zu Concerten und Vorstellungen wurden an die Gesangvereine und Theater, zu Beitragen an das Publicum erlassen. Doch fast ohne alles Resultat. Die Theater, die Hunderttausende mit Weber’s Opern erworben, die Gesangvereine, die seine Lieder und Chöre in allen Theilen der Welt gesungen hatten, ließen Nichts von sich vernehmen, als es einmal ein kleines Opfer zu seiner Ehre zu bringen galt. Kein Hoftheater regte sich, und nur die kleine Nürnberger Bühne, unter des wackern Röder Leitung, steuerte einen Abendertrag, während das Hamburger Stadttheater die erhöhte Stimmung bei festlicher Ausschiffung der von England angekommenen Leiche Weber’s benutzt und eine sehr einträgliche Vorstellung für – Rechnung der Theaterverwaltung gegeben hatte. Im Jahre 1849 trat Meyerbeer als auswärtiges Mitglied mit in das Comité, in welchem zugleich Wagner, nach seiner Flucht von Dresden, durch Reissiger ersetzt worden war, ohne daß jedoch durch diese neuen Kräfte dem Comité auch neue Hülfsquellen zugeführt worden wären.

Ohne die Beiträge einiger Fürsten hätte damals aller weitere Zufluß zu den Mitteln des Comité aufgehört. Vom deutschen Volke, das Weber liebt, vom deutschen Publicum, das sich durch seine Werke ergötzen läßt, sind nicht hundert Thaler an Beiträgen in die Fonds zur Errichtung eines Denkmals für ihn geflossen!

Nichts desto weniger schritt das Comité muthig vorwärts. Schnorr von Carolsfeld wurde, als es sich nun um die Herstellung des Monuments handelte, als große künstlerische Autorität in das Comité gewählt, und mit glücklichem Griffe und unter seinem erleuchteten Rathe wurde Rietschel die Ausführung der Bildsäule übertragen.

Während das herrliche Werk unter den Händen des großen Meisters entstand, nahm der pecuniäre Theil des Unternehmens unangenehme Formen an. Alle Beiträge hatten aufgehört, und ohne die edle Thätigkeit einer berühmten deutschen Frau wäre möglicherweise das Ganze entweder ganz unvollendet geblieben oder doch erst spät zu Stande gekommen.

Frau Bürde-Ney bestimmte den Ertrag eines großen, in Hamburg von ihr gegebenen Concerts für das Denkmal. Das Haus war brechend voll, aber die Rechnungen, welche die Mitwirkenden, der Localbesitzer etc. machten, ganz überaus hoch. Es blieb also nur ein so geringer Reingewinn übrig, daß es dem Takte der trefflichen Künstlerin widerstrebte, ihn zu dem von ihr so hoch gehaltenen Zwecke zu spenden. Sie fügte zu dem Opfer ein neues in Gestalt des vollen Honorars einer Gastdarstellung in Berlin.

Dies gab den Impuls zu neuen Bestrebungen. Die Theater zu Berlin und Dresden veranstalteten festliche Vorstellungen, Dawison, der stets gern sein großes Talent mit in die Wagschale wirft, wenn es der Ehre der Kunst und der Künstler gilt, hielt eine seiner Meistervorlesungen, die Frau von Bock (Schröder-Devrient) sang, ihrem alten Meister und Lehrer zu Ehren, eines ihrer letzten Lieder, und das Collegium der Dresdner Stadtverordneten spendete, mit nicht genug anzuerkennendem würdigem Sinne, die Summe von 1000 Thalern, als Beitrag zu den Kosten der Herstellung des Monuments.

So sah sich das Comité, dessen Vorsitz, nach des Hofrath Schulz Tode, der treffliche Aesthetiker, Professor Hettner, eingenommen hatte, bald im Besitze aller erforderlichen Mittel. Der Guß wurde auf dem Lauchhammer mit gewohnter Meisterschaft vollendet, Schlesien sendete einen seiner reinsten Granite zum Postamente, und so konnte das schöne Werk, nachdem die meisten der Mitglieder des Comité’s (die Herren Heine, Löwe, Flemming, Brauer, Lötze) durch 20 volle Jahre nach dem vorgesetzten Ziele mit wahrhaft rührender Ausdauer gestrebt hatten, am 11. Oct. 1860 enthüllt werden.

Das schöne Standbild (das unsere Abbildung giebt) ist eines der wenigen, die in Deutschland bisher den Helden deutschen Geistesringens gesetzt worden sind, und ehrt in gleicher Weise den Meister, den es darstellt, wie den, der es bildete, und die Männer, denen es sein Dasein dankt.

[120]

Erinnerungen

Memoiren-Bruchstücke von Franz Wallner.

Nach fünfzig Jahren eines viel bewegten, erfahrungsreichen Lebens finde ich nicht ein Blatt, nicht eine Notiz, nicht eine Affiche, als Anhaltspunkt zur Aufzeichnung meiner Erinnerungen. Es ist dies ein Leichtsinn, vor welchem unsere jüngere Generation nicht genug zu warnen ist. Wie wüst und wirr schwimmen ohne solche Anhaltspunkte in dem Rest der uns zugemessenen Jahre die Rückblicke durcheinander! Vielleicht gelingt es mir, einzelne kleine Bilder aus diesem Kaleidoskop festzuhalten und zu sondern; der Versuch dazu scheint mir wenigstens die Mühe zu lohnen. Freilich ruhen die Originale meiner kleinen Federzeichnungen größtentheils auf den Kirchhöfen unserer deutschen Vaterländer und unter dem kühlen Rasen von Pére Lachaise in Frieden von ihren Lebenskämpfen aus; allein so mancher kleine charakteristische Zug berühmter und uns lieb gewordener Persönlichkeiten, so manche heitere oder dunkle Seite aus dem Schicksalsbuche meiner Zeitgenossen verdiente wohl als Beispiel oder Warnung der Vergessenheit entrissen zu werden. Von jeher nicht mit dem glücklichsten Zahlengedächtniß begabt, würde es mir unmöglich sein, eine chronologische Ordnung bei meinen Plaudereien fest zu halten; ich will dem Leser erzählen von früheren Tagen, von kleinen pikanten Vorfällen, mit einem Wort ich will versuchen, ihn von Dingen und Personen zu unterhalten, die eine öffentliche Bedeutung hatten. Weiter haben diese Zeilen keinen Zweck.


Französische Blätter bringen eben die Nachricht, daß die Schauspielerin Marquise Esther de Bongars[WS 2] in Paris im tiefsten Elend gestorben sei. Ihr Vater war ein berühmter Divisionsgeneral der französischen Armee, und sie selbst spielte eine ziemliche Weile als Schauspielerin in St. Petersburg die Rolle der ersten Löwin der vornehmen Welt. Von der unermeßlichen Verschwendungssucht dieser Person kann sich nur ein Augenzeuge einen annähernden Begriff machen. Die eleganteste Wohnung, die schönsten Equipagen, die reichste Toilette, das reizendst gelegene Landhaus waren Dinge, die sie von ihren jeweiligen Verehrern als selbstverständlich forderte; mit Schilderungen der von ihr arrangirten Feste füllten die Pariser Journale ganze Spalten. So z. B. sollen einmal die Kirschen eines Diners im Winter, wo das Stück dieser Frucht einen Rubel kostete, mit 20,000, schreibe zwanzig tausend Francs, bezahlt worden sein. Die Wände des Speisesaals waren mit künstlichen Kirschbäumen geziert, an welchen die kostbaren Früchte hingen. Zu einer Geburtstagsfête ließ sie einen Feuerwerker von Wien kommen und sandte einen Courier zum Einkauf des Desserts nach Marseille. Selbst in dem verschwenderischen Petersburg machte die Verschwenderin Aufsehen. Als Schauspielerin war sie mittelmäßig, sie hatte nur das Talent der verschleierten Frechheit und verstand ihre prachtvollen schwarzen Augen – das Einzige, was nebst einem üppigen Wuchs wirklich schön an ihr war – meisterhaft zu gebrauchen. Die böse Welt behauptete, daß selbst die höchstgestellte Person des Czarenreiches eine Zeit lang in ihren Netzen gezappelt habe. Der ehemalige preußische Hofschauspieler, jetzige Hofrath Louis Schneider, der als Gast im Jahre 1847 an den kaiserl. Hof geladen und vom Kaiser Nicolaus ersucht wurde, sein frisches Talent auf dem Privattheater des Czars in Peterhof glänzen zu lassen, spielte dort den Kurmärker, die Esther die Picarde in dem bekannten Genrebild von L. Schneider. – Die Auction der Effecten der Circe dauerte einen halben Monat, brachte enorme Summen ein, und dennoch konnte dieselbe bei ihrem gezwungenen Abgang – ich werde diese Katastrophe sogleich erzählen – nicht ihre sämmtlichen Gläubiger befriedigen. Sie starb im tiefsten Elend! Walten der Nemesis!

Im Jahre 1848 bewohnte diese Esther ihr prachtvolles Landhaus in der Umgegend von Petersburg. Ihr zeitweiliger Courmacher, ein millionenreicher Branntweinpächter, war in Deutschland und suchte Erleichterung im Bade und an der Spielbank in Baden-Baden. Während der Zeit lebte die französische Strohwittwe aus dem dreizehnten Arrondissement auf dem größten Fuß. Neben ihr wohnte in einem bescheidenen Häuschen mit seiner alten Mutter, deren einzige Stütze er war, ein blutjunger, bildhübscher Landsmann, Monsieur Jules, der erst seit Kurzem als Maschinist am kaiserl. Theater angestellt war. Fräulein Esther hielt den gänzlich unverdorbenen und liebenswürdigen Jüngling für interessant genug, um eine kleine, vorübergehende „Idylle“ mit ihm in Scene zu setzen, die der arme Künstler leider so ernst nahm, daß er sich zum Rasendwerden in die schlaue Kokette verliebte. Sie versprach auf sein Andringen, sie wolle sein Weib werden, sobald es die Umstände nur gestatteten. Der Sommer verging dem Liebenden wie ein schöner Traum, und als die Blätter welk zu werden begannen, ahnte Jules nicht, daß auch sein Liebesfrühling blüthenlos geworden. Die Saison der Datschken (Landhäuser) war vorbei, die Esther bezog ihre prachtvolle Wohnung auf der Newsky-Perspective wieder, und als ihr „Bräutigam“ Jules sie eines Tages dort besuchen wollte, überreichte ihm der Diener ein Billet, worin sie ihm für die frohen mit ihm verlebten Stunden dankte, aber auch zugleich anzeigte, daß die Kinderei zwischen ihnen ein Ende nehmen müsse, indem ihr Geliebter, von dem ihre ganze Existenz abhinge, zurückgekehrt sei. Von einer Heirath und derlei poetischen Schwärmereien könne keine Rede sein, da ihre beiderseitige Gage nicht hinreiche, um ihre Putzmacherin zu bezahlen.

