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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[753]

No. 48.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Junker von Hohensee.

Eine alte Geschichte.
Von Edmund Hoefer.
(Schluß.)


„Weißt Du das so bestimmt, mein Kind?“ fragte die Mutter herb. „Andere denken darüber doch vielleicht anders, und auch ich meine, daß eine veränderte Stellung zu einander auch andere Gefühle für einander, wenigstens eine andere Aeußerung derselben bedingt.“ – „Und ich für meine Person weiß nur, daß es für den Mann so gut wie für die Frau ein Schimpf ist, wenn man hinter ihrem unbefangenen Verkehr gleich etwas Schlechtes argwöhnt,“ versetzte ich gleichfalls scharf. „Und ich weiß ferner, daß da das traurige Sprüchwort zur Geltung kommen würde: was ich selber thu’, trau’ ich Anderen zu! – Nur ein schlechter oder unsinniger Mensch könnte dergleichen Einfälle haben, und beides ist Julius nicht.“ – „Wir einigen uns nicht, wie es scheint,“ sagte sie kalt. „Aber gleichviel; ich wollte Dich aufmerksam machen und habe das hiermit gethan. Nun handle, wie Du es verantworten kannst.“

Sie wandte sich mit einer entlassenden Handbewegung von mir ab in einen anderen Steig hinein, und ich ging in schweren Gedanken dem Hause zu, denn wirkungslos waren der Mutter Worte nicht geblieben, wie herb’ ich sie auch abgewiesen. Nur wirkten sie anders, als sie vielleicht gesollt, denn sie verscheuchten mich nicht von Livia, sondern machten mich nur bitter und zornig über die Thorheit und Quälerei, die ich sich gegen uns erheben sah, und riefen zugleich in mir alle Reste des alten Trotzes wach. Und sie waren gefährlich, diese Mahnungen! Indem sie andeuteten, daß man uns Unrechtes zutrauen könnte, ließen sie mich selber erst an dies Unrecht denken. Bei Gott und meiner Ehre, mögt Ihr es paradox heißen oder sentimental – bis dahin hatte sich nichts in mir geregt als jene Frage: warum mußte sie mir genommen werden, sie, die mich, wie ich es jetzt fühle und weiß, beglückt haben würde, sie, die ich glücklicher gemacht, als ein Anderer es vermag? Denn Niemand liebt sie mehr als ich, und Niemand versteht ihr Wesen, ihr Sehnen und Bedürfen so wie ich! – Ein unheiliger Gedanke war mir niemals nahe gekommen. Livia’s Wesen war nicht dazu gemacht, dergleichen entstehen oder gar sich festsetzen zu lassen. Nun aber waren solche Vorstellungen angeregt, und wenn ich sie auch zornig weit von mir stieß – sie waren dagewesen, ich sah, wie ich schon bei der nächsten Begegnung merkte, das holdselige Geschöpf mit anderen Augen an als bisher – heißt es finsterer oder trauriger, scheuer oder befangener, das ist Alles einerlei ! – und ich sah auch der bevorstehenden Rückkehr meines Bruders mit anderen Blicken und Gefühlen entgegen.

Es gingen noch ein paar Tage hin, man hielt Livia und mich so sichtbar auseinander, daß es auch ihr nicht entgehen konnte.

Sie fügte sich in diesen Zwang, ich weiß nicht, ob nachgebend oder mit eigenem Willen. Ich vermag überhaupt nichts von ihr zu sagen. Sie war so lieblich und holdselig, so innig und gütig wie je, aber so unbefangen wie früher war sie seit dem Morgen, da ich nach Liebenhagen ritt, nicht wieder geworden. Hatte sie erkannt, was damals in mir vorgegangen? Begriff sie, was es seitdem in mir gab? – Ich wußte es nicht, mein Freund, ich glaubte aber, wie jeder in meiner Lage, nicht daran, da ich mit meinem Willen wenigstens nichts aus meinem Innern hervortreten ließ und mein Gefühl, das ich nicht zu überwinden vermochte, fest im Zaum zu halten meinte.

Also, ein paar Tage gingen noch hin, und dann war mein Bruder eines schönen Morgens wieder da. Die öffentliche Begrüßung der Gatten war freundlich und schicklich, nicht mehr, ich hatte aber auch gar nicht mehr erwartet, da Julius kein Mensch der Aufgeregtheit oder lebhaften Gefühlsäußerung war, wenn er auch gelegentlich einmal bei irgend einem Ausbruch des Eigensinns oder Jähzorns ein heißes Blut verrieth. Seine Freude, als er mich begrüßte, war entschieden lebhafter, als die seiner Frau gegenüber gezeigte, und noch voller und wärmer brach es aus ihm hervor, da er seinen Knaben auf den Arm nahm. Und wie es begonnen, blieb es den Tag über; Livia ließ er für mich, und mich für das Kind im Stich, mit der heitersten und, ich möchte sagen, natürlichsten Manier von der Welt. Von Animosität oder gar Eifersucht war keine Rede. Im Gegentheil hieß er es ein Glück, daß ich in die Langeweile von Hohensee gekommen, daß ich seine Frau unterhalten und erheitert; er fände sie wohler und heiterer als früher, setzte er hinzu. Einen längeren Aufenthalt bei ihm in Sollnitz erwartete er von mir auf das Bestimmteste.

„Was willst Du hier bei dem guten, alten, langweiligen Papa und der guten, alten, steifen Mama hocken?“ sagte er. „Bis Trinitatis und bis die Pächter abziehen, bleibst Du einmal jedenfalls bei mir.“ – Es fiel mir auf, daß er nicht „uns“ sagte, zumal Livia bei diesem Gespräch gegenwärtig war, allein ich vergaß es über seinen folgenden Worten, die er jetzt mit einem freundlichen Blick auf seine Frau hinzufügte: „Und es wäre mir auch um die da lieb, Felix. Sie ist an Unterhaltung gewöhnt, während ich doch auf dem Felde und in der Wirthschaft zu thun habe und daheim oft nur noch zum Schlaf zu gebrauchen bin. Ihr kennt Euch ja von Jugend auf und wißt genug für einander. So gewöhnt sie sich nach und nach wieder an unser stilles Leben [754] Nicht wahr, Liv’chen? Mit einem Male wäre der Abstand zu groß.“ – Ich nickte ihm schweigend zu, wie auch sie. Mir war gut zu Muth, ich glaubte mich beruhigen zu dürfen. Die Mutter hatte den Versuch gemacht, mich mit Gespenstern zu quälen, und wenn ich auch nicht daran dachte, seinen Vorschlag vollständig anzunehmen, so meinte ich doch in den noch freien vierzehn Tagen – Trinitatis fiel etwa auf den 10. oder 20. Juni, denn wir hatten Ostern sehr spät gehabt – häufig in Sollnitz weilen zu können. Auf solche Weise, rechnete ich, würde ich mich am leichtesten von Livia’s Umgang entwöhnen können.

Das Alles war noch am ersten Tage, am folgenden wollten sie Nachmittags nach Sollnitz zurückfahren, und ich hatte wenig von ihnen, da sie mit Packen beschäftigt waren und Julius überdies sich ziemlich verdrießlich und störrisch zeigte. Sein Inspektor war früh Morgens dagewesen, um mit ihm zu conferiren, darauf schob ich’s; und ich war noch nicht Landwirth genug, um mich für die Zustände, welche ihn etwa geärgert, besonders zu interessiren und ihn extra darum zu befragen.

Als die Reisestunde da war, trieb er ungebehrdig und heftig zum Aufbruch, zankte mit aller Welt, krittelte über Alles, so daß auch wir Anderen nach und nach verdrießlich wurden und ihn zum Kukuk wünschten. Mich dauerte Livia grenzenlos – gegen sie richtete sich das Meiste seiner Widerwärtigkeit, und wenn ich ihren jubelvollen Wunsch, an schönen Tagen lustig durch’s Land zu fahren, mit der Fahrt verglich, die ihr nun bevorstand, so zuckte mir das Herz und ich verfolgte das geliebe Geschöpf mit traurigen Blicken. „Warum kann sie nicht mit mir!“ klang es dumpf durch mich hin.

Da der Wagen endlich vorgefallen und bepackt war, da wir zum Abschied vor der Thür standen und Livia einstieg, wandte Julius sich an mich. „Ich höre zwar, daß Du andere Pläne hast, die es besser scheinen lassen, wenn Du bald hinüber gehst und drüben weilst,“ sagte er mit einem gar eigenen Lächeln, indem er mir flüchtig die Hand reichte und entzog, „aber meine Einladung gilt, und wenn Du magst, so komm nach Sollnitz.“ – „Was für Pläne?“ fragte ich verwundert ihn anschauend. – „Ach bah, Du weißt schon,“ versetzte er, den Fuß auf den Tritt setzend; „jetzt ist keine Zeit zum Schwatzen. Also – wie Du willst! Fahrt zu!“ – Er warf sich in die Ecke der Kutsche zurück, Livia nickte uns mit mildfreundlichem Blicke zu, und der Wagen rollte vom Hofe.

„Na, was dem in die Krone gefahren sein mag!“ meinte der Vater mit gemächlichem Kopfschütteln.“ – „Möcht’s auch wissen,“ sagte ich ernstlich verletzt durch den Vorgang; „ich begreif’ es wenigstens nicht, wie ein paar dumme Wirthschaftsaffairen einen Menschen so grob machen können. Oder war es etwas Anderes?“ Und als ob mir Jemand mit Gewalt den Kopf drehe, blickte ich bei den Worten rasch auf die Mutter – der Gedanke durchschoß mich: hat sie mit ihm geredet, etwa wie neulich mit mir? Ihre Züge waren kalt und unbewegt, die harten Augen starr dem Wagen nachgerichtet. Ich ging mit dem Vater ins Haus.

Ich ließ ein paar Tage vergehen, bevor ich nach Sollnitz hinüberritt, denn Ihr begreift, daß mir nach solcher Einladung nicht viel Lust geblieben war, häufig von derselben Gebrauch zu machen, und um das zu wiederholen und ein für alle Mal damit abzumachen – wie tief, innig und glühend ich auch für meine Cousine fühlte, ich hatte nicht im Sinn, ihren Frieden zu stören, sondern wollte mit diesem Gefühl, gleichviel wie, in meinem Innern fertig werden. Fliehen, wie es ein Anderer vielleicht gethan, konnte und wollte ich nicht, da ich dazu nicht feig genug war und der Mutter und dem Baron Gerold auch keine Veranlassung geben durfte, ihren Argwohn für gerechtfertigt zu halten und auch Livia selbst unglücklich zu machen. Weiter mag ich auf dies Alles nicht eingehen, es verletzt mich und thut mir weh, heute so gut wie vor vierzig Jahren.

Mein Bruder war nicht daheim, als ich anlangte, und Livia empfing mich allein. Sie war freundlich und innig, wie immer, aber nicht frei, so daß, zumal bei meinem Zustande, unsere Unterhaltung bald stockte und immer einsylbiger wurde. Nach einiger Zeit gingen wir in’s Kinderstübchen, den Knaben in seiner Wiege zu betrachten, und dann nahm sie ihren Strohhut und forderte mich auf, mit in den Garten zu kommen und die neuen Anlagen zu besehen, auf die Julius viel Zeit und Geld verwendet hatte. Draußen schritt sie jedoch durch diese Partien schnell hindurch und wandte sich dem Küchengarten und der Bleiche zu, wo die Dorffrauen bei ihrer Arbeit waren. Sie sah nach dieser, sie redete mit der einen oder anderen und lenkte dann in den breiten Steig zurück, den die damals noch jungen Obstbäume angenehm beschatteten. Da gingen wir in gleichgültigen Gesprächen ein paar Mal auf und ab. – „Julius bleibt lange aus,“ sagte ich endlich, um nur etwas zu sagen. „Versäumt er sein Frühstück oft so?“

Sie ließ ein paar Augenblicke vergehen, ohne mir zu antworten, dann aber schöpfte sie hörbar Luft, als werde ihr ein Entschluß schwer, und plötzlich, ohne sich zu mir zu wenden, ohne die Augen zu erheben, begann sie: „Felix, es nützt nichts, ich muß offen mit Dir reden. Dein Bruder ist in sehr übler Stimmung,“ fuhr sie ganz gegen ihre Gewohnheit rasch sprechend fort, „so daß Alle darunter leiden, während doch Niemand weiß, was ihn in solcher Weise verdrießen mochte. Hauptsächlich aber gegen Dich hat er etwas, Gott weiß was, denn es bleibt bei Andeutungen, Cousin, die ich nicht verstehe oder doch nicht verstehen – genug, die mir unfaßbar sind. Es fing neulich schon, noch in Hohensee, an und ist, zumal seit gestern der Baron Gerold hier war, immer schlimmer geworden, auch – ich will ganz offen sein – auch gegen mich.“ – „Livia!“ unterbrach ich sie heftig. – „Es ist, wie ich sage,“ versetzte sie mit einem fast finsteren Lächeln, „und da es so ist, Felix, so will ich Dich bitten –“ – „Nichts, nichts!“ fiel ich ihr noch einmal in’s Wort und fügte knirschend vor Zorn hinzu: „ich muß und will also mit dem Herrn endlich einmal reden, denn diese Einmischung in fremde Angelegenheiten mag sich gefallen lassen, wer will, ich thu’ es fürder nicht mehr!“

„Sei nicht thöricht,“ sprach sie nach einer kleinen Pause. „Was erreichtest Du damit? Was geschehen ist, läßt sich nicht mehr ungeschehen machen; das Gift ist schon beigebracht und wirkt nun fort. – Ich habe unser Zusammensein überdacht,“ redete sie mit sinkender Stimme weiter; „ich habe Dein Wesen zu mir und das meine zu Dir mir so recht klar gemacht, und sei es wie es sei, Trauriges find’ ich wohl, aber ein Unrecht nirgends. Aber was hilft uns das, wie Dein Bruder nun einmal denkt? Und somit bitt’ ich Dich, Felix – wenn Du mich so lieb hast, wie ich es seit jenem Morgen drüben glaube,“ schloß sie, und da sie dabei die Augen zu mir erhob, sah ich’s wohl, daß sie von aufsteigenden Thränen verschleiert waren, ihre Wange war bleich und ihre Stimme bebte, – „wenn Du mich so lieb hast, so kommst Du für’s Erste nicht mehr herüber und lässest Dir und ihm Zeit, auch innerlich die rechte Ruhe wieder zu finden. Nicht wahr, Felix?“ – „Livia,“ sagte ich nach einer Pause, und mein ganzes Innere war eine Trauer, „Du weißt es also, wie es steht; mit Willen aber hast Du es von mir nicht erfahren – oder doch?“ – „Nein,“ entgegnete sie fester, „Du hast mich nicht ein Wort hören, nicht einen Blick sehen lassen, die zu hören oder zu sehen mir hätte empfindlich sein, die irgend Jemand Dir oder mir hätte zum Vorwurf machen können. Daß ich es trotzdem errathen, dafür kannst Du nicht, es konnte nicht anders sein. Einen Vorwurf mache ich Dir auch gewiß nicht. Laß uns jetzt nur wachen, daß das Alles in den Grenzen bleibt, welche demselben für uns gezogen sind. Und daher bitte ich Dich noch einmal, gieb ihm und Dir Zeit, wieder ruhig zu werden.“ – –

Ich sage Euch nichts von dem, was in mir vorging, während ich das junge Wesen so, gerade so, zu mir reden hörte; es war zu schwer und traurig, oder auch zu heilig für beschreibende und erklärende Worte. Es genügt die Anführung, daß ich sie niemals mehr bewundert, niemals sie heißer, inniger und reiner geliebt, als in diesem Augenblick. Eine solche Trennung aber, wie sie sie verlangte, schien mir unmöglich und gefährlich zu sein, gefährlich, weil wir dem Feinde damit Gelegenheit boten, uns noch mehr und mit einem Anschein von Recht zu verdächtigen. Ich sprach das auch gegen sie aus und schloß meine Rede mit den Worten: „Verbanne mich nicht, Livia, wenigstens nicht so ganz. Glaube mir, ich finde und habe mehr Kraft ruhig zu werden, wenn ich Dir von Zeit zu Zeit nahe bin und mich an Deinem Wesen stärke, und wenn Julius uns nur öfters zusammensieht, muß auch er wieder vernünftig und ruhig werden.“ –

Sie ging ein paar Schritte schweigend neben mir weiter, dann schüttelte sie leicht den Kopf und sagte, ohne aufzusehen, und so leise, daß ich’s kaum verstand: „Nein, geh’, Felix! Es ist für uns Alle besser! – Geh, und wenn Du’s vermagst, so denke an das, was ich von Helenen gesagt. Da wäre uns Allen geholfen – [755] uns Allen!“ – Ich blieb stehen und starrte sie an wie betäubt – es war ein doppelter Schlag, der mich traf. „Livia!“ murmelte ich. – „Es ist so,“ versetzte sie ebenso leise wie vorhin. – „Hältst Du mich dessen im Ernst für fähig?“ fragte ich. – „Ja,“ sagte sie und schlug die Augen zu mir auf mit einem Blick, wie ich ihn nie vorher und nie nachher in ihnen gesehen, so melancholisch war er, so stolz und – so gewaltig, das ist das rechte Wort! – „Ja, denn man kann Alles, was man muß, Felix, Alles. Ich hab’ es trotz der Liebe vermocht, weshalb sollten wir’s nicht aus Liebe thun können?“

Das war, wie es in den alten Legenden zu lesen ist – man sieht plötzlich den ganzen Himmel geöffnet vor dem trunkenen Blick, – nur einen einzigen Moment und dennoch lange genug, um sein ganzes Leben davon durchleuchtet zu sehen.

Ich erwiderte nichts, denn ich wußte nichts. Ich weiß auch nicht, ob und was sie vielleicht noch geredet, ob und was ich etwa geantwortet, noch wie lange das Alles gewährt. Ich hörte zum ersten Mal wieder, als sie nach einer Weile sagte: „Da kommt mein Mann. Laß uns ihm entgegen gehen.“ Ich folgte ihr mechanisch.

