Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1862
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[721]

No. 46.   1862.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.


Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Junker von Hohensee.

Eine alte Geschichte.
Von Edmund Hoefer.
(Fortsetzung.)


3. In Sturz und Sieg.

„Na, wird der Teufel ein Aff’, oder ist das der Herr Felix?“ Das waren die Worte, die meinem Herrn Onkel Gerold, Baron von Ehrenswärdt, höchst malapropos und nur in der maßlosen und unangenehmen Ueberraschung entfuhren, als ich am zweiten Weihnachtstage 1790, Nachmittags drei Uhr, zu den Meinen in’s Cabinet trat, wo, wie üblich an solchen Festen, nach der verlängerten Mittagstafel der Kaffee getrunken wurde. – „Beides, mein Herr!“ versetzte ich schier atempo; „der Herr Felix kommt, um dem Herrn Teufel das Spiel zu legen, das er letztlich ein wenig zu lustig zu treiben scheint.“ – Weiter kam’s nicht, denn in dem Augenblick war mein Bruder neben mir und küßte und knuffte mich lachend und meinte: „Charmant gegeben, Felix! Schlag auf Schlag!“ Und der Vater und Onkel Hans Peter wurden mobil, kamen hinter dem Tisch hervor und hießen mich mit einer Art von aufleuchtendem Blick willkommen; Schwager Büren, die Schwestern, ein paar schon heranwachsende Kinder – Alles drängte sich herzu, sogar die Mutter war aufgestanden und sah mir entgegen. Es war Alles da und Alles nahm mich leidlich freundlich auf – da war der Herr Gerold für’s Erste vergessen.“

So begann der Junker die Fortsetzung seiner Erzählung nach einer längeren Pause, während welcher wir unsere Pfeifen frisch gefüllt und angebrannt und einen langen Ausblick auf unsere Umgebung gethan, plaudernd dabei über dies und jenes. Denn so lebhaft und anschaulich der Alte auch erzählte – so anschaulich, daß ich die ferne Zeit vor mir aufsteigen und ihre Menschen wieder aufleben sah – eigentlich erregt war er dabei nicht geworden, geschweige denn wirklich bewegt oder ergriffen. Nur als er von jenem brutalen Angriff des Onkels berichtete, hatten seine Brauen sich flüchtig zusammengezogen, und ich erkannte wohl, wie jener Schlag und jener Blutstropfen noch heut auf seiner Wange brannten. Bei der Erzählung von den Briefnachrichten hatte er nachdenklich gesprochen, als grüble er noch jetzt über meines Vaters Worte – endlich aber war die Fortsetzung in einem gewissen leichteren, ja humoristischen Ton von ihm begonnen worden, und in dem gleichen redete er nun auch weiter.

„Ich kam zum Sitzen und Umherschauen – die Meinen, wiederhole ich, waren Alle da, so viele von ihnen, wie nur selten in dem alten Nest vereinigt gewesen sein mochten – nur Livia fehlte. Das war mir so unerklärlich, so unglaublich – wir sind zuweilen dumm, Vetter! – daß ich mich ganz bestürzt noch einmal umschaute, die Mienen der Verwandten musterte, die natürlich von meinen Gedanken nichts ahnen konnten und ziemlich bunt durcheinander und auf mich einredeten. Aber das Resultat war das gleiche – sie war nicht da, in keinem Winkel! – Und da schüttelte ich den Kopf und guckte meinen Bruder an und sagte endlich: „Wo ist denn aber Deine Frau, Julius?“ – „Felix, Du bist eben ein Felix – siehst Du, mein Schulsack hat noch einige classische Reste in sich!“ versetzte er munter lachend und schlug mir auf die Schulter, denn er saß neben mir. „Das ist eben der Witz von ihr und Dir – sie hat mir vorgestern einen Buben bescheert, und Du sollst morgen bei ihm Gevatter stehn, ’s war schon ausgemacht, daß Schwager Büren Dich vertreten sollte; nun ist’s noch besser.“ – „Gratulire, gratulire!“ sprach ich halb mechanisch und schüttelte ihm die Hand. „Und geht’s der Mutter denn so gut, daß Du heut schon von ihr gingst?“ – „Na, was sollte ihr denn fehlen, Brüderlein?“ fragte er wieder lachend zurück. „Unsere Weiber sind noch nicht so schwach, wie Du sie auswärts gefunden haben magst. Es ist Alles mit ihr in bester Ordnung, und sie hat gestern genug gejammert, daß ihr der Doctor noch das Aufstehen untersagte und von der Taufe am heutigen Tage nichts wissen wollte. Morgen ist sie aber, das hab’ ich ihr versprochen – der Dollenius zieht über den Aufschub so schon ein schiefes Gesicht. Der Dollenius ist auch da, Bruder,“ plauderte er fort, „und so werden wir morgen in Sollnitz noch vollständiger bei einander sein, so, wie wir lange nicht gewesen. Felix, es war ein Prachteinfall von Dir, gerade heut zu kommen. Vivat Hohensee und die dazu gehören!“ Und animirt, wie er war, ließ er nicht nach, bis Wein herein gebracht und die Gläser gefüllt wurden.

Die Anderen sperrten und zierten sich nicht, sondern tranken tapfer mit. Die Fidelität war allgemein, selbst die Mutter und der Onkel Gerold waren in ihrer Weise heiter, und ich – ich fühlte mich in einer gewissen sentimentalen Bewegung. Denn ich war nach solcher Zeit wieder einmal im alten Nest, nicht mehr wie bisher gleichsam ein verschlagener Vogel; das hat doch immer einen tiefen, ernsten Reiz. Und endlich – ich empfand daneben auch mit einer Art von wirklichem Glück, was Julius vorhin über die endlich erzielte Vereinigung aller Familienglieder gesagt. Es war richtig genug. Seit Mariens Hochzeit, das heißt also damals seit achtzehn Jahren, waren wir nicht einmal mehr Alle zugleich daheim gewesen.

In diese Heiterkeit hinein trat der alte Christian, der Leibjäger meines Vaters, mit verstörtem Gesicht und brachte meinem [722] Bruder die Nachricht, daß ein Bote von Sollnitz da – die Wöchnerin sei jählings schwer krank geworden, so daß der Schreiber (Wirthschafter) gleich nach dein Arzt geschickt, der glücklicherweise bei einem Kranken in der Nachbarschaft weilte, und den Bruder bitten lasse, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.

Mein Bruder wurde leichenblaß, er war ein durchaus sorgloser Mensch, der nur in und für die Gegenwart lebte und niemals an etwas möglicherweise Kommendes dachte, so daß dergleichen, wenn es einmal kam, ihn dann jedesmal zuerst beinah’ um und zu Boden warf. Andererseits war er aber auch wieder derb genug geartet, um sich alsbald wieder aufzuraffen, und so stand er denn auch jetzt gleich darauf fest auf seinen Füßen, und als die Mutter anzuspannen befahl, weil sie mit hinüberfahren wolle, da versetzte er bestimmt: „Nichts da, Mutter, Schwester Büren kommt mit, die ist ihr vertrauter. Nicht wahr, Hedwig, Du kommst?“ – Die Mutter ließ sich piquirt auf ihren Sophaplatz zurücksinken, die Schwester machte sich reisefertig. Sie fuhren ab.

Am Abend kam Botschaft – es stehe zwar noch nicht gefährlich, aber immerhin schlecht genug, um demnächst das Schlimmere und Schlimmste zu erwarten.

Es war am folgenden Tage ein unendlich trübseliges Tauffest, denn das wurde der kranken Mutter wegen nicht verschoben, Vetter. Es war dazumal noch selten, daß man damit auch nur bis zum dritten Tage wartete. Julius ging umher, als habe er eine Centnerlast auf sich liegen, die Uebrigen waren zum Theil freilich sichtbar betrübt und gedrückt, zum Theil aber noch mehr gereizt, ohne daß ich für’s Erste begriffen oder erfahren hätte, was eigentlich vorgefallen. Eine Andeutung erhielt ich freilich bald. Denn als ich nach dem Act zu dem Onkel Hans Peter trat, der am Fenster stand und leise den stolzen Hohenfriedberger Marsch auf der abgethauten Scheibe abtrommelte, und als ich dem alten Mann ein paar tröstende Worte zu sagen versuchte, da lächelte er schwermüthig vor sich hin und meinte: „Ja siehst Du, Felix, wir haben das Alles vorausgesagt, es war und ist kein Glück in dieser Ehe. Aber sie wollten ja nicht auf uns hören; Dein Vater und ich, wir sind eben alte Leute und gutmüthig, Du warst nicht da, und so mußt’ es denn gehen, wie’s ging. Stirbt mir aber das Kind – nun gut, nun gut!“ brach er dann plötzlich ab. „Ich hab’s ihnen deutlich gesagt, und so mag es nun ruhen, bis der Herrgott das Weitere fügt.“

Abends, als wir heimkehrten, ritt ich mit dem Schwager Büren zusammen, während die Anderen fuhren. Julius war beim Abschied sehr niedergedrückt gewesen, und ich warf nach einer Weile nur so gedankenvoll hin: „Das sind denn die Freuden des Ehestandes!“ – „Unsinn, Schwager!“ entgegnete Büren ernst. „Das gehört auch mit dazu; am ewig blauen Himmel stürbe man vor Langeweile, Wolken und Stürme erproben und unterhalten die Liebe und vermehren sie. Julius hat seit gestern Abend in meinen Augen gewonnen; ich sehe doch, daß ihm an der Frau etwas liegt, und daß er sich vom Gängelbande losgemacht hat. Das wird auch das arme Kind, wenn es uns erhalten bleibt, mit andern Augen zu ihm aufsehen und nach und nach zufriedener werden lassen.“

„Schwager, was heißt das Alles? Ist Livia gezwungen worden zu etwas, das ihr nicht willkommen, – und Ihr habt’s gelitten?“ fragte ich gepreßt. „Schenke mir reinen Wein ein – Euere Briefe sagen ja nichts, und Mühl ergeht sich in Dunkelheiten.“ – „Hältst Du mich vielleicht für ein altes Weib, das jetzt hinterher schwatzt, explicirt und lamentirt, wie’s hätte sein können und sollen und wie’s geworden?“ gab er mir mit hörbarem Verdruß zurück. „Wende Dich an Deine Schwester, die versteht so was und wird’s Dir genau sagen. Ich habe nur Eins für Dich, und das ist, daß Du ein unsinniger Narr gewesen und Dein Glück muthwillig verloren hast; daß Du gar nicht verdientest, wie die beiden Alten sich für Dich gewehrt. Aber das läuft in der Welt umher und verliert Sinn und Verstand!“ fuhr er noch grollender fort, und wie vorhin der Onkel, setzte er abbrechend hinzu: „der Alte hat ganz Recht, wenn er ihnen sagt: den Tod des Kindes würden sie und Du auf dem Gewissen haben. Dir wär’s nicht gestorben. Das glaub’ ich selber.“ – „Schwager,“ sprach ich noch gepreßter und nach einer langen Pause, denn das Herz war mir voll zum Zerspringen; „hat sie denn irgendwie anders an mich –“ – „Frage sie selber, wenn Du Lust hast,“ unterbrach er mich barsch. „Ich sage kein Wort mehr darüber.“

Somit saß ich denn fest und schwieg wie betäubt, so daß selbst der Ton, den der Schwager gegen mich angeschlagen und den ich zu anderer Zeit von keinem Menschen ertragen haben würde, an mir vorüber ging, ohne daß ich darauf acht gab oder, die Wahrheit zu sagen, etwas darauf zu erwidern wußte. Mir war zu Muth, als habe ich eine schwere Sünde auf mir, und ich wußte doch kaum, was es für eine war, wie ich sie hätte vermeiden sollen!