Der arme Junge lud sich ein Pistol und schoß sich an der Schwelle der Treulosen eine Kugel vor den Kopf. Auf den Knall eilte die Herrin des Hauses herbei und machte dem noch Athmenden die bittersten Vorwürfe, „daß er sich nicht einen andern Platz für seinen dummen Streich ausgesucht habe.“

Die Mitglieder des französischen Theaters erklärten ihrem obersten Chef, dem Fürst Wolkonsky, in corpore, daß keiner von ihnen mit der Esther wieder die Bühne betreten würde. Sie empfing mit lachendem Munde ihre Entlassung und ging nach Paris, wo sie vom Schauplatz abtrat und verschollen schien, bis vor Kurzem die dortigen Journale ihren Tod im tiefsten Elend meldeten. Ob ihr an ihrem Sterbelager wohl das blutige Haupt des armen Jules erschienen ist? Gewiß, denn es giebt eine Nemesis!


Es ist eine Reihe von Jahren her, als mich in Hamburg bei einem Spaziergange auf dem Jungfernstieg ein alter Herr einholte, der sich mir, nach Bejahung der Frage, ob ich der Schauspieler Wallner sei, als Graf Carl Hahn vorstellte. Schon längst war ich begierig, dieses merkwürdigste aller Theateroriginale kennen zu lernen, und nun lief er mir von selbst in die Hände. Einen schöneren alten Mann, als Graf Hahn war, konnte man sich nicht denken: prachtvolles blüthenweißes Haar, elegant geordnet, deckte einen wahren Jupiterkopf; die sichere cavaliermäßige Haltung legte Zeugniß ab, daß der Mann seine Jugend in der besten Gesellschaft und am Hofe des Prachtliebenden Schwedenkönigs Gustav III., dessen Leibpage er war, zugebracht hatte. Dort war er auch Augenzeuge der blutigen Katastrophe (1792), die er in der Oper „Der Maskenball“ genau nach seiner Erinnerung, bis auf die Rosa-Wachskerzen, die im Saale brannten, in Scene setzte, und zwar auf dem unter seiner Direction stehenden Theater in – St. Pauli auf dem Hamburger Berg. Dieses Factum charakterisirt die ganze Richtung der Theaterleidenschaft des guten Grafen, der seinem Steckenpferd ein immenses Vermögen geopfert, ohne das geringste künstlerische Resultat zu erzielen. Mit richtigem Verständniß und am rechten Orte angewendet, hätten die Bestrebungen des reichen Theaterenthusiasten in der Theatergeschichte Epoche machen und von dauernder Nachwirkung sein können, während er auf seinem mit einem ungeheuren Kostenaufwande erbauten Schloßtheater in Remplin berühmte Schauspieler[2] für eine Gastrolle mit einer silbernen Rüstung und einer vierspännigen Prachtequipage beschenkte, sein enormes Vermögen als Theaterdirector in Altona, Lübeck, St. Pauli, Lauchstädt, Altenburg, Gera, Chemnitz, Rudolstadt etc. vergeudete und seine künstlerische Wirksamkeit auf die mittelmäßige Darstellung einiger Rollen, auf die Angabe prunkvoller, am unrechten Orte angewandter Ausstattungen, auf das Schminken der Statisten, auf Blitzen und Donnern, gelegentliches Souffliren, und auf das Anführen der Comparsen bei Zügen beschränkte.

Es thut mir leid, über den alten seligen Herrn, welchen sonst die vortrefflichsten Eigenschaften auszeichneten, ein so hartes Urtheil [121] fällen zu müssen, an welchem auch seine vertraulichen Mittheilungen bei unserem ersten Zusammentreffen nichts ändern konnten. Doch hatte ich, wie gesagt, meine aufrichtigste Freude, den originellsten Mann der deutschen Theaterwelt kennen zu lernen, und bat ihn, Mittags als mein Gast bei mir vorlieb zu nehmen. Mein Entgegenkommen schien dem alten Herrn wohlzuthun, er nahm die herzliche Einladung eben so freundlich an und erschien Mittags in Streit’s Hotel, in seiner prächtigen Haltung, geschmückt mit Stern und Ordensband, eine wahrhaft noble Erscheinung. Zu seiner Offenheit machte er auch kein Hehl daraus, daß es ihm in Altona, wo er als Regisseur „ohne Gehalt“ fungirte – Regisseur „par honneur“ wie er sich ausdrückte – sehr schlecht ginge, daß seine reichen Verwandten ihn auf das Allernöthigste beschränkt hätten, um ihn von seiner Theatersucht zu heilen, daß ihnen dies aber nicht gelingen werde, da er auf der Bühne zu sterben wünsche.

Als ich ihm einige Tage später einen Gegenbesuch in seiner Wohnung abstattete, fand ich den an die Wechselfälle des fürstlichsten Luxus und der bittersten Armuth Gewöhnten in einer Lage und einer Umgebung, die, an das niedrigste Proletariat erinnernd, mir um so mehr durch die Seele schnitt, als Graf Hahn auch nicht im Geringsten davon berührt schien.

Er liebte es, von seinen Kreuz- und Querfahrten zu erzählen, wobei er nicht selten die ergötzlichsten Anekdoten einzuflechten und mit frischem Humor vorzutragen verstand. Merkwürdigerweise hatte der sonst so feinfühlende Cavalier keine Idee davon, welch’ eine traurige Rolle er als die Hauptperson dieser komischen Erlebnisse spielte. So z. B. hatte er in St. Pauli die Jungfrau von Orleans mit einem Glanz ausgestattet, welcher das berühmte Hamburger Stadttheater weit hinter sich ließ. Er selbst wollte, in eine silberne Rüstung gehüllt, den Krönungszug anführen, zu welchem er eine Unzahl der prachtvollsten Costüme hatte machen lassen. Um dem Publicum die möglichste Illusion zu bereiten, sollte der Zug aus dem Hintergründe der Bühne eintreten, und war derselbe, 200 Mann hoch, auf der Straße vor dem an der Rückseite des Theaters liegenden Eingangsthor postirt. Graf Hahn schärfte Allen auf’s Genaueste ein, beim Beginn des Krönungsmarsches ihm mit feierlichen Schritten zu folgen. Alles war trefflich einstudirt und versprach den gewaltigsten Eindruck auf die zahlreich versammelten Zuschauer zu machen. Die Musik beginnt, und der „Erblandmarschall von Mecklenburg-Schwerin“ setzt sich an der Spitze des Zuges in Bewegung. Am Souffleurkasten angelangt empfängt den Grafen statt des erwarteten Applauses ein schallendes Gelächter, verdutzt sieht er sich nach der Ursache desselben um und bemerkt mit Schrecken, daß der ganze Krönungszug vor der Thür auf der Straße stehen geblieben, und er ganz allein in seinem glänzenden Harnisch den Festzug gebildet hatte, ohne zu bemerken, daß ihm Niemand folge.

Ein ander Mal gab er in Altona „Menschenhaß und Reue“, sein Lieblingsstück, und kündigte auf der Affiche an, daß Jeder mit seinem Billet an der Casse ein unentgeltliches Loos erhalten werde, und der glückliche Gewinner des Treffers, der nach der Vorstellung gezogen würde, „einen eben so schönen als nützlichen Gegenstand erhalte, der ihm sogleich ausgeliefert wird.“

Das Haus war voll, und als Meinau mit Eulalia seine thränenreiche Versöhnung geschlossen, begann die Ziehung, in welcher die Nummer 190 dem glücklichen Besitzer derselben entgegen leuchtete.

In schwarzem Frack und in würdevoller Haltung, mit seinem reichen Ordensschmuck angethan, erschien der Graf, an einem blauseidenen Bande ein schneeweißes Lämmchen führend.

„Wer von den Herrschaften hat das Loos Nummer 190 im Besitz?“

„Ich,“ rief eine donnernde Stimme aus dem ersten Logenrang.

„Darf ich um die Ehre Ihres Namens bitten?“ schrie Graf Hahn hinauf.

„Ich bin der Justizrath Engel,“ brüllte es wieder zurück.

Graf Hahn verbeugte sich: „Herr Justizrath, Sie erhalten als glücklicher Gewinner dieses reizende Lämmchen hier, das Bild der Unschuld und Kindlichkeit. Ich bitte Sie, auf die Bühne zu kommen und Ihren Gewinn vor den Augen des Publicums in Empfang zu nehmen.“

„Den Deubel werd’ ich Ihnen thun!“ schrie der Justizrath. „Schicken Sie es mir doch in mein Haus.“

„Bedaure,“ entgegnete Graf Hahn achselzuckend, „es ist aber ausdrückliche Bedingung, daß der Gewinner hier vor den Augen des Publicums seinen Gewinn empfängt.“

„Nun, so behalten Sie das Lamm und lassen Sie es sich braten!“

„Ich werde Ihren Rath befolgen,“ erwiderte ganz ernsthaft der Graf, „aber das Fell werde ich Ihnen zusenden.“

Eine recht ergötzliche Anekdote entnehme ich den sehr frisch geschriebenen „Charakterzügen aus dem Leben des Grafen Hahn-Neuhaus“, welche den Schauspieler Mayer in Hamburg zum Verfasser haben.

Es war eine Eigenheit des Grafen, daß die jämmerlichste Ausstattung, wie sie bei wandernden Truppen an der Tagesordnung ist, seine Illusion nicht im Mindesten störte; bei seinem eigenen Theater verwendete er darauf aber immer die größeste Sorgfalt und scheute keine Unkosten, in dieser Hinsicht das Möglichste zu leisten; je theurer ihm die Geschichte zu stehen kam, um so vergnügter war er.

Sein Unstern wollte es aber, daß seine sinnreichsten und kostspieligsten Arrangements nicht selten total mißglückten, und Lauchstädt war Zeuge eines höchst drolligen Quidproquos in dieser Art. Graf Hahn hatte nämlich das Wiener Schauer- und Spectakel-Melodram „Ein Uhr“ (mit einer vortrefflichen Musik von Freiherrn von Lanoy) einstudiren lassen. Der Held dieses Dramas ist ein taubstummer Knabe, der von einem bösen Ritter einer Waldhexe geopfert werden soll, sich aber dadurch rettet, daß er den Stundenzeiger einer kolossalen Wanduhr im entscheidenden Augenblick auf Eins stellt; sowie der Stundenschlag ertönt, holt den bösen Ritter der leidige Satan, die Uhr aber verwandelt sich in einen Thron, auf welchem der taubstumme Oskar als rechtmäßiger Herzog sitzt.

Der von dem Grafen und Julius Müller aus Leipzig entführte Maler hatte alle Kunst aufbieten müssen, Uhr und Thron so prachtvoll wie möglich zu malen, auch die Mechanik ließ nichts zu wünschen übrig. Aus der Probe aber bemerkte der Graf: „Alles recht hübsch, mein Lieber, aber Sie haben da auch ein Zifferblatt gemalt, das ist mir nicht recht! ich hab’ es mir anders gedacht.“ –

„Wie denn, Erlaucht?“

„Sie wissen, ich habe eine große, ausgezeichnet schöne Schlaguhr, ein kostbares Werk, es ist ein altes Erbstück aus Neuhaus, mit einem wundervollen Ton; auch will ich, daß man den ganzen Act hindurch den Pendelschlag hört, das macht sich recht schauerlich während der großen Pause, die der Hauptscene vorhergeht; lassen Sie also Ihr gemaltes Zifferblatt herausschneiden, wir befestigen dann in der Oeffnung das wirkliche Werk.“

Der Maler kannte seinen Grafen zu gut, um nur einen Versuch zu machen, ihn von seiner Idee abzubringen. Das gemalte Zifferblatt wurde herausgeschnitten, das kostbare alte Erbstück geholt und von dem Theatermeister geschickt in den Ausschnitt befestigt, so zwar, daß es schnell wieder fortgenommen werden konnte, wenn die Verwandlung vor sich gehen sollte.