Julius war nicht unfreundlich. „Gott bewahre, welch ein prosaischer Spaziergang für Euch poetische Menschenkinder!“ meinte er in einem gewissermaßen spöttischen Ton, als er mir die Hand schüttelte. „Meine Anlagen hätten wohl eher einen Blick verdient.“ – „Ich hatte mit den Frauen zu reden,“ versetzte Livia gleichgültig, „und Felix begleitete mich. Jetzt wollten wir zu den Anlagen.“ – „Nein, erst zum Frühstück, ich habe Hunger,“ sprach er lachend, und wir gingen hinein, wir frühstückten, plauderten, gingen wieder hinaus zu den unglücklichen Anlagen, kurz – ich weiß nicht, was noch Alles geschah. Halb war ich wie im Rausch, halb wie im Traum, so daß es ihm auffallen mußte und er mich nach dem Grunde meines Gebahrens fragte. „Ich habe unbändiges Kopfweh,“ versetzte ich mit der bekannten, stets wieder glaubwürdigen Ausflucht. „Die Sonne hat mir auf dem Herritt zugesetzt.“ Er gab zu, daß es ungewöhnlich heiß, und bedauerte mich auf’s Herzlichste. Nach und nach kam ich denn auch wieder zu größerer Ruhe und Fassung, wie es Livia’s stillem Walten, ihrer ganzen liebreizenden Weise gegenüber nicht anders möglich war.

Gegen Mittag ging er noch einmal hinaus, und wir Zwei waren allein, ich in der Sophaecke, sie am Nähtischchen in der Fensternische, die sie, was ich damals nur in ihrem Zimmer gefunden habe, mit Epheuranken zu einer grünschattigen Laube gemacht hatte. Nach einem langen Schweigen sah sie auf und begegnete meinem Auge, das bisher wie träumend auf ihr gehaftet, mit einem schwermüthigen, fast traurigen Blick. „Du siehst es ein, Felix, so kann es nicht fortgehen,“ sprach sie. „Ich ginge an diesem Heucheln und Lügen zu Grunde. Julius wird Dich sicher einladen zu bleiben oder wieder zu kommen. Was wirst Du antworten?“ – „Du weißt es wohl, Livia,“ versetzte ich traurig und stand auf und ging langsam im Zimmer umher. „Dein Wunsch, vor allem aber Dein Friede sind die bestimmenden Mächte meines Daseins.“ – Da war sie mit einem Mal neben mir und reichte mir beide Hände und sagte, die Augen voll Thränen zu den meinen erhoben: „So will ich Dir jetzt Adieu sagen, Felix. Gott behüte und stärke Dich und vergelte Dir, was Du an mir gethan und noch thust. Und wie weit und auf wie lange wir von einander gehen – im Herzen bleiben wir einander nah. Nicht wahr, Felix, das ist keine Sünde? – Adieu, Felix!“ – Ihre kleinen Hände preßten die meinen noch einmal fest und lange, sie legte einen Augenblick, aber auch nur einen Augenblick, den Kopf gegen meine Schulter und litt es, daß ich leise mit der Hand über ihr weiches Haar strich, unfähig einen Laut von mir zu geben, und als sie sich wieder aufrichtete, lächelte sie mich innig an und sprach: „Und nun Muth, mein Freund, und mit tapferem Sinn in’s neue Leben! Das alte ist abgethan!“ –

An Vorwänden, die nicht einmal dringende Einladung des Bruders abzulehnen, fehlte es mir nicht, und so schied ich am Abend von Sollnitz. – Jetzt machte ich noch ein paar kleine Reisen, dann war Trinitatis da und ich hatte die Güter zu übernehmen, denn ich wollte wenigstens den Versuch machen, ob mir das Wirthschaften gefallen könne. Ich saß denn bald auch bis über die Ohren in all diesen Dingen und kam wenig aus meinem alten Hause, selten zu Büren’s, seltener noch nach Liebenhagen, da ich des Onkels Weise fürchtete, in der er mich stets an Livia zu erinnern liebte, und gar nicht hieher nach Hohensee. Von Briefschreiben war, wie ich schon früher gesagt, nie viel zwischen uns die Rede gewesen, jetzt hörte es ganz auf, und wenn ich nicht dennoch einmal in Liebenhagen war oder ein Bekannter bei mir einsprach, hörte ich Wochen- und monatelang von daheim kein Wort. Bei meinem Schwager Büren, muß ich noch hinzufügen, würde ich häufiger gewesen sein, hätte ich an ihm und meiner Schwester nicht eine Befangenheit wahrgenommen, die ich aus seinen, ihm jetzt sicher drückenden, Aeußerungen in der Nacht nach der Taufe nur halb zu erklären wußte, der ich aber jedenfalls keine Lust hatte, weiter nachzuforschen. Mit Gentzkow’s, um auch das zu erwähnen, kam ich kaum ein oder zwei Mal in Berührung. Daß es nicht weiter ging, brauche ich Euch nach allem Bisherigen nicht erst zu sagen.

Bald nach der Ernte, gegen Ende Augusts, kam mein Vater seinen Bruder zu besuchen und auch bei Büren’s und mir einzusehen. Er zeigte sich – als Landwirth war er nichts weniger als gleichgültig oder phlegmatisch und verstand sein Geschäft meisterlich – wohl zufrieden und durfte es sein, da ich gethan, was möglich war. Das war der Einzige der Meinen, den ich in all dieser Zeit sah, und ich erwähne seines Besuches nicht umsonst. Denn als ich mit ihm und Büren in Liebenhagen am Tisch saß und nach dem schweren Diner noch tüchtig fortpoculirt wurde, sagte er, nachdem er sich durch einen tiefen Trunk gestärkt: „’s ist hier doch besser als in Hohensee, da zeigt sich keine Menschenseele mehr als mein Herr Schwager, und wir leben wie die Mönche. Was plagt eigentlich Euch Menschengesindel, daß Ihr gar nicht einmal einseht? Du, Hans Peter, kommst auch nicht mehr nach Sollnitz, merk’ ich?“ – „Wie sollt’ ich?“ versetzte der – er hatte schon wieder die Art von Rausch, die ihn lebhafter machte – und er sah dazu grimmig aus. „Habe nicht Lust mit Fünften drein zu schlagen, und müßt’ es doch.“ – Der Vater zuckte die Achseln, Büren sah finster vor sich nieder, ich wußte nichts zu sagen, sondern sah nur Einen nach dem Anderen forschend an. Allein ich erhielt weder so noch so Antwort.

Und ich erhielt sie auch nicht, als ich am nächsten Tage, da der Alte wieder fort war, zu Büren’s hinüberritt, um mir einmal Schwester Hedwig vorzunehmen. Sie hatte hunderterlei Ausflüchte und Absprünge, sie wußte zu scherzen und mich gewissermaßen wieder zu beruhigen. Dann kamen die Kinder und mein Schwager dazwischen, so daß ich das Gespräch fallen lassen mußte, und wieder ein paar Tage daraus zwang mich mein erstes größeres Korngeschäft zu einer Reise nach Stralsund, wo ich obendrein durch allerlei Freunde und Bekannte aufgehalten wurde und in ein ziemlich krauses Leben gerieth. Denn, Vetter, solch eine Junggesellenwirthschaft, wie ich sie seit den Juni geführt, bietet zumal bei den Gedanken und Gefühlen, welche ich in mir hatte, nicht gerade Gelegenheit zum soliden Lebenswandel. Ein Kopfhänger war ich nie gewesen und ward es auch jetzt nicht. Ich schrak vor nichts zurück, ich verlangte nach Saus und Braus, auch um alles, was in mir hauste, zu übertäuben, und alles das, was späterhin das Land zum Lachen oder Staunen oder sich Aergern brachte, nahm schon damals seinen Anfang, und man wußte schon vom „Junker von Hohensee“, wie man mich der Unterscheidung von Vater, Onkel und Bruder wegen hieß, vielerlei zu erzählen.

Als ich Morgens vor der Abreise über den alten Markt ging, um ich weiß nicht was noch zu besorgen, begegnete mir ein Bekannter aus der hiesigen Gegend. „Ei sieh da, der Junker!“ sagte er, „habe Euch lange nicht gesehen, Felix. Wie geht’s, wie steht’s?“ Und nachdem ich die passende Antwort gegeben und wir noch hin und her geredet, meinte er: „Weßhalb kommt Ihr eigentlich gar nicht mehr zu uns herüber? Im Vertrauen, ist’s wahr, daß Ihr Euch mit Julius überworfen? Verdenken könnt’ ich’s Euch nicht, er ist ein widerwärtiger Gesell geworden, und wie er sich damals zu dem Brauthandel herbeigelassen, da er doch wußte – genug, es war nicht rühmenswerth! Aber nun haben sie denn auch ihre Strafe. Eine so gemachte Ehe konnte zu nichts Gutem führen.“

– „Was heißt das Alles?“ fragte ich, bebend vor Aufregung. „Wißt Ihr’s wirklich nicht?“ forschte er, mich fixirend. „Euer Name wird doch auch dabei genannt.“ – „Mensch, redet oder schweigt, aber foltert mich nicht!“ rief ich ungestüm, und da sagte er kopfschüttelnd: „Aber ich verstehe das nicht! Ihr müßtet es doch eher als wir Andern alle wissen, daß die Ehe Eures Bruders so unglücklich wie möglich und die Scheidung kaum noch zu vermeiden [756] ist.“ – Ich starrte ihn ein paar Augenblicke an, als sei er oder ich wahnsinnig geworden, so wahnsinnig erschienen mir wenigstens diese Nachrichten. Und dann drehte ich mich ohne ein weiteres Wort ab, stürzte zurück zu meinem Gasthof, ließ anspannen und fuhr, so schnell es die Wege erlaubten, der Heimath zu. Jetzt war die Zeit zum Handeln für mich gekommen, und ich ballte die Faust – wehe ihnen!

Dennoch war es schon über Mitternacht, da ich zu Hause anlangte, und für den Augenblick nichts mehr zu thun. Am Morgen jedoch trat ich bereits um neun Uhr, wo Büren stets draußen zu sein pflegte, zu Schwester Hedwig in’s Zimmer und sprach: „Das und das habe ich gehört und nun will ich reinen Wein eingeschenkt haben. Thust Du es nicht, so zwinge ich Julius oder Livia selbst dazu. Was ist vorgefallen – damals und jetzt?“ – Sie machte Ausflüchte, sie weinte ein wenig, und endlich kam sie zum Sprechen.

Ich kann nicht viel davon reden, Vetter, es regt mich stets von Neuem wieder gar zu sehr auf und es würde uns auch allzu weit führen. Haltet fest, daß ich bei Mutter und Onkel Gerold nie beliebt war und der Letztere besonders mir jene Worte niemals vergab, die er meinetwegen vom Vater zu vernehmen hatte. Haltet fest, daß ich dagegen des Vaters und Hans Peter’s Liebling war, so weit die beiden phlegmatischen Brüder sich mit dergleichen Gefühlen abgaben. Diese wünschten meine Verbindung mit Livia, deren Vermögen ein sehr ansehnliches war und mich in Verbindung mit dem meinigen zum reichen Mann machen mußte. Die andere Partei gönnte mir das alles weniger als Julius, den sie ihrerseits bevorzugten; der Baron, der es sah, wie Livia’s Eltern an dem Plane hingen, erhielt dabei auch Gelegenheit, zugleich dem halb verachteten, halb gehaßten Hans Peter einen Schlag zu versetzen. So betrieb man denn die Sache, seit Livia’s Mutter todt und das Mädchen selber erwachsen war, immer ernstlicher. Man überschrie den Alten, man bestürmte und quälte das Kind, man reizte Julius auf alle mögliche Weise zu ernstlicher Bemühung um die ihm sonst ziemlich Gleichgültige, man brachte zuletzt meinen hartnäckig entgegenhaltenden Vater dadurch herum, daß Julius endlich in den von ihm gewünschten Gütertausch zu meinen Gunsten einwilligte. Mit einem Wort, man verhandelte das arme Geschöpf wie eine Sclavin.

Ihr Widerstand war verzweiflungsvoll, aber vergeblich gewesen. Wie sehr sie mich auch liebte – diese Liebe konnte kein Halt für sie bleiben, da ich fern war und sie nichts von mir und meinen Gefühlen wußte. Die Mutter nahm sie dann nach Hohensee hinüber, man stellte ihr Gott weiß was alles vor, daß ihr Vater selber die Ehe mit Julius wünsche, daß ich so gut wie verschollen, vielleicht verloren. Meines Bruders Bewerbungen wurden dringender, die Hetzereien und Quälereien gingen fort und nahmen zu, und endlich sagte sie ja, und ihr Vater brachte es gleichfalls zu der Antwort: „Nun denn, in’s Teufels Namen, meinetwegen! Wenn sie ihn will, was kann ich thun? Aber – ’s geht nicht gut.“

Als sie das Mädchen fest und verheirathet hatten, fingen sie an, am Kaufpreise, dem Gütertausch, zu rütteln und Julius einen Floh über den anderen in’s Ohr zu setzen. Dabei war man noch, als ich Weihnachten nach Hause kam und Livia, wie Hedwig meinte, durch die unvorsichtig ihr mitgetheilte Nachricht von meiner Ankunft – ich war durch Sollnitz gefahren und der Inspector hatte mich erkannt – in jene schwere Krankheit gestürzt wurde. Dann ging alles weiter, wie Ihr wißt oder doch Euch selber sagen könnt; Julius’ Eifersucht, durch der Mutter Bemerkungen und des Barons Hetzereien angefacht, kam hinzu und brachte ihn vollends um Ruhe und Ueberlegung, um Takt und Billigkeit. Das Leben in Sollnitz sollte das traurigste sein, zumal – es ist eine Schmach, dergleichen auch nur wieder zu erzählen! – zumal seit Livia die Aussicht hatte wieder Mutter zu werden. „Und wenn Julius eben so denkt, wie Onkel Gerold neulich einmal gegen Büren von sich hat fallen lassen,“ setzte Hedwig hinzu, indem sich ihre sonst so freundlichen Augen mit fast finsterem Forschen auf mich richteten, „daß – daß – ich kann das nicht aussprechen, Felix! Du wirst es ja auch wohl verstehen und mußt am besten wissen, was daran wahr – –“ – „Hedwig!“ unterbrach ich sie drohend. – „Ich sage ja nichts,“ sprach sie abwehrend. „Ich habe überhaupt nichts mehr zu sagen, als daß Julius neulich mit dem Vater einen heftigen Zank wegen all dieser traurigen Geschichten gehabt und gemeint haben soll: er komme eben überall zu kurz. Die Güter habe man ihm abgeschwatzt, ohne daß er gewußt, was er hingebe; seine Frau sei niemals die Seine gewesen und jetzt ihm vollends entzogen. – Ich vertrete dies aber nicht,“ schloß sie. „Es stammt von Onkel Gerold.“ --

Als ich mit diesen Nachrichten Mittags wieder zu Hause anlangte, fand ich Botschaft von meinem Onkel, ich solle so bald wie möglich nach Liebenhagen kommen. – Es ging nach der langen, stummen Pause jetzt eben Schlag auf Schlag, Vetter. Denn als ich am Nachmittag alle Anordnungen für meinen morgigen Ritt nach Hohensee und zum Baron Gerold getroffen hatte und dann nach Liebenhagen hinüber kam, fand ich den Alten vor ein paar theils leeren, theils vollen Flaschen in so zu sagen grimmig fröhlicher Laune, und er schrie mir entgegen: „Na, Junge, nun ist’s richtig. Sie ist da und will mit Dir reden.“ – „Wer ist da?“ fragte ich entsetzt. – „Dummer Kerl, wer denn anders als meine Kleine?“ erwiderte er im früheren Ton. „Mach’, daß Du zu ihr kommst, und bringt die Sache in Ordnung.“

Und im Garten trat mir Livia entgegen und sie sprach zu mir: „Felix, ich habe Deinen Bruder und mein Kind verlassen, denn ich wäre wahnsinnig geworden, wenn ich noch länger an seiner Seite hätte leben sollen. Ich habe Deines Bruders Liebe nie besessen und ihn nur selten freundlich gefunden; allein ich konnte mich darüber nicht beklagen, vermochte doch auch ich ihm nichts zu bieten als den ehrlichen Willen, eine pflichtgetreue Frau und Gattin zu sein. Das habe ich gehalten und würde es mein Lebenlang gehalten haben, wenn ich nicht, erst neuerdings, erfahren hätte, daß man mich meinem Vater abgelogen und dem Deinen abgehandelt, wenn ich nicht seit gestern in Deinem Bruder die Spuren eines Verdachtes wahrgenommen hätte, der mich und Dich beschimpft, der mich auf ewig von ihm trennt.“ – „Geduld, Geduld!“ murmelte ich, da sie inne hielt; „wir rechnen ab, und – der alte Gott lebt noch.“ –„Felix,“ sagte sie lebhaft und ergriff meine Hand, „Du versprichst mir bei Deiner Ehre, daß Du nichts gegen Deinen Bruder unternimmst, er ist nicht der Hauptschuldige, sondern ein blindes Werkzeug in fremden Händen. Doch genug von all’ diesem Schmutz,“ setzte sie finster hinzu. „Ich rede nicht darüber mit Dir. Ich habe keinen Menschen in der Welt, dem ich meine Angelegenheiten, meine und meines Kindes Zukunft und Ehre anvertrauen könnte, als den wackeren Magister und Dich – ja, als Dich, Felix, Dich, der mich liebt, “den ich lieb habe, den ich kenne als einen Mann von Ehre und Treue. Euch Beiden vertraue ich mich ruhig an, bei Euch Beiden weiß ich mich gesichert,“ fuhr sie fort und drückte mir fest die Hand, und so wehmüthig das Lächeln war, das über ihre bleichen Züge flog, so innig war es auch. „Und gerade weil wir fortan äußerlich auf’s Strengste und für immer geschieden sind –“ – „Livia!“ unterbrach ich sie entsetzt. – „Weißt Du es anders?“ fragte sie todesernst. „Darfst Du mich, darf ich Dich fortan auch nur dem leisesten Vorwurf aussetzen, gerade nach jenem schmachvollen Verdacht, der sich – hier und da zu regen scheint? Felix, ich bitte Dich!“ fuhr sie fort, und die Thränen stürzten aus ihren Augen und sie erhob flehend zu mir die gefalteten Hände; „laß mich Dir vertrauen dürfen bis an meinen Tod! Gebrauche nicht Deine Gewalt über mich! Ich weiß nicht, wie weit sie gehen würde, aber wenn ich an alte Zeiten, an alte Träume und Kämpfe denke, ist mir’s zuweilen, als würde Deinem Willen gegenüber der meine unterliegen.“

„Und da es so steht,“ sagte ich hart, „willst Du, daß ich feige, wie Du, über unser Glück, über unser ganzes Dasein, über uns selbst, Livia, die feilen Ränke der Schurken triumphiren lasse, daß wir uns einem Vorurtheil opfern, das ich, ebensogut wie jene, so tief verachte, wie ich’s nicht aussprechen kann? Fordere von mir, was Du willst, aber hierzu bringst selbst Du mich nicht, Livia. Ich kann und will nicht von Dir getrennt sein. Sie sollen es erkennen, daß das Kleinod heller als je leuchtet, dessen Glanz sie frech zu trüben gedacht! Sie sollen es sehen, daß ich Dir das Glück wiedergebe, um das sie Dich betrogen. Ich muß nachholen, Livia, ich muß nachholen, was ich früher verträumt und versäumt!“ – Sie stand vor mir mit gesenktem Haupt und gefalteten Händen, und erst nach einer Pause sah sie auf und mich an und murmelte flehend: „Schone mich, Felix!“ – „Hierin – nein, Livia!“ versetzte ich wie vorhin. „Der Mensch hat nicht nur ein Recht auf sein und der Seinen Glück, sondern auch Pflichten für und gegen dasselbe.“ – „Lasse uns hinein,“ sprach sie nach einem langen Schweigen. „Ich kann heut Abend nicht weiter. Morgen laß uns mit Mühl reden.“ – „Es sei wie Du willst,“ entgegnete ich [757] im Hineingehen. „Aber in diesem Falle wird auch Mühl mich entschlossen finden.“

So dachte und rechnete ich, dazu war ich entschlossen. Das Was? stand fest in meinem Sinne, um das Wie? kümmerte ich mich noch nicht; das mußte sich finden. – Und dennoch, Vetter, kam es Alles so ganz anders.