Die nächsten Tage gingen still hin, von Sollnitz hörten wir immer noch das Gleiche: es werde nicht besser. Die Milch war ihr, wie man es damals hieß, in den Kopf gestiegen, und man sorgte daher nicht allein um ihr Leben, sondern auch um ihren Verstand. Julius war niedergedrückt und wich mir sichtbar aus; ebenso machte es Hedwig, wenn ich hinüberkam. Ich selber freilich suchte, wie Ihr denken könnt, auch keine erörternden Gespräche, denn so dumpf ich auch war, ich hatte doch eine Art Gefühl davon, daß Schwager Büren mit jenem Nachtgespräch eine kaum verzeihliche und noch weniger erklärliche Thorheit begangen haben müsse – zu erklären nur auf die Weise, daß er bei mir ganz andere, als die wirklich vorhandenen Gefühle vorausgesetzt und daß er in dieser widerwärtigen Affaire herbe Kämpfe mit – irgend Jemand zu bestehen gehabt habe.

Hier in Hohensee war erst recht der Teufel los. Vater und Mutter waren, jedes in seiner Weise, verdrießlich; der Onkel redete tagelang kein Wort, Baron Gerold ließ sich nicht sehen, ich, selber endlich hatte, ganz abgesehen von meinem gegenwärtigen Zustande, auf dem langen Umherstreifen die rechte Ruhelust verloren und fühlte mich jetzt daheim und zwischen den Meinen wie verrathen und verkauft. So nahm ich denn mit einer Art Freude den Vorschlag der Mutter an, nach Stockholm zu gehen, um König Gustav von unserer Loyalität zu überzeugen. Denn unsere Familie war schlecht angeschrieben, seit hundert Jahren war kein Hohensee mehr in schwedischen Diensten gewesen, und man flickte uns allgemach, wo man konnte, am Zeug.

Meine oder vielmehr der Meinen Absicht gelang auf’s Beste; es ging drüben Alles vortrefflich, man wollte mir wohl, der König selber hatte für mich ein paar seiner bezauberndsten Blicke und Worte – Gustav III. verstand dergleichen bekanntlich wie kein anderer Monarch seiner Zeit. Man gab mir ohne mein Zuthun den Titel als Kammerjunker, ich sollte partout dableiben, in Dienst treten. Das wollte ich nicht, denn ich hatte eine Art Grauen vor jedem Staatsdienst – es war ja kein Krieg da, wo ich hätte nützen können! – und noch mehr vor dem Treiben dieser liederlichen und gewissenlosen Hofpartei hier, dieser landes- und hochverräterischen Adelspartei da. Ich riß mich also nach einigen Monaten aus dem Wirbel der Feste los und kehrte in die Heimath zurück – freien Herzens. Ich wußte, daß Livia lebe und genesen sei, und die Dummheiten des Winters hatte ich in dem Gedanken überwunden: sie ist die Frau deines Bruders, du hast bisher niemals tiefer für sie gefühlt, und was sonst auch hätte geschehen können und mögen, es ist keine Rede mehr davon.

Ich hielt mich noch hie und da auf, und wir waren schon über die Mitte des Mai hinaus, als ich hier wieder anlangte. Das Haus war still; der Vater natürlich auf dem Felde, die Mutter hauste seit acht Tagen bei ihrem Bruder, dem eben noch ein kleiner Spätling geboren war. „Aber die junge Gnädige sitzen im Garten,“ schloß der alte Christian, der mich empfangen hatte, seinen Bericht.

„Die junge Gnädige?“ wiederholte ich verwundert. „Wen meint Er, Christian?“ – „Nun, Junker, Bruder Julius’ Frau, die Frau Livia,“ sagte er gleichfalls wie verwundert über meine Frage. – „Wer denn? Cousine Livia? Unmöglich!“ rief ich immer überraschter. „Wie käme die jetzt hieher? Wo ist denn mein Bruder?“ – „Auf vierzehn Tage verreist,“ versetzte er; „wohin, weiß ich nicht. Und da es unserm alten Herrn hier ohne Frau und Kind zu einsam wurde und die Livia in Sollnitz auch so mutterseelenallein saß, so machten sie’s aus, daß sie herüberkäme und dem Herrn inzwischen Haus hielte. Er hat doch sein Herz an die junge Gnädige gehängt, und sie verdient’s. Sie ist ein Engel von einer Frau, Junker,“ schloß er, „und der Kleine, der uns im Winter all die Molesten gemacht, ein wahrer Staatskerl von einem Kinde.“ – „Sie ist im Garten?“ fragte ich gedankenvoll oder war’s zerstreut, ich weiß das nicht. Mir war wunderlich zu Muthe. – „Ja, im Garten, Junker, unter der Linde,“ [723] sagte er. „Und sie wird eine mächtige Freude haben über Eure Ankunft, denn sie hat mit dem Herrn, wie ich wohl gemerkt, alle Tage –“

Ich wandle mich ab, ohne ihn auszuhören, ging und trat aus dem Gartensaal auf die kleine Plattform, die noch jetzt dort ist, und schaute mich um. Damals stand dort, wo nun die junge Linde, ein uralter Baum derselben Art, der das halbe Dach des Hauses überschattete und thurmhoch überragte. Ein Februarsturm 1805 hat ihn umgeworfen, und ich pflanzte dazumal auf seinem Platz den jungen Baum an. Nun also, die unteren Zweige des alten hingen rings umher fast auf den Boden hernieder, bildeten um die Bank und den Steintisch eine wirkliche, prachtvolle Laube, und dort, in dem Schatten des jungen, von der Sonne überschimmerten Laubes, saß Livia mit einer Handarbeit neben dem Korbe mit dem schlummernden Erbprinzen von Hohensee.

Livia halte mich bisher nicht bemerkt und erst, da ich nach einer Weile des stummen Schauens hinabgestiegen war und schon nahe vor ihr stand, sah sie auf, fuhr überrascht empor, erröthete; wir erhoben, wie auf einen Antrieb, im gleichen Augenblick die Hände und legten sie ineinander, und dann sagte sie, tief aus der Brust heraus: „Felix!“ – nichts weiter. Und ich sprach gepreßt auch nur ein: „grüße Sie Gott, Schwägerin!“ – Dann schaute ich sie schweigend an.

Sie war, wie sie hatte werden müssen, wie es das Aeußere des Kindes verheißen, und doch – wenigstens in diesem Augenblick – so ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte; denn in meiner Erinnerung herrschten noch die Züge und Linien, die ich vordem an dem Kinde geliebt und auch bei meiner letzten Anwesenheit an dem knospenhaften Mädchen wahrgenommen. Von dem Allen war nichts mehr da. Das Zierliche und Schmächtige hatte dem Feinen und Schlanken Platz gemacht, das Rasche und Kecke dem Sanften und Leisen. Das reizende Köpfchen mit den fröhlichen und beweglichen Zügen war zu einem schönen Kopfe geworden, der auf dem weißen Halse sich wie eine Blume wiegle, anmuthig erhoben, anmuthig geneigt, mit einem Gesicht von weichster Jugendlichkeit und taubenhafter Sanftheit. Kurz, mein Freund, das Kind war inzwischen doch zum Weibe geworden, und zwar zu einem engelhaft schönen Weibe, dessen Hauptausdruck der der reinsten Jungfräulichkeit und der süßesten Unschuld war. Das sprach sich auch, und zwar am deutlichsten, in den Augen aus, welche ganz und gar die alten geblieben zu sein schienen. Kurz, das Ganze ist unbeschreiblich, wie das Einzelne, wie der geheimnisvolle Zauber, der sich leise daraus hervorspann. Ich weiß nur Eins, was Livia’s Wesen und Erscheinung Euch deutlich machen kann – wenn man vor ihr war, sie sah, sie hörte, so konnt’ es Einem werden, als ob ihn ein volles, sanftes, melodisches Glockenläuten umtöne und Leib und Seele in Frieden und Ruhe wiege. Und das, mein Freund, ist nicht das Resultat dieser meiner ersten Begegnung mit ihr, sondern eines langen, innigen Umganges, und es ist das Urtheil Aller, die sie näher kennen lernen durften.

So standen wir Hand in Hand und schauten uns an. Und endlich rafft’ ich mich auf – die Situation war drückend oder lächerlich, wie Ihr wollt – und sagte so einfach hin: „Ich bin überrascht und erfreut, Sie hier und so wiederzufinden, Schwägerin, nicht nur genesen, sondern gesund! Wo aber ist der Erbprinz?“ - Sie ließ mich ruhig ausreden; die Hände hatten sich gelöst, die Nöthe hatte ihre Züge verlassen, die in ruhiger, klarer Schönheit vor mir lagen. Da ich schwieg, sah sie mich noch einen Augenblick gleichsam nachdenklich an und dann fragte sie in einem Tone, den ich nicht näher bezeichnen kann: „Warum heißt Du mich aber „Sie“, Felix?“

Lächerlich war der Ton eigentlich nicht, lächerlich sah sie nicht dabei aus, lächerlich war mir selber keineswegs zu Muthe, und dennoch lachte ich auf diese Frage hell auf – ich erfuhr, weiß Gott, erst durch diese, daß ich sie „Sie“ geheißen, so benommen war ich! – und bot ihr die Hand und meinte: „Nun, Livia, hab’ ich’s gethan, so hab’ ich’s gethan. Wo in der ganzen Welt redet man denn seine Schwägerin übrigens mit „Du“ an?“ – Da ging auch durch ihr Gesicht ein sonniges, schelmisches Lächeln, und sie versetzte, mit dem Finger drohend: „Vetter, Vetter, Du lügst mir da was vor! Bin ich doch vor der Schwägerin Deine Cousine und Deine Spielcameradin gewesen! Allein Du bist nun ein feiner, galanter Herr, ein großer Reisender, ein Hofmann geworden und magst von der armen kleinen Landfrau nichts mehr wissen, hast am Ende so eine Art Grauen vor ihr? Also sei’s darum – wir haben auch noch ein paar Manieren. Seien Sie mir bestens willkommen, Herr Kammerjunker!“ Und sie machte dazu eine prachtvolle Verneigung, wie sie trotz alles darin liegenden Spottes das Herz jedes Tanzmeisters entzückt und der feinsten Menuet à la reine am Hofe zu Stockholm zur Zierde gereicht haben würde. Blitz noch einmal, was war’s für ein Weib in diesem Augenblick! Mit solcher königlichen Anmuth der Haltung des Gesichts, mit solcher stolzer Grazie der Bewegung, mit solcher Feinheit des Blicks! Wo hatte ich meine Augen gehabt, als ich vorhin nur die Sanftheit und Weichheit, fast Träumerei und Melancholie in diesen Zügen entdecken wollte? Und – „wo habe ich meine Augen gehabt?“ fragte ich mich noch einmal, als sie, von der Verneigung sich aufrichtend, nun unmittelbar mit einem so schelmischen und leuchtenden Lächeln in dem lieben Gesicht mir fast ungestüm herzlich beide Hände hinbot und sagte: „sei mir tausend Mal willkommen, thörichter Vetter! Ich freue mich ja so ganz unmenschlich, daß ich Dich einmal wiedersehe!“