Und jetzt wurde probirt, der Graf erklärte dem Fräulein Hanstein, welche den Oskar spielte, den Mechanismus des Werks, zeigte ihr, wie sie den Zeiger von 11 schnell auf 1 Uhr rücken müsse, so wie den Repetirknopf; wenigstens ein Dutzend Mal ließ er sie die Sache machen, und immer ging Alles ganz vortrefflich. Der Graf war außer sich vor Vergnügen und sprach fast den ganzen Tag von Nichts als von dem Effect, welchen die Uhr am Abend machen werde.

Die Vorstellung ging denn auch am Abend sehr präcise und fand reichlichen Beifall bei dem zahlreich versammelten Publicum. Fräulein Hanstein spielte ihren stummen Knaben sehr brav und sah reizend aus. So kam der fünfte Act heran, der Graf selbst war bei dem Aufstellen der Uhr mit behülflich, ließ das Wegnehmen und die Verwandlung nochmals probiren und, da Alles tadellos ging, den letzten Act in Gottes Namen beginnen; er selber postirte sich hinter der Coulisse, vor welcher die Uhr stand. – Auch der letzte Act ging wie am Schnürchen.

Jetzt kam die große Pause, man hörte das „Tiktak“ des Pendels, deutlich, und jetzt ertönte die Stimme der Waldhexe: „Mein Mahl, mein Mahl!“ Gleich darauf stürzt Oskar, von dem [122] bösen Ritter mit hochgeschwungenem Dolche verfolgt, in die Halle.

Die Scene wurde sehr effektvoll gespielt, und das Publicum applaudirte aus Leibeskräften.

Jetzt kommt der entscheidende Moment, Oskar soll an der Uhr emporklimmen und den Zeiger auf Eins stellen.

Die kleine Hanstein war das anmuthigste, graziöseste junge Mädchen, aber durchaus keine Turnkünstlerin, und schon auf der Probe hatte sie das Erklimmen des wenigstens 6 Fuß hohen Riesen, der, wie der Atlas die Weltkugel, die Uhr auf seinen Schultern trug, für eine „saure Arbeit“ erklärt. Jetzt, wo Alles blitzschnell gehen sollte, fehlte wenig und die ganze Kletterei wäre mißglückt, doch gelangte sie endlich so hoch, daß sie zur Noth den Zeiger mit ausgestrecktem Arm erreichen konnte, rasch schob sie ihn vorwärts und verschwand hinter der Uhr.

Laut und durch das ganze Haus gellend ertönte der Schlag „Eins!“

Der Graf war außer sich vor Entzücken.

„Ein Uhr!“ schreit das Waldweib, – „Du bist der Hölle verfallen!“

Da schlägt es wieder!

„Herr Gott!“ ruft der Graf, „was ist das?“ Und wieder schlägt es.

Der Graf, außer sich, stürzt aus der Coulisse hinter die Uhr. „Satan! Verfluchter! willst du wohl gleich schweigen!“ – und er reißt das immerfort schlagende Werk (denn die kleine Hanstein hat in der Eile den Zeiger auf 12 gestellt) herab und schleudert es wüthend zu Boden, daß es in hundert Stücke zerbricht.

Ein Uhr“ – wurde in Lauchstädt nicht wieder gegeben.

Im Jahr 1857 starb Graf Hahn in Altona, wo ein Schlagfluß seinem bewegten Leben ein schnelles Ende machte. Ein scheinbar unerschöpfliches, mehr als fürstliches Vermögen und eine glänzende hohe Stellung im Leben hatte der Mann geopfert, alle Misère der kleinen Wanderbühnen durchgemacht, mit Noth und Elend, ja mit Hunger in des Wortes verwegenster Bedeutung, hatte er gekämpft, um seiner Theaterleidenschaft zu fröhnen, und doch haben alle diese enormen Opfer der deutschen Bühne nicht eines Schillings Werth Nutzen gebracht, und seinem Andenken nichts gesichert, als den unantastbaren Ruf eines originellen Sonderlings.





Auf der Schlittschuhbahn.

Von Berthold Sigismund.

„So gehn wir den schlängelnden Gang
Am langen Ufer schwebend dahin!“ –

„Wir schweben, wir wallen auf hallendem Meer,
Auf Silberkrystallen dahin und daher;
Der Stahl ist uns Fittich, der Himmel das Dach,
Die Lüfte sind eilig, sie schweben uns nach.“

So versuchten Klopstock und Herder unsere schönste Winterluft zu schildern. Aber was sind alle noch so flüssigen und leicht dahin gleitenden Rhythmen ihrer Verse gegen die schönen Wellenlinien, die der Schlittschuhläufer beschreibt? Vier unsrer größten Dichter (außer den genannten auch Goethe und Uhland), die als Jünglinge die herrliche Bewegung leidenschaftlich liebten und übten, haben das Schlittschuhlaufen besungen. Doch Laufen sollte die anmuthige Bewegung, die schaukelnd und wiegend über eine Spiegelfläche dahin trägt, gar nicht genannt werden; ist es doch vielmehr ein Gleiten, Schweben und Schwimmen, fast so leicht und schön, wie der oft beneidete Flug der Segler der Lüfte. Das Volk nennt es Schlittschuh-Fahren, und wirklich verhält sich das sanfte Gleiten auf stählerner Sohle zum Gehen und Laufen, wie eine Schlitten- oder Kahnfahrt, bei welcher die Insassen des Fahrzeugs kaum daran erinnert werden, daß sie auf dem rauhen und harten Boden der Wirklichkeit dahinschlüpfen, zum Fahren im alten, rumpelnden Postwagen.

Jedenfalls ist die Eisbahn einer der vorzüglichsten Reize, die unser Nord vor dem Süden voraus hat. Während der Italiener schauernd in seinem vom Kamin dürftig erwärmten Estrichzimmer sitzt und, die Hände über das qualmende Kohlenbecken haltend, den häßlichen Winter verwünscht: preisen wir die Annehmlichkeiten unserer kernhaften Frostzeit, wenn wir durch die frische, reine Luft, die wie erwärmender Wein in die Brust dringt, auf krystallener Fläche dahin fliegen, gleichsam losgesprochen von dem Gesetze der Schwere, das sonst unsere Sohlen an die Erde bindet; wenn wir in staubfreiem, reinluftigem Natursaale, den statt matter Kerzen die auf Millionen Reifkrystallen glitzernde Sonne beleuchtet, auf stählernen Flügelschuhen leichter und flüchtiger tanzen, als die wirbelnden Paare im prunkenden Ballsaale. Gewiß, hätte Homer den Eislauf gekannt, er hätte seinem flügelschuhigen Götterboten Stahlschuhe untergebunden und ihn über das gläserne Himmelsgewölbe dahin gleiten lassen.

Den höchsten Genuß findet der eifrige Fahrer, der seine Sehnsucht nach dem Eislaufe durch eine zehnmonatliche Entbehrung geschärft fühlt und gleich nach den ersten kalten Nächten, in denen der Fluß Treibeis führt, „seinen“ See oder Teich, oder auch nur „seine“ kleine Flußbucht aufsucht, wo das ruhige Wasser leicht erstarrt, wenn er als erster Entdecker seine Fahne auf einer neuen Eisinsel aufpflanzt. Ein auf den blanken Spiegel geworfener Stein hüpft klirrend und gurrend darüber hin bis zum andern Ufer, also die erste Probe wäre bestanden; nun wird vorsichtig der Saum der glasigen Decke betreten, sie schaukelt etwas, aber sie trägt; Glück auf, der erste Entdecker darf den jungfräulichen Boden, den noch nie ein Menschenfuß betreten, für eine Stunde sein eigen nennen! Glatt und glänzend breitet sich die Eisrinde über das braungrün durchscheinende Gewässer, hier und da schimmert eine perlweiße Luftblase oder das saftgrüne Blatt einer Wasserpflanze durch die glasige Decke, an einzelnen hervorragenden Schilfstengeln ist der Reif in prächtigen Gebilden angeflogen. Noch ist es nicht ohne Bedenken, die Mitte des dünnen Spiegels zu befahren, denn noch senkt er sich briezelnd[3] und knasternd unter dem Fuße, noch wird er durch leises Aufstampfen fast wie ein Spiegelglas zersplittert. Aber ein alter Praktiker weiß Grund und Boden rasch zu schätzen. Einen noch vollkommen blanken Spiegel, der sich bei jedem Schritte senkt und hebt wie eine athmende Menschenbrust, zieht er der dicken, starren Eisdecke, auf die sich auch Zaghafte wagen, eben so sehr vor, wie der Tänzer den elastischen Breterboden der Bühne einem Marmorgetäfel vorzieht.

Das Eis ist zart, aber es trägt. Nun wiegt sich der erfreute Fahrer sanft vorwärts, ohne einen Fuß vom Boden zu erheben, um nicht der zerbrechlichen Brücke durch jähen Druck zu viel zuzumuthen. „Kracht’s gleich, bricht’s doch nicht,“ ruft er, ungestört von dem etwas harten Klange des Uhland’schen Verses. Schon wagt er mehr zuversichtliche Bewegungen. In großen Halbkreiszügen, denen er durch leises Neigen und Schaukeln des Körpers in den Hüften, durch kaum merkliche Verrückungen des Schwerpunktes Rundung und Schwung verleiht, wandelt er weiter vom Ufer weg, bald in auswärts-, bald in einwärtsgekehrten Bogen, die er zu beiden Seiten der beabsichtigten Bahnlinie beschreibt, gleitet er sanft über die elastische Eisrinde, ohne sie zu ritzen. Denn kein Erfahrener fährt noch auf dem altüblichen Schlittschuh, dessen Stahlsohle mit einer Furche und zwei Schneiden versehen ist. Diesen schneidenden Kiel, der zwar einen sicheren Stand verschafft, aber auch viel schädliche Reibung und Hemmung verursacht, überläßt er dem Anfänger, der sich wohl thörichter Weise freut, beim Fahren und Einhemmen tiefe Schrammen in das glatte Eis zu reißen. Der Geübte wählt den holländischen Schlittschuh, dessen ebener Stahlkiel nicht einschmutzet und so wenig auf den Eisspiegel reibt, daß kaum eine Spur von dem eben beschriebenen Bogen zurückbleibt, ja daß sich der auf solchen Schuhen Stehende von einem mäßigen Winde auf glatter Fläche fast ohne alles eigene Schieben treiben lassen kann, wie ein Schiff. Kunststücke führt der ältere Fahrer selten oder nie aus. Sonst hat wohl auch der Ehrgeiz des Wetteifers den jungen Burschen getrieben, sich im Rückwärtsbogenfahren und im Ueberhüpfen von Hindernissen zu versuchen; sonst hat auch ihn wohl träumerische Sehnsucht bewogen, einen Namenszug, den er im Sommer in die Rinde einer Buche geschnitten, mit dem Stahle des Schlittschuhs in die Eisrinde zu ritzen. Aber der [123] gereifte Liebhaber der Eisbahn folgt dem Mahnrufe Klopstock’s: „Künstele nicht!“