Livia zog sich in ihr Zimmer zurück; mit dem alten Onkel Wein zu trinken, spürte ich kein Verlangen, und so ritt ich heim, um am nächsten Morgen desto früher wieder da zu sein. Allein ich wurde aufgehalten, und als ich gegen neun Uhr in Liebenhagen anlangte, ließ Livia mich mit dem Bedeuten abweisen, sie habe mit dem Magister Mühl zu reden. – Ich setzte mich also mit dem Alten zum Frühstück und blieb dabei sitzen, bis Euer Vater kam und mich ihm in’s Pfarrhaus zu folgen bat.

Wilhelm Bauer’s Helmtaucher für die Arbeiten am „Ludwig“ im Bodensee.

Was wir da gesprochen haben, läßt sich in kurzen Worten sagen, obgleich es damals Stunde auf Stunde füllte. Livia hatte ihm nicht nur ihre Pläne, sondern auch unsere ganze Unterredung vom vorigen Abend bekannt. Daß sie vielleicht zu schwach sein werde, um meinem Drängen zu widerstehen, gestand sie zu, aber sie sprach auch die Ueberzeugung aus, daß wir miteinander niemals ein ruhiges, schönes und wahres Glück finden würden. Euer Vater schloß sich ihren Ansichten und Gründen nicht nur an, sondern verstärkte die letzteren noch durch Alles, was ihm Stand, Bildung und Erfahrung an die Hand gaben. Für mich war das Alles freilich noch verloren, und je mehr er redete und je weniger ich in Wahrheit einzuwenden wußte, desto finsterer erhob sich mein Trotz, desto zäher wurde mein Wille, desto grimmiger entschlossen ward ich, jetzt gleich, ohne Livia zu sehen, zu den Meinen hinüberzureiten und die Angelegenheit nach meinem Kopf zu ordnen. Dabei blieb es trotz seines sichtbaren Kummers, trotz seines endlichen Zürnens. Ich wollte zuletzt nichts mehr hören, sondern riß mich los und eilte hinaus. Da kam er mir dennoch nach, faßte fest meine Hand, sah mir ernst in’s Auge und sagte: „So gehen Sie denn hin, trotziger Mensch! Ich aber verzage noch nicht an Ihnen. Ich vertraue auf Ihre Ehre, Felix, und auf Ihre Liebe zu der Unglücklichen.“ – Ich ritt unbewegt fort.

Aber waren es diese letzten Worte, die Euer Vater zu mir in einem Tone sprach, der mich stets bis in’s Herz getroffen, oder war es die lange Einsamkeit während meines Ritts durch Flur und Wald, die Stille und der Friede um mich her, der ruhig schöne Tag mit seinem milden Blau, seinem milden Glanz, seiner milden Luft – es wurde nach und nach immer stiller in mir, ich wurde, so zu sagen, erst jetzt zugänglich für die Bitten derjenigen, die ich über Alles in der Welt liebte, und für die Mahnungen Eures wackeren Vaters. Und da ich in der Nähe des schwarzen Sees war, vermochte ich es nicht, jetzt zu Vater und Mutter zu treten mit den bösen Worten und wilden Plänen, die ich vorgehabt, sondern lenkte das Pferd ab, ließ es gehen und gelangte hierher, an diese Stelle und lag hier und grübelte und sann, zürnte und rang – mit mir selbst, Stunde auf Stunde. Und Euer Vater hatte Recht gehabt – die Ehre und die Liebe zu Livia gewannen’s. Ich sah es ein, wie Livia war und sein mußte, mochte das Glück an meinem Herzen sie berauschen und betäuben, den Frieden aber vermochte es ihr nie zu bringen oder zu erhalten. Ich entsagte. – Die Heimath blieb ihr, für mich nahm ich die Fremde, denn allerdings – zusammen konnten wir nicht bleiben, wenn einmal die Trennung unser Loos war. –

Von allen meinen Vorsätzen kamen nur zwei und auch diese nur theilweise zur Ausführung. Meinem Bruder hielt ich in dürren offnen Worten einen Spiegel vor, der ihn erbleichen und erbeben [758] ließ. Er sah seine Schuld schneller und tiefer ein, als ich erwartet, und nun, da er sein Weib auf immer und wirklich verloren, begann er ihren Werth richtiger und höher anzuschlagen, als er es jemals zur Zeit ihres Besitzes gethan. Denn was auch versucht wurde, Livia zu ihm zurückzubringen, sie gab niemals nach und hat ihn, so viel ich weiß, nicht wieder gesehen. Der wahnsinnige Verdacht, den der Unselige gegen sie angedeutet, hatte sie ihm für immer entzogen. Gerichtlich geschieden wurden sie nicht; man scheute allerseits das Aufsehen eines solchen Schrittes. – Nach drei Jahren starb sie auch schon und hinterließ ihre damals zweijährige Tochter ohne Einwendung dem Vater. Er hat das als ein Zeichen genommen, daß sie dennoch versöhnt geschieden.

Mit meinem Bruder vereint rückte ich dem Baron Gerold zu Leibe. Davon will ich jedoch nicht mehr reden, es würde ein Mißklang sein nach all dem zwar Traurigen, aber auch Guten und Schönen, was ich Euch zuletzt berichten mußte. Es genüge Euch zu hören, daß ich auch mit ihm leichter fertig wurde, als ich gerechnet, denn er war, wie die meisten Tyrannen und Eisenfresser, im Grunde eine durch und durch feige Seele.

Zwei Tage später war ich daheim und ordnete meine Angelegenheiten, und nach weiteren acht Tagen schrieb ich Livia den Abschiedsbrief, den ersten und letzten, den sie von mir erhalten, und zog wieder für manche Jahre in die Welt hinaus, ein ruhloser Wanderer. Wiedersehen wollte ich sie jetzt nicht – ich traute meiner Kraft nicht. Nachher, da ich ruhiger geworden, war es zu spät, sie war todt, und da konnte ich noch weniger daheim sein.

Erst im Jahre 1802 kehrte ich zurück und hauste auf den Gütern, mit aller Welt, nur mit den Meinen nicht, in Verkehr. Der Vater, der alte Hans Peter und Baron Gerold waren auch bereits gestorben; zu meiner Mutter und meinem Bruder wollte sich aber kein Verhältniß finden. Als Julius an dem unglücklichen Schuß, der ihn das Leben kostete und den, wie man ja weiß, armselige Thoren auf meine Rechnung schrieben, auf den Tod darniederlag, kam es dennoch zwischen uns zur vollen Versöhnung, und er befahl mir seine beiden Kinder an. So zog ich wohl oder übel nach Hohensee herüber und that für die Kleinen, was ich vermochte. Mein Neffe war aber eben ein Hohensee und ließ sich, da die Trommeln schlugen, nicht halten; er fiel bei Aspern. Meine Nichte kennt Ihr; sie ist nicht schön wie ihre Mutter, aber brav und edel wie sie, und mein ganzer Stolz’, mein ganzes Glück.“

Er stand auf und stampfte mit dem Fuß nieder, um die verschobenen Kleider wieder in Ordnung zu bringen. „Die Sonne geht unter,“ sagte er. „Es war ein schöner Tag, Vetter. Wer hätte das nach der rauhen Nacht, nach dem stürmischen Morgen gedacht! Aber es ist in der Natur wie im Leben. Als ich damals Livia entsagen mußte, war mir’s zuweilen, als werde es um mich her ewig Nacht bleiben, und nun – was habe ich doch für ein reiches, warmes, schönes und heiteres Leben gehabt, so viel Glück und Freude an den Kindern, so viel Glück und Segen von der Erinnerung an sie! – Fürwahr, Vetter, der Junker von Hohensee tauscht mit Keinem!“

Ich drückte ihm die Hand. Wir gingen schweigend nach Hause.



Wilhelm Bauer’s diesjährige Herbstarbeiten am Taucherwerke.

Von Dr. Fr. Hofmann.

Ehe ich an die Beschreibung der Herbstarbeiten unseres Wilhelm Bauer an dem Dampfschiff „Ludwig“ im Bodensee gehe, halte ich es für nöthig, die Leser und alle Freunde und Förderer des vom Leipziger Central-Comité in’s Leben gerufenen nationalen Unternehmens auf den richtigen Standpunkt zurück zu versetzen, von welchem sie durch den falschen Zeitungsjubel: „der Ludwig ist gehoben!“ und die Hiobspost: „die Hebearbeiten sind für dieses Jahr eingestellt!“ wohl zum großen Theil entfernt worden sein mögen.

Unser Aufruf an das deutsche Volk sprach es mit klaren Worten aus, daß wir nichts weniger, als die Unterstützung einer Privatspeculation bezweckten. Die Bestimmung der nationalen Beiträge war und ist noch heute einfach die: einem deutschen Manne, dessen bedeutendes Erfindertalent und ungewöhnliche geistige Begabung für die Lösung technischer Aufgaben von den Autoritäten der Naturwissenschaften und der Technik in verschiedenen Ländern einstimmig anerkannt worden ist, die nöthigen Mittel zur Erprobung derjenigen seiner Erfindungen zu bieten, welche für den allgemeinen Nutzen besonders werthvoll erschien. Man wählte nicht sofort eine seiner kriegerischen Erfindungen, weder den Brandtaucher noch die Revolverbatterie, sondern wandte sich vor der Hand der in klaren Plänen dargestellten und durch ein englisches Patent empfohlenen Hebung untergegangener Schiffe und Güter, zunächst aus Tiefen bis 100 Fuß, zu: die Erprobung dieser Erfindung sollte durch nationale Unterstützung möglich gemacht werden, mit der Ausbeutung der Erfindung hat jedoch das Central-Comité nichts zu schaffen, diese muß es seiner Zeit dem allgemeinen deutschen Unternehmungsgeist überlassen.

Von diesem klaren Standpunkt ist man so weit abgeirrt, daß man jetzt, die Hebung des Ludwig für den alleinigen Zweck des Unternehmens hält und somit leicht veranlaßt sein kann, das abermalige Mißlingen der Ausführung derselben als ein Mißlingen des ganzen Unternehmens zu deuten. Von diesem falschen Standpunkt müssen wir unsere Leser auf den richtigen zurückführen, dann werden sie erkennen, daß die Herbstarbeiten Bauer’s auf und in dem Bodensee für die Erprobung der Erfindung nichts weniger als verloren waren.

Jeder verständige Mensch sieht ein, daß eine Erfindung, welche abermals eine Schranke der Natur den Menschen zu durchbrechen und die Naturkraft in einen neuen Dienst für ihn zu zwingen strebt, nicht mit dem ersten Schritt fix und fertig in’s Leben treten kann. Wäre nun bei den bisherigen Versuchen das Princip derselben als falsch, ja selbst nur als zweifelhaft erkannt worden, so müßte man ein Aufgeben der ganzen Unternehmung in der Ordnung finden und die werkthätige Theilnahme, welche sich bis jetzt für dieselbe gezeigt hat, einer lohnsichernderen Sache zuwenden. Es steht jedoch das Gegentheil fest: die Bauer’sche Schiffhebeweise ist im Princip als durchaus richtig erwiesen, ihre Richtigkeit ist durch dreimalige Hebung des vielberufenen „Ludwig“ von dessen erster Lagerstätte bis nahe zum Niveau des Bodensees erprobt, die Fortbewegung des so gehobenen Schiffs mit Erfolg versucht worden; die Hindernisse, welche sich der vollständigen Durchführung der Erfindung auch bei dem letzten Hebeversuch noch entgegensetzten, sind an sich nicht bedeutend, am wenigsten bieten sie unüberwindliche Schwierigkeiten. Gegen die Feindseligkeiten der Elemente hat Bauer stets die rechten Schutzwaffen herzustellen gewußt, so lange ihm die Mittel dazu zu Gebote standen; sie würden auch diesmal überwunden worden, der „Ludwig“ würde sicherlich jetzt gehoben sein, wenn nicht weit schlimmere Tücken, als die der Natur, wenn nicht Selbstsucht, Bosheit und Unverstand der Menschen gerade an dieser Erprobung der Erfindung sich so schwer versündigt hätten. Der vorliegende Artikel kann nicht dazu bestimmt sein, den geheimen Theil der Geschichte dieser Unternehmung darzulegen; für die Wahrheit meiner Behauptung stelle ich jedoch einen Zeugen, den Niemand zurückweisen wird: Feodor Streit von Coburg, den deutschen Mann, dessen unermüdet thätiger, treuer und stets opferbereiter Patriotismus unserm Wilhelm Bauer die diesjährigen Hebungsarbeiten überhaupt möglich machte und der dem Beginn derselben beiwohnte, wie ich, im Auftrag des Central-Comité’s, dem Schluß derselben. Er wie ich haben das nöthige Material gesammelt, um seiner Zeit in dieser Sache – und zwar ohne Ansehen der Person – der Öffentlichkeit das rechte Licht aufzustecken. Hier und jetzt erzähle ich einfach den äußern Verlauf der Bauer’schen Herbstarbeiten an seinem Werke.

Ungefähr Mitte Juli dieses Jahres war Herr Bauer in den Stand gesetzt worden, an die Vorbereitungsarbeiten zu seinem Taucherwerk zu gehen. Das Nächste mußte die Herstellung der Hebeballons und der Tragkameele sein. Hier zeigte sich, als erste Störung der Kostenberechnung, der schlimme Einfluß des amerikanischen [759] Bürgerkriegs auf den deutschen Markt und auch auf Bauer’s Unternehmen. Kameele und Ballons sollten, nach dem ursprünglichen Plane, aus drei Lagen Leinewand und zwei Lagen Kautschukplatten bestehen; der Preis letzterer war aber zu einer bei dem großen Bedarf Bauer’s geradezu unerschwinglichen Höhe gestiegen, und so mußte er bei einem Theile des Ballons den Versuch wagen, die Leinwandlagen mit einer Kautschuklösung zu bestreichen und so die Luft- und Wasserdichtigkeit zu erzielen. Die Art und Weise der Herstellung dieses Theils der Apparate theilen wir unseren Lesern in einem zweiten Artikel mehr technischen Inhalts mit; sie würde noch weit kostspieliger und zeitraubender geworden sein, als sie ohnedies war, wenn die k. baier. Regierung sich nicht bewogen gefunden hätte, Herrn Bauer für diese Arbeit den Krystallpalast Münchens zur Verfügung zu stellen. Hier begann Bauer die Verfertigung von 6 großen Kameelen von je 780 Centner Tragkraft und 12 Ballons zum Theil von 240, zum Theil von 180 Ctnr. Tragkraft; ehe er jedoch namentlich die letzteren hatte vollkommen austrocknen lassen können, erhielt er am 2. October den Befehl, am 3. Octbr. das Haus vollständig für zehn Tage zu räumen, weil es für eine Gesangproduction zu Gunsten eines abgebrannten Orts und zu einer Ausstellung von landwirthschaftlichen Geräthen bestimmt worden war.