Es zog mir wie ein voller Frühlingsjubel in’s und durch’s Herz; ich schüttelte ihre Hände, als seien wir noch einmal Kinder und Spielcameraden, ich lachte sie fröhlich an und rief ihr zu: „Ja, Livia, liebe Livia, wir sind thöricht gewesen! Aber nun ist Alles recht! Ich – Du sahst’s mir wohl an, wie ich mich über Dich freue! Und nun zeige mir den kleinen Kerl dort im Korbe!“ –

Vetter, es war ein Anblick, der nicht zu beschreiben ist, wie sie mir nun vorauseilte, voll fröhlichster Lieblichkeit sich über den Korb beugte, mich lächelnd heranwinkte, die Decke ein wenig lüftete, mir den dicken, gesunden, schlummernden Burschen zeigte, den Finger auf den Lippen, daß ich ihn nicht störe, voll Stolz und Jubel der Mutter, voll keuscher Befangenheit und süßer Scheu des jungen Weibes, das dem Jugendfreund zum ersten Mal als ein solches entgegentrat. Sie war so hinreißend schön, so unaussprechlich hold und lieblich in dieser Mischung, wie auch ich sie weder früher noch später wieder gesehen, und als sie nun flüsterte: „sie sagen, er sei mir ähnlich, Felix?“ – kam mir das schier wie eine Lästerung vor. Wer glich diesem engelhaften Wesen, so weit die Erde sich dehnt und die Menschen darauf hausen? Und nun gar der dicke Bursche da, der, wie alle Kinder in solchem Alter, noch keiner Menschenseele glich – oder vielleicht allen, da man aus den unentwickelten Zügen eben noch alles Mögliche herausfinden kann! – Und so versetzte ich denn auch mit verdrießlichem Lachen: „Ach. dummes Zeug! Ich sehe nur, daß es ein gesunder Junge ist, von dem noch kein Mensch aus der Welt sagen kann, ob er häßlich oder hübsch oder sonst was wird. – Nährst Du ihn selbst?“

– Es flog ein Schatten durch das eben noch so sonnig heitere Gesichtchen, da sie entgegnete: „Ach nein, ich darf’s nicht. Meine Brust soll zu schwach sein, sagen sie. – Das ist ein Schmerz, Felix! – Aber nun komm herein,“ brach sie ab und wandte sich fort, „daß ich auch als Hausfrau für Dich hungrigen und durstigen Menschen sorge.“

Es geschah nach ihrem Willen, denn ich war nicht sentimental genug, um nicht wirklich Hunger und Durst zu spüren. Wir saßen dann drinnen, wir gingen wieder hinaus, plaudernd, lachend, scherzend, kurz seelenvergnügt, wenn auch von Zeit zu Zeit über sie so gut wie über mich eine Art von Träumerei kam, die Munterkeit dämpfend, unwillkürliche Pausen im lebhaftesten Plaudern hervorrufend, ohne daß zum wenigsten ich wußte, wovon oder weshalb ich träumte. – Sie erzählte mir viel und ließ mich einen Einblick in alle Verhältnisse und Zustände der Heimath und der Menschen daselbst gewinnen. Sie sprach mit Wehmuth von ihrem Vater, der stumpfer von Tag zu Tag wurde; sie redete mit warmer Liebe von den Meinen, mit Respect von der Mutter, mit einer gewissen gleichgültigen Freundlichkeit – anders als freundlich schlug dies goldene Herz fast nie – von Julius, ihrem Gatten; nur vom Baron Gerold sagte sie kein Wort, sie wich nicht nur jeder Bemerkung über ihn, sondern auch der Nennung seines Namens aus, so daß ich endlich geradezu fragte: „Nun, und der Onkel Gerold? Hast Du etwas gegen ihn, Livia?“ – Da schüttelte sie leise den Kopf und versetzte: „Laß das ruhen, Felix. Du hast den Baron nicht in Dein Herz geschlossen, so viel ich weiß, und ich auch nicht.“

Es war mittlerweile spät geworden, die Sonne brannte durch das Gezweig, so daß der Kleine – sie hatten ihn auf meinen Namen [724] getauft –, der inzwischen erwacht und von seiner Amme aufgenommen war, unruhig wurde, und wir gingen wieder hinein, auch um uns zum nahen Mittagsessen umzukleiden. Denn so ungenirt mein Vater sonst lebte und dachte, auf dergleichen hielt er ebenso streng, wie meine Mutter, und er selber erschien niemals in dem Anzuge bei Tische, in welchem er vom Felde oder vom Hofe hereinkam. So trennten wir uns denn, und ich hatte Zeit, auf meinem einsamen Zimmer über den Morgen mit seinen Ergebnissen nachzudenken. Lange währte das freilich nicht, denn ich war kaum fertig, als Christian mich zu dem inzwischen angelangten Alten hinabrief.

Ich fand ihn, wie ich ihn immer gekannt, ruhig und behaglich, jetzt sichtbar durch meine Ankunft erfreut und überhaupt in der ihm möglichen besten Laune. Wir waren in seinem Schlafzimmer, und er kleidete sich während unserer Unterhaltung um. – Für Euch, wenn Ihr ihn so gesehen hättet, vermuthlich ein possirliches Bild: während er die schweren Reitstiefeln mit sauberen Schuhen und den festen Tuchrock mit einem feinen von hellerer Farbe vertauschte, brachte Christian zugleich seine Frisur wieder in Ordnung und band ihm den Haarbeutel ein, und dabei ließ der alte Herr die kurze Pfeife keinen Augenblick aus dem Munde – sie mußte ausgeraucht sein, wenn zu Tisch gerufen wurde.

„Was denkst Du nun von Hierbleiben oder Reisen?“ fragte er mich, zwischen den Zähnen heraus, währenddem. - „Darüber hab’ ich noch nicht recht nachgedacht,“ sagte ich. „Aber wenn ich nur eine Thätigkeit fände, bliebe ich schon daheim, glaub’ ich.“ – Christian blinzelte mich über den sitzenden Alten hin schlau lächelnd an, und dieser Letztere selbst, der gerade die Schnallen an seinen Kniehosen befestigte, meinte nach der herkömmlichen Behaglichkeitspause: „Recht, Junge! Sollst sie haben. Hab’s mit Deinem Bruder abgemacht, daß wir die Röder’schen Güter dereinst zum Majorat schlagen, die ich eigentlich für Dich gekauft, und daß Du dafür die beiden dort drüben bei Deinem Schwager Büren schon jetzt erhältst. Julius wollte zuerst nicht recht daran, und die Alte und der Gerold setzten ihm noch mehr Flausen in den Kopf – dumme Gesellschaft das! Die Röder’schen liegen für’s Majorat bequem, wenn sie auch nicht so gut sind. Denn das sind die anderen, nur arg herunter, weil sie uns stets aus den Augen lagen. Da kannst Du schaffen, daß Dir die Knochen knacken, aber es lohnt sich auch. Nun, die Kleine, die Livia, und ich haben’s denn zuletzt gewonnen. Bedanke Dich bei ihr, Junge, ’s ist eine schlaue Hexe. Und nebenher hat sie – schlaue Hexe, sage ich! – ausgeheckt, daß der Rittmeister auf Dedenhof nur die eine Tochter hat, ein schmuckes Ding, jung, reich – kennst sie wohl noch selber, da sie mit der Livia vordem gespielt. Lasse sie Dir nicht wieder fortschnappen, Junge.“ –

So redete er, und wenn Ihr ihn gekannt hättet, brauchte ich nicht extra hinzuzusetzen, daß das Alles natürlich nicht in einem Zuge, sondern in vielen Absätzen herauskam, daß er mittlerweile fertig angekleidet war und noch vor dem letzten Worte die Klapper zum Mittagsessen rief. Das „lasse sie Dir nicht wieder fortschnappen, Junge,“ sagte er schon auf dem Flur, so daß ich nichts mehr hätte erwidern können, selbst wenn ich gewollt. Denn mit den nächsten Schritten spazierten wir schon zu Livia in’s Speisezimmer hinein, und war ich noch nicht consternirt genug gewesen über das, was ich gehört, so wurde ich’s nun über das, was ich zu sehen kriegte – die Livia sprang dem Alten entgegen und küßte ihn, und er duldete das nicht nur, sondern erwiderte es auf’s Wärmste und schaute sie schier zärtlich an und sprach so hin. „Nun, Du Goldkopf? Rechte Freude gehabt über den Jungen da?“ So was hatte ich von dem Alten noch nie erlebt und war stumm vor Ueberraschung.