So wiegt und schaukelt er sich denn in einfachen, sicher geschweiften Bogen, denen er bald größere, bald kleinere Halbmesser giebt, absichtslos und doch nicht unbedacht auf der frischen, elastischen Bahn und findet bei dem mühsamen, behaglichen Eistanze erwünschte Zeit und Lust, seinen Gedanken nachzuhängen. In der That giebt es kaum eine schönere Gelegenheit zum Meditiren, als ein solcher einsamer Eislauf. Leicht und rasch, wie ihm das Blut durch die Adern rollt, so fluthen dem Schlittschuhfahrer Gedanken- oder öfter Phantasien-Reihen durch den Kopf, die wie aus unbekannten Quellen in seine Seele strömen und sein geistiges Leben befruchten. Es ist fast, wie wenn ein Trunk edlen Weines die Gedanken beschwingte und in wohliger Leichtigkeit Erinnerungen und Phantasiebilder in muntern Schwärmen auffliegen ließen. Vor Allem schön ist eine solche einsame Fahrt auf dem Eise an einem Mondscheinabende, wenn die glasige Bahn in sanftem Goldschimmer glänzt, wenn die Erlen am Ufer lasurblaue Schatten auf den Schnee werfen und die Eisrinde geheimnißvoll schwermüthig tönt, als ob die unter ihr hausenden Nixen und Wassermänner einen Klagegesang über ihr verfallenes Reich anheben wollten.

Doch für lange Zeit ist es gewöhnlich einem solchen Schlittschuhläufer nicht vergönnt, einsam zu bleiben. Bald hat ein Trupp fahrlustiger Knaben die Gelegenheit erspäht; beginnt die Eisbahn mit jubelndem Lärm zu erfüllen und bietet dem Veteran manch belustigendes Schauspiel. Hier hetzt Einer mit kurzen, hastigen Schrittchen dahin, gewaltig mit den Armen fechtend und laut triumphirend, daß er es am schnellsten könne; dort fährt ein Anderer, dem in der Schule das Uebersetzen gar schwer fällt, prahlend im Kreise, um zu zeigen, wie gewandt er auf dem Eise über setze; ein Dritter reitet sich selber als rückwärts gehendes Schulpferd vor und schiebt sich schnickend und zappelnd nach Art der Krebse rücklings vorwärts, bis er auf einem Schilfblatt festfährt, den Schwerpunkt verliert und so wuchtig niederfällt, daß der krachende Spiegel in großen Sternsprüngen zerberstet. Daneben versucht sich ein Neuling in den ersten Schritten auf der schmalen Stahlsohle, die das Gleichgewichthalten fast so schwierig macht, wie das Gehen auf dem Seile; das kleine Männchen scheint durch den häßlichen populären Namen „Schrittschuh“ (welcher andere Schuh wäre nicht auch ein Schuh zum Schreiten?) das Vorurtheil eingesogen zu haben, er müsse auf dem ungewohnten Kothurn etwa wie auf Holzschuhen einhertrappen; er hebt seine Füße fast ’wie ein Haushahn, nur ohne dessen stolze Sicherheit, stapft zwei Schrittchen vorwärts, um wieder zu ruhen, und stapft unermüdlich fort, bis er einmal ausschlüpft und zu Boden sinkt.

„Fallen ist der Sterblichen Loos. So fällt hier der Schüler,
Wie der Meister; doch stürzt dieser gefährlicher hin!“

Das Distichon Goethe’s schwirrt dem alten Zuschauer durch den Sinn, dem jenes kleine Ereigniß seine eigene Jugend zurückruft.

Bald schafft der bildungslustige Winter, der an Grashalmen und Steinen, an Wasserfällen und sogar an den Fensterscheiben seine kunstreiche Hand walten läßt, eine umfänglichere Schlittschuhbahn. Immer größere Strecken des Flußspiegels erstarren, schon rücken sich die Eisränder der beiden Ufer näher und näher; endlich ist auch die Stelle, wo das Wasser am raschesten strömt, überrindet. Eine Ueberfluthung, bewirkt durch den Damm, den herzugeschwommene Eisschollen bildeten, hat die einzelnen Eisinseln zu einer großen, gleichartigen Spiegelbrücke verschmolzen.

Auf einer so stattlichen Eisbahn stellen sich nun auch solche Erwachsene ein, denen die bisherige zu klein dünkte, um die Mühe zu lohnen. Da entfaltet sich denn am Nachmittag jenes ergötzliche Schauspiel, das die niederländischen Winterlandschafter so gern und hübsch dargestellt haben. Läufer von jedem Geschlecht, Lebensalter und Stand, vom ersten Anfänger an bis zum fertigen Meister, trippeln und trappen, schwanken, schaukeln und sausen im bunten Gewimmel durch einander. Bald bedeckt sich die Eisfläche mit den Mehlspuren von vielen tausend Schritten, und die Kehrer haben alle Hände voll zu thun, um die Bahn rein zu fegen. Mit derselben Naturnothwendigkeit, wie sich in der Natur Flußläufe und Straßen ausbildeten, entstehen in dem Gewimmel bald gewisse feste Strömungen; eine schmale besonders glatte Stelle erzeugt einen flußartigen Menschenstrom, um ein Eisloch oder einen Schneehaufen entsteht ein Menschenwirbel.

Die Knaben schaaren sich zum Haschenspiel oder zur Darstellung eines Eisenbahnzuges; Jünglinge, die sich gern sehen lassen, machen, während sie mit dem Spazierstöckchen kokettiren, allerlei Kunststücke, bei denen nicht selten dem Beschauer Goethe’s Doppelzeilen einfallen:

„Willst Du schon zierlich erscheinen und bist nicht sicher? Vergebens.
Nur aus vollendeter Kraft blicket die Anmuth hervor.“

Andere fahren eine Schöne auf dem Stuhlschlitten, anfangs mit triumphirender Miene, aber bald lassen sie doch merken, daß auch eine süße Last eine Last ist, denn man sieht den Schieber verstohlen einen Bekannten zur Ablösung herbeilocken. Zwischen all’ diesen jugendlich raschen Läufern bewegen sich gemächlich alte Leute, die, weil heuer so herrliche Bahn ist, wie sie sich seit dreißig Jahren nicht erinnern, es auch noch einmal in ihrem Leben versuchen wollen. Wie bunte Blumen im Aehrenfelde erscheinen einzelne Jungfrauen, die mit vorsichtig gemessenen Schritten einhertrippeln, umschwärmt von jungen Herren, welche die Schönen im Paradebogen umkreisen, gleichsam um zu zeigen, daß der kühne große Sprung auf diesem Tanzplane doch nur dem bärtigen Geschlechte vergönnt sei.

Oft unterbricht ein mit Jauchzen begrüßtes Abenteuer den gleichmäßigen Strom der Bewegungen. Bald stürzt ein Paradefahrer mit Wucht zusammen und erinnert an den so hübsch malenden Vers des Virgil: Procumbit humi bos, der sich etwa so verdeutschen läßt: „Zu Boden der Ochs plumpt.“ Ein anderes Mal rennen zwei unachtsame Fahrer im vollen Schuß an einander und prallen zurück, wie zwei Widder, die krachend die Stirnen zusammengestoßen haben. Mehr als Lust, denn als Unfall wird das Hinfallen von Knaben betrachtet; ist einer gestolpert, so purzelt eine ganze Lawine mit Jauchzen über ihn her, bald ist kaum Einer auf der Bahn, dessen Kleider nicht bepuderte Stellen zeigen.

Zwischen all diesen bunten, immer wechselnden Strömungen bilden sich Inseln von Zuschauern, wie man sie auf dem Tanzsaal unter dem Kronleuchter entstehen sieht, es drängen sich Brezeljungen mit vollen Körben durch das Gewimmel, fliegende Cigarrenläden und Marketender versuchen die Eröffnung eines Handelsverkehres. Kurz, es entwickelt sich auf dem Flußspiegel ein wahres Volksfest.

Auf einer solchen Bahn findet der Fahrende natürlich nicht Zeit zum stillen Hegen beliebiger Eislauf-Träumereien, er hat, während er vorsichtig und behaglich durch die bunten Gruppen schlüpft, immer zu beobachten und an das Geschehene Betrachtungen zu knüpfen. Denn wenn auch der heimische Fluß oder Teich lange nicht so besucht ist, wie eine holländische Gracht, aus der die Bauernfrauen, die Marktkörbe auf dem Kopfe tragend, einher gleiten, oder gar wie die Seen der Londoner Parks, auf deren Spiegel man an einem Nachmittage sechs- bis zehntausend Fahrer beobachten kann – und welche Meister der Kunst stellt nicht der Skating-Club! – wenn auch der Flußspiegel nur von einigen Hunderten von Schlittschuhläufern belebt ist, was giebt es da nicht für eine Fülle ergötzlicher Beobachtungen anzustellen! Aeltere Frauen sitzen oft halbe Nächte längs der kalten Wände staubiger Ballsäle, um die junge Welt in ihren Wirbeln zu beaugenscheinigen. Wie viel reicher und bequemer ist die Gelegenheit zu solchen Beobachtungen für den Schlittschuhläufer, der sich behaglich zwischen dem bunten Gewimmel umhertreibt! Ueberdies spiegelt der Eislauf den Charakter der Einzelnen weit deutlicher und treuer ab, als der Tanz, da doch meist ein Tanzlehrer die schärfsten Ecken der Eigenarten abgeschliffen hat. Die Schlittschuhbahn ist in der That eine der günstigsten Gelegenheiten zum Charakter-Studium. Gieb einem sinnigen Beobachter einige Minuten Zeit, und er wird Dir den Charakter eines Schlittschuhfahrers genauer und zuverlässiger deuten, als es die Gesichts- und Handschriften-Deuter je vermögen! Ist es doch so leicht, die Hauptgattungen der Naturelle: das ängstliche, das kecke, das bescheidene, das eitle und pompöse, das wie im Geschäft aufgehende und das behaglich genießende, an der Art des Laufes zu erkennen.

Eine seltene und deshalb um so freudiger begrüßte Lust bietet ein recht harter Winter in der Gelegenheit, größere Ausflüge auf dem Eise zu machen. Auf langsam strömenden Flüssen und Canälen der Niederungen ist eine Schlittschuh-Reise wohl häufig vergönnt; in Gebirgsländern dagegen, deren Flüsse rasch dahineilen und nicht selten Rauschen, Stromschnellen und Wehre bilden, ist eine leidlich zusammenhängende Eisbahn von einer Stunde Länge schon etwas Außerordentliches. Aber gerade das Lückenhafte einer [124] solchen Bahn, die Hindernisse, welche bald offene Stellen, bald mit zerbrechlichem Blättereis bedeckte Flächen, bald dicht beschneite Strecken, bald gletscherähnliche Schollenmassen und überglaste Wehre bieten, so daß der Schlittschuhläufer öfter mehrere hundert Schritte weit aus dem Festlande vorwärts stapfen muß – kurz, gerade die Schwierigkeiten einer solchen Flußbahn machen die Fahrt, besonders wenn sie in Gesellschaft unternommen wird, zu einem ergötzlichen Abenteuer. –

Doch wozu – wird man fragen – soll dieser Katalog der Freuden auf dem Eise dienen?