Um diese kostbare Zeit für sein Werk nicht ganz verloren gehen zu lassen, entschloß sich Bauer, sein sämmtliches Material, trockene und nasse, zum Theil eben erst von den Formen abgelöste Ballons, sofort nach Lindau zu schaffen, weil er glaubte, dort die letzte Hand daran legen und dann ungehindert direct an die Lösung seiner Aufgabe gehen zu können, natürlich günstige Witterung und hilfsbereites Entgegenkommen von Seiten der schiffsbesitzenden Gesellschaften der Bodenseeorte vorausgesetzt. – Leider mußte Bauer sich in Beidem, in der Witterung wie in der Bereitwilligkeit, bitter getäuscht sehen. Am 4. October traf er mit seiner Ladung in Lindau ein, aber weder in den Bahnhofgebäuden fand sich für seine Apparate ein schützender Ort, noch konnte von der Dampfschifffahrtsverwaltung in Lindau ein gedecktes Schleppschiff für ihn, seine Apparate und später für die arbeitende Mannschaft erlangt werden, obwohl zwei derselben derzeit unbenutzt im Lindauer Hafen lagen. Endlich miethete er aus einem österreichischen Uferort ein paar alte Holz- und Steintransportschiffe, die so gebrechlich waren, daß sie diesen Winter zerschlagen werden sollten. Während nun theils in diesen ganz offenen Schiffen, theils auf freiem Platze die Hebeapparate dem unaufhörlichen Regen preisgegeben waren und in einem Torfschuppen die Hand an die Vollendung der letzten Ballons gelegt wurde, ließ die Generaldirection der baier. Verkehrsanstalten am 13. Oct. Bauer durch einen Postbeamten den telegraphischen Befehl mittheilen, daß „die Hebung des „Ludwig“ ohne allerhöchste Genehmigung nicht vorgenommen werden dürfe.“ Unter solchen Umständen mußte Bauer in der That befürchten, das kostspielige Hebungsmaterial verfaulen zu sehen, ehe man ihm nur den ersten Schritt zur Arbeit gestatte, und so entschloß er sich denn zu einer rettenden That. Er ließ am 14. sämmtliches Material, so gut es eben gehen wollte, auf seinen beiden Schiffen unterbringen und verließ am Morgen des 15. mit dem ersten günstigen Wind den Hafen seiner Heimath, um auf Schweizerboden sein Glück zu suchen. Der Anblick der zwei jämmerlichen Fahrzeuge, deren Segel, zerrissen und mit Lappen und Fetzen aller Farben geflickt, der Harmonie des Ganzen keinen Eintrag thaten, erregte in Rorschach erst recht die Achtung vor dem wagenden Mann, man nannte es einen wahrhaften Garibaldizug, mit dem Bauer in den dortigen Hafen kam, und begrüßte ihn mit herzlicher Theilnahme. Bauer stand nun unter schweizerischem Schutz, und die Männer von Rorschach waren fest entschlossen, diesen ihm nöthigenfalls auf das Nachdrücklichste zu gewähren.

Zunächst versah man Bauer mit dem für seine Arbeit nöthigsten Schiffs- und sonstigen Geräthe, mit Krahnen, Rollen, Ankern etc., während andere Requisiten von Friedrichshafen herbeigeschafft wurden, und so konnten, nachdem Bauer am 16. binnen nicht ganz vier Stunden die Lage des „Ludwig“ erlothet hatte,[1] schon am 17. October die Taucher zum ersten Male wieder in die Tiefe.

Schon jetzt zeigte sich die Unmöglichkeit, den alten Schiffen das Leben der Mannschaft und die werthvollen Werkzeuge, dazu auch die neuen von Bauer eigens für seine Taucher- und Hebearbeit construirten und von Maffei in München ausgeführten Luftpumpen, auf die Länge anzuvertrauen; 47 Arbeiter und 3 Taucher bildeten das Dienstpersonal Bauer’s, und diese mußten sich auf einem Verdeck ohne Geländer aufhalten. Gleich am ersten Tage stürzten zwei Mann über Bord und wurden mit Mühe gerettet. Beim geringsten Wetter kam die Besorgniß über die Leute, daß die elenden Kästen auseinander gehen, und mehr als einmal flüchtete man sich nach dem schützenden Rheinhorn hin, um da ruhigere See abzuwarten. Mit Mühe wurden die Lecks verstopft, die Pumpen hatten unaufhörlich zu arbeiten, und an die Herstellung eines Geländers war nicht zu denken, weil das Holz keinen Nagel mehr zu halten vermochte.

Soweit waren die Vorbereitungen gediehen, als Bauer ein Schreiben der genannten Generaldirection der baierischen Verkehrsanstalten erhielt, in welchem gesagt wurde: „daß Bauer zwar die Vorarbeiten für die Hebung des untergesunkenen Dampfers Ludwig durch Entschließung des Königl. Ministeriums des Handels gestattet seien, daß die Entschließung darüber aber, ob und unter welchen Modalitäten ihm die Hebung selbst zu gestatten sei, noch vorbehalten bleibe.“ – So wenig Ermuthigendes in einer Aussicht lag, bedeutende Kosten, unsägliche Arbeit und viele Zeit möglicherweise vergeblich verwendet zu haben, so setzte doch Bauer seine Thätigkeit rastlos fort. Wir übergehen die mancherlei Drangsale des armen vom inneren Trieb gehetzten und von äußerer Hemmniß gepeinigten „deutschen Erfinders“, um zu berichten, daß er später doch noch ein Schleppschiff von der Lindauer Verwaltung (gegen Vorausbezahlung der Miethe auf 14 Tage und gegen Caution des vollen Werthes für andere ihm noch überlassene Requisiten, wie Kautschukschläuche u. dgl.) erhielt und nun erst wenigstens mit Sicherheit am Bord an die eigentliche Arbeit gehen konnte.

Der Holzschnitt zu meinem Artikel über die „unterseeischen Kameele“ (Bd. X., Nr. 4), welcher die Hebung des „Ludwig“ durch die Lufttonnen darstellt, giebt unseren Lesern ein genügendes Bild auch für den gegenwärtigen Hebeversuch; nur muß er sich an die Stelle der schwerfälligen Schlauchspritzen Bauer’s neue, wenig Raum einnehmende Luftpumpen denken, die wir in einem nächsten Artikel bildlich darstellen und ausführlich beschreiben. Neben dem Schleppschiffe, welches zugleich den Vortheil bot, daß die Mannschaft in ihm übernachten konnte, lag das größere der österr. Schiffe als Magazinboot, in welchem die Ballons, Kameele, Taue, Ketten u. dgl. aufbewahrt waren. Unser Bildchen zeigt uns das Deck des Arbeitsschiffs in dem Augenblicke, wo Bauer den ausgerüsteten Taucher in die Tiefe zu lassen im Begriff ist. Wir sehen Letztern in seiner Wasser- und luftdichten Leinwand- und Kautschukkleidung, die den ganzen Mann umhüllt und von oben vom Helm überdeckt wird. Der Taucherhelm ist das wichtigste Stück der Taucherausrüstung; wir geben von ihm eine besondere bildliche Darstellung in unserem zweiten Artikel, nach welchem wir einige kleine Fehler im vorliegenden Bildchen zu verbessern bitten. Das Wasser hat in den Taucherhabit keinen Zutritt, die durch den Luftschlauch fortwährend in den Helm eingepumpte Luft drängt es unterm Helm zurück, der ganze Mann ist von Luft umgeben, und die Luftblasen steigen fortwährend da aus, wo er eben arbeitet. Um in die Tiefe zu gelangen und sich dort zu erhalten, bedarf er deshalb eine Gewichtsvermehrung, und diese ist ihm in den Metallringen gegeben, die wir wie ein Gürtel ihn umspannen sehen und die er, wenn er rasch emporsteigen will, nöthigenfalls durch einen Ruck abwerfen kann. Der Luftschlauch und das Tau, an welchem er in die Tiefe gelassen wird, sind oben am Helm befestigt, vorn auf der Brust ist die Sigualschnur festgebunden, die seine geistige Verbindung mit der Oberwelt vermittelt. Ich habe mir diesen kurzen Uebergriff in unsern zweiten Artikel erlaubt, um unsern Lesern die Einsicht in die Gefahren zu erleichtern, welchen der Taucher in der Tiefe ausgesetzt ist, wenn Hindernisse, wie diejenigen, welche wir jetzt kennen lernen, sich ihm entgegenstellen.

Sowohl unser Wilh. Bauer als auch die Taucher machten mir Mittheilungen über den Zustand, in welchem sie das Schiff wieder fanden. Wir müssen hier, für manche unserer Leser vielleicht wiederholt, bemerken, daß nach Bauer’s dritter Hebung des „Ludwig“, wobei dieser von seiner frühern Lagerstelle zu der gegenwärtigen gebracht worden war, die Herren vom Verwaltungsrathe der Dampfschifffahrt in Lindau einen Herrn [760] Hochholzer mit der Hebung des Ludwig beauftragten. Dieser wollte ihn nach der alten Art mit Ketten emporwinden. Da derselbe aber auch den Gebrauch der Taucher verschmähte, vielmehr durch Verschlingung das Schiff mit seinen Ketten und Drahtseilen zu fassen und so emporzuheben suchte, so passirte ihm das Mißgeschick, daß er nicht das Schiff an beiden Enden unten, sondern nur Steuer, Glockenstuhl und dergleichen faßte, hauptsächlich aber die Bauer’schen Hebetonnen erwischte und nun so gewaltig an ihnen zog, daß eine heillose Wirthschaft auf und an dem Schiff dadurch angerichtet wurde. Nach des Tauchers Schroff Erzählung lag und schwamm auf der ganzen Länge des Schiffs Alles durcheinander. Da waren die Haufen der Hochholzer’schen Ketten und Drahtseile und Taustücke, die Bauer’schen Fässer bedeckten zum großen Theil in Trümmern den Boden, zum Theil hielten sie noch fest an ihrer Verbindung, wie zu einer vierten Auferstehung bereit, noch andere lagen neben dem Schiff am Boden, zum Theil noch fest gekettet, aber eingesandet; zwischen den Fässertrümmern, halbverfaulten Stricken und Säcken mit dem ganz verfaulten Getreide des Verdecks spießten empor und ragten durcheinander und über das Schiff hinaus die durch die Hochholzer’sche Kraftentwickelung losgesprengten Balken, Geländer und andere Schiffsstücke; namentlich bot Vorder- wie Hintertheil des „Ludwig“ einen trostlosen Anblick: das Steuer und seine Verbindung vollkommen abgebrochen, das Verdeck an dieser Seite aufgerissen, und ebenso am entgegengesetzten Ende der Glockenstuhl mit Allem, was mit ihm zunächst zusammenhängt, in Trümmer verwandelt, und an und zwischen all diesem Trümmerwerk und Durcheinander das lose Tauwerk nach allen Seiten hinhangend oder mit dem aufgeregten Wasser spielend. – Jedoch nicht diese neue Mehrbelastung des „Ludwig“ durch die Reste der verschiedenen Hebeversuchsapparate trat jetzt der Arbeit störend entgegen; auch diese Mehrlast war zu überwinden; die Verwüstung auf dem Schiffe machte es jedoch den Tauchern unmöglich, an dem Schiff zu arbeiten, die überall vom Verdeck herausragenden Holz- und Eisentheile, die herumhängenden Ketten und Taue, die herumzüngelnden vielen Strickenden bedrohten bei jeder Annäherung an das Schiff den Taucher mit der Gefahr, mit dem Luftschlauche oder dem Tragtau oder der Signalschnur in dem Gewirr hängen zu bleiben und sich selbst die Verbindung mit oben, den einzigen Lebensfaden des Tauchers, abzuschneiden.

Darum mußte vor Allem das Schiff von seiner störenden Belastung befreit werden, eine schwierige Aufgabe, die jedoch, wenn zur Erprobung der Erfindung nun einmal gerade dieses Schiff gehoben werden sollte, auch vollbracht werden mußte. Leider nahm dieselbe von der für die Arbeit auf dem See immer kostbarer werdenden Zeit abermals zehn volle Tage – und wie viel Geld, welche enorme Kosten! – in Anspruch, mehrere andere wurden durch Ungunst des Wetters der Arbeit entzogen. Es wurden durch die Taucher viele für die Hebung unbrauchbar gewordene Fässer, der Anker, Glockenstuhl und andere Theile des Ludwig, viele Ketten und Drahtseile emporgefördert und alle sonstigen Hindernisse für die Befestigung der Ballons und Kameele beseitigt, alle Gefahren für die Taucher entfernt. Es war damit aber auch der ganze October vergangen und so mit Mühen und Kämpfen und mit Ausgaben, welche die von der Nation gebotenen Mittel bereits erschöpft hatten, endlich die Möglichkeit herbeigeführt, an die Hebungsarbeit selbst zu gehen.

Man wird es unserm W. Bauer, dem durch solche an Leib und Seele zehrende Thätigkeit abgehetzten Manne, mit nur einiger Billigkeit nicht zum Vorwurf machen, daß er jetzt, trotzdem er mit seinem Unternehmen bereits in den November hineintrat, Alles und auch sein ganzes eigenes Vermögen daran setzte, kurz, daß er ein Wagstück beging, um noch in diesem Jahre sein Ziel zu erreichen. Wenn wahre Theilnahme ihn von allen Seiten gleich mit dem Beginn seiner Arbeiten begleitet hätte, wenn die Menschen, für deren Wohl er seinen Kampf mit bis jetzt unbesiegten Kräften der Natur aufnahm, ihn mit dem edlen Willen, diesen Kampf ihm möglichst zu erleichtern, nach ihren Kräften unterstützt hätten, wenn man mit rechter Einsicht und Freudigkeit an einem neuen Sieg des Menschengeistes über die Materie ihm an die Hand gegangen wäre, so würde Alles ganz anders gekommen sein. So aber hat der eine Mann den ganzen Kampf allein bestehen müssen, – und es giebt Menschen, die ihre Genugthuung darüber kaum verbergen können, daß er nicht gesiegt hat.

Da Bauer jetzt, wo er den eigentlichen Hebeact vorbereiten wollte, sich durch die Erklärung der baierischen Generaldirection der Verkehrsanstalten störend beengt fühlte, so erkannte er es als eine wohlthätige Entlastung der Seele, daß König Max ihm den „Ludwig“ zur Erprobung seiner Erfindung ganz und gar überließ und die bairische Regierung sich nur vorbehielt, s. Z. nach glücklicher Hebung sowohl das Schiff als die bewährten Hebeapparate „abzulösen “.

Am 1. November, denselben Tag, an welchem eine tückische Zeitungsente die „überraschend schnelle“ Hebung des Ludwig ausschrie, begannen die Taucher mit der Befestigung der Ballons, nachdem das Nachpumpen der noch brauchbaren 22 Fässer schon vorher geschehen war, und rasch ging nun die Arbeit vorwärts, so daß in fünf Tagen zwei Kameele in den Vorderfenstern und fünf Ballons bei der Maschine und an der Hinterkajüte befestigt und letztere aufgepumpt waren und am Mittwoch, den 5. Nov., Nachmittag die Hebung selbst bevorstand. In diesen Tagen war Bauer von den Bürgern aus Rorschach und St. Gallen mit der größten Freudigkeit unterstützt worden, Turner und Feuerwehr arbeiteten beharrlich an den Luftpumpen, während die Bauer’sche Mannschaft mit der Bewältigung der Kameele (jedes wiegt über 7 Centner) und sonst beschäftigt war. Schon mehrere Tage zuvor hatte Bauer sich telegraphisch nach Lindau um die Stellung eines Schleppdampfers gewendet; die (vorausbezahlte) Rückantwort ließ 36 Stunden auf sich warten; während deß war es Bauer gelungen, ein Dampfschiff aus Friedrichshafen zu erhalten, und dieses war eben in Sicht des Arbeitsschiffes Bauer’s, als auch das Lindauer Anerbieten zur Dampferstellung anlangte. Eine große Zuschanermasse bedeckte ein zweites Dampfschiff aus Friedrichshafen, und im großen Kreise um den versunkenen Ludwig schwammen stark besetzte Boote und Gondeln aus den schweizerischen und deutschen Bodenseehäfen. Aller Augen richteten sich nach den beiden Signalstangen, die gleichsam auf der Oberfläche des See’s das tiefe Wogengrab des unseligen Ludwig abstecken.

Nachdem der würtembergische Dampfer vor Anker und an zwei Schleppseile gelegt war, befahl Bauer das Aufpumpen der Kameele am Vordertheil des Schiffs, – der Augenblick ist endlich da – die trefflichen Luftpumpen senden mit ruhiger Gewalt ihre Luftströme in die Tiefe – tiefes Schweigen, alle Blicke auf der Fluth – jetzt – eine Bewegung der Signalstangen – Bauer’s Seele jubelt, denn das Schiff ist im Steigen begriffen: – da geschieht, was die Zeitungen bereits aller Welt verkündet haben, – da entschlüpft plötzlich ein Kameel Zaum und Strang und springt frei und ledig an das Licht empor. Die Schnelligkeit und die Gewalt war furchtbar, mit der diese Tragkraft von 780 Centner sich durch das Wasser Bahn brach und noch über die Oberfläche emporsprang; ja für die Gondeln verursachte dieser Kameelsprung in der That – wie die St. Galler Zeitung sagt – einen Seesturm in optima forma. Nur ein Wunder hat Unglück verhütet.

Der erste Eindruck dieses Unfalls war auf alle Zuschauer, trotz der Neuheit der Erscheinung, aus Theilnahme für Bauer ein niederdrückender, auf diesen selbst aber ein niederschmetternder; trotzdem verlor der vom Mißgeschick gehärtete Mann keinen Augenblick seine Fassung, seine Geistesgegenwart. Und schon nach wenigen Minuten trat bei allen Anwesenden die Ueberzeugung hervor, welche die St. Galler Zeitung aussprach. Sie sagt nämlich: „So störend dieser Zwischenfall wirkte, so liegt doch gerade in dieser Erscheinung (der furchtbaren Gewalt, mit welcher das Kameel sein Netz von Banden durchbrochen hatte) die Garantie für die große Kraft desselben und für die Richtigkeit des Bauer’schen Systems.“

Da der Abend nahe und an einen sofortigen Ersatz für das entsprungene Kameel nicht zu denken war, so stellte Bauer, nachdem er letzteres wieder gebändigt und geborgen hatte, für diesen Tag die Weiterarbeiten ein. Am andern Morgen ging er selbst zum Ludwig hinab, um die Ursachen des gestrigen Unfalls zu untersuchen.