Wir aßen, der Alte ging zu seinem Nachmittagsschlaf, und Livia und ich waren wieder allein und beredeten die Sache. Sie war wunderbar einsichtsvoll, da sie über das Geschäftliche, sie war lieblich und hinreißend, als sie mit leiser Befangenheit über die Heirathspläne sprach, welche richtig in ihrem eigenen kleinen Kopf ausgeheckt worden waren. „Helene ist schön und gut und heiter,“ sagte sie; „Du wirst es auf’s Beste mit ihr haben, Felix. Sie ist auch noch frei, wie ich weiß; es müßte denn sein,“ setzte sie schelmisch lächelnd hinzu, „daß Du selbst ihr noch von früher her im Herzen geblieben wärest.“ – So sprach sie noch lange auf mich ein, die Sache von allen Seiten beleuchtend, bis ich endlich, den dies Alles halb zu lachen machte, halb verwunderte, offen fragte: „Aber was hast Du denn für einen seltsamen Trieb, mich „unter die Haube“ zu bringen, Kind?“ – Es zuckte etwas durch ihr Gesicht, was ich nicht zu deuten wußte, allein es kam mir fast wie eine Art Schreck vor. Doch alsbald hatte sie ihn überwunden und lächelnd versetzte sie: „Nun, Felix, das ist doch begreiflich! Ihr seid meine beiden ältesten und liebsten Jugendfreunde, die ich so gar gern vereint sähe. Dann bist Du fest und bleibst da – Vetter Büren und Du dort, wir übrigen hier, mein lieber alter Papa dazwischen – denke, welch’ ein reizendes Leben das werden kann, so einig, so innig, so herzlich!“ Und indem sie mir jählings die Hand über den Tisch hinbot, setzte sie mit einem von Herzinnigkeit leuchtenden Blick hinzu: „Und siehst Du, Cousin, ich wünsche Dir von so ganzem Herzen eine frische, frohe, befriedigende Thätigkeit! Denn leugne es nur nicht, all dies Untertreiben hat Dich zuletzt müde und traurig gemacht und Dir nicht genügt. Du bist doch ein Mensch für die Ruhe und Freuden der Heimath!“

„Das mag wohl sein,“ erwiderte ich gedankenvoll und ließ damit das Thema fallen. Ich grübelte über all diese Pläne und noch mehr über das, was Livia selbst auf solche Weise denken und reden lassen möchte. Die Güter da drüben neben Büren waren allerdings verwildert und vernachlässigt, allein trotzdem, wie ich sehr wohl wußte, die besten fast, die wir besaßen, die Röder’schen dagegen allerdings bequemer gelegen, zum Theil aber in jenen Sandstreifen hineinreichend, der sich, wie Ihr wißt, gleich einem gewaltigen alten Strombett durch das ganze Land zieht. Es war gar kein Vergleich zwischen diesen und jenen, und ich fand Julius’ Widerstand sehr gerechtfertigt und sein Nachgeben zum mindesten unerklärt. – Die Tochter des Rittmeisters auf Dedenhof – Gentzkow hieß er – war sicher reich und noch jung, vielleicht auch liebenswürdig und hübsch, aber Letzteres wußte wenigstens ich nicht. Ich erinnerte mich ihrer kaum, Spielgefährtin war sie, während ich dort weilte, uns so gut wie nie gewesen, um so weniger, da der Vater ein bärbeißiger Mann war, der mit allen Nachbarn ziemlich übel stand. – Was war also das Alles und wie hing es zusammen, was lauerte dahinter – bei meinem Vater nicht, aber bei Anderen, zum Exempel hier bei Livia?

Wie dem allen auch sei, lange währte es mit diesen Grübeleien trotzdem nicht, denn des Gesprächs- und des Denkstoffs war ohnedies kein Ende zwischen ihr und mir. Der Tag verging, es folgten ihm andere ähnliche, ruhige und schöne, ich hatte seit langer Zeit oder eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl des Daheimseins, der Heimath, mit all dem Glück, dem Frieden und Zauber, den dieser Begriff umschließt. Es ist ein eigen Ding, Vetter, wenn man niemals so zu sagen eine bleibende Stelle hatte und nun mit einem Mal nicht nur sieht, sondern selber fühlt, was es heißt, eine solche zu haben. Die angenehme und warme Häuslichkeit, die ich vordem als Kind im Hause des Onkels gefunden, aber natürlich nicht zu würdigen verstanden hatte, traf ich jetzt im Elternhause bei und unter Livia wieder. Sie war ein reizendes Hausmütterchen und verstand es, den Ihren wohl werden zu lassen. Mein Vater war ein ganz anderer Mensch, die Dienstleute waren voll Dienstfertigkeit und Zufriedenheit, und ich – ich sog dies Glück in vollen Zügen ein und dachte nicht an sein Ende.

„Von meinem Verkehr mit der Cousine oder Schwägerin in diesen Tagen ist wenig zu sagen,“ redete der Alte nach einem tiefen Athemzuge weiter; „er war wie er in solcher engen Häuslichkeit, bei solchem einsamen Leben sein mußte, stündlich, intim, herzlich, gefärbt und geregelt durch alle Stimmungen, die Tag und Leben im Menschen hervorrufen. An die Frau dachte ich gar nicht, wie diese mir auch so gut wie nie vor Augen kam, denn von Julius als ihrem Gatten war meines Wissens kaum jemals die Rede, wenigstens betonte Livia das begreiflicher Weise nicht, wie sie denn seinem Vater und Bruder gegenüber auch keinen Grund dazu hatte. Ich sah nur das junge Weib, die Mutter vielleicht, vor allem aber die mir von jeher bekannte und vertraute Verwandte, die mir näher stand als meine Schwestern, weil wir uns im Alter näher waren und jahrelang wie wirkliche Geschwister zusammen gelebt hatten.“

(Fortsetzung folgt.)




[725]

Ein weinumranktes Fenster.

Von Ferdinand Stolle.[1]

Zwei Tage war ich nicht auf mein Dachstübchen gekommen. Die Fenster hatten selbst die Nächte offen gestanden. Da waren die Weinreben neugierig herein gekommen, hatten das Fensterkreuz umklammert und rankten nun am Gesims empor, mit grünen Fingern immer weiter tastend. Die bethauten Schößlinge schauten so sicher und vertrauend, als wollten sie sagen: „Nicht wahr, Du störst uns nicht und läßt uns hier fröhlich grünen und blühen, wie unser Schöpfer es geboten?“ Ich betrachtete sinnend die kleine Schöpfung, und es that mir weh, die prachtvolle Arbeit zurückbiegen zu müssen, um ihr außerhalb des Fensters ein Plätzchen zum Weitergrünen anzuweisen.

Fröhlicher Weinbau, holdseliger Gnadenquell, wenn deine Perlen dem Goldgrunde des Römers einsteigen, dein Duft die Seele durchzieht, wer ahnet die zahllosen Mühen, Sorgen und Aengste, die diese Perlen gekostet, vom ersten Himmelsaufblicke des keimenden Auges bis zur schwellenden Traube hinter dunklem Blattgrün! Die Sorge des Weinbauers schläft nie. Je kostbarer das Pfand, das ihr anvertraut, desto zahlreicher die Feinde, die ihm offen und im Geheimen nachstellen. Ist es doch, als hätten sich eigens böse Mächte gegen die Himmelsgabe des Weins verschworen, um sie den Menschen zu verleiden.

Denn nicht immer deckt der Winter die nackten Reben mit wärmendem Schneemantel. Die Nord- und Ostwinde wehen erkältend über die Schutzlosen, oder das Glatteis dringt ertödtend bis zum innersten Geäder, die Mühen des Winzers auf Jahre vernichtend. Ging der Barfrost gnädig vorüber, verläßt die Rebe ihr Winterlager und wird am stützenden Stabe emporgerichtet, wird es in ihrem Innern wach, brechen aus schwellenden Augen die Thränen und keimt das erste Hoffnungsgrün am braunen Holze, wie besorgt schaut da der Winzer gen Himmel, wenn die Sonne golden untergegangen, heimtückischen Spätfrost befürchtend! Wohl hat er Wasserkübel in die Pflanzung gestellt, Feuer angezündet, auch wohl Strohseile gezogen; aber in früher Morgenstunde weht es eisig über die Berge. Die zarten Träublein vermögen dem tödtlichen Hauche nicht zu widerstehen. Die aufgehende Sonne beleuchtet ein weißes Todtenfeld. Schmelzen dann auch ihre Strahlen den schneeigen Reif, der die Reben wie überzuckert hält, die kleinen Trauben hängen gebrochen die Köpfchen, kein Lerchensang ruft sie wach, und der arme Winzer wandelt mit den Seinen trauernd durch seine Lieblinge, die noch gestern Abend so hoffnungsreich aufschauten und das gesegnetste Weinjahr versprachen.

Sind aber die bösen Nächte der Weinmörder vorüber, wie eilt der Winzer am Morgen des vierzehnten Mai besorgten Herzens hinaus in die Weinflur! Und siehe, seine Lieblinge sind alle wohl erhalten und lächeln unversehrt. Wie füllt sich sein Herz mit Freude und Dank, und er bittet Gott um ferneres Gedeihen. Aber kaum hat sich das Silberhorn des Mondes von Neuem gefüllt, neue Sorge! Bei den Träubchen, die fröhlich hervorwachsen, naht die Zeit, wo die unter den zartesten grünen Mützchen verborgnen Blüthen diese abstoßen sollen, um im Goldstrahl der Sonne oder in weicher Mondnacht ihren duftenden Liebesfrühling zu feiern. Da aus den Blumenkronen des hohen Frühlings steigt ein neuer Feind empor. Es ist der Tag des heiligen Medardus. Ist das auch ein mörderischer Wintergeist? Nein, am achten Juni hat der Winter in den Gegenden des fröhlichen Weinbaues nicht mehr zu gebieten. An seine Stelle ist der kalte, verdrießliche Regengott getreten.

So lange in Deutschland Reben blühen und der besorgte Weinbauer prüfend den Himmel beobachtet, hat die Erfahrung gelehrt, daß, wenn es am Medardustage anhaltend regnet, wohl wochenlang an kein Aufhören und an gut und warm Wetter zu denken ist. Da nun für die Weinblüthen jetzt die Zeit gekommen, wo sie zu Ehren ihres Schöpfers und zum Nutzen und Frommen einer weinfröhlichen Menschheit ihre Käpplein abnehmen sollen, so können sie das beim besten Willen nicht, weil die kalten Tropfen zu schwer auf ihnen lasten. Die Blüthe verkümmert traurig, und keine herzerfreuende Traube kann sich gestalten. Wölbt aber der Medardustag den Himmel blau und warm, und wandelt die Sonne ungetrübt ihre goldne Bahn, vom Aufgang bis zum Niedergang, so verheißt das anhaltend schön und warm Wetter. Da nehmen alsbald Millionen Blüthen vor ihrem lieben Gott die Mützlein ab und sind glücklich, blühen zu dürfen, und der glückliche Winzer freut sich mit ihnen. Darum der Weinspruch:

Ist Medardus naß,
Nimmt der Wein ab bis in’s Faß,
Ist Medardus Sonnenschein,
Wird der Wein gesegnet sein.


Weinblüthe! Duftend Räthsel, geheimnißreiches Wunder, wenn die Vollmondnacht auf deinen Fluren ruht! Nur der Mondstrahl, dem du dein innerstes Herz erschließest, kann ahnend davon erzählen. O, es muß ein selig Blühen sein in den Vollmondnächten, sonst würden nicht die ältesten Tropfen wach werden in den Fässern und zu rauschen beginnen:

Wenn die Rebe wieder blüht,
Rühret sich der Wein im Fasse!

Hast du in der Frühlingslaube gesessen, wenn der Mondstrahl über dem Garten lag und der Wein um dich blühte? Balsamisch duften tausend Blumen, was sind sie gegen die Weinblüthe! Und bist du zu solcher Zeit hinab gestiegen in nächtliche Tiefe, wo uralte Frühlinge wach werden und sich erzählen von ihrem Blühen und ihrer Liebe? Hast du das Brausen der Fässer vernommen, deren Spunde geöffnet werden mußten, damit nicht die eisernen Reifen sprängen? Jenes geheimnißreiche Summen? Verwehter Osterglockenton, dazwischen lieblich Frühlingsläuten? Wie die Lichter erlöschen vor betäubendem Dufte? Ja es muß eine selige Blüthenzeit sein, die der Weinblüthe, da nach langen Jahren noch ein Frühling sie dem andern zuruft. Denn die ältesten Fässer werden wach und beginnen ihren wunderbaren Choral. Drum ist auch der Wein es allein, der das älteste Herz wieder [726] jung macht und zurückführt in die Blumengärten des eignen Herzens.