Geneigter Leser, wenn Du selbst die edle Kunst liebst und ausübst, kann Dir alle Schilderung der köstlichsten Winterfreuden nichts Neues bringen und Dich höchstens an angenehm verlebte Stunden erinnern.

Aber wie Viele giebt es nicht, welche den Schlittschuhlauf nie versucht haben und ihn als eitles Spiel der Jugend verachten! In Mittel- und Süddeutschland ist die nicht genug zu empfehlende Kunst lange nicht so nach Gebühr verbreitet, wie in Holland und England. Unter hundert Dörfern meiner Heimath, die einen fahrbaren Fluß oder Teich besitzen, sind kaum drei oder vier, in denen ein Erwachsener Schlittschuhe anlegt, ja auch die jugendlichen Einwohner solcher Orte sind der gesundesten und ergötzlichsten Winterbewegung völlig unkundig. Es scheint fast, als ob in Thüringen noch die Regel eines im 17. Jahrhunderte erlassenen Schulgesetzes fortwirke, welche lautet: „Das kalte Baden und Schwimmen, ingleichen das Eißgehen und Gländern ist, als der Gesundheit schädlich und zuweilen Lebensgefahr nach sich ziehend, denen Schulkindern verbotten.“ Aber nicht nur in den Dörfern, auch in den Städten wird viel zu wenig Schlittschuh gelaufen. An Knaben fehlt es zwar in größeren Städten nicht auf dem Eise; aber die Männer, die leider auch das Ballspiel aufgegeben haben, benutzen die unschätzbare Erholung gar zu wenig. Fast betrachten es viele ältere Herren für ebenso natürlich und schicklich, in gesetzten Jahren die Schlittschuhe am Nagel hängen zu lassen, wie es rathsam und anständig erscheint, das Tanzen aufzugeben, sobald die Dreißiger passirt sind.

Dies ist aber ein völlig grundloses und recht nachtheiliges Vorurtheil, das unser alter Arndt – gesegnet sei sein Andenken! – durch die That widerlegt hat. Fragt nur einen solchen Kernmann um seine Meinung, und er wird gewiß den Schlittschuhlauf als das würdigste Männer-Vergnügen preisen und empfehlen.

Wollt ihr euere versessenen Leiber recken und strecken und frisch mit Saft und Kraft erfüllen – so ungefähr würde er sprechen – wollt ihr des Leibes und Geistes Gesundheit und Frische hegen und Pflegen, ei, dann lernt und übet die edle Kunst Thialf’s, auf die unser Nord wenigstens ebenso stolz sein kann, wie der Italiener und Spanier auf ihre Tarantellas und Fandangos!

Und zumal ihr,

„die ihr den Wasserkothurn
zu beseelen wißt und flüchtiger tanzt,“

kommt, wenn auch graue Haare sich unter den dunkeln eingeschlichen und selbst wenn das Haupt winterlichst aussieht, kommt auf die Eisbahn, die im bescheidenen Maßstabe fast jeder deutsche Winter bietet! Fahrt und führt auch eure Kinder in die köstliche Kunst ein! Bescheert Knaben und Mädchen Schlittschuhe und schult sie, wie der Vogel seine Jungen fliegen lehrt, im sausenden Eistanze!

Und ihr, würdige Vorstände der Städte und Dörfer, denen das Gedeihen der Jugend am Herzen liegt, schenkt neben den Eisenbahnen auch der Eisbahn geneigte Rücksicht! Verbietet nicht das Fahren auf Teichen, weil es den Fischen schade, denn die stört der Tänzer aus dem Krystalldache so wenig, wie der Wasserläufer im Sommer! Sorget vielmehr dafür, der Bevölkerung eine sichere und gute Schlittschuhbahn zu verschaffen! Ist kein Fluß und kein Teich in der Flur, laßt ein Becken ausgraben, das der Jugend zum Winterturnplatze diene, oder laßt einen Bach stauen, daß er eine ebene Wiese überschwemme und zur Eisbahn verglase! Ihr Alle, die ihr frische, muthige Knaben und mannhafte Jünglinge zu erziehen wünscht, begünstigt und fördert den Schlittschuhlauf, die wohlfeilste, gesundeste und schönste Bewegung! – Eine Anregung zu versuchen zur Förderung dieser edeln Leibesübung, welcher ich selbst für Kräftigung des Körpers und Erheiterung des Gemüths so viel Dank schulde – dies, geneigter Leser, war der Zweck, der mir vorschwebte, als ich mich auf der Eisbahn entschloß, diese Zeilen zu schreiben. Mögen sie nicht ohne Erfolg bleiben!




Aus der Fremde.
Grauenhafter Ausgang einer Entdeckungsreise.

Die Erforschung des Unbekannten, namentlich des Räthselhaften und Geheimnißvollen, hat für fast alle Menschen einen mächtigen Reiz. Dieser steigert sich tausendfältig, wenn sich von der Lösung des Räthsels Förderung der Wissenschaft und dadurch Nutzen für die Menschheit erwarten läßt; ersteigert sich in diesem Falle so hoch, daß ihm kühne Männer ohne Zögern Gesundheit und Leben zum Opfer bringen. Zeugniß dafür giebt seit vielen Jahren die lange Reihe muthiger Reisender aus allen civilisirten Nationen, die das geheimnißvolle Innere Afrikas aufzuschließen versuchten, das zum Theil heute noch ein ungelöstes Räthsel ist, wie Viele auch bereits ihr Leben dabei verloren; Zeugniß giebt ferner das Streben, das Innere Australiens kennen zu lernen, dem seit etwa dreißig Jahren ebenfalls bereits zahlreiche Opfer gefallen sind, z. B. unser sächsischer Landsmann Leichardt, und das in der allerneuesten Zeit zu der wahrhaft grauenvollen Tragödie, von der wir hier erzählen wollen, Veranlassung gegeben hat.

Seit längerer Zeit hatte man in Melbourne die großartigsten Vorbereitungen zu einer Erforschungsreise in das Innere des Landes gemacht. Ein einziger Privatmann gab eintausend Pfd. Sterl. zu diesem Zwecke her; fernere 2000 Pfd. Sterl. brachte man in anderer Weise zusammen, und die Regierung der Colonie wendete 4000 Pfd. auf, um aus Indien Kameele kommen zu lassen, weil man sich von der Benutzung dieser Thiere in den „Wüsten“ des Innern viel versprach. Als Alles bereit war, wählte man als Führer der Expedition einen mit dem Lande bekannten energischen und muthigen Mann, den Irländer O’Hara Burke, der nach militairischen Studien in England und Belgien eine Zeitlang als Husaren-Rittmeister in der österreichischen Armee gedient hatte, dann nach Australien gereist und Inspector der berittenen Polizei von Victoria geworden war, seinen Posten aber verließ, als er von dem Ausbruch des Krimkrieges hörte, um an demselben Theil zu nehmen, nach Beendigung der Belagerung von Sebastopol ankam und nach Australien zurückkehrte, wo er in sein früheres Amt wieder eintrat. Beigegeben wurden ihm zu der Reise Landells, welcher die Kameele aus Indien herbeigeholt hatte, ein erst 27 Jahre alter, wissenschaftlich sehr gebildeter Engländer Wills von der Sternwarte in Melbourne und zwei junge Deutsche, Dr. Becker als Zoolog und Zeichner und Dr. Beckler als Botaniker und Arzt. Außer diesen bestand die Expedition aus 25–30 Personen, 25 Kameelen und eben so vielen Pferden.

Nach langem Zweifel über den Ausgangspunkt der Reise entschloß man sich, von Melbourne nordwärts nach dem Cooper’s Creek, im Sommer (dem europäischen Winter) 1860–61 weiter nach der Nordküste, dem Meerbusen von Carpentaria, zu gehen und in solcher Weise zum ersten Male das ganze Land zu durchziehen. Am 20. August 1860 erfolgte der Aufbruch, aber man brauchte fast zwei Monate, um nach Menindie am Darling zu kommen, weil namentlich die Kameele häufig störrig oder wild waren und viel Aufenthalt verursachten. Auch veruneinigten sich die Reisenden sehr bald, so daß Landells und Beckler nach Melbourne zurückkehrten. In Menindie ließ Burke ein Depot zurück, und mit 12 Mann, 16 Kameelen und 20 Pferden erreichte er am 11. Novbr. den Coopersfluß. Hier befahl er Brahe, mit Lebensmitteln, Leuten und Kameelen drei Monate oder auch länger, wie es die Umstände gestatteten, auf ihn zu warten, er selbst aber unternahm mit Wills, King und Gray, 6 Kameelen, einem Pferd und Lebensmitteln auf drei Monate am 16. December die eigentliche Erforschungsreise, um die es sich handelte. Eine Woche nach der [125] andern verging, ohne daß man von ihm etwas hörte. Brahe wartete an dem ihm bezeichneten Punkte über vier Monate; dann nöthigten ihn Feindseligkeiten der Wilden, Erkrankung seiner Leute und der immer geringer werdende Lebensmittelvorrath zur Umkehr. Er vergrub an einer Stelle etwas von den Lebensmitteln für die verschollenen, aber doch vielleicht wiederkehrenden Cameraden unter Burke, brach am 21. April 1861 auf und traf am 29. mit dem inzwischen von Menindie – dem ersten Depot – unter Anführung von Wright herangekommenen Rest der Expedition zusammen, welcher mehrere Mitglieder, unter Andern auch Dr. Becker, am Scorbut verloren hatte und überhaupt sich in traurigen Umständen befand. In Verein zogen sie dann noch einmal an den Coopersfluß, um sich zu überzeugen, ob die für Burke vergrabenen Lebensmittel nicht etwa von den Wilden geraubt worden. Sie fanden äußerlich Alles in Ordnung und traten definitiv den Rückzug an. In Melbourne, das sie glücklich erreichten, traf man sofort alle Anstalten, die Vermißten aufzusuchen; es wurde nicht nur ein Dampfschiff nach dem Meerbusen von Carpentaria gesandt, sondern auch unter Howitt’s Leitung eine neue Expedition nach dem Coopersfluß, mit dem Auftrage, wenigstens die genauesten Nachrichten von den wahrscheinlich Verunglückten einzuziehen.

Burke’s Beerdigung.