Sie lagen mit dem ersten Blick auf die verlassene Stelle des Kameels klar da. Die Kameele werden nämlich durch ein Netz von starken Gurten umschlossen, und an den Ausgängen der Gurte befinden sich unten die Haken zum Befestigen des Kameels am Schiffe. Die Entfernung dieser Gurthaken von einander entsprach jedoch nicht der Entfernung der Kajütenfenster, in die sie hätten befestigt werden müssen; deshalb befestigte Bauer an die Kajütenfenster eine zwölf Fuß lange Schmiedeeisenstange von 3½ Zoll Durchmesser und an diese das Kameel. Dabei war jedoch Eines übersehen worden, und das ist unsers Bauer’s ehrlich eingestandene [761] Schuld am Mißlingen der Hebung: er hatte nicht berechnet, daß am Ludwig, als einem Schiff von älterer Construction, Maschine und Radkasten weit nach dem Vordertheil hin angebracht sind und daß die Kameele deshalb am Radkasten ein Hinderniß bei ihrer Ausdehnung finden würden. So geschah es aber. Sobald die Kameele sich mit Luft zu füllen begannen, stießen sie und stemmten sie sich am Radkasten an, schoben sich auf der Eisenstange vor, bogen diese, die wachsende Kraft strebte nach oben, und es bedurfte nur das Aufgehen einer Gurtnaht, um dem Kameele Gelegenheit zu geben, all seine Gewalt gegen diesen einen ihm günstigen Punkt zu richten, – es riß die ganze Gurtnaht auf und entschlüpfte seinen Banden, blieb aber bei dem ganzen Vorgang unverletzt. Da mit dem zweiten Kameel dasselbe drohte, so ließ Bauer es sofort abnehmen. Warum aber Bauer überhaupt zum Heben hier sogleich die Kameele mit benutzte, das soll im zweiten Artikel erklärt werden.

Es würde jetzt vor Allem wohl einer Aenderung an den Gurten bedurft haben, um die Hebung von Neuem zu ermöglichen. Dazu gehörte aber das, was nun jeden Tag theurer wurde, – Zeit. Von allen Seiten vor der sehr nahen Wendung des Wetters gewarnt, sogar von einem Manne, der die Leiche seines Sohnes mit im gesunkenen Schiff weiß, dringend von der Fortsetzung der Arbeiten abgemahnt, mußte Bauer sich entschließen, jetzt entweder das Aeußerste zu wagen, d. h. falls die Winterstürme rasch hereinbrechen sollten, selbst das Hebematerial am Schiffe nicht mehr retten zu können und beim halben Heben (erklärt im nächsten Artikel) Schiff und Material zugleich preiszugeben – oder die Arbeiten für dieses Jahr einzustellen. Nach schwerem, bitterem Kampfe siegte das Gewissen, das ihm sagte, daß er weder das Leben der Taucher noch das von Nationalgeld beschaffte Hebungsmaterial wagen dürfe, – und so gab er den Befehl zum Abnehmen und Bergen des letzteren. Nach zwei Arbeitstagen fuhren am Freitag, den 7., Abends die beiden Arbeitsschiffe in den Hafen von Rorschach ein, und der See war so freundlich, in der Nacht zum Sonnabend mit einem seiner wildesten Stürme den Entschluß Bauer’s zu feiern und ihm den Glückwunsch aller Redlichen und Verständigen zu erwerben.

Schließlich darf nicht verschwiegen werden, daß auch von den Tauchern selbst Mancherlei verschuldet worden ist und daß auch in dieser Beziehung Bauer Erfahrungen gemacht hat, die ihm beim nächsten Hebeversuch zu Statten kommen werden.

Das war der Verlauf und das Ende der Herbstarbeiten am Taucherwerke. Im nächsten Artikel werden wir unseren Lesern auch eine Zeichnung des von Bauer abgelotheten Terrains von der jetzigen Lagerstelle des Ludwig bis zum neuen Hafen von Rorschach mittheilen, um ihnen Bauer’s Hebeplan vollkommen klar darlegen zu können. Dort sollen dann auch die einzelnen neuen Versuche und Erfahrungen Bauer’s bei dieser Arbeit offen mitgetheilt werden. – Das hier Vorliegende möge vor Allem dazu dienen, die hämischen Zeitungsberichte gegen Bauer, die nur darauf angelegt sind, das ganze Unternehmen zu verdächtigen und wenigstens auf dem Bodensee und am Ludwig zu unterdrücken, in das rechte Licht zu stellen. Die Richtigkeit von Bauer’s Hebeprincip ist erprobt, und die Hindernisse, die sich ihm bis jetzt noch entgegenstellten, sind zu überwinden; darum sei es unser gemeinsamer und entschiedener Entschluß: nun erst recht das Werk zu fördern und ihm zum Sieg zu helfen – trotz alledem und alledem!





Deutsches und englisches Geschäftsleben.

Von H. Beta in Berlin.

Mit der Zeit, den Eisenbahnen und Dampfschiffen, welche die Menschen immer häufiger und massenhafter durcheinander würfeln, werden auch die verschiedenen Völker mehr von einander lernen. Bis jetzt machen sie in dieser Schule des Lebens und Verkehrs freilich noch keine besonderen Fortschritte, und leider kommt es uns vor, als wenn die Deutschen neuerdings am meisten zurückblieben. Man beeilt sich zwar, französische Moden und Narrheiten möglichst schnell nachzuäffen, englische Medicin-Pfuschereien und sonstigen Schwindel ein- und die Leute damit anzuführen; aber just die Vorzüge der Franzosen und die Tugenden der Engländer scheinen bei uns nicht recht Wurzel fassen zu wollen. Um die Hauptstädte zu vergleichen, so ist der Pariser durchweg wirklich höflich und gefällig, der echte Berliner aber meist unerträglich grob und frech mit dem Mundwerke. Es wird keinem Franzosen, nicht einmal einem Engländer, einfallen, im engen vollen Omnibus sein nicotingiftiges Unkraut den Damen in’s Gesicht zu stänkern. Bei den Berlinern ist diese Unverschämtheit Regel und zwar auch mit Cigarren, das Tausend für drei Thaler. Noch weniger wird sich auch der gemeinste Pariser Straßenjunge oder der zerlumpteste Katharinen-Radschläger in London erlauben, öffentliche Orte zu verunreinigen. In Berlin bilden diese Frechheiten aller Stände die einzigen Bewässerungs-Anstalten im staubigen Sommer. Wo die bessern Stände solche Beispiele von Schamlosigkeit geben, kann es uns nicht wundern, daß der eigentliche Pöbel an Rohheit und herausfordernder Beleidigung der guten Sitten und gebildeten Menschen die schmutzigsten Bodensätze aller andern größern Städte der Welt übertrifft. Ueberhaupt sind die Berliner in der ganzen Welt wegen ihres vorlauten Maules, des schneidenden Rasirmesser-Dialekts und des giftigen Witzes mehr oder weniger verrufen. In keiner Stadt der Erde giebt’s so viel verdrießliche, kalte Essiggesichter, als in Berlin. Sie sind immer etwas „giftig“ auf einander, und „sich giften“ ist eine ganz wesentlich Berliner Redensart. Dies ist physisch und moralisch richtig. Die Berliner hocken in ihren zahllosen „Mieths-Kasernen“ viel zu dicht neben, über und in einander. Alle Stände und Bildungsgrade wohnen ganz dicht zusammen in je demselben Hause. Der Professor, Dichter, Künstler, Geheimrath, General der ersten Etage muß mit Frau und Kindern die allergemeinsten Schimpfreden und Unfläthereien der Leute im Keller, im Hofe, im Waschhause mit anhören. Der Kaufmann oder Schneider oder Kanzlei-Secretär im zweiten Stock über ihm bringt ihn mit seinen claviermißhandelnden und opernarienkrächzenden Töchtern, mit den über ihm trampelnden und schreienden Kindern zur Verzweiflung, während die Miether parterre über jeden seiner Schritte fluchen, in immerwährender Wuth erhalten von dem Zank oder Dienstbotengeklatsche auf dem Hofe und dem häuser- und nervenerschütternden Wagengerassel auf dem spitzigen, löchrigen, schauderhaften Steinpflaster, von dem Staube und Rinnsteingestank der Straße, auf die sie kaum hinaussehen können, ohne irgend einen Flegel den Ort verunreinigen zu sehen, den man durch eine Warnungstafel eben schützen wollte.

Verhältnißmäßig glücklich wären vielleicht die Miether in der obersten Etage zu preisen, wenn nicht über ihnen noch Trockenböden und Holzgelasse allen 10–12–15 Familien des Hauses zugleich das Recht gäben, mit Holz-Pantinen über deren Köpfen zu wandeln, Holz hinauf und herunter zu tragen und dabei immer Stücke, auch manchmal den ganzen Korb fallen zu lassen. Auch kommt es vor, daß Leute nach zwölf Uhr des Nachts gleich oben Holz hacken. Die in je einem Hause zusammengepferchten Familien werden sich gegenseitig auch dann zur Last, wenn sie den besten Willen und die gebildetste Schonung für einander haben. Sie können sich aus den Hinterstuben in die Fenster sehen. Man hört, man behorcht sich gegenseitig. Durch die Dienstboten auf Vorder- und Hintertreppen, des Abends hinter dunkeln Hausthüren mit verdächtigen rothen Kragen und Schmalz-Töpfchen, wird Scandal, Klatsch, Verleumdung, Gift und Galle hin- und her-, auf- und abgetragen, geschürt, genährt, in Gährung gebracht. Zu den Kellern und Hinterhäusern wohnen Leute, die sich betrinken, schlagen, schimpfen. Zu den Familienkriegen unten bilden sich Zungengefechte aus den Hinterfenstern von 3 – 4 – 5 Etagen. Kinder schreien, Hunde bellen dazwischen. Von der Straße her dringt der Sandfuhrmann, der Schleifer, der Faßbinder, der Milchmann in den Hof, schlägt metallenen Lärm und ruft mit furchtbarer Stimme für alle Etagen und Familien zugleich. Hat der Wirth oder die Wirthin (Haus-Potentaten in der Regel von sehr untergeordneter Bildung und längst gährend Drachengift gegen alle ihre Unterthanen) etwas Ruhe gestiftet, wogegen die unterliegenden Parteien noch lange hinterher protestiren, so kommt natürlich der erste, zweite, dritte bis sechste und siebente Leierkasten und durchschallt alle Etagen [762] mit der furchtbarsten Fluth von verstimmten Trompeten-Pfeifen. Die Dienstmädchen in den Küchen ziehen ihre Pantoffeln aus, tanzen und werfen Dreier, wohl gar Groschen hinunter. Kinder aus dem Hause und von der Straße lärmen und jauchzen drum herum. Der Gelehrte oder Künstler irgend einer Etage schickt hinunter und heißt ihn weggehen. Der Kerl lacht ihn aus, die Dienstmädchen, die Leute aus dem Keller, froh, den „etwas Besseres sein wollenden“ Miether ärgern zu können, stimmen ein und geben dem Leierkastenmanne noch einen Dreier oder Groschen, der nun vor Wonne noch gar zu seinem Kasten singt. Endlich aber hört auch diese Qual auf, bis sich eine Ziehharmonika, eine Guitarre, eine Flöte, wohl gar eine Clarinette auf demselben Hofe hören läßt. Dazwischen schreien die „Madams“ ihren Dienstboten oben und unten Befehle zu, wozu Andere aus irgend einer Etage für alle 10–15 Familien zugleich „schlechte Witze“ machen.

In solcher Umgebung arbeitet der Künstler, der Gelehrte, der Kaufmann in seinem Hinterzimmer. Unmittelbar neben ihm in der Wohnung schreien Kinder, poltern und putzen und zerbrechen Dienstboten. Madame und Mutter und Gattin kommt dann und wann ganz entrüstet hereingeflogen und appellirt an den Hausherrn um Geld, Schlichtung, Schiedsgericht. Beide – sonst die besten Menschen – sind giftig, aufgebracht, gehetzt – Beide werden ungerecht gegen einander und gehen im besten Falle erkältet auseinander.

Unter solchen Verhältnissen (es sind nur einige Hauptzüge) arbeiten die Berliner, treiben sie Geschäfte. In Berlin ist’s am schlimmsten; aber ganz Deutschland leidet mehr oder weniger an demselben Uebel. Die Wurzel desselben erkennt man in ganzer Entsetzlichkeit moralischer und physischer Zerstörung, wenn man damit das geordnete und gegliederte englische Geschäfts- und Familienleben vergleicht.

„Erst das Geschäft und dann das Vergnügen“ ist in Berlin eine schnatterige Redensart, in London eine praktisch ausgeprägte Thatsache. Bei uns hocken die verschiedensten Familien und Bildungsgrade und Geschäfte in je denselben Häusern auf-, in- und durcheinander, in England hat, nach Salomo, Alles seine Zeit und seinen Ort. Die Grundregel für alles menschliche Gedeihen: „Arbeitstheilung“ ist mit allen Vorbedingungen und Ergebnissen praktisch durchgeführt und unverbrüchlicher geworden, als das strengste Gesetz. London ist der classischste und kolossalste Ausdruck dafür, die individualisirteste, gegliedertste Stadt der Welt.

Um dies anschaulich zu machen, suchen wir uns einen der Tausende von großen Geschäftsmännern der City aus und beobachten ihn einen Werktag lang. Weit draußen im Westen, Süden oder Norden des ungeheuern Häuser-, Straßen-, Gärten- und Eisenstacket-Labyrinthes dehnen und verschränken sich Dutzende von Vorstädten zwischen Bäumen, Gärten und Parks. Die Häuser liegen alle mehr oder weniger zurückgezogen von der Straße, hinter eisengeländerumgebenen Vorgärten und vor Hinter-, oft auch Seitengärten, jedes für je eine Familie eingerichtet und von einer einzigen Familie bewohnt. Dieser Häuser – Villa’s und Cottages – giebt es in solch ungeheuern, städtegroßen Massen und in solcher Auswahl von Größe, Preis und Bequemlichkeit, daß auch jede halbweg anständige Familie mit Einnahmen, wofür man in Berlin kaum drei Treppen hoch in einer Mieths-Kaserne, den Launen des Wirths, der Mitbewohner, dem Gestank und Scandale der Straßen und Höfe preisgegeben, wohnen kann, daß selbst ganz gewöhnliche Arbeiter-Familien, Commis, Schreiber, Eisenbahnbeamte, Lastträger, Fabrikarbeiter, Gehülfen und Gesellen in je ihrem eigenen Häuschen mit ummauerten und eisengeländerumgebenen Vor- und Hintergärtchen „leben“ können. Der Engländer wohnt nicht, er „lebt“ in seinem Hause.

Von diesen vorstädtischen, mit Grün und Lebenslust umwehten Asylen des Familienlebens eilt der Engländer jeden Morgen zwischen 9–11 Uhr mit Omnibus, Dampfschiff oder Eisenbahn in die verdichtete und nach Straßen gegliederte Geschäftswelt und kehrt Nachmittags 4 – 6 Uhr zum Mittagsessen in seine Familie, in sein grünes, ruhiges, heiteres Lebens-Asyl zurück, um hier seines Lebens froh zu werden und Mensch, Gatte, Familienvater, Freund zu sein.

Das Zerschneiden des schönen Tages durch ein unruhiges, an Zeit kostspieliges Mittagsessen mit Kaffee, Cigarren und schlechter Verdauung hinterher just während der Höhe des Tages und der höchsten Blüthe des Geschäfts ist in England undenkbar und würde ganz richtig als die größte Barbarei gegen eigene Gesundheit, eigenen Vortheil verhöhnt werden.

Doch vergessen wir unsern ausgewählten Muster-Geschäftsmann nicht. Er wird vom Geflüster der Bäume und den Sängern, die auf deren Zweigen sich wiegen, geweckt. Kein Kindergeschrei um ihn herum. Sie schlafen unter besonderem Schutze in einem besonderen Zimmer, ebenso die größeren Töchter und Söhne.

Im Ankleidezimmer findet er Alles, was er braucht, schneeweiße Leibwäsche, gebürstete Kleider, gewichste Stiefeln. Er klingelt um warmes Wasser und rasirt sich selber. Dann nimmt er eine gründliche Wäsche mit sich vor und kleidet sich an mit keinem falschen Fleckchen um und an sich. Dasselbe haben inzwischen die andern Mitglieder der Familie in ihren besonderen Zimmern gethan, so daß sie nun Alle frisch und schmuck sich im Frühstückszimmer treffen und küssen. Im Zimmer glüht ein offenes, helles Kohlenfeuer, der Tisch ist mit blanken Kannen, Tellern, Tassen, weichgekochten Eiern, gebratenem Speck, geröstetem Weißbrod (zwischen silbernen Raufen), Fleisch, duftigem, aromatischem Käse etc. sehr substantiell ausgeschmückt, denn es wird mit Thee oder Kaffee (je nach Wahl) sehr gründlich „vorgelegt“ für den Tag. Ein Knabe oder ein Mädchen haben die Pflicht, ein Gebet zu lesen oder zu sprechen, dann wird so recht lustig zugegriffen und eingehauen. Dabei kommen wohl Familien (keine Geschäfts-) Briefe und die Times an, die noch rasch durchflogen werden. Dann eilt der Hausherr zur nächsten Omnibus-, Eisenbahn- oder Dampfschiffstation, von wo stets eifrige, serapulös rein gekleidete Gentlemen nach der City abfliegen. Hier angekommen ist er bis 4-6 Uhr nur Geschäftsmann und ein ganz Anderer, als zu Hause. Seine Office, sein Geschäfts-Bureau befindet sich in der Straße, wo nur Geschäfte seiner Art sich angesiedelt haben, und in einem Hause, in welchem nur Geschäftsbureaux sind und keine Familien wohnen. Im Bureau ist Alles durch hohe Holzwände sorgfältig abgetheilt, wie die verschiedenen Fächer der Arbeit. Jeder sitzt innerhalb seines Verschlags und weiß stets genau, was und wie er’s zu thun hat. Der Geschäftsherr selbst hat wenig Sitzfleisch. Er schießt von einem Fache zum andern hin und her und giebt und empfängt Befehle, da jeder Untergebene in seinem Fache Herr ist (was sich constitutionelle Herrscher zu ihrem Vortheil merken sollten); er fliegt aus und ein. Börse, Bank, Geldwechsler, Geschäftsfreunde, Kunden, Docks und Speicher etc., Alles was zur raschen und großartigen Entfaltung und Durchführung von Geschäften nothwendig ist, befindet sich überall in bestimmten Straßen und in verhältnißmäßiger Nähe. Für weitere Ausflüge stehen immer die fliegenden, zweiräderigen Götterfuhrwerke der sogenannten „Safety-Cabs“, Sicherheitsdroschken, bereit, oder Omnibus oder Dampfschiffe unten an der London-Brücke oder den City-Eisenbahnen, die immer alle 5–6 Minuten ankommen und abgehen, bald über, bald unter den Straßen und Häusern. Jeder eilt, fliegt, ist kurz und bestimmt mit Worten, die den Cours baarer Münze haben, und macht so während der kurzen, aber ausschließlichen Geschäftszeit mehr „Pfunde“, als unsere deutschen Geschäftsleute Thaler während ihrer zwei zerschnittenen, langen Tageshälften, die ihnen den Morgen und den Abend rauben und den ganzen Tag verleiden. Wer in England während dieser Geschäftszeit nicotingiftiges Unkraut zulpen und sich zu einem „Seidel“ oder „Töpfchen“ oder Kruge hinsetzen, kannegießern, klatschen, „gemüthlich“ sein wollte, würde entweder keinen Platz finden oder in seinem einsamen Winkel als ein Barbar verachtet oder als ein Geisteskranker bedauert werden.