Ist die Weinblüthe gesegnet vorüber, so setzen sich grüne Perlchen an, die von Woche zu Woche voller werden. Aber noch üppiger treibt der Stock in Blatt und Ranken. Da ist es Sache des fürsorgenden Winzers, dem üppigen Wachsthum weise Schranken zu setzen, damit nicht, die Hauptkraft des Wachsthums in das Laub gehe, sondern auch den Trauben zu gute komme. Da fällt manche schöne Rebe unter der brechenden Hand, selbst manche Traube aus Unachtsamkeit. Darum der Winzerspruch: „die ersten Früchte bekommt die Kuh.“ Sauber stehen nun die Stöcke mit Stroh geheftet, und von den Geländen hängt keine überflüssige Ranke mehr herab. Da, ein neuer Feind! Es sind die Gewitter. Fast keine Woche vergeht, daß es nicht schwarz und drohend herauf zieht, und je größer die Hitze, desto besorgter der Winzer. Ein einziger Schloßenschlag, und die ganze Jahreshoffnung und darüber hinaus ist vernichtet. Aber auch die Gewitter ziehen gnädig vorüber. Es blitzt und donnert, fruchtbarer Regen rauscht herab, aber der erquickt mehr, als daß er schadet. Da umlagert allmählich ein schwerer Panzer den Weinstock. Schon vermögen die dünner werdenden Blätter die Frucht nicht mehr zu verdecken. Manch Weinblatt ist vorn Winzer selbst geknickt worden, damit mehr Sonne zu den Trauben gelange. Endlich zieht auch das letzte Gewitter gnädig vorüber.

Da von hoher sonniger Lage rollt Donner durch das Thal, und ein roth Fähnlein flaggt lustig auf hoher Stange. Die erste „läuternde“ Traube ist entdeckt. Allgemeiner Jubel. Auf allen Bergen, in allen Gärten sucht man nach ähnlichem blauen Glück. Die nächsten Tage erneuter Donner, endlich von allen Bergen. Der Weinstock zieht überall sein blaues Röcklein an. Jetzt möchte der gute Winzer schon wieder bei der Vorsehung angestellt sein, um möglichst warmes Wetter zu beschaffen, damit die reifenden Trauben auch süß gekocht und dünnschälig werden. Und immer blauer wird es in den Bergen, immer schwerer lastet der fuchsgeleckte Gutedel vom Gelände. Ein neuer Feind! Magister Spatz ist es, die schwatzhafte Elster und der gelehrige Stahr. Am unverschämtesten treibt es der Erstere. Er ist der schlaueste Weindieb im ganzen Vogelgeschlecht. Stundenweit kommt er mit zahlreicher Familie aus weinärmerer Gegend daher, und erst nach Wochen zieht er dickgemästet und von der Herbstsonne ganz braun gebrannt in die Heimath zurück. Schallende Klappern, grausige Hampelmänner, bedenkliche Netze sind ihm alsbald völlig überwundene Standpunkte. Sein aufgeklärter Geist durchschaut nur zu bald diesen Schwindel menschlichen Witzes. Ergötzt sich Frau Elster an einem schmackhaften Träublein, so kann sie es nicht über’s Herz bringen: die ganze Welt muß davon wissen. Auch Freund Stahr kann nur selten den Schnabel halten. Wie anders Magister Spatz! Nicht einen Piep erzählt der Kerl von seinem Glücke. Selbst die Klapper in allernächster Nahe, wo die gesammte Vogelwelt entsetzt davon schwirrt, ist für ihn nicht da. Er schmaußt ruhig weiter. Er weiß sich zu gut versteckt. Dabei ist er Gourmand und Verschwender in einer Person. Nur die schwärzesten und reifsten Körnlein hackt er an. Das möchte sein. Mit drei oder vier könnte er zufrieden sein, er braucht nur jedes Korn vollkommen auszutrinken und das Fleisch zu verzehren; aber nein, angehackt, ein, zwei Mal getrunken und zu einer frischen Beere. Ist solche einmal geöffnet, besorgt die Insectenwelt das Uebrige.

Abermaliger Donner auf den Bergen. Die fröhliche Weinlese nimmt ihren Anfang. Jetzt erst, nachdem die Traube in der Botte, die Spille der Presse knarrt, der Most kühlig hervorrauscht, die Fässer gefüllt und in die Keller gerollt werden, kann der Weinbauer sagen: „Nun will ich mit dankerfülltem Herzen mein Haupt sorgenlos auf’s Kissen legen, denn Gottes Gnade hat wunderbar gewacht das ganze Jahr über und mir reichen Segen gegeben.“

Nach Jahr und Tag aber zündet er ein Licht an und steigt, ohne Jemandem ein Wort zu sagen, hinab in den Keller. Hier unbelauscht, in schweigender Stille, steckt er eins der Fäßlein an und füllt davon ein Fläschchen. Der junge Wein perlt geklärt im Glase, und der Winzer hält ihn wohlgefällig gegen das Licht, und noch wohlgefälliger läßt er die Perlen schlürfend und prüfend über die Zunge gleiten und schmunzelnd flüstert er: „Ein kostbar Weinchen!“ Wenn aber ein Weinbauer also kostet, so soll er solches nicht allein thun; sondern auch dem deutschen Dichter ein Gläschen einschenken. Dieser wird dasselbe ebenfalls gegen das Licht halten, prüfend kosten und – trinken, dann aber begeistert rufen:

Aus der Traube in die Tonne,
Aus der Tonne in das Faß,
Aus dem Fasse – welche Wonne!
Durch die Flasche in das Glas,
Aus dem Glase in die Kehle,
In den Magen durch den Schlund,
Aus dem Blute zu der Seele,
Aus der Seel’ als Wort zum Mund;
Aus dem Munde etwas später
Schwingt sich ein begeistert Lied,
Das durch Wolken zu dem Aether
Mit der Menschheit Jubel zieht.
Kehrt der traute Frühling wieder,
Senken sich die Lieder fein
Auf die lieben Reben nieder,
Und sie geben wieder – Wein!




Rechtskunde für Jedermann.

Von Dr. jur. L. Erdmann
3.
Reparatur eines Galgens in Leipzig – Der Begriff des Diebstahls – Leichenraub kein Diebstahl – Was ist Funddiebstahl – Ein Beispiel –
Aufheben und Auffinden.

Wie oft auch schon gesprochen und geschrieben worden ist über die gute alte Zeit, so sind die Gebildeten in der Mehrzahl doch zu dem Resultate gelangt, daß die Gegenwart die beste von allen bisherigen Zeiten sei. – In der gepriesenen guten alten Zeit gründete sich die Strafgesetzgebung, nach einer Hauptrichtung hin, auf die Theorie der Abschreckung, und es waren daher die Strafen für Vergehen oder Verbrechen oft sehr harte und grausame. Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl’s V. hat viele Strafen, die heutzutage ganz abgeschafft sind, wie z. B. das Feuer („mit dem fewer vom leben zum todt gestrafft werden“), das Pfählen („lebendig vergraben und gepfelt werden“), Ertränken[2] („mit dem Wasser vom leben zum todt gestrafft werden“), Rädern von oben oder von unten („mit dem rade durch zerstoßung seiner glieder vom leben zum todt gericht und fürter öffentlich darauff gelegt werden“), Vertheilen („durch seinen ganzen leib zu vier stücken zerschnitten und zerhawen und also zum todt gestrafft werden, und sollen solche viertheyl auf gemeinen vier wegstraßen öffentlich gehangen und gesteckt werden“), Ausschneiden der Zunge, Abhauen einer Hand, Abschneiden der Ohren u. s. f. – Sie verhängt die Todesstrafe über manche Verbrechen und Vergehen, die wir jetzt als leichtere, oft nur als Uebertretungen bezeichnen. Während sie den einfachen Diebstahl mit einer Geldbuße oder mit Kerker bedroht, kommen bei schwereren Fällen Steigerungen zum Staupbesen, zur Landesverweisung und nicht selten zum Strange vor. – So stand denn auch in Deutschland fast bei jedem Orte ein Galgen – das Hochgericht – für alle Fälle bereit. Derselbe wurde natürlich durch die Einflüsse der Witterung und der Zeit schadhaft und mußte deshalb dann und wann reparirt werden.

Charakteristisch für die damaligen Begriffe war das bei dem Neubau oder der Reparatur des Galgens eingeleitete Verfahren. Man hielt es für schimpflich, an einem derartigen Baue zu arbeiten, und deshalb mußten, damit Keiner dem Anderen einen Vorwurf seiner Thätigkeit dabei machen könne, alle Mitglieder der betreffenden Innungen Hand anlegen. So erzählt uns Vogel in seinen Annalen von Leipzig Folgendes:

„Am verwichenen neuen Jahrs-Marckt (1687) ist zu Leipzig auf der Niclasstraße im Gasthof zum blauen Hecht durch drei Juden und zwei Brüder, deren einer ein Pferdehändler, der andere ein Reiter war, ein Diebstahl in’s Werk gerichtet und an 3000 Reichsthaler gestohlen worden. Weil man nun den Reiter, der im besagten Gasthof wohnte, und seinen Bruder, der bereits vorm Jahre wegen entführter Kotzen[3] aus dem Lazareth in Verhaft [727] genommen worden, wenig Gutes zutrauete, hat man sie beiderseits benebst den Juden, nach einigen starken Muthmaßungen, gefänglich einziehen lassen. Als nun nach Geständniß beider Brüder die Juden torquirt worden sind, hat der eine die That bekannt, die anderen beiden aber haben zwar anfänglich Nichts gestehen wollen, sondern alle Classes in der Marter ausgestanden; nachdem ihnen aber zum anderenmal die Marter zuerkannt worden, haben sie gleichfalls bekennet. Da nun dem ersten im Urtheil der Strang zuerkannt, hat man ihm den 2. April den Tod angekündiget und, daß er sich taufen lassen solle, ermahnet. Zu dem Ende die beiden Herren Archidiaconi ihm seinen Irrthum vorzustellen und zum christlichen Glauben zu bekehren versuchet worden, so auch öfters zu ihm auf’s Rathhaus in die Commission- oder Armensünderstube gegangen, aber nichts ausgerichtet. Inzwischen ließ E. E. Rath das baufällige hohe Gericht zu repariren Anstalt machen, zu welchem Ende den 6. April – war Mittwochs – morgens um 5 Uhr alle Zimmerleute und Mäurer, Meister und Gesellen, sich im Zimmerhofe auf dem Neumarkt versammelt, und nachdem sie wegen der Präcedenz (Vorantritt) streitig geworden, hat dieses zuvor unternommen und geschlichtet werden müssen, darauf sie gedachten Tages gegen 9 Uhr in folgender Ordnung und zwar erstlich die Zimmerleute in vier Rotten getheilt, von denen Meistern geführet, mit einer blau, gelb und weißen Fahne, 132 Mann stark, die Meister ungerechnet, dann die Mäurer an 100 Mann stark, von dem Rathsmäurer angeführt, gleichfalls mit einer blau, gelb und weißstreifigen Fahne, hinauszogen. Voran ritten der Churfürstlich Sachs. Amts-Landrichter, E. E. Raths Obervoigt und Zimmermann, diesen folgeten ein Lehrjunge mit einer Axt, daran blau und weiß Band geknüpft war, und zwei Trommelschläger. Nach geschlossenem Kreise vorm Gerichte that gedachter Landrichter eine kurze Rede, daß es denen Handwerkern nicht sollte zum Schimpf und Nachtheile gereichen, so daran arbeiteten. Hierauf that der Landrichter, dann der Obervoigt, welcher auch im Namen des Raths denen Handwerkern Schutz versprach, den ersten Hieb in’s Holz und in die Mauer, denen folgten alle Meister und Gesellen. Nach diesen ward ein Gerüste um das Gerichte gemacht und dasselbe zu repariren angefangen. Abends nach 6 Uhr zogen sie allerseits in Ordnung, und zwar vom Obervoigte allein geführet und die Mäurer zuerst, herein, folgenden Tages nach 5 Uhr zogen sie wieder aus und hatten die Mäurer den Vorzug, Abends nach 6 Uhr wieder herein, da die Zimmerleute den Vorzug hatten. Mittwochs, nach der Predigt, um halb 9 Uhr, zogen sie wieder hinaus, und waren abermals die Zimmerleute beim Aus- und die Mäurer beim Hereinzug die Ersten. Selbiger Zeit wurden neue Balken eingelegt, das Gemäuer berappet, geweihet und roth eingefaßet, auch ein Schnellgalgen vor den auf den Hals sitzenden Juden angebauet. Unter währender Reparition hat sich den 7. April, Mittags um 12 Uhr, einer von den drei Juden in seinem Gefängniß auf dem Rathhause an einem Lappen, so er vom Hemde herunter gerissen, aus Desperation erhenket. Der Körper ward vom Nachrichter abgeschnitten, zur Stadt hinausgeschleift und unter das Gericht verscharret. Der andere Jude, so nächst diesem in Verhaft saß, ward den 16. ditto um den Markt herum, die Catherstraßen hinunter, den Brühl hin, die Ritterstraße hinauf, zum Grimmischen Thore hinaus mit Ruthen gestrichen und hernach in’s Zuchthaus gethan. Dergleichen Lohn empfingen den 19. Mai die beiden Brüder, so mit den Juden bei gedachtem Diebstahl intereßiret waren. Der dritte Jude, Adam Seidler genannt, ward den 12. August dieses Jahres, dabei er alles evangelischen Unterrichts und genügsamer Ueberführung ungeachtet auf seinem verkehrten und verstockten Sinn blieb, durch den Strang vom Leben zum Tode gebracht und an den neuangebaueten Schnellgalgen aufgeknüpfet.“

Unsere heutigen deutschen Gesetzgebungen kennen keine Todesstrafe mehr für Eigenthumsverbrechen. – Einen Diebstahl begeht nach ihnen, wer wissentlich und widerrechtlich eine fremde bewegliche Sache wider den Willen ihres Inhabers aus dessen Gewahrsam oder Inhabung, jedoch ohne Anwendung von Gewalt gegen Personen, hinwegnimmt, um sich oder Anderen einen unerlaubten Vortheil davon zu verschaffen. Hat die entwendete Sache keinen Schätzungswerth, ist also ein Schwefelhölzchen oder eine Stecknadel entwendet worden, so schließt dies den Begriff des Diebstahls, nach einigen Gesetzen, aus, obgleich immerhin eine strafbare Beeinträchtigung fremden Eigenthums übrig bleibt. Daher ist auch in diesem Sinne die Entwendung von Leichen oder Theilen davon aus Gräbern, wie sie der Drang nach Befriedigung des Wissensdurstes mitunter herbeigeführt hat, kein Diebstahl (weil hier ein eigentlicher Schätzungswerth nicht vorhanden ist), sondern ein selbstständiges Vergehen. Aus der Begriffsbestimmung folgt, daß man an seiner eigenen Sache keinen Diebstahl begehen kann, selbst wenn sich dieselbe in fremdem Gewahrsam, etwa als Pfand, befindet. Ein derartiges unberechtiges hinwegnehmen wird jedoch dem Diebstahl gleich gerechnet und bestraft, wenn es in der Absicht geschah, dem Inhaber die Sache oder deren Werth dessenungeachtet noch abzufordern. Wenn aber Jemand seine eigene Sache, indem er sie für eine fremde hält, entwendet, so begeht er zwar ebenfalls keinen Diebstahl, kann indessen wegen Versuches desselben bestraft werden, denn er hatte die Absicht, die Sache eines Anderen sich zuzueignen, und nur der Zufall führte ihm die seine in die Hände.

Da man, um Diebstahl zu begehen, eine Sache aus dem Gewahrsam, dem Besitz eines Anderen hinwegnehmen muß, so geht daraus hervor, daß die Erlegung des Wildes auf fremdem nicht umschlossenem Gebiete (Wilddiebstahl) kein Diebstahl, vielmehr eine andere Art verbrecherischer Beeinträchtigung fremder Rechte ist, wogegen ein wirklicher Diebstahl begangen wird durch Erlegung oder Einfangen solcher Thiere, welche sich in Thiergärten, Wildparken oder Fischteichen – da solche ebenfalls eine Art des Gewahrsams bilden – befinden. Wilde Thiere, die in ihrer natürlichen Freiheit leben, sind an sich herrenlos und gehen erst durch die Erlegung und Besitzergreifung (Occupation) in das Eigenthum über, doch kann das Eigenthum solcher herrenlosen Sachen, bei welchen nach den Gesetzen ein ausschließliches Recht der Zueignung in Bezirken oder auf einzelnen Grundstücken besteht, nur von dem Berechtigten durch Besitzergreifung erworben werden.

Der unrechtmäßige Vortheil, den sich der Dieb durch seine Uebertretung, sein Vergehen oder Verbrechen verschaffen will, muß nicht ein Vermögensgewinn, sondern kann ebensogut jeder andere Genuß oder Vortheil, z. B. die Befriedigung der Rachbegierde[4] und dergl. sein. Daß der Dieb nicht zu seinem, sondern zum Vortheil eines Dritten stiehlt, macht ihn vor dem Gesetze nicht besser und strafloser. Jener wunderliche Heilige, der den Reichen das Leder stahl, um den Armen Schuhe davon zu machen, war trotz seiner menschenfreundlichen Absichten ein wahrer Dieb. Auch diejenigen Gesetzbücher, welche beim Diebstahl die Wegnahme einer Sache zum Vortheil eines Anderen nicht ausdrücklich erwähnen, gehen selbstverständlich von demselben Gesichtspunkte aus, denn wenn man Etwas für einen Dritten entwendet, so eignet man sich solches zunächst selbst an, um dann an dem Weitergeben irgend einen Genuß zu haben, sei es auch nur den, Jemandem eine Freude zu bereiten, wie St. Crispin. – Der Diebstahl ist entweder ein einfacher oder ein durch erschwerende Umstände ausgezeichneter. Diese letzteren bestehen darin, daß sich der Dieb an geweiheten oder dem Schutze des Publicums stillschweigend anvertrauten oder an solchen Sachen vergreift, die besonders schwer zu behüten und zu bewachen sind. Hierher gehören: zum Gottesdienst bestimmte Gegenstände, Grabstätten, öffentliche Sammlungen, Vieh auf der Weide, Wäschstücke auf der Bleiche, Reisegepäck in Posthäusern, Eisenbahnhöfen u. s. f. – Dann können aber auch die obwaltenden äußeren Verhältnisse den Diebstahl zu einem schwereren Verbrechen machen, z. B. wenn er verübt wird bei Feuersgefahr, Aufruhr, Tumult, bei eingetretener Nachtzeit oder Nachtruhe. Noch härter wird der Diebstahl bestraft, welcher begangen wird unter Anwendung von Gewalt gegen Sachen, als Erbrechen von Thüren, Einsteigen in Gebäude, Aufsprengen verschlossener Behältnisse, Anwendung falscher Schlüssel oder sonstiger Werkzeuge, ingleichen bei einer Feuers- oder Wassersnoth an dem geborgenen Gute selbst. (Ausgezeichneter Diebstahl im engeren Sinne.)

Da zum Begriffe des Diebstahls gehört, daß Etwas aus dem Gewahrsam, der Innehabung, dem Besitze einer anderen Person entwendet wird, so ergiebt sich, daß das Ansichnehmen einer gefundenen Sache, um solche für sich zu behalten, kein Diebstahl sei. Es ist vielmehr der sogen. Funddiebstahl eine Art der Unterschlagungen. Eine solche wird begangen, wenn man eine fremde bewegliche Sache, in deren Besitz man sich befindet, dem Eigenthümer oder dem sonst Berechtigten rechtswidrig entzieht, um sich oder [728] Anderen dieselbe zuzueignen, oder sonst einen Vortheil davon zu verschaffen. Verbraucht jedoch Jemand ihm anvertrautes Geld oder andere Sachen, die nur in derselben Gattung zu gewähren sind, z. B. Getreide, und hat er dabei die wohlbegründete Ueberzeugung, daß er zur bestimmten Zeit oder auf jedesmaliges Verlangen des Berechtigten Ersatz leisten könne, so begeht er keine Unterschlagung, dafern er nicht Cassen-Beamter ist, denn einem solchen kommt die wohlbegründete Ueberzeugung, daß er werde Ersatz leisten können, nicht zu statten. –

Sagt man im gewöhnlichen Leben, man habe eine Sache verloren, so will man damit allerdings bezeichnen, daß man nicht mehr im Besitze derselben sei. Man faßt aber dabei den Begriff des Besitzes nicht weit und nennt mitunter schon das Geldstück verloren, das man in seinem Zimmer auf den Boden fallen ließ und nicht sofort wieder finden kann. Der Jurist setzt dem Besitz eine weitere Grenze, indem er das noch nicht als verloren betrachtet, was man wiederzufinden in seiner Gewalt hat, oder was sich im Gewahrsame, z. B. im Zimmer, im Hause, im Garten und dergl. befindet, oder was man eben erst verloren hat, indem man sich des Ortes, wo es liegt, noch lebhaft erinnert. Erst dann, wenn sich der Eigenthümer nicht mehr zu erinnern vermag, wo ihm seine Sache abhanden gekommen, oder wenn ein äußerer Zufall hinzugetreten ist, der ihm die Einwirkung auf solche unmöglich macht, hat er den Besitz verloren. Da der sogen. Funddiebstahl milder beurtheilt wird, als der Diebstahl, so wird dies natürlich von großer Wichtigkeit. Ein Beispiel giebt folgender Fall. [5]

Ein Müller fuhr, noch am hellen Tage, mit einem beladenen Wagen auf der Chaussee nach seinem Dorfe und legte, in der Nähe desselben angelangt, auf den hintern Theil des Wagens seinen Pelz, den er bis dahin am Leibe gehabt hatte. Bald fiel der Pelz auf die Straße, ein Wandersmann sah ihn herabfallen und warf ihn mit seinem Stocke in den Chausseegraben, begab sich dann in einen benachbarten Wald und versteckte sich hinter einen Baum. Eine dritte Person hatte das Gebahren beobachtet und setzte den Müller in Kenntniß. Dieser kehrte um, holte den Fremden ein und fragte ihn nach dem Pelze. Der Fremde stellte nicht nur in Abrede, daß er von dem Pelze etwas wisse, sondern schlug sogar dessen Eigenthümer.