Die neueste Post aus Australien (von Ende November 1861) meldet nun: daß Burke und Wills im Juni 1861 ab dem Coopersflusse in Folge von Erschöpfung und Hunger gestorben sind, während Gray schon früher den Strapazen erlegen war. Der Vierte, King, wurde noch lebend unter den Wilden gefunden. In seinem Besitz befanden sich die Tagebücher von Burke und Wills, aus denen hervorgeht, daß sie das Ziel ihrer Reise, die Küste des Meerbusens von Carpentaria, am 11. Februar 1861 wirklich erreichten. Sie kehrten dann, auf demselben Wege, den sie gekommen, zurück, größtentheils zu Fuß, weil sie aus Mangel an Lebensmitteln das Pferd und fast alle Kameele hatten tödten müssen. Unter Mühseligkeiten aller Art erreichten sie den Coopersfluß, wo sie die Freunde zu treffen sicher erwarteten, am 21. April Abends, sieben Stunden nachdem Brahe mit den Andern von da aufgebrochen war. Sie fanden richtig die für sie vergrabenen Nahrungsmittel, nahmen sie aus der Grube heraus und machten dieselbe sorgsam wieder zu. Da sie zu schwach waren, den Freunden nachzureisen, machten sie mehrere Versuche – vergeblich – die südaustralischen Ansiedelungen zu erreichen. Während eines solchen war es, daß Brahe und Wright zurückkamen, um nach den vergrabenen Lebensmitteln zu sehen, und sich wieder entfernten, ohne die Grube zu öffnen, weil sie unberührt aussah, obgleich Burke sie geleert und ein Schreiben hinein gelegt hatte, in welchem es heißt: „Wir haben Alle viel Hunger gelitten. Die hier zurückgelassenen Lebensmittel werden unsere Kräfte hoffentlich wiederherstellen. Wir haben einen Weg nach Carpentaria entdeckt. Es liegt einiges gute Land zwischen hier und der steinigen Wüste. Von dort bis zu dem Wendekreise ist die Gegend dürr und steinig, zwischen da und Carpentaria zum Theil gebirgig, doch wohl bewässert und mit reichem Graswuchs versehen. – Die Kameele können so wenig gehen als wir, sonst folgten wir der andern Partie, die leider fort ist.“

„Unsern Verdruß darüber, daß das Depot verlassen worden,“ sagt Wills in seinem Tagebuche, „kann man sich leicht vorstellen, da wir, ganz erschöpft, nach viermonatlicher beschwerlicher Wanderung und Entbehrung, mit fast gelähmten Beinen ankamen, so daß es jedem von uns fast unmöglich war, auch nur ein paar Schritte zu gehen. Solchen Schmerz in den Schenkeln und Knieen habe ich nie vorher gekannt, auch hoffe ich ihn niemals wieder zu empfinden. Die allgemeine Erschöpfung überdies macht uns zu fast Allem untauglich. Der arme Gray muß entsetzlich gelitten haben, und wir preisen uns glücklich, daß die Symptome, die sich bei ihm so zeitig einstellten, uns nicht trafen, als wir von dem Fleische eines halbverhungerten Pferdes leben mußten. Wie schmeckte uns die Suppe von Hafermehl und Zucker aus Brahe’s Grube! … Hätten wir unterwegs nicht so viel Portulak gefunden, würden wir [126] wahrscheinlich nicht im Stande gewesen sein, bis hierher zurück zu kommen.“

Wie viel die Reisenden auch gelitten hatten, das Schlimmste stand ihnen noch bevor bei dem Versuche, Adelaide zu erreichen. Sie zogen hin und her und würden bald genug verhungert sein, wenn nicht die Wilden, denen sie gelegentlich begegneten, freundlich gegen sie gewesen wären und ihnen Fische, bisweilen ein paar „vortreffliche feiste Ratten“ und Nardoo (Samen einer in jener Gegend viel wachsenden Wasserpflanze) gegeben hätten. Nardoo lernten sie auch selbst sammeln, stoßen und als Mehl gebrauchen. Damit und mit Fischen, die sie bisweilen fingen oder einem Raubvogel abjagen konnten, erhielten sie sich am Leben, obgleich ihre Kräfte mehr und mehr abnahmen. Davon sprechen zahlreiche Stellen in Wills’ Tagebuche. So schreibt er am 20. Juni (nachdem sie also bereits zwei Monate vergebens gesucht hatten, weiter zu kommen): „King ist ausgegangen, um Nardoo zu suchen; Burke ist bei mir und stößt den Vorrath, den wir noch haben. Es steht mit seinen Füßen sehr schlecht. Mit King geht es am besten; der Nardoo bekommt ihm. Da Mittags die Sonne ziemlich warm schien, so unternahm ich eine große Wäsche meines Körpers, aber sie nützte mir nichts, als daß sie etwas Schmutz entfernte, denn ich war zu schwach. Der Nardoo bekommt mir gar nicht, und doch sind wir auf ihn allein angewiesen.“ Am nächsten Tage setzt er hinzu: „Ich fühle mich schwächer als je, und wenn nicht irgend welche Hülfe kommt, kann es nicht lange mehr dauern. Kaum kann ich noch aus der Hütte herauskriechen…. Wir leiden zugleich viel von der Kälte, namentlich da es mit unserer Bekleidung schlimm aussieht. Ich habe nur noch einen breitkrämpigen Hut, ein wollenes Hemd ohne Aermel, Ueberreste von weiten Flanellhosen, zwei Paar ganz zerrissener Strümpfe und eine Weste, an der ich wenigstens bis jetzt die Taschen zu erhalten gesucht habe. Die Andern sind nicht besser daran.“ Nach zwei Tagen schreibt er: „Nichts als der größte Glücksfall kann uns noch retten; ich selbst lebe, wenn das Wetter günstig ist, höchstens noch fünf bis sechs Tage. Mein Puls schlägt nur 48 Mal in der Minute und sehr schwach. Meine Arme und Beine sind Haut und Knochen.“

Aus der Erzählung King’s führen wir die traurige Geschichte weiter. „Wills wurde so schwach, daß er nicht mehr wie sonst ausgehen und Nardoo suchen konnte; dabei hatte er nicht einmal die Kraft mehr, die Samen zu stoßen, und bald befand er sich in ganz hoffnungslosem Zustande. Burke’s Schwäche nahm ebenfalls täglich zu, so daß ich allein für Drei Nardoo suchen und stampfen mußte. Ich that es, so lange ich die Kräfte dazu hatte; als es aber auch mit mir schlimmer wurde, so daß ich mehrere Tage nicht ausgehen konnte, verzehrten wir unterdeß unsern ganzen Vorrath auf sechs Tage, den wir gesammelt hatten. Als ich mich etwas erholt, sagte Burke, ich möchte einen Nardoo-Vorrath auf drei Tage sammeln; mit diesem wollten wir dann aufbrechen, um Wilde aufzusuchen und von diesen wo möglich Hülfe für uns und für Wills zu erhalten, der zurückbleiben müßte. Als der Vorrath erlangt war, fragte Burke Wills noch einmal, ob er diesen Plan billige, weil wir ihn, den Freund, sonst unter keiner Bedingung verlassen würden. Wills wiederholte, es sei dies die einzige Möglichkeit der Rettung, und gab Burke einen Brief, sowie seine Uhr für seinen Vater. Wir legten Nardoo für mehrere Tage ganz in seine Nähe, nahmen Abschied von ihm und brachen traurig auf. Schon bei der Wanderung am ersten Tage kam mir Burke sehr schwach vor; er klagte über heftige Schmerzen in den Beinen und Armen. Am zweiten Tage waren wir kaum eine halbe Stunde gegangen, als er sagte, er könne sich nicht weiter fortschleppen. Ich bestand darauf, daß er versuchen müsse, weiter zu gehen, und ich führte ihn eine Strecke, erkannte aber bald, daß seine Kräfte völlig erschöpft waren. Er warf Alles von sich, was er zu tragen hatte, wie wenig es auch war. Nun wankten wir von Neuem weiter, bald aber schlug mir Burke vor, wir sollten, wo wir eben wären, Nachtlager halten. Mit Mühe brachte ich ihn bis zum nächsten Wasser. Im Liegen schien sich Burke’s Zustand zu verschlimmern, obwohl er mit ziemlichem Appetit von der Krähe gegessen, die ich zu schießen das Glück gehabt hatte. Er selbst sagte, es könne mit ihm nur noch einige Stunden währen, und gab mir seine Uhr und ein Taschenbuch, in das er noch etwas schrieb. „Hoffentlich,“ sprach er zu mir, „bleiben Sie bei mir, bis ich gestorben bin – es ist doch ein Trost, zu wissen, daß man nicht ganz allein in der Wildniß liegt und stirbt. Ehe ich sterbe, geben Sie mir mein Pistol in die rechte Hand; dann – lassen Sie mich unbegraben liegen.“ – In der Nacht redete er ganz und gar nicht mehr, und gegen acht Uhr am andern Morgen verschied er. Ich blieb einige Stunden bei der Leiche; da dies aber nichts nützen konnte, entschloß ich mich, weiter zu wandern und Eingeborene aufzusuchen. Ich fühlte mich sehr einsam in der weiten Einöde. Mehrere Tage zog ich umher und als ich einmal drei Krähen geschossen hatte, fiel mir ein, mit denselben zu dem armen Wills zurückzugehen, um zu sehen, wie es mit ihm stehe. Er lag todt in seiner Hütte. Die Eingeborenen waren dagewesen und hatten ihm etwas von seinen Kleidern genommen. Ich vergrub den Leichnam im Sande und blieb einige Tage in der Nähe; dann machte ich mich von Neuem auf, die Wilden zu suchen.“

Dies gelang ihm bald, und die Eingeborenen nahmen ihn auch freundlich auf, zumal er ihnen versprochen hatte, es würden mehrere Weiße kommen und ihnen Geschenke dafür geben, daß sie ihn gastlich behandelt.

Er blieb dann einen Monat bei ihnen. Howitt, der, wie erwähnt, zur Aufsuchung der Vermißten ausgesandt war, fand King bei den Wilden am 15. September 1861, und er schreibt in seinem Tagebuche: „Er saß in einer Hütte, welche die Eingebornen für ihn eingerichtet hatten, und gewährte einen betrübenden Anblick, denn er war zu einem wahren Schatten abgezehrt; er konnte nur an den ihm noch übriggebliebenen Kleiderfetzen als ein civilisirtes Wesen erkannt werden. Er schien nicht nur körperlich, sondern auch geistig sehr schwach geworden zu sein, denn bisweilen war es unmöglich, Sinn in seinen Worten zu finden. Die Eingebornen hatten sich alle eingefunden, saßen am Boden umher und sahen sehr erfreut aus. – Am nächsten Tag hatte es sich mit King so auffallend gebessert, daß er kaum wieder zu erkennen war. Am dritten Tage verließen wir alle das Lager der Wilden, um eine traurige Pflicht zu erfüllen, die mir schwer auf dem Herzen lag und die ich nur verschob, um King Zeit zu geben, sich so weit zu erholen, damit er uns begleiten könnte. Wir mußten vor allen Dingen unsere Todten begraben. Der arme Wills lag in der Hütte, in welcher er gestorben und von King in Sand vergraben worden war. Wir sammelten sorgsam seine sterblichen Ueberreste und bestatteten sie da, wo wir sie gefunden hatten. Ein Gebetbuch hatte ich nicht, ich las deshalb das 5. Capitel des ersten Briefes an die Korinther. Dann bildeten wir einen Sandhügel auf dem Grabe und legten Zweige darauf, damit die Eingebornen durch bei ihnen selbst gebräuchliche Zeichen abgehalten würden, die letzte Ruhe des Dahingeschiedenen zu stören. In die Rinde eines Baumes ganz in der Nähe schnitt ich:

W. J. Wills
45 Ellen
nach
W.-N.-W.

Ein Notizbuch und verschiedene Kleinigkeiten, die umherlagen, zwar an sich keinen Werth hatten, aber uns doch von Interesse waren, nebst Nardoo-Samen, von dem die Unglücklichen sich genährt hatten, und einem hölzernen Troge, in welchem er gereinigt worden war, nahm ich mit mir. – Am nächsten Tage suchten wir die Stelle auf, an welcher Burke liegen sollte, und bald fanden wir sie. Der Revolver, den die Leiche noch in der Hand hielt, war mit Blättern und Erde bedeckt und sehr verrostet. Dicht daneben gruben wir ein Grab und in dieses legten wir die Ueberreste, eingehüllt in eine englische Flagge, gewiß die beste Hülle für die Gebeine eines muthigen, aber unglücklichen Mannes. In die Rinde eines Buchsbaumes zu Häupten des Grabes schnitt ich:

R. O’H. B.

Nachdem wir die Eingeborenen, welche King so freudig aufgenommen und unterstützt, reichlich beschenkt hatten, traten wir die Rückreise an, die glücklich von Statten ging.“

Diezmann.