Man ißt und trinkt auch in London während der Geschäftszeit ein „luncheon“, zweites Frühstück, aber rasch, im Fluge, oft stehend. Ein „Sandwich“, belegtes Butterbrod, und ein Glas Ale sind im Nu vertilgt. So fliegen sie während der Mittagszeit tausendweise ab und zu und stehen an langen Zahl-und Servirtischen entlang, stumm und voller Geschäft, das nur erst zwischen 4–6 Uhr ebenso gründlich und allgemein geschlossen wird, wie es zwischen 9–11 Uhr anfing. Ich bemerke hierbei, daß dies nur von den Großgeschäften gilt, die seit Jahren mit Erfolg betriebene Agitation für frühes Schließen aller Geschäfte aber mit Erfolg aufrecht erhalten wird. Schon jetzt schließen eine Menge Detailgeschäfte im Anschluß an die großen, und alle respectablen Geschäftshäuser erster Classe machen aus dem Sonnabend Nachmittag einen „halben Feiertag“.

Zwischen 4–6 Uhr liefert die City ihre Tausende von Geschäftsleuten mit rasender Dampfgeschwindigkeit wieder in ihren [763] ruhigen, reinen, heitern, umgrünten und umblüheten Familienasylen ab. Frauen und Kinder strecken glücklich ihre Arme nach ihnen aus. Das prächtigste Hauptmahl des Tages wartet. Sie Alle sind von nun an bis spät am Abend glückliche, unabhängige, von keinem Nachbar gestörte Menschen, Väter, Gatten, Kinder, Verwandte und Freunde. Diese Privat-Familien-Asyle, in denen Frauen und Kinder immer und der Hausherr die größte und schönste Hälfte jedes Tages „leben“, sie umranken London und andere große Städte Englands mit ihren Blüthentrauben von Villa-Vorstädten in solchen Gliederungen und Individualisirungen, daß überall ziemlich gleichartige Familien, in Vermögen, Bildungsgrad, Anschauungsweise und Stand einander ziemlich gleiche Menschen unabhängig neben einander wohnen. Störungen, Aergernisse, Rohheiten können daher so leicht nicht vorkommen. Jede Familie lebt von Mauern, Gittern und Gärten umhegt in ihrem „Schlosse“. Der Verkehr mit den Nachbarn ist entweder ein sehr höflicher, sehr gebildeter und wirklich herzensfreundlicher, oder er fehlt ganz. Wo die Häuser und Gärten unmittelbar aneinander grenzen, kommen Wohl auch Zwiste, Klatschereien vor, aber da Jeder auch hier sein „Schloß“ hat, eine eigene Stätte, worin er sich erholen, seine Nerven, seine abgehetzten Kräfte stärken, vollständig sein eigener Herr sein kann, werden sich die Nachbarn nie zu solcher Qual und Quelle unaufhörlicher Vergiftung, wie in den rinnsteinumgebenen, baum- und lebenslustlosen Miethskasernen Berlins, in denen sich die Menschen wirklich fortwährend gegenseitig Gift zuathmen, da sie das Bischen Sauerstoff verbrauchen und dafür Kohlensäure von sich geben, ohne daß sich die Luft zwischen diesen baumlosen Steinmassen mit offenen Rinnsteinen und ungeheuern Vorräthen von Unrath in den Höfen wieder verbessern kann. Auch ist längst medicinisch-statistisch nachgewiesen, daß die Menschen in Städten desto giftiger und ungesunder sind, je dichter neben und über einander sie athmen.

London ist nicht nur die größte, sondern auch die gesundeste große Stadt der Erde, weil es seinen Bewohnern die gesundeste Luft, die in Städten möglich ist, sichert und alle reichen, wohlhabenden und auch ärmeren ordentlichen Leute durch Nahrung, Arbeits- und Lebens-Organisation, durch rasches, ausschließliches Geschäft hinter einander und tägliche Erholung, Ruhe und Sittlichung in der Familie das gesundeste, reinlichste Leben führen. Wenn man von London nach Berlin kommt, erschrickt man vor diesen gelblichen, blassen, verbissenen Gesichtern, unreinlichen, knurzigen Gestalten. Die Engländer sind „pöbelhaft gesund“, sagt Heine. Die Hunderttausende namentlich, die alle Tage in der City ein- und auswandern, sehen durchweg klar, weiß, rothbäckig, außerdem ungemein rein aus, und sind durchweg größer, länger, gesunder, daher auch höflicher.

London ist voller Parks, öffentlicher Rasen- und Baumplätze, und die Vorstädte nisten im Grünen. Berlin ist in dieser Beziehung eine der verpfuschtesten, barbarischsten Städte der Welt, besonders in mehreren neuen Stadttheilen, die aus Steinen und Rinnsteinen bestehen. Da es in diesem Vandalismus gegen das grüne Leben rascher und rascher wächst, wird die Bestialität, Pestilenzialität und Mortalität in furchtbaren Steigerungen zunehmen, wenn nicht für Sittlichkeit, Gesundheit, Ruhe und Erholung, Familien- und Geschäftsleben den englischen Einrichtungen ähnliche Maßregeln sich geltend machen. Die Zerreißung des Tages durch ein Mittagsessen zwischen den beiden Hälften der Geschäftszeit ist so ungesund, zeitraubend und unpraktisch, daß sich wohl mit der Zeit und der immer gebieterisch werdenden Nothwendigkeit die Großherren der Geschäfte einmal zu der englischen Praxis entschließen werden. In Köln und anderen großen Handelstädten hat man damit, wie ich hörte, schon begonnen.

Damit wäre denn auch die Grundbedingung für örtliche und zeitliche Trennung des Geschäfts- und Familienlebens gewonnen. An Eisenbahnen fehlt es ja schon jetzt nicht mehr. Wenn sich erst gebildete Baucapitalisten oder lieber Compagnien finden, die endlich Ernst damit machen, draußen weit im Felde an Eisenbahnen wirkliche menschliche Häuser zu bauen, Häuser in Blüthentrauben um die Stadt herum, Häuser mit Bäumen und Gärten und grünen Parks dazwischen, wie meilenweit um London und alle großen englischen Städte umher: dann können Familien, die Ruhe, Sittlichkeit, Reinheit, Unabhängigkeit, Gesundheit brauchen, auch danach wohnen. Es käme nur auf einen Anfang an. Ein paar intelligente Männer von Geld und Bedeutung mit rechtem Willen und Einsicht würden hinreichen, um diesem vertrackten giftigen Berlin auf die Bahn des Heils zu verhelfen. Wenn sie ein paar Dutzend geschmackvolle Wohnungen irgendwo draußen an einer Eisenbahn neben statt über einander bauen und etwa noch mit der Eisenbahn übereinkommen, daß sie dort halte, wenn’s etwas auszuladen oder mitzunehmen giebt, dann ist Bahn gebrochen. In Berlin seufzen alle gebildeten Familien unter dem Fluche des rinnsteinumdufteten Miethskasernen-Systems. Sie wohnen nicht in ihren Wohnungen, geschweige, daß sie darin leben. Sie suchen Zerstreuung nach außen, so lange sie darin stecken, und rechnen schon im October wieder, wie lange es noch dauere bis zur nächsten Sommerwohnung oder Vergnügungs- und Badereise. Es giebt kein Familienleben in Berlin. Das ist furchtbar richtig, wenn man weiß, wie Engländer in ihren „Schlössern“ Familienleben genießen.

Solche Familien würden sich leidenschaftlich nach jenen Asylen drängen. Die Rentabilität solcher Vorstadts-Dörfer oder Colonien unterliegt nicht dem geringsten Zweifel. Was nothwendig, gesund, schön, Sittlichkeit und Cultur fördernd ist, bezahlt sich immer. Dasselbe gilt von der Vereinigung der zerschnittenen Geschäftshälften jedes Tages.

Berlin ist die im Schwindel-Casernismus am weitesten fortgeschrittene Stadt und muß daher am ersten und ernstlichsten Auswege und Asyle gegen sein inneres Gift bahnen, wenn es nicht darin umkommen will. Aber auch die andern großen Städte, die als Eisenbahnschwingungsknoten sich ansehen und ausdehnen, sollten bei Zeiten dafür sorgen, daß sie, indem sie Felder, Bäume und Gärten um sich her verschlingen, sich in den steinernen Bauten nicht selbst Grabgewölbe mauern. Das Land muß in die Stadt kommen, indem die Stadt auf’s Land geht. Die Barbaren, die sich jetzt größtentheils mit Häuserbau abgeben, speculiren so, daß sie denken, den als Baustelle getauften Garten und dessen Bäume desto besser zu verwerthen, je höher sie Steine darauf thürmen. Die Vandalen! In euren Steinmassen wird blos kohlensaures Gift ausgeathmet, und wenn die Bäume fehlen, sie wieder zu verzehren und dafür mit Lebenslust zu bezahlen, so werden eure Häuser wirklich blos zu Giftfabriken, in denen ihr selbst mindestens zehn Jahre eures Lebens verliert. Wenn das speculiren und Profit machen heißt (ich rechne in euren Egoismus alle die Andern nicht, die für den Aufenthalt in euren Giftbuden schwere Miethe bezahlen), so wartet wenigstens erst auf eure Doctor-, Apotheker- und Todtengräberrechnungen, um dann Facit und Probe zu machen!





Die Auster und die Austernparks bei Husum.

Es sind noch nicht zwanzig Jahre her, da waren eines schönen Herbsttages die Feinschmecker Breslaus in einer ganz entsetzlichen Aufregung. Die Austern waren wieder eingetroffen. Eine Stunde vor der gewohnten Zeit hatte sich der Commerzienrath B., die erste Autorität in derartigen Geschmackssachen, in den Keller begeben. Der Küper sucht die schönsten dieser Muschelthiere aus dem Korbe, bricht die Schalen auseinander und überreicht ein herrliches Exemplar dem sehnsüchtigen Gourmand, der noch den letzten Schluck Weißwein in seinem Munde umherquält. Ein prüfender Blick, – eine sicher geführte Operation, wodurch der Bart losgetrennt wird, – ein rascher Schnitt, der die Auster von der untern Schale löst – einige Tropfen Citronensaft – dann ein Schließen der Augen, der Kopf biegt sich sanft hinten über, und das Thierchen wird eingeschlürft. Aber Einschlürfen, Ausspucken und mit dem Fuß auf dem Boden kratzen, war ein und dasselbe.

„Pfui Teufel! – wie können Sie mir so’n Schundding vorsetzen? das hat ja weder Saft noch Kraft – gieb her!“ damit langte der Getäuschte nach einer zweiten Auster, aber nur um sie ebenso verächtlich wieder auszuspucken; einer dritten, vierten ergeht [764] es nicht besser, kurz: „diese Austern können Sie nur ruhig in die Gosse schütten“, das war das Resultat, womit sich der Arme endlich kummervoll entfernte.

Der Austernmißwachs wurde eine betrübende Thatsache, von der sich schließlich Alle überzeugt hielten, bis endlich ein Hamburger Kind den kühnen Ausspruch that, „die Austern wären vortrefflich, und daß sie den Leuten nicht schmeckten, würde wohl daher kommen, daß diese früher, wo es noch keine Eisenbahn gab, nur verdorbene gegessen hätten.“ Und so war es in der That. Solche Austern, wie man vor zwanzig Jahren im Binnenlande als Delicatessen genoß, erregen uns heute durch ihren Geruch und Geschmack nur Schauder. Saft und Kraft war ihnen allerdings in gewissem Sinne nicht abzusprechen.

Der Auster ergeht es wie den Krebsen, sie darf nicht lange unterwegs sein, und wenn man auch früher in Frankreich eine ganz besondere Austernpost hatte, so war die Beförderung häufig doch noch zu langsam. Erst die Eisenbahnen konnten den wirklichen Genuß an einem der ehrenwerthesten Seegeschöpfe von der Küste in das Innere des Landes verpflanzen. In den Seestädten ist die Auster ein Volksgericht, und der 5. August, wo die ersten in London wieder verkauft werden, ist ein Volksfest. Man rechnet, daß in dieser Weltstadt jährlich weit über 120 Millionen Austern nur auf der Straße „aus freier Hand“ verspeist werden.

Die Auster ist nahrhaft und leicht verdaulich, und sie könnte, wenn niedrigere Frachtsätze und Zolltarife den Bezug erleichtern wollten, zu einem allgemeinen Nahrungsmittel werden, während sie jetzt mehr oder weniger immer noch Luxusartikel ist. Man sagt zwar, daß in den Monaten ohne r der Genuß der Auster schädlich sei, in der kalten Hälfte des Jahres ist sie gewiß so gesund wie nur irgend etwas, nur noch ein wenig zu theuer.

Die neuere Zeit hat zwar durch rationelle Austernzucht, durch förmliche Meiereien unter dem Meere, durch Austerngärten, Brutplätze, Schulen, Parks, kurz durch ein vollständiges System der Pflege und Erziehung die Fruchtbarkeit ungemein vermehrt, indem die Sterblichkeit vermindert wurde, allein dies ist für den ungeheuren Markt noch zu wenig. Das Meer ist lange noch nicht ausgenützt genug. Die Auster ist wie eine Frucht: sie läßt sich förmlich säen und giebt millionenfachen Ertrag.

Wer hat das stille Geschöpf betrachtet und an etwas Anderes, als etwa an ihre Verschwiegenheit gedacht – und doch ist sie von einem merkwürdigen Fleiß. Bereits nach dem ersten Jahre laicht sie, und man muß ihre Betriebsamkeit bewundern, wenn man erfährt, daß eine einzige Austernmutter, obwohl sie nur ein Alter von etwa 10 Jahren erreicht, doch eine directe Nachkommenschaft von mehr als 20 Millionen Kindern in die Welt setzen kann. Wenn sie keins ihrer Kinder verlöre und es bei den Austern Sitte wäre, einen Leichenconduct zu bilden, so könnte sie mehr als 120 Millionen trauernder Kinder, Enkel, Urenkel u. s. w. zum letzten Geleite haben. Leider aber ist ihr Geschlecht von früher Jugend an dem widrigsten Geschicke anheim gegeben, und kaum entrinnt der hunderttausendste Theil dem Verderben.

Sehr viele erblicken gar nicht einmal das Licht der Welt, das heißt die Eier werden nicht befruchtet und können demnach auch nicht ausgebrütet werden, die glücklich ins Leben getretenen dienen aber theils den gefräßigen Meeresbewohnern zur Beute, theils finden sie keinen passenden Wohnort, und wie gesagt nur eine unverhältnißmäßig geringe Zahl vermag sich naturgemäß zu entwickeln.

Aus dem Ei der Auster geht zuerst eine kleine Larve hervor, die eine kurze Zeit mittels räderartiger Bewegungsorgane frei im Wasser umherzuschwimmen vermag. Findet sie einen passenden Gegenstand, so befestigt sie sich an ihm, um sich nie mehr von ihm zu trennen; wo nicht, so geht sie zu Grunde. Man sieht, die Wanderjahre sind sehr kurz. Von nun an führt sie das häuslichste Leben von der Welt. Sie wächst, und je nach der Lage ihres Wohnortes mehr oder weniger rasch. Die Auster verlangt einen gewissen Salzgehalt des Meerwassers, um zu gedeihen. Ein Zuviel ist ihr ebenso schädlich als ein Zuwenig, und die Bestrebungen der Kaiserin Elisabeth, die Austern an die russischen Ostseeküsten zu verpflanzen, waren ebenso vergeblich wie die Anstrengungen des alten Blücher, an der mecklenburgischen Küste eine Austernbank zu legen. Das Wasser der Ostsee ist durch die großen in sie einmündenden Flüsse zu süß, während das rothe Meer wiederum viel zu salzig ist.

Schon das gewöhnliche Meerwasser ist zu stark gesalzen, und obwohl in etwas salzreichem Wasser die Auster in körperlicher Beziehung sich sehr kräftig entwickelt, so nimmt doch ihr Inneres nicht in gleichem Maße mit Theil. Die wahren Austernesser halten derartige Thiere, für etwas roh und ziehen zum Beispiel die Austern der Lagunen und Buchten im mittelländischen Meere denen aus der offnen See vor. Man hat überhaupt eine Unzahl von verschiedenen Austersorten, die alle zu einer einzigen Art (ostrea edulis, eßbare Auster) gehören und ihre Unterschiede wahrscheinlich nur der verschiedenen Lebenssphäre verdanken.