Nach Schluß der eingeleiteten Untersuchung betrachtete die erste Instanz das vorliegende Vergehen als Vorenthaltung einer gefundenen Sache und leichte Körperverletzung. Der Pelz des Müllers sei, nach dem Sprachgebrauche, verloren gewesen, der Eigenthümer habe den Ort, wo sich sein Pelz befunden, nicht gewußt und also auf seine Sache nicht einwirken können. Durch das bloße Ansichnehmen des Pelzes habe der Angeschuldigte keine unerlaubte Handlung begangen, und seine Handlungsweise sei erst dadurch verbrecherisch geworden, daß er den Pelz nicht an den Verlierer zurückgegeben, sondern dessen Auffinden abgeleugnet habe. Die höhere Instanz erkannte dagegen, daß der Angeschuldigte einen wirklichen Diebstahl begangen habe. Der Pelz sei nach rechtlichen Begriffen gar nicht verloren gewesen, da sich der Eigenthümer bei der Kürze der Zeit des Verlustes und des zurückgelegten Weges durch ein einziges Umblicken über den Verblieb seines Pelzes hätte vergewissern und ihn sofort wieder an sich nehmen können, wenn nicht der Angeschuldigte durch das Verstecken desselben dies vereitelt hätte. Der wirkliche Besitz des Pelzes sei durch das Herabfallen vom Wagen noch nicht verloren gewesen. Vom gewöhnlichen Sprachgebrauche könne hier nicht ausgegangen werden, da man nicht anstehe z. B. ein Taschentuch als verloren zu bezeichnen, das einem im Zimmer eben aus der Tasche gefallen sei.

Der sogenannte Funddiebstahl (Fundunterschlagung, strafbare Vorenthaltung fremder Sachen) wird erst dann angenommen, wenn Seiten des Finders eine solche Handlung vorgenommen worden ist, welche die Ansicht zu erkennen giebt, sich die gefundene Sache anzueignen, also ein Verstecken, Verleugnen derselben. Spiegelberg in den Räubern macht aus dem Benehmen beim Finden einer Sache einen Prüfstein für anzuwerbende Räuberrekruten, indem er zu Razmann sagt: „– – – oder besser und kürzer, du gehst und wirfst einen vollen Beutel auf die offene Straße, versteckst dich irgendwo und merkst dir wohl, wer ihn aufhebt – eine Weile d’rauf jagst Du hinterher, suchst, schreist und fragst nur so im Vorbeigehen: Haben der Herr nicht etwa einen Geldbeutel gefunden? Sagt er ja, – nun, so hat’s der Teufel gesehen; leugnet er’s aber: Der Herr verzeihen – ich wüßte mich nicht zu entsinnen – ich bedauere – (aufspringend) Bruder! Triumph, Bruder! lösch deine Laterne aus, schlauer Diogenes! – du hast deinen Mann gefunden.“ –

Aufheben darf demnach Jeder eine Sache, welche er findet, nur muß er sie auf die vom Eigenthümer oder sonst Berechtigten resp. Seiten der Obrigkeit erfolgte Nachfrage nicht verleugnen, sie vielmehr dem Verlierer, wenn dieser ihm soweit bekannt geworden, daß er in den Stand gesetzt wurde, die Sache an den rechten Mann zu bringen, aushändigen oder der Behörde Anzeige erstatten. Wo in den Gesetzen für die letztgedachte Anzeige keine Frist bestimmt ist, thut man wohl, sie sobald als möglich zu machen, worauf man dann, wenn sich nach einer gewissen Frist der Eigenthümer nicht gemeldet hat, soweit dies das Gesetz bestimmt, einen Antheil vom Erlöse der gefundenen Sache als sogenanntes Finderlohn erhält. Einige Gesetze stellen dem Funddiebstahle gleich das Unterschlagen angeschwemmter Sachen und gefundener Schätze. Ein in der Erde verborgener Schatz, dessen Eigenthümer durch die Länge der Zeit gänzlich unbekannt geworden ist, gehört nach den Grundsätzen des gemeinen Rechtes zur Hälfte dem Finder und zur Hälfte dem Eigenthümer des Grundes und Bodens, worin er gefunden wurde. Wenn aber absichtlich und ohne Einwilligung des Grundeigenthümers danach gesucht worden ist, so kann dieser das Ganze fordern. Der Staatsfiscus hat das Recht des Eigenthümers bei Grundstücken, die in öffentlichem Eigenthume stehen, z. B. Staatswaldungen, Staatsgebäuden, öffentlichen Chausseen und dergleichen. – Eine Fundunterschlagung findet demnach bei Schätzen dann statt, wenn der Finder in eigennütziger Absicht die in den Rechten geordnete Ablieferung unterläßt.

In der Gegenwart bestehen die Strafen des Diebstahls in Freiheitsstrafen, von den leichteren – Gefängnißstrafe – bis zu den schwereren – Arbeitshaus, Zuchthaus, schwerer Kerker etc. – je nach dem Werthe der gestohlenen Sache und ihrer besonderen Eigenschaften, sowie nach der Art und Weise der Verübung und den Eigenschaften des Diebes, wobei besonders die Rückfälligkeit in Betracht kommt. Ein Diebstahl, verübt zur augenblicklichen Befriedigung des Hungers oder der Lüsternheit an Eßwaaren, ist besonders mild zu beurtheilen und war nach der peinlichen Gerichtsordnung in dem Falle sogar straflos, wenn der Dieb die eßbaren Gegenstände entwendet hatte, um sich selbst, sein Weib oder seine Kinder dem Hungertode zu entziehen. – Die Untersuchung und Bestrafung des Diebstahls hat in der Regel ohne darauf gerichteten Antrag zu erfolgen, jedoch wird ausnahmsweise ein solcher erfordert bei Diebstählen unter nahen Verwandten und Ehegatten - insofern einzelne Gesetze hier die Bestrafung nicht ganz ausschließen. Freiwillig geleisteter, vollständiger Ersatz vor Entdeckung des Diebstahls (bez. vor dem Einschreiten der Behörde) ist entweder in hohem Grade ein mildernder Umstand oder hebt die Strafbarkeit beim einfachen Diebstahl ganz auf. – Die Strafen der Fundunterschlagung sind durchgängig geringer, als die des Diebstahls, bestehen sogar nach Landesgesetzen bei geringeren Beträgen in Geldbußen, setzen einen Antrag des Verletzten voraus oder sind bei ganz geringen Beträgen, vorausgesetzt, daß der Finder den Fund nicht verleugnet oder die dem Verderben ausgesetzte Sache verbraucht hat, straflos.

Ueber Forst-, Wild- und Felddiebstähle bestimmen in den meisten deutschen Staaten besondere Gesetze.




[729]
Ein Abendbesuch bei Pelekanen.
Von Brehm.

Mein letzter Jagdausflug, welchen ich im Auftrage und später im Geleit seiner Hoheit des Herzogs von Coburg-Gotha unternahm, war eben keine Lustreise. Dazu gab es zu wenig Zeit. Ich reiste mit der englischen Ueberlandpost binnen noch nicht ganz vierzehn Tagen von Leipzig bis Aden und fuhr von dort noch am Tage meiner Ankunft auf einer eigens gemietheten Fischerbarke wieder ab nach Massaua.

Ein Blick auf die Karte genügt, um festzustellen, daß man zur Fahrt von Aden nach letzgenannter Stadt den ganzen Meerbusen von Aden und das Babel Mandeb durchschneiden und dann noch in schiefer Richtung das rothe Meer überfahren muß. Bei recht günstigem Winde kann solche Reise in drei bis vier Tagen zurückgelegt werden; bei widrigem Wetter kommt es vor, daß man über einen Monat vor dem Bab el Mandeb liegen muß, ehe der Schiffsführer im Stande ist, die starke Strömung zu überwinden und in das rothe Meer einzufahren, wo er dann, so gut oder so schlecht als möglich, mühsam zwischen den Klippen dahinkreuzt, wenn es irgend geht, in nächster Nähe der Küste. Wir hatten anfänglich guten, dann aber sehr schlechten Wind, und deshalb mußten wir bei der Eile, welche ich hatte, jeden Augenblick wahrnehmen, um noch rechtzeitig in Massaua einzulaufen. Dies bedauerte ich um so lebhafter, weil das rothe Meer im Süden ein überaus ergiebiges Gebiet der anziehendsten Jagden ist, welche ein Forscher nur machen kann.

So vogelarm der lange, schmale Meerbusen im Norden ist, so großen Reichthum entfaltet er im Süden. Es giebt dort wirkliche Vogelberge, wie im hohen Norden. Manche der kleinen vulcanischen Felseilande sind seit Jahrhunderten so beliebte und besuchte Wohnorte der Vögel, daß man hier mit gutem Gewinn und leichter Mühe ihren Dünger aufsammeln könnte. Eine dichte Schaar von zwei verschiedenen Arten Tölpel, sechs bis acht Arten Möven, mehreren Arten Seeschwalben und Pelekane sitzt hier Tag und Nacht zu Hunderten vereinigt, um zu verdauen, und eine dichte lebendige Wolke umgiebt die Gipfel vom Morgen bis zum Abend.

Hart an solchen Eilanden ging unsere Fahrt vorüber, aber, weil das Glück mir nicht wohl zu wollen schien, regelmäßig mit dem vortrefflichsten Winde, so daß unser leichtes Boot mit seinen großen Segeln in Nichts zu wünschen lassender Eile dahinjagte. Einige Male kamen wir förmlich in jene Vogelwolken hinein, und da wurde dann natürlich auch das treue, auf meinen früheren Reisen in Spanien, Norwegen und Lappland erprobte Jagdgewehr vorgenommen, und rechts und links stürzten die längst bekannten, aber immer noch seltenen, und die erst vor wenigen Jahren von Heuglin entdeckten, in allen Museen noch fehlenden Tölpel in die salzigen Wellen; – aber an ein Aufhalten der Fahrt, an ein Herausfischen der Beute war nicht zu denken! Die Takelung der arabischen Schiffe des rothen Meeres ist so vorweltlicher Art, daß zu jede Segelwendung die Raa im Mast niedergelassen, mühsam herumgedreht und dann wieder aufgezogen werden muß. Mehr brauche ich gar nicht zu sagen, um zu beweisen, daß wir längst auf mehrere hundert Ellen weit an den Erlegten vorbeigeschossen waren, ehe nur ein Anhalten hätte bewirkt werden können; denn daß ein Reffen des Segels mehr Arbeit macht, als das bloße Wenden, versteht sich von selbst. Und mit dem Reffen wäre es überdies noch nicht abgemacht gewesen; man hätte auch noch das kleine Boot, welches im Bauche des größeren lag, in’s Meer lassen müssen. Kurz, jeder aufzunehmende Vogel hätte mindestens einen Aufenthalt von einer halben bis dreiviertel Stunden verursacht; und diese halben Stunden hatte ich eben nicht.