[127]
Bill Hammer.
Episode aus dem Bürgerkriege in Missouri.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Eilig und mit gepreßtem Herzen machte sich der Bursche nach des Freundes Wohnung auf den Weg; dort fand er indessen Alles fest verschlossen, und nur der Wiederhall von innen antwortete auf sein immer verstärktes Klopfen. Einige Minuten stand er mit sorgenvoll gerunzelter Stirn, scharf überlegend in den dick überzogenen Himmel blickend; dann nickte er wie in einem gewonnenen Troste und wandte sich dem nächsten Hause zu. Er wollte die Runde durch die Wohnungen der ganzen Stadt machen, irgendwo mußte er auf seine Mutter treffen; denn konnte auch Fred durch irgend eine Nothwendigkeit zu einem augenblicklichen Verlassen des Orts gezwungen worden sein, so ließ sich doch dies bei ihr in keiner Weise denken. Und so trat er seine Wanderung an, sich von keinem der Hindernisse ermüden lassend, die sich fast mit jedem Schritte in seinen Weg stellten. Ueberall fand er die Häuser verschlossen, nur zaghaft und widerwillig ward ihm geöffnet oder auch nur durch die Thür nach seinem Begehren gefragt, und selten wurde ihm auf seine Frage mehr als eine kurze verneinende Antwort; – Niemand hatte seine Mutter gesehen, noch von ihr gehört, und selbst als er auf eine frühere Nachbarin traf, deren Haus gleichfalls niedergebrannt war, wurde ihm weder Auskunft noch Trost. Die Frau war erst, als der Rauch schon ihre Stube gefüllt, aus dem Bette geschreckt worden und wäre in dem Bemühen, sich zu retten, fast durch das beginnende Gewehrfeuer getödtet worden – sie hatte keine Ahnung, wie es ihren übrigen unglücklichen Nachbarn ergangen sei.

Immer kleiner ward die Zahl der Häuser, welche Bill noch zu durchfragen hatte, und immer mehr zog sich bei jeder neuen verneinenden Antwort dem Knaben das Herz zusammen – seine Mutter sammt Fred schienen völlig verschwunden zu sein, und er begann in seiner Angst sich jede Art von Möglichkeit, die dieses Verschwinden zu erklären vermöchte, zusammen zu stellen; sein aufgeweckter Verstand verwarf aber die entstehenden abenteuerlichen Gedanken fast eben so schnell, als sie sich gebildet hatten, und zuletzt blieben ihm nur noch zwei Annahmen, beide aber so gräßlich, daß er sie mit einer peinlichm Furcht immer noch in den Hintergrund seiner Seele drängte. Fred war zu Anfang des Ueberfalls gesehen worden – er mochte sich während dessen Bill’s Mutter erinnert und sie zu retten versucht haben; war er dabei in die Hände der wilden Rotte gerathen und seine Mutter ohne Hülfe in den Flammen umgekommen? oder waren Beide vielleicht als Opfer für die Rachsucht der Secessionisten hinweg geführt worden? Es war eine bekannte Thatsache, daß auf dem bisherigen Mordbrennerzuge weder Alter noch Geschlecht geschont worden war, wo es sich um Deutsche gehandelt.

In fieberhafter Hast setzte er seine Nachforschungen fort und fühlte nicht den wiederbeginnenden, vorn Winde gepeitschten Regen, vor dem sich selbst die bewaffneten Bürger nach geschützten Stellen zurückzogen; als aber in dem letzten Hause die Thür vor seinem Gesichte wieder zugeschlagen ward, als er sich überzeugte, daß innerhalb der improvisirten Befestigungen kein weiterer Ort sich befand, der für die Gesuchten einen Aufenthalt hätte abgeben können, da ward es ihm plötzlich, als solle die Angst und Ungewißheit ihn wahnsinnig machen; wie ein Riese hob sich der Gedanke, jede andere Vorstellung erdrückend, in ihm, daß er unter den Brandruinen der Häuser seiner Mutter Gebeine hervorzusuchen haben werde, und ohne selbst recht zu wissen, was er that, stürzte er die Straße hinab, den zerstörten Wohnungen zu. Er arbeitete sich durch die Barrikade und blieb mit zitternden Gliedern vor den schwarzen qualmenden Trümmern stehen, die ihm nicht einmal erlaubten, mit Sicherheit die Stelle anzugeben, wo eins oder das andere der Häuser gestanden.

Aus dem Chaos von Gedanken, stürmenden Empfindungen und dunklen Entschlüssen, welches in diesem Augenblicke sein Inneres durchwogte, riß ihn ein wiederholter, halbverdeckter Ruf. „Master William, ich habe Ihnen etwas zu sagen!“ klang es von Neuem, und Bill’s verstörter Blick traf auf das Gesicht des Schwarzen, mit welchem er beim gestrigen Verlassen von Anderson’s Farm das letzte Gespräch gehabt und der jetzt in einiger Entfernung sich scheu neben einer Gruppe von Büschen hielt. In der gegenwärtigen Stimmung des Knaben mußte alles ihm Begegnende Bezug auf die Vermißten erhalten, und die letzten Worte des Negers schienen ihm nur die endliche Beseitigung seiner Ungewißheit zu verheißen. Seine Stimmung sprang von der Verzweiflungsgrenze zur neuen Hoffnung über. „Halloh, Dick! warum kommt Ihr denn nicht heran?“ rief er, dem Schwarzen entgegen eilend.

„Darf nicht, Sir!“ erwiderte dieser, den Kopf in die Schultern ziehend und beim Nahen des Knaben völlig hinter das Gebüsch zurücktretend, „Mr. Anderson hält’s mit den Secessionisten, und so meinte der Mann mit der Flinte dort, ich müsse ein Spion sein. – Miß Alice hatte mich hergeschickt,“ fuhr er angelegentlich fort, „um Master William, wenn ich ihn träfe, doch um Gottes Willen zu bitten, schnell einmal nach der Farm zu kommen!“

„Sie weiß etwas von meiner Mutter oder von Fred Minner?“ fragte Bill hastig.

„Kann’s nicht sagen, Master Will, aber ich glaube, sie erwähnte Mr. Minner – jedenfalls muß es recht nothwendig sein, um was sie mich schickt!“ war die eilfertige Antwort. „Es ist ein Theil von den Secessionisten in Mr. Anderson’s Hause, die, wie es heißt, in der Nacht noch Verstärkung erwarten, und Miß Alice befahl mir deshalb, Sie nur heimlich und auf ganz sichern Wegen nach der Farm zu bringen.“

„Etwas muß sie wissen, wär’s auch jetzt nur von Fred!“ murmelte Bill, wie sich allen Zweifeln entreißend. „Vorwärts, Dick, ich bin fertig!“ rief er, sich den Hut fester auf den Kopf drückend, und mit einem Nicken der Befriedigung nahm der Schwarze seine Richtung durch den sprühenden Regen quer über das offene Land dem Walde zu.

Die Dunkelheit begann schon hereinzubrechen, als Beide nach einem mühseligen Wege sich durch ein nasses Maisfeld nahe dem Farmhause arbeiteten und Dick endlich den Knaben bat, hier ein Weilchen zu warten, damit er nachsehen könne, wie weit ihr fernerer Weg sicher sei. Der Schwarze verschwand, und Bill stand zwischen den tropfenden Maisstengeln, bemüht, einen frostigen Schauer von sich zu schütteln. Ueber ihm brauste der Sturm durch die Bäume, aus der Farm klang zeitweise ein halbverwehtes Lachen herüber, das dem Knaben die gefahrvollsten Augenblicke der letzten Nacht wieder vor die Seele rief, und ein Gefühl wie Heimathslosigkeit überkam ihn. Hier, wo er das letzte Jahr sein Brod gehabt, durfte er sich nicht mehr zeigen, sein mütterliches Haus war niedergebrannt, und kaum hätte er, seit Fred verschwunden war, gewußt, wo für die nächste Nacht ein Obdach zu finden, wenn es ihm nicht irgendwo aus Barmherzigkeit gewährt wurde. Aber nur für eine kurze Zeit behielt das Gefühl des Zagens in ihm die Oberhand; dann verwandelte sich sein ganzes Denken und Empfinden in einen grimmigen Haß gegen die Secessionisten, die das gesegnete Land in’s Elend stürzten und alles Familienglück vernichteten, wo sie nur auftraten; er hätte einen Eid schwören mögen, sie mit ewiger Feindschaft zu verfolgen und des eigenen Lebens dabei nicht zu achten – und die aus den eigenen Gedanken sich entwickelnde Erregung begann ihn warm zu machen, daß bald Nässe und rauhe Luft ihren Einfluß auf ihn verloren. Erst nach fast einer Viertelstunde stellte sich Dick wieder ein, kaum war aber dem Knaben die Zeit bis dahin lang geworden, und als dieser jetzt dem Schwarzen folgte, fühlte er eine Energie in sich, die ihn vor dem schwierigsten Unternehmen, sobald es sich nur gegen die Secessionisten richtete, nicht hätte zurückschrecken lassen.

Es war bereits so dunkel geworden, daß Beide, ohne besonderer Vorsicht zu bedürfen, ungesehen nach einem kleinen Hintergebäude gelangten, das zur Aufbewahrung der Feldgeräthschaften diente, und kaum hatte hier der Schwarze die Thür geöffnet, als ihnen auch Alice Anderson, von einer Handlaterne beschienen, in sichtbarer Aufregung entgegentrat. „Halte Wache, Dick, und benachrichtige uns bei Zeiten, sobald Jemand hierherkommt!“ sagte sie; und kaum hatte der Schwarze den Raum verlassen, als sie

[128] hastig Bill’s Hand faßte und ihn von der Thür hinweg nach dem Innern zog.