Die schottischen Purfleet und die Colchester hält der echte Austernesser den norwegischen oder holländischen Austern gegenüber wie Rüdesheimer gegen Jenenser Schattenseite. Am besten gedeiht die Auster auf einem Meeresgrunde, der nicht zu tief und womöglich felsig und fest sein muß. Je mehr der jungen Brut Anhaftungspunkte geboten werden, um so weniger geht zu Grunde, und es ist wahrhaft wunderbar, wie einträglich die Bildung künstlicher Austernbänke mittels Faschinen, Reisigbündel etc. sich erwiesen hat, bei denen das Gewirr der einzelnen Zweige den kleinen Austern eine sichere Zufluchtsstätte bot. Der französische Austernhandel hatte sehr gelitten, die früher benutzten Bänke waren ausgebeutet und viele ganz und gar todt. Da legte die französische Regierung 1859 in der Bai von St. Brieux künstliche Austerbänke an. Ein großer Flächenraum, wo der Boden wenig Schlamm und Schlick enthielt, wurde im März mit alten Austerschalen zuerst förmlich gepflastert, sodann in zehn langen Bänken, mit drei Millionen Brutaustern besät, und zwischen diesen Bänken und vor ihnen gegen die offene See hin legte man Zäune von Faschinen, so daß auf dem Grunde des Meeres ein förmlicher Garten mit Beeten und Hecken entstand.

Ein Entrinnen der jungen Austern war unter solchen Umständen schwierig. Nach einem halben Jahre nahm man einzelne der Faschinen heraus; sie waren mit einer förmlichen Muschelkruste überzogen, und man zählte an einer einzigen Faschine, die so groß wie eine Getreidegarbe war, mehr als 20,000 junge Austern, die bereits einen Durchmesser von einem Zoll hatten. Da die Auster zwischen dem vierten und sechsten Jahre am schmackhaftesten ist, so kann man die Faschinen an den Brutplätzen erneuern und die junge Zucht an besonderen Mästungsplätzen wachsen lassen. Jedenfalls hat diese Bebauung des Meeresgrundes noch eine große Zukunft.

Die Auster ist durchaus nicht an einen bestimmten Wohnplatz gebunden, sie nimmt es nicht übel, wenn ihr eine Wasserveränderung bereitet wird. Im Gegentheil wirken derartige Versetzungen häufig sehr günstig ein. Man sieht das in den sogenannten Austernparks; das sind Reservoirs, Niederlagen, Stationen, wo die Austern aufbewahrt werden, sich erholen und von wo man sie weiter verschickt, damit nicht eine zu lange Reise von der Bank bis zu dem Verbrauchsort ihrer Güte schade. Für den Continent ist der Austernpark von Husum von der größten Bedeutung. Es ist eine wahre Austernsparbüchse, welche uns mit den köstlichsten Whitstabler versorgt, ohne die Stockungen, welche Stürme oder große Kälte so häufig in den gewöhnlichen Zusendungen hervorrufen.

Unsere Abbildung ist sehr geeignet, ein völlig klares Bild dieser bedeutenden Austernpension zu geben, welche sich ungefähr eine Stunde von der schleswigschen Stadt Husum, auf der äußersten Spitze des Dockkooges befindet.[2]

Ein 40 bis 50 Fuß hoher, nach außen mit gepflocktem Strohgeflecht und Steinen besetzter Damm (Deich) schützt den Koog, von dessen Land wir nur eine kleine Zunge in unser Bild hereinragen sehen, gegen den Andrang der Nordsee. Darüber hinaus gewahrt man links die Landspitze Silmannsberg, rechts die Insel Nordstrand. Innerhalb des Deiches aber liegen die drei durch die eingelegten Gehbalken gitterförmig erscheinenden Parks, deren jeder 60 bis 70 Fuß im Gevierte und circa 8 Fuß Tiefe hat. Vor ihnen, dem Beschauer zu, befinden sich zwei große Wasserreservoirs, von dem tieferen Theile des Kooges abgeschlossen, der durch eine Schleuße unter dem Deiche hindurch mit der Nordsee in Verbindung steht und zur Zeit der Fluth sich mit frischem Seewasser füllt. Aus diesem füllen sich durch besondere Schleußen die beiden Reservoirs. Sobald dies geschehen ist, läßt man aber die Schleußen

[765]

Die Austernparks der Husumer Austern-Compagnie in Dockkoog bei Husum.

[766] nieder, um dem Wasser Ruhe zu geben, seinen Schlick absetzen zu können.

Die eigentlichen Parks liegen nun zwar etwas tiefer als die Reservoirs, aber immer noch höher als der umgebende Theil, und es kann also, wenn zur Zeit der Ebbe das Seewasser durch die Hauptschleuße sich hinaus in die Nordsee gezogen hat, das Wasser durch die hintersten Schleußen ab und dafür frisches aus den Reservoiren zugelassen werden, wodurch die Austern fortwährend gespült werden. Die Wände der Reservoirs sind Erdwälle mit Strohgeflecht besetzt; die Parks dagegen haben Wände von Erde mit Kleie vermischt und nach innen eine dicke Bohlenlage, welche ebensowohl wie der Fußboden massiv und so wasserdicht sein müssen, daß kein den Austern schädliches Untergrundwasser hinein dringen kann.

Die größte Reinlichkeit ist Hauptbedingung, denn die Anstalt ist gewissermaßen ein Rastort, wo die von Whitstable in England kommenden sogenannten Natives-Austern sich von den Anstrengungen der Reise erholen und erfrischen sollen. Die Schiffe legen an der Landungstreppe an; die Körbe werden ausgeladen und die Muscheln in den Parks untergebracht. Sollen sie aber weiter versandt werden, so werden sie wieder mit einer Art Netzschaufel herausgefischt, in dem nahe den Parks liegenden Winterhause sortirt und, in Körbe verpackt, von hier auf der Straße nach Husum gesandt, wo sie dann ihre Weiterreise auf der Eisenbahn fortsetzen.

Es leuchtet ein, daß die Austern jetzt in einem gesündern Zustande zu uns kommen, als wenn sie ohne Aufenthalt von England bezogen werden müßten, und die Austernesser können sich bei dem Herrn Joseph Miller in London bedanken, daß er trotz der großen ihm entgegenstehenden Hindernisse die Anlage dieser Parks bewerkstelligte. Seit dem Jahre 1858 hat die Husumer Austerncompagnie das Unternehmen in die Hände genommen, und unsere Zukunft, soweit sie von frischen Whitstabler Austern abhängig ist, dürfte dadurch gesichert sein.





Zwei Mecklenburger Leidensgenossen.

1. Ein Märtyrer aus der Reformationszeit.
Von Henriette v. Bissing.

Am 19. Mai dieses Jahres, während an vielen Orten unsers deutschen Vaterlandes Fichte’s hundertjähriger Geburtstag festlich begangen ward, fand in Rostock die Enthüllungsfeier eines Denkmals statt, das man dort dem Andenken eines andern hochverdienten deutschen Mannes errichtete, dessen Sterbetag der 19. Mai ist. Beide Gefeierte waren von armen Eltern geboren und hatten sich aus der Dunkelheit niedriger Verhältnisse aufgeschwungen zu Lehrern der Menschheit; beide wurden heldenmüthige, begeisterte und hochbefähigte Vorkämpfer für Licht und Freiheit, der eine auf dem Gebiete des Denkens, der andere auf dem des Glaubens; beide starben im schönsten Mannesalter, nachdem sie schon ihre Saaten reifen gesehen. Von dem Einen, weniger bekannten, will ich jetzt den Lesern der Gartenlaube ein Crayonbild zeichnen, so gut es eine Frauenhand oder doch die meine vermag.

Joachim Slüter erblickte um das Jahr 1496 als der Sohn eines Fuhrmannes zu Dömitz an der Elbe das Licht der Welt. Er war also nur 13 Jahre jünger als Luther, dessen Schüler er werden sollte. Im Jahre 1518 studirte er auf der Universität Rostock und vollendete seine Studien in Wittenberg, wo er bald öffentlich zum Protestantismus übertrat.

Bei seiner Rückkehr nach Rostock (1521) erhielt er sofort eine Anstellung als Lehrer an der Petrischule. Nachdem er diese Stelle zwei Jahre bekleidet hatte, beschloß der Herzog Heinrich zu Schwerin, der ebenfalls zum Protestantismus übergegangen und Patron der St. Petrikirche zu Rostock war, an dieser einen lutherischen Pfarrer anzustellen, und dies ward, auf Bitten der Petrigemeinde selbst, Joachim Slüter. Damit sah sich denn der junge begeisterte Glaubensheld auf den Standpunkt gestellt, der ihm zwar ein Märtyrerthum, aber dennoch die Erfüllung seines höchsten Strebens versprach.

Rostock war zu jener Zeit noch eine durch und durch katholische Stadt. Magistrat und Universität waren mit lauter eifrigen Papisten besetzt; im Dom und in den drei übrigen Hauptkirchen ward an 87 Altären von zahlreichen und zum Theil sehr vornehmen und mächtigen Geistlichen das Hochamt verrichtet und täglich Messe gelesen. Außerdem gab es noch sechs Nebenkirchen mit zusammen 64 Altären; ein Franziskaner- und ein Dominicanerkloster, deren 300 Mönche eben so viele erbitterte Feinde Slüter’s und des lutherischen Glaubens waren, den er jetzt öffentlich und mit täglich sich mehrendem Erfolge predigte. Selbst das Nonnenkloster suchte ihm durch Verleumdungen und Familienanhang zu schaden.

Die größte Gefahr für Slüter ging aber aus den Verhältnissen und der Schwäche des Herzogs hervor. Er war mit seinem Bruder, dem zu Güstrow residirenden Herzog Albrecht, in einen Erbschaftsproceß verwickelt, dessen Endurtheil der katholische deutsche Kaiser zu fällen hatte, den Heinrich deshalb nicht noch durch offene Gewalt gegen die papistische Partei mehr erzürnen durfte, als er es ohnehin schon durch seinen Glaubenswechsel gethan haben mußte. Außerdem nahm er Rücksicht auf den Kurfürsten von Brandenburg und auf seinen eigenen Sohn Magnus, der, obwohl noch minderjährig, zum Bischof von Schwerin ernannt worden war.

All dieser Gefahren war Slüter sich wohl bewußt, allein mit unerschütterlichem Gottvertrauen und der Opferfreudigkeit, wie sie einst die Märtyrer besaßen, trat er sein Amt an und verwaltete es offen und mit aller ihm innewohnenden Kraft. Von Tage zu Tage mehrte sich nun, von der Gewalt seiner Rede hingerissen, auch die Zahl seiner Zuhörer, und die Mauern der geräumigen Petrikirche vermochten bald nicht mehr dieselben zu umfassen. Der unerschrockene Slüter ließ sich daher eine transportable Kanzel anfertigen, von der herab er an schönen Tagen unter der großen Linde auf dem Kirchhofe predigte.

Lange wagten es die katholischen Behörden nicht, offen gegen den Schützling des Herzogs aufzutreten, bis sie endlich einen Augenblick ersahen, um, weil Schleichwege, Spott und Verleumdung nicht gefruchtet hatten, mit Gewalt gegen ihn, als „einen Irrlehrer und Aufrührer“, einzuschreiten. Slüter bewohnte ein kleines bescheidenes Häuschen in einer Ecke zwischen dem Petrithor und der Kirchhofsmauer eingeklemmt, das noch heute existirt. Hier lebte er einsam, nur seinem Berufe und Studium, und hier traten einst am hellen Tage die Büttel und Wächter des Rathes bei ihm ein, überfielen ihn und schleppten ihn gebunden, wie einen gemeinen Verbrecher, auf den Kirchhof, an seiner geliebten Kirche vorüber, auf den alten Markt hinaus, von wo sie mit ihm bis zum Rathhaus zu gelangen suchten, wo man dann kurzen Proceß mit ihm zu machen beabsichtigte. Allein das Gerücht von der Gefahr, mit der ihr angebeteter Lehrer bedroht war, lief wie der Blitz durch die Petrigemeinde, und Männer und Jünglinge, Weiber und Kinder, Alles stürzte tödtlich erschrocken aus den Häusern und suchte in Slüter’s Nähe zu kommen, so daß sich der Zug auf Schritt und Tritt vergrößerte. Man verlangte endlich laut und drohend die Freiheit des in der Hoheit der Unschuld würdevoll dahinschreitenden Opfers des Fanatismus, der Rachsucht und blinder Gewaltthätigkeit; und als die Schergen hierauf nicht achteten, sondern nur desto eiliger fortzukommen strebten, überfielen die Lutherischen sie, entledigten Slüter der Fesseln und führten ihn im Triumph auf den Kirchhof zurück.

Hatte Slüter sich vorhin mit dem freudigsten Gottvertrauen und dem Stolz der Unschuld zum Gericht hinweg führen lassen, so sah er es jetzt wieder als eine Fügung der Vorsehung an, daß seine Freunde ihn befreiten, und Angesichts seiner Kirche und seines noch offen, aber unberührt gebliebenen Häuschens, stimmte er in deutscher Sprache einen Dankpsalm an, in den die Versammelten tiefbewegt einfielen, worauf er sich wieder in seine Wohnung zurückzog. Die Männer aber verbanden sich sofort zu einer Art Leibwache für ihn, um ihn bei Tage und bei Nacht mit Leib und Leben zu bewachen und jede Gefahr von ihm abzuwenden.

Einem so deutlich und energisch ausgesprochenen Volkswillen wagten in jenen fernen Zeiten selbst Magistrat und Geistlichkeit nicht offen entgegen zu treten, besonders auch deshalb nicht, weil sie den Herzog auf Slüter’s Seite wußten, und man schlug nun wieder andere Wege ein, um ihn zu kränken und zu schaden. Es wurde zunächst sämmtlichen Schullehrern und andern dazu bestellten Personen auf das Strengste untersagt, einen Anhänger der neuen Lehre bei seinem Ableben mit Gesang zu Grabe zu geleiten, [767] oder sonst irgendwie sich bei dessen Bestattung zu betheiligen. Diese Maßregel war für die damalige Zeit eine wahrhaft furchtbare zu nennen. Ein feierliches Begräbnis gehörte zu den höchsten Wünschen, für deren Erfüllung man das ganze Leben hindurch Opfer brachte. Allein Slüter verstand es, auch hier die erschütterten Gemüter aufzuklären und zu beruhigen; er ordnete an, daß fortan alle dazu befähigten oder schon gesetzeskundigen Männer, Jünglinge und Kinder der Gemeinde bei jeder zu Grabe zu bringenden lutherischen Leiche jene Dienste verrichten sollten.

So prallte denn auch dieser wie alle andern Steinwürfe auf diejenigen zurück, von denen sie ausgegangen. In ohnmächtigem Zorn stachelte man jetzt das gemeine Volk auf, Rache an dem „schwarzen Ketzer“, wie man Slüter seines Haupt- und Barthaares wegen schalt, zu üben. Man dichtete gemeine Spottlieder, mit denen man die Lutherischen und ihren Pfarrer zu reizen suchte. Allein als ein echter Jünger seines Meisters that Slüter auch bei solchen Gelegenheiten, als höre er nicht, und seine Beichtkinder folgten hierin seinem Beispiele.

Diese Vorgänge kamen endlich zu des Herzogs Ohr. Er beschied den geduldigen und unerschrockenen, aber allzu kühnen jungen Pfarrer zu sich nach Schwerin und gestattete ihm nicht, nach Rostock zurückzukehren, bis er selbst ihm wirksameren Schutz zu verleihen würde im Stande sein. Dieser Augenblick schien dem Fürsten gekommen, als am 27. August 1526 der Reichstag zu Speier erklärte, „es solle künftighin dem Gewissen eines jeden Reichsstandes überlassen bleiben, in Befolgung des Wormser Edictes sich mit seinen Unterthanen zu verhalten, wie er es vor Gott und dem Kaiser verantworten könne.“ Dies galt dem Herzoge, sowohl den Rostockern als auch Slüter gegenüber, für Bürgschaft genug, daß man seinen Schützling von nun an in Ruhe lassen werde, und noch in demselben Jahre kehrte Slüter hochbeglückt und jubelnd empfangen in sein Amt zurück.

Es schien auch in der That, als kümmere sich die papistische Partei jetzt wenig mehr um das tägliche Wachsthum der Lutherischen, und bald war Slüter nicht mehr im Stande, all seinen Berufsgeschäften allein vorzustehen. Er bat den Herzog um einen Gehülfen, und es ward an der Petrikirche noch ein Capellan Namens Peschen Gruvel angestellt. Auch trug zu dem Gedeihen der neuen Lehre nicht wenig der Zwiespalt bei, der in dem feindlichen Lager ausgebrochen war. Franziscaner und Dominicaner geriethen in Streit über die unbefleckte Geburt der Jungfrau Maria und haßten sich in Folge dessen bald eben so sehr untereinander, wie vorher die Lutheraner. Ein solcher Scandal, für den dennoch im katholischen Publicum sich zwei Parteien bildeten, führte der neuen Lehre, die nur Frieden und Versöhnung predigte, fast mehr und mächtigere Anhänger und Bekenner zu, als es selbst den begeistertsten Reden ihrer Apostel gelungen war. Mehrere Mitglieder des Rathes wurden lutherisch, und ein Bürgermeister (Gerdes), den die Dominicaner zu Hülfe gegen die Franziscaner riefen, entgegnete ihnen: „er wisse ihnen weder zu rathen, noch zu helfen, da sie selbst ihre Lehre heruntersetzten und in den übelsten Geruch brächten.“

Doch ganz wendeten die Mönche ihre Basiliskenaugen nicht ab von dem gemeinschaftlichen Feinde, obgleich sich namentlich die Franziscaner Mühe gaben, Slüter glauben zu machen, als achteten sie ihn, nachdem sie ihn näher erkannt, und sie sprachen endlich sogar den Wunsch gegen ihn aus, auch mit ihm in geselligen Verkehr zu treten. Sie besaßen neben ihrem Kloster ein Haus, in welchem sie die Laien beherbergten und bewirtheten, die für ihre leiblichen Bedürfnisse sorgten, und wo sie, von eigens dazu angestellten geschickten Haushälterinnen ihres Bettlerordens bedient, sich einen sehr guten Tisch unterhielten.

In dieses Haus luden sie Slüter eines Tages zu einem „collegialischen“ Mahle ein, und dieser nahm bereitwillig die Einladung an. Der Wunsch, sich noch vor der Tafel mit seinen freundlichen Wirthen zu unterhalten, führte ihn wahrscheinlich etwas früher, als sie ihn erwartet hatten, in jenes Haus, auf dessen Flur sich die Küche befand. Als er diese betrat, waren sämmtliche Mönche mit ihren Köchinnen in einem Hinterzimmer versammelt, um dort noch Anordnungen wegen der Bewirthung zu treffen. Nur ein kleines Mädchen stand am Heerde und wendete den Braten. Kaum ward dies Kind Slüter’s ansichtig, als es ihm, der es freundlich wie alle Kinder anblickte und grüßte, ängstlich zuwinkte und ihm dann hastig zuflüsterte: „Herr Joachim, esset um Jesu willen nicht von diesem Braten, er ist vergiftet!“

Jetzt erkannte der arglose Slüter zu spät die Wölfe unter den Schafskleidern, und es war die höchste Zeit, sich zu fassen, denn schon hatten die Mönche das Klingeln der aufgehenden Hausthüre vernommen und traten mit der allerunschuldigsten und freundlichsten Herzlichkeit ihrem Gaste entgegen. Stets Herr seiner selbst, trat er unbefangen mit ihnen in das Gemach ein, in welchem sie ihm die Henkersmahlzeit aufzutischen gedachten. Allein schon während des Empfanges dachte er darüber nach, wie er sich wieder frei machen könne aus der Schlinge, die er sich hatte über den Kopf werfen lassen. Endlich sollte schon angerichtet werden, und man reichte der klösterlichen Sitte gemäß Waschwasser zur Reinigung der Hände herum, die das gesegnete Brod brechen sollten. Auch dies hatte Slüter schon angenommen, als er plötzlich um Entschuldigung bat, wenn er sich nur auf fünf Minuten entferne, um nach seiner nahen Wohnung zu eilen, an der er, wie er soeben bemerke, in der Zerstreuung den Schlüssel habe stecken lassen, und vergebens bemühten sich seine heuchlerischen Wirthe, ihm auf alle mögliche Weise diesen Gang ersparen zu wollen, er entschlüpfte ihren glatten Händen und – kehrte natürlich nicht zurück.

Obgleich Slüter niemals den Herzog mit Klagen belästigte, erfuhr dieser doch endlich wieder einmal durch dritte Hand, wie man seinen Schützling verfolgte, und im höchsten Zorn kam er selbst nach Rostock und ließ Slüter zu sich rufen, um aus seinem eigenen Munde die Wahrheit zu erfahren. Natürlich durfte Letzterer dieselbe schon um ihrer selbst willen nicht verleugnen, aber Namen zu nennen, war er nicht zu bewegen. Gerührt ergriff er daher Slüter’s Hand, lobte seine echt christliche Gesinnung, ermahnte ihn, wie bisher stark und mannhaft, aber auch mild und versöhnlich seinem Berufe vorzustehen, und beschenkte ihn zum Zeichen seiner Huld mit einem neuen Priesterornat.

Neuen Grund zu Haß und ohnmächtiger Rachsucht gab Slüter im Jahre 1528 seinen Feinden, indem er, als der erste Priester in Mecklenburg, ein Weib nahm und zwar Katharina Gelen, die schöne und tugendhafte Tochter eines Schlossers. Der Herzog hatte bereitwillig, der Rath wohl oder übel die gesetzmäßige Einwilligung zu dieser Ehe gegeben. Doch wie ungern dies von Seiten des Magistrats geschehen, zeigte sich schon, als der Hochzeitvater der Sitte der Zeit gemäß die Rathsmusikanten zum Hochzeitmahle bestellte und es diesen Leuten vom Rathe auf das Strengste verboten ward, „auf einem so gotteslästerlichen Feste zu spielen“.

Die Lutherischen veranstalteten nun eine andere, Zeit und Umständen angemessenere Feier. Als am Hochzeitstage der Brautzug das Gelen’sche Haus verließ, zogen voran die Sänger der Gemeinde, Psalmen in deutscher Sprache singend. Ihnen folgte der Bräutigam, umringt von seinen liebsten Freunden und Anhängern, hierauf die Braut mit ihren Verwandten und Brautjungfern, denen sich dann die übrigen zur Hochzeit Geladenen anschlossen. Vom Hochzeithause an, das in der Altschmiedestraße lag, bis über den alten Markt und bis zur Petrikirche bildete die nun schon so ansehnliche Gemeinde derselben ein dichtes Spalier, das noch stand, als der Zug aus der Kirche zurückkehrte, wo der Kaplan die Trauung verrichtet hatte. Als der Zug zu Anfange die Schwelle des Brauthauses überschritt, ertönte das Geläute sämmtlicher Glocken des hohen Petrithurmes und verkündete der ganzen Stadt das Unerhörte, wodurch sich denn bei der Rückkehr aus der Kirche eine so große Menschenmasse eingefunden hatte, daß es, wenn man Zeit und Verhältnisse erwägt, fast ein Wunder schien, daß trotzdem das Fest ohne jegliche Störung endete; – freilich einen Vorfall ausgenommen, der jedoch nur ein kindisches Bubenstück zu nennen war. Slüter’s Schüler, die lutherischen Studenten, sendeten einige Leute nach dem Rathskeller ab, um Wein zu holen. Allein ihre Boten wurden unterwegs überfallen, ihnen die gefüllten Kannen aus den Händen gerissen, der Wein auf die Straße gegossen, die Gefäße mit den Füßen zertreten.

Auch von diesen Vorfällen erhielt der Herzog Kunde und ward darüber so erzürnt, daß er den Rostockern eröffnen ließ, „bei der nächsten Beleidigung, die sie dem von ihm bestellten Magister Slüter zufügen würden, wolle er (der Herzog) blutige Rache an ihnen nehmen.“ Den Lutherischen ließ er seinen „gnädigsten Gruß vermelden“, belobte sie wegen ihrer wackern Theilnahme an dem Feste und schloß damit, „daß, hätte er ahnen können, der Rath werde seine Musici nicht spielen lassen, er seine sämmtlichen Hofmusiker dazu von Schwerin hätte herübersenden wollen.“

Von dieser Zeit an schien es, als hätte der Sturm sich ausgetobt; [768] die neue Lehre verbreitete sich immer weiter, und schon war auf Bitten der Bekenner derselben in den andern Gemeinden Rostocks, zunächst in der heil. Geistkirche, ein lutherischer Prediger angestellt worden. Im Jahre 1530 hatten die Lutherischen in allen Kirchen, und sogar im Dome, der am längsten von den Katholiken allein behauptet worden war, Prediger ihres Glaubens.

Dieses Jahr war überhaupt das schönste in Slüter’s Leben. Ein treues Weib, ein liebliches Kind, der Sohn, den Katharina ihm geboren, schmückte seine Häuslichkeit; angebetet von seinen Pfarrkindern, treue, ihn hochverehrende Freunde zur Seite, und selbst von den edleren unter seinen Gegnern geachtet, in seinem obgleich schweren Berufe das höchste Glück seines Lebens findend, blieb ihm kaum noch ein anderer Wunsch übrig, als den Tag noch zu erleben, wo sein liebes Rostock eine ausschließlich lutherische Stadt würde geworden sein. Allein lange, ehe dieses Ziel erreicht war, führten seine Feinde den Augenblick herbei, wo der edle Glaubenskämpfer vom Schauplatze seines Wirkens abtreten mußte.

Um Neujahr 1532 war Slüter in einem lutherischen Bürgerhause zum Gastmahl geladen. Hier ward ihm von einem ebenfalls anwesenden Buchbinder (seinen Namen hat die Chronik glücklicherweiser nicht aufbehalten) ein Becher Wein zugetrunken, aus welchem der mäßige Slüter nur einige Schlucke, seine beiden Tischnachbarn, ein Böttcher und ein Wollweber, desto mehr tranken. Diese beiden Leute starben nach wenigen Tagen unter sehr verdächtigen Symptomen. Slüter aber begann dahin zu siechen, rasch und ohne daß ihm konnte geholfen werden, so daß er schon in der Passions- und Osterzeit nur noch mit Anderer Hülfe die Kanzel zu besteigen vermochte. Erst wenige Tage vor Pfingsten gab der wackere Glaubensheld diesen furchtbaren Kampf mit einer Macht, der Niemand zu entgehen vermag, auf und verließ von nun an sein Lager nicht mehr. Am ersten Pfingsttage, den 19. Mai, Nachmittags zwischen zwei und drei Uhr entschlummerte er wie ein echter Jünger des Heilandes, indem er noch sterbend „für das Heil aller Welt“, mithin auch für seine Feinde betete.

Nicht weit von der Thüre seines Hauses entfernt, bettete man seine irdische Hülle und legte eine schwere Steinplatte auf das Grab, die noch bis auf unsere Tage erhalten ist. Diesen Stein hat man durch einen ganz ähnlichen neuen ersetzt, hinter welchem sich das Denkmal erhebt, von welchem ich zu Anfange dieses Aufsatzes geredet.




Blätter und Blüthen.

An Ludwig Uhland’s Grab. Erst an das Grab des deutschen Dichters und Patrioten kann nun die Gartenlaube treten, da es ihr nicht vergönnt ist, mit ihren Lesern den Tag eines frischen Ereignisses zu begehen, weil Wochen an ihrer Vollendung arbeiten. So ist es gekommen, daß die Tausende unserer Leser, welche im Geiste dem feierlichen Zuge der Bestattung des Geliebtesten der großen Todten unserer jüngsten Zeit gefolgt waren, nunmehr längst wieder heimgekehrt sind und nun in stiller Nachfeier sich ihre Herzen erheben an dem Anschauen des klaren Bildes von dem Streben und Schaffen des Heimgegangenen. Es ist ein stolzes Gefühl, das an diesem Grabe in uns aufsteigt, es ist über jede Trauer erhaben: wie ein heiliger Altar erhebt sich vor uns der einfache Hügel, es zwingt uns, vor ihm im Innersten, dem eigenen Gewissen allein, den Schwur abzulegen: ewig treu zu bleiben dem Kampfe nach den Zielen, welche die Leitsterne eines so reinen Lebens waren. Es ist eine Wonne, vor einem solchen Grabe zu stehen, einem Grabe, an welchem die Zuversicht, der Muth, der Stolz einer ganzen Nation eine so echte und gerechte Stärkung findet. Und so treten wir denn auch mit unseren Lesern an dasselbe hinan und legen mit ihnen gemeinsam den Kranz der Verehrung und treuer Volksdankbarkeit auf die Stätte, die fortan eine geweihete für das ganze deutsche Volk ist und für seine Glieder um die ganze Erde.

Zu den Zeichen der Mündigkeit unseres Volkes gehört auch Das, daß es seine begabten Geister nicht mehr einzig nach den Leistungen ihres Talents würdigt; es ist strenger geworden bei dem Austheilen der Preise seiner Liebe: es fordert, daß der gediegene Grund ihrer Schöpfungen ein männlicher Charakter, eine freie edle Gesinnung sei. Es huldigt wohl gern in gemüthlichen und friedesicheren Stunden dem Dienst des Schönen, aber es verlangt von den Männern, denen der Geist und das Wort gegeben ist, in der ernsten Stunde die volle Bereitwilligkeit und den vollen Muth zum schwersten und gefährlichsten Dienst, zum Dienst der Freiheit.

Ein solcher Mann war seinen Würtembergern und allen Deutschen, die diesen Namen verdienen, der Johann Ludwig Uhland aus Tübingen, welcher von den 75 Jahren seines Lebens mehr als fünfzig in diesem Dienst gestanden.

Und wie stand er in diesem Dienst! Geht hin und suchet seines Gleichen! – Schon in frühester Jugend war das Volk und Alles, was diesem Volke lieb und heilig ist, der Gegenstand seiner liebenden Forschungen, seiner Studien, seiner ersten dichterischen Verherrlichung. Er angelte nicht nach dem Lob der öffentlichen Tonangeber, unbekümmert um ihr Urtheil öffnete er sein Herz der Begeisterung für seine schöne Heimath, für seines Schwabenvolkes Sage und Geschichte, und so führte er mit der klingenden Leier sein Volk zurück in die Vergangenheit, um es an den Bildern derselben zu stärken für die Kämpfe der Gegenwart. Und das Volk verstand seinen Dichter, es fragte nichts nach dem Achselzucken und nichts nach dem vornehmen Schweigen der gelehrten Kritik, es sang seine Lieder und schwärmte für seine Balladen, lange bevor die Schriftgelehrten sich herbeiließen, in „dem kräftigen, durch und durch deutsch gesinnten Uhland den vollendetsten Repräsentanten des deutschen Liedes“ anzuerkennen, und trotz der absprechenden Urtheile, welche ein Goethe, Heine und selbst Börne gegen den „schwäbischen Dichter“ und seine „politische Poesie“ ergehen ließen.

Das Volk täuscht sich nicht in seinem Gefühl: wie das Kind erkennt es genau Den, der es wahrhaft gut mit ihm meint. So hatte es sich auch in Uhland nicht getäuscht. Als die Zeit des Kampfes nahte, war er es, der seine neue Pflicht, seine Pflicht zum Kampf im Dienst des Volks, so schön verkündete:

„Ich sang in vor’gen Tagen
Der Lieder mancherlei,
Von alten frommen Sagen,
Von Minne, Wein und Mai.
Nun ist es ausgesungen,
Es dünkt mir Alles Tand;
Der Heerschild ist erklungen,
Der Ruf: für’s Vaterland!

Ludwig Uhland, der Patriot und Staatsmann, steht von seinem ersten politischen Auftreten, von dem Kampfe an, der um Würtembergs alte Verfassung im Jahre 1816 begann und dessen Sieg er 1819 mitfeierte, bis zu dem Augenblick der gewaltthätigen Zersprengung des Rumpfparlaments, wo in demselben Stuttgart, in dem er für das Volk sein ganzes Leben lang gestritten, der Säbel eines Söldlings sein Haupt bedrohte, immer und überall da als „ein wahrer Vertreter des Volks, ein fester Freund und Vertheidiger des Rechts, ein eifriger Beförderer einer gediegenen Aufklärung“; – im kleinen Würtemberg begann sein Kampf gegen denselben deutschen Bund, der, als der Tag der großen Abrechnung der Nation mit ihm gekommen schien, sich hinter eine Schirmwand von Märtyrern der Volksfreiheit flüchtete, und zu diesen „Vertrauensmännern“ gehörte auch Uhland; – und wie er einst im kleinen Würtemberg zuerst gerufen: „Auch unsere Kammer zu Deutschlands Ehre!“, so galt im deutschen Parlament sein letzter Ruf der prophetischen Mahnung, das höchste Recht, die höchste Ehre der Nation zu wahren, das Recht der Wahl seines Oberhauptes. „Die Revolution und ein Erbkaiser,“ so donnerte sein Wort in die Halten der Paulskirche – „das ist ein Jüngling mit grauen Haaren! – Verwerfen Sie die Erblichkeit, schaffen Sie keinen herrschenden Einzelstaat, retten Sie das Wahlrecht, dieses kostbare Volksrecht, dieses letzte fortwirkende Wahrzeichen des volksmäßigen Ursprungs der neuen Gewalt! Glauben Sie, meine Herren, es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem vollen Tropfen demokratischen Oels gesalbt ist!

Möge die Nation dieses Prophetenwort zur Wahrheit machen! Es verdient, der offen und laut verkündete Wahlspruch im deutschen Nationalkampfe der Gegenwart zu sein – der Nation und ihrem Propheten zu Ehren! Wenn wieder die Zeit kommt, von der einst Uhland sagte: „Ich glaube, daß, wenn der Frühling Sprossen treibt, das alte Laub von selbst abfällt“ – wenn wieder einmal, nach Uhland’s Wort, „Wochen zu Jahrhunderten werden,“ – dann wird das deutsche Volk Das segnen, was Goethe bedauerte, daß „in Uhland der Politiker den Dichter fressen werde“ – dann wird man wieder zu Uhland’s Reden greifen und wird mit Vogt ausrufen: „Auch sie sind ein krystallheller Erguß einer reinen Dichterseele!“ – Die Nation wird den Tausch preisen, der ihr für eine wenn noch so stattliche Anzahl von Gedichten weniger einen solchen Mann mehr gegeben hat. Er hat genug geschrieben, um nimmermehr vergessen werden zu können, und wenn dem deutschen Volk nichts von ihm bliebe, als sein erschütterndes Lied: „Wenn heut ein Geist herniederstiege!“

Heil Deinem Namen, Ludwig Uhland! So lange noch Männer für Recht und Freiheit kämpfen müssen, bist Du ihr treuester Kampfgenosse! So lange noch die Jugend am Altar des Vaterlandes heilige Eide schwört, bist Du ihr Priester! So lange noch Liebe singt und Freude lacht, bist Du der Freund deutscher Herzen! Die Eiche schirme Dein Grab und Rosen schmücken es, und nie mögen an ihm andere als Thränen der Freude und der Begeisterung fließen!

Fr. Hfm.

Für Wilhelm Bauer’s „Deutsches Taucherwerk“

sind äußerst zahlreiche, bedeutende und von Beischriften voll der erfreulichsten patriotischen Aeußerungen begleitete Beiträge angekommen, mit deren Quittirungen wir in nächster Nummer beginnen wollen. Es ist nicht genug anzuerkennen, daß die Nation den zum Theil sehr übelwollenden Berichten über den Verlauf des nationalen Unternehmens mit um so energischerer Theilnahme an demselben entgegnet.


  1. Man hatte, nach dem vergeblichen Hochholzer’schen Hebeversuch, die von Bauer am Vorder- und Hintertheil des versunkenen Dampfers befestigten Signalstangen fortgenommen, offenbar in der Absicht, dem so oft aus seinem Schlaf aufgerissenen Ludwig eine fortan ungestörte Ruhe zu sichern.
  2. Kooge nennt man die jungen aus dem Meere erhobenen und umdeichten Marschländereien. Die ganze Küste ist nämlich in einem zwar langsamen, aber ununterbrochenen Aufwärtssteigen begriffen, und es rückt dadurch die Grenze des Meeres immer weiter hinaus.