„Es ist etwas Schreckliches im Werke, Bill,“ begann sie hier mit fliegender Stimme, „ich habe nur etwas davon erlauscht, aber es ist genug, um mich das Ganze ahnen zu lassen – höre Bill, und dann sage, wie eine Hülfe möglich ist –!“

„Nur Eins zuvor, Miß Alice,“ unterbrach sie der Knabe, „wissen Sie etwas von Fred und meiner Mutter, von denen kein Mensch in Pleasant-Grove etwas wissen will?“

„Wenn Deine Mutter nicht da ist, so hat sie Fred in Sicherheit gebracht, darauf verlaß Dich – höre mich nur an!“ entgegnete das Mädchen in Hast. „Fred hat diesen Morgen, kaum daß der Angriff auf Pleasant-Grove abgeschlagen war, sich selbst auf den Weg nach Jefferson-City gemacht, um Hülfe herbeizuholen.

Ich habe ihn gesprochen und weiß, daß es sein bestimmter Plan ist, mit dem letzten Eisenbahnzuge Verstärkung für die Deutschen zu bringen. Es wußte Niemand darum, als der Müller Riese, welcher an seiner Stelle das Commando übernommen hat, und doch ist der Plan nicht geheim geblieben. Mein Vater hat Kenntniß davon und auch der Colonel der Secessionisten; ich habe sie Beide heimlich mit einander rathschlagen hören. Sie haben die Tragbalken der Eisenbahnbrücke zerstören wollen, daß der Zug durchbrechen und mit Allen darauf in den Abgrund stürzen soll – und schon seit Mittag ist Vater weg! – Bill!“ rief sie in voller Angst ausbrechend, „sage um Gotteswillen, ob Du einen Rath weißt, wie dem gräßlichem Unglücke vorzubeugen!“

Der Bursche starrte das Mädchen mit weit geöffneten Augen an; dann fuhr er wie im plötzlichen Entsetzen auf. „Geben Sie mir die Laterne – rasch! es ist gewiß schon fast sieben Uhr, und in einer halben Stunde kommt der Zug! ich muß ihm entgegen und warnen!“

„Aber Du kommst nicht über die Schlucht, wenn die Brücke zerstört ist!“ jammerte das Mädchen.

„Ich muß, ich muß!“ stöhnte Bill, wie trotz seines Entschlusses von ihrem Einwürfe getroffen. „Halt, das ist es!“ rief er und griff nach einem zusammengerollten Seile, auf das seine suchenden Augen unter den übrigen Geräthschaften getroffen, „und nun, Miß Alice, beten Sie zu Gott, daß er mir es gelingen läßt – es ist heute kein Glückstag für mich gewesen!“ Die Laterne unter dem Flügel seines Rockes bergend, daß ihn der Schein nicht verrathe, eilte er davon, ehe noch das Mädchen im Stande war, ein Abschiedswort für ihn zu finden.

Bill hatte sich nach dem nächsten Maisfelde gewandt, das ihn bis zu einiger Entfernung vom Hause vor jeder Entdeckung sicher stellen mußte, und verfolgte in Hast eine breite Furche, die sich ihm geboten. Nur in einzelnen Strahlen ließ er das Licht vor sich fallen, um nicht aus der Richtung zu gerathen, und trat bald auf freies Land hinaus. Hier kannte er jeden Fuß breit, aber ein wüthender mit Regen vermischter Sturm empfing ihn, der ihn, bei jedem Schritte vorwärts, wieder zurück zu werfen drohte, und erst als er mit Anstrengung einen Fußweg am Saume des Waldes erreicht, erhielt er einigen Schutz. Den Kopf gegen den Wind gebeugt, die Laterne, deren Licht ihn nur blendete, verdeckt, strebte er vorwärts, so rasch es nur seine Kräfte vermochten; die Eisenbahnbrücke konnte jetzt kaum mehr als zehn Minuten Entfernung vor ihm liegen, und schon hörte er durch das Geräusch des Sturmes ein entferntes Brausen, das ihm zeigte, wie hoch der Bach vom Regen angeschwollen sein mußte. Da blieb er plötzlich stehen und horchte hinter sich. Schon zweimal war es ihm gewesen, als folge Jemand im Walde neben ihm seinen Schritten, und jetzt meinte er deutlich das Knacken eines durchbrochenen Gesträuchs gehört zu haben. Aber es blieb ihm keine Zeit, weitere Untersuchungen darüber anzustellen, sein Aufhorchen war auch nur ein mehr unwillkürliches gewesen; vorwärts eilte er wieder, und deutlicher ward mit jedem Augenblicke das Rauschen und Brausen der Wasser in der tiefen, steilen Schlucht, in welcher der Waldbach sein Bett gewählt. Schon betrat er die Schienen der Eisenbahn, welche der Brücke zuführten, da fegte ihm der Sturm mit einer Macht entgegen, die ihn einen Augenblick völlig betäubte; in der nächsten Minute aber weckte ihn ein donnerähnliches Krachen und Prasseln vor ihm, und er wußte, daß die von den Secessionisten ihres Haltes beraubte Brücke soeben vor dem Andränge des Wassers zusammengebrochen war. Als er mit raschen Schritten das steil abfallende Ufer der Schlucht erreicht, wo nicht ein Stückchen Balken mehr das frühere Dasein des Baues bezeichnete, schwang er seine Laterne, um einen möglichst großen Lichtkreis zu gewinnen, aber nur der schwarze gähnende Abgrund, aus welchem das Tosen der wilden Fluthen heraufklang, zeigte sich seinen Blicken – und seiner Berechnung nach konnte kaum noch eine Viertelstunde Zeit bis zu Ankunft des Zugs, der ohne seine Warnung mit allem Lebenden, das er herbeiführte, rettungslos in das Verderben stürzen mußte, übrig sein. Ein unwillkürliches, aber inbrünstiges „O Gott im Himmel, laß es doch gelingen!“ entrang sich seiner Brust; dann trat er rasch einige Schritte am Ufer hin, wo sich ihm der Stumpf eines abgehauenen Baumes gezeigt hatte, und entrollte das mitgebrachte Seil. Er legte es doppelt, hing es über den Stumpf und ließ sich jetzt mit dessen Hülfe, die Laterne an seinen Arm gehangen, vorsichtig an der steil abfallenden Erdwand hinunter. Jeden Stützpunkt, den seine Füße finden konnten, benutzend, erreichte er rasch und glücklich den Boden der Schlucht und sah sich nun auf einem steinigen Absätze, die dunkele, weiß schäumende Fluth vor sich. Sein erster Blick belehrte ihn indessen, daß hier hindurch zu kommen unmöglich sei; der scharfe, wilde Strom hätte ihn bei dem ersten Schritte in das Wasser mit sich fortgerissen, und zwei Secunden lang stand er rathlos. Wieder schwang er die Laterne nach allen Richtungen, und sein Auge blieb endlich an einem Gegenstände zu seiner Linken hängen, an dem die Wellen sich schäumend brachen. Vorsichtig versuchte er näher zu kommen und faßte glücklich das Bruchstück eines frühern Brückenpfeilers als Halt für seine Untersuchung – ein junger Baum, den die Fluth mit sich gerissen, lag vom Wasser überströmt zwischen beiden Ufern eingeklemmt. Hier allein konnte ein Uebergang vollbracht werden, wenn dieser überhaupt möglich war. Sein Licht hoch haltend, spähte Bill scharf nach dem jenseitigen Ufer; er sah die gebrochenen Aeste des Baumes dort aus der sie umschäumenden Fluth ragen und hätte aufjauchzen mögen – jetzt war er sicher, sein Unternehmen durchzuführen, wenn nur der Zug so lange ausblieb, als er Zeit für sich bedurfte. Rasch faßte er das eine Ende seines Seiles und zog damit das andere von der Höhe des Ufers, wo es um den Baumstumpf lief, herab – er schnitt sich damit den sichern Rückweg ab, er wußte es, aber ein Rückwärts gab es nicht mehr für ihn. Dann knüpfte er in Hast eine weite doppelte Schlinge und warf diese hinüber nach den Aesten des gestürzten Baumes; wohl hatte er drei Mal nach verfehltem Wurfe das Seil wieder durch das Wasser zurückzuziehen; beim vierten Wurfe indessen blieb die Schlinge hängen; er zog mit aller Macht, um den Halt zu prüfen, aber sie saß fest, und in bebender Eile schlang er jetzt das Tau um den gebrochenen Brückenpfeiler zu seiner Seite, spannte es an, soviel seine Kräfte es vermochten, und knüpfte es fest; dann trat er, mit der einen Hand kräftig das Seil fassend, mit der andern die Laterne hoch haltend, ohne Bedenken nach dem überströmten Stamme hinab. Schon bei seinen ersten Schritten merkte er, daß es seiner ganzen Vorsicht bedurfte, um auf der schlüpfrigen Bahn festen Fuß zu gewinnen; je weiter er aber der Mitte des Baches zuschritt, je höher stieg das Wasser an seinen Beinen herauf, und oft fühlte er, wie die Macht des Stromes ihn fast unwiderstehlich hinunter in die Tiefe zu drängen drohe, und wie es seiner ganzen Kraft bedurfte, um sich den nöthigen Halt am Seile zu geben. Er hatte die Mitte der Fluth erreicht, wo ihr Zug am stärksten war, und blickte eben besorgt vor sich, denn hier schien sich der Stamm völlig auf den Grund gesenkt zu haben, da klang es plötzlich von der Höhe des rückwärts liegenden Ufers: „Halloh, wer ist dort unten?“ Bill zuckte zusammen, das war die Stimme seines bisherigen Brodherrn, Anderson, desselben Mannes, welcher die Brücke zerstört. Harrte er auf den herankommenden Zug, um sich von dem Gelingen seines teuflischen Werkes zu überzeugen? oder war er es gewesen, den Bill beim Beginn seines Weges hinter sich gehört? Eins stand dem Knaben in voller Gewißheit vor der Seele: Gelang es dem Manne, ihn zu erreichen, so war es mit der Rettung des Zuges vorüber! und hastig, ohne an die erhöhte Gefahr zu denken, trat Bill in das tiefere Wasser, das, obgleich er auf den Baumstamm traf, ihm bis über die Kniee ging und mit gewaltiger Kraft ihn fast in den kochenden Strudel daneben gezogen hätte. Noch zeitig genug hatte Bill mit beiden Händen das Seil gepackt und trat jetzt mit Anstrengung aller seiner Kräfte auf’s Neue vorwärts.

(Schluß folgt.)

  1. Im Sommer dieses Jahres erscheint eine ausführliche Biographie C. M. von Weber’s von dessen Sohne, dem Verfasser obiger Skizze. Dieses Werk, zu dem eine ungemein große Menge ungedruckten und andern Personen völlig unzugänglichen Materials benutzt worden ist, verspricht interessante Mittheilungen über Lebens- und Musikverhältnisse verschiedener Hauptstädte etc. zu bringen. Verknüpft wird damit eine neue Ausgabe von Weber’s hinterlassenen Schriften werden.
    D. Red.
  2. z. B. Iffland.
  3. „Briezeln“ (von Brezel abgeleitet) nennt man in Thüringen recht bezeichnend den Laut, den eine frische Brezel oder ein dünner Eisspiegel beim Drucke hören läßt.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hatten
  2. Vorlage: Bognar