So schien es, daß ich, ohne einen Vogel erbeutet zu haben, nach Massaua gelangen würde. Ich schmollte natürlich mit meinem widrigen Geschick, ergab mich aber so gut als thunlich in das Unvermeidliche. Doch sollte es noch anders kommen; ich fand Gelegenheit, eine Jagd auf Pelekane zu machen, wie sie mir vorher noch nie geboten worden war.

Der Pelekan, welchen unsere Thierbudenbesitzer regelmäßig als Aushängeschild zu benutzen pflegen, und welcher deshalb wohl allen meinen Lesern bekannt sein dürfte, bewohnt in mehreren Arten Afrika, welches als sein eigentliches Heimathsland angesehen werden muß. Zwar kommen drei verschiedene Arten dieser merkwürdigen Sippe auch in Europa vor, niemals aber in den ungeheuren Schaaren, in welchen sie sich in Afrika finden. Schon in den Strandseen Aegyptens vereinigen sich während des Winters, welcher auch die nördlicher wohnenden nach dem gastlichen Erdtheil treibt, Gesellschaften, von deren Stärke man sich keinen Begriff machen kann, wenn man sie nicht selbst gesehen hat. Auf weite Strecken hin bedecken sie den See; aus der Ferne betrachtet, erscheinen sie wie ungeheuere weiße Seerosen. Zur Zeit der Nilüberschwemmung sieht man Heere von ihnen aus den unter Wasser gesetzten Fluren des Deltas, zwischen den Dämmen, welche die Dörfer miteinander verbinden, dahin rudern und fischen; und einzelne, rings vom Wasser umfluthete Sandbänke sind zuweilen von ihnen so überfüllt, daß Kampf und Streit um die Sitzplätze entsteht, wenn neue hinzukommen. Auf den einzelnen Mimosengruppen, welche auf den Strominseln des weißen und blauen Nils sich finden, sitzen sie manchmal in solcher Menge, daß es scheint, als wäre der ganze Hain mit großen, weißen Blüthen bedeckt, und die gewaltigen Adansonien, nahe an den Flüssen, erhalten gerade zu der Zeit, wo sie blätterlos sind und ihre dicken Aeste und Zweige so sonderbar in die Luft hinausrecken, durch sie einen gar wunderbaren Schmuck. In eben so großer Anzahl, obgleich der vielen günstigen Stellen halber mehr vertheilt, finden sie sich auf dem rothen Meere. Dieses ist ein wahres El-Dorado für sie. Es ist reicher an Fischen als irgend ein anderes Meer, und die schuppigen Wasserbewohner, die Beute, welcher die Pelekane eifrig nachstreben, bevölkern gerade jene großen, seichten, von der Sonne so recht durchglühten, pflanzenreichen Stellen in besonderer Menge, bis zu deren Grunde der langhalsige Vogel mit seinem Hamenschnabel hinabreichen kann. Es ist also kein Wunder, daß hier unsere Thiere sich bleibend angesiedelt haben und mit unermüdlicher Ausdauer Guano bereiten, vielleicht in der Hoffnung, sich hierdurch noch als recht nützliche Mitglieder der Vogelclasse zu beweisen.

In einer Versammlung unserer deutschen Vogelkundigen erzählte einmal ein junger Mann von seinen Reisen, welche er in die Donautiefländer unternommen hatte, ausschließlich zu dem Zweck, die dort lebende Vogelwelt zu beobachten. In seinem Berichte wiederholte er dreimal, daß er Pelekane gesehen, sich mühsam an dieselben herangeschlichen und dieselben auch erlegt haben würde, wenn – nun kam das Pferdefutter des dicken Abtes, welchen der Kaiser, laut Bürger, so sehr aus seiner nichtsnutzigen Behäbigkeit aufstörte. Ich konnte mich bei jenem Vortrage des Lächelns nicht erwehren, wenn ich daran dachte, wie ich früher in Afrika dem Pelekan mitgespielt hatte, fühlte aber in die tiefste Seele unseres jungen Vogelkundigen hinein, wie nahe es ihm gegangen sein mochte, die schönen Vögel ziehen lassen zu müssen. Denn Derjenige, in dessen Brust auch nur ein Funke von dem Jagdfeuer glüht, versteht ohne Worte, daß ein so sonderbar gestalteter, schöner, großer Vogel, dessen ganzes Wesen und Leben ebenso eigenthümlich ist, als seine Gestalt, nothwendiger Weise zur Jagd auffordern muß. Ich meinestheils hätte eigentlich zufrieden sein können mit den Jagderfolgen, welche ich gerade bei den Pelekanen gehabt hatte; aber mir kam es darauf an, die im rothen Meere wohnenden, früher nicht beobachteten Arten zu erbeuten, um auf den großen Altar der Wissenschaft wieder ein Scherflein werfen zu können, wie sie es verlangt.

Am fünften oder sechsten Tage unserer Fahrt auf dem rothen Meere gelangten wir in eine jener Gegenden, wo die Pelekane als gemeine Thiere angesehen werden müssen, d. h. wo sie kaum minder häufig sind, als bei uns zu Lande die Sperlinge. Wir waren in die Nähe der Dahlakinseln gekommen und schon an einigen Eilanden vorübergefahren, welche der braune Eingeborne nur zeitweilig mit seinen Viehheerden besucht, während der übrigen Zeit aber dem Geflügel des Meeres zur alleinigen Benutzung überläßt. Hier saßen die Pelekane, Regimentern vergleichbar, in unglaublicher Menge am Strande, theils um verdauend auszuruhen, theils beschäftigt mit dem zeitraubenden Putzen, Ordnen, Glätten und Einfetten des Gefieders, welche Arbeit ja den Vögeln, wie bekannt, einen guten Theil ihrer Zeit wegnimmt. Manchmal hatte es den Anschein, als ob große Heerden blendend weißer Schafe [730] auf der Insel weideten, und ich begriff jetzt erst, wie die Schiffer dazu kommen konnten, die Albatrosse, welche in südlichen Meeren in ähnlicher Weise sich zeigen, mit dem Namen „Capschafe“ zu beschenken. Hier war aber mit der Jagd nichts zu machen; denn sonderbarer Weise zeigten sich die doch ganz unbehelligten Pelekane scheuer als irgendwo. Sie wichen dem Boote mit der größten Sorgfalt aus und erhoben sich augenblicklich, wenn unser Führer, welcher meinetwegen ein menschliches Rühren zu verspüren schien, den Versuch machte, sich ihnen zu nähern. Ich schoß einige Male mit der Büchse vergeblich unter die Haufen, fand es aber bald unterhaltender, einem der hier sehr häufigen Haifische oder einem der immer und immer wieder auftauchenden Delphine eine Kugel auf den Pelz zu brennen. Schließlich hatte ich die Jagd entsagend aufgegeben. Da half mir ein glücklicher Zufall doch noch zur Erfüllung meines Wunsches.

Auf unserem Boote war wegen der langen Fahrt das Brennholz ausgegangen, und unsere Matrosen, welche jetzt, während des Ramadan, überhaupt nur eine Mahlzeit genossen, thaten alles Mögliche, um eine Landung zu bewerkstelligen. Eine kleine Insel, die „Djesiret el Namuhs“, schien ihnen besonders geeignet zu sein, sich mit neuem Vorrath zu versehen. Auf sie hin wurde also das Schiff gelenkt. Ich erfuhr beiläufig, daß die Insel von Menschen verlassen sei und auch niemals bewohnt werden könne, weil sie ihren Namen mit erschreckender Wahrheit bethätige. Djesiret el Namuhs bedeutet nämlich die Mückeninsel, und nach den Versicherungen unserer Matrosen sollten diese kleinen Quälgeister der höheren Geschöpfe in geradezu unglaublichen Schaaren dort heimisch sein.

Gegen Abend stieg das Eiland über den Meeresspiegel heraus, und nach weiterer Fahrt zeigte es sich als ein ausgebrannter Krater, welcher ringsum mit einem dichten Walde mittelhoher Bäume oder besser hoher Büsche bewachsen war. Auf dem grünen Rande sah ich zu meiner nicht geringen Freude dicht aneinander jene lebendigen weißen Blüthen, welche die Pelekane und Reiher ihm eingestickt hatten. Die Mückeninsel war ein Schlafplatz der von mir gewünschten Vögel, und wie es schien, hatte sich ein guter Theil der Bewohner des rothen Meeres hier versammelt.

Ich beschloß, sofort den zum Schlafen aufgebäumten Vögeln einen Besuch zu machen. Nächtliche Jagden habe ich von jeher mit besonderer Liebe betrieben, weil sie bei vielen Thieren, und zumal bei Vögeln, gewöhnlich am sichersten zum Ziele führen. Man kann sich da so hübsch verstecken, und der arme, fliegende Schelm, den man aus seinen ersten Träumen aufstört, hängt viel zu sehr an dem einmal gewählten Platze, als daß er gleich flüchten sollte; er zeichnet sich auch, wenn die Nacht ziemlich dunkel ist, im Fliegen noch immer klar genug ab, um es dem Schützen möglich zu machen, das Todesrohr einigermaßen sicher zu richten.

Etwas nach Sonnenuntergang waren wir zur Stelle gekommen und warfen den Anker in eine jener seichten, mit dem reinsten Sande erfüllten Straßen, welche zwischen den Korallenbänken verlaufen und schon von Weitem sichtbar sind. Das kleine Boot wurde ausgehoben, in das Wasser gelassen und mit vier Matrosen bemannt. Ich hatte kaum Platz zum Sitzen mehr. Rasch steuerten wir der Insel entgegen. Als wir dort ankamen, war die Nacht bereits eingetreten. Ich ging längs des Strandes dahin, mühselig mir einen Weg suchend; denn bald kam ich an Stellen, wo das Gebüsch bis hart an das Wasser heranreichte, oder an andere, wo die Korallenbänke erhoben worden waren, aber noch ganz ihre Zerklüftung beibehalten hatten. Hier konnte jeder Schritt gefährlich werden; man konnte, ohne es zu ahnen, in eine jener tiefen Höhlungen versinken, welche, Brunnen ähnelnd, in den Korallenkalk eingetieft und gewöhnlich mit dem durchsickernden oder überfluthenden Wasser gefüllt sind. Drei von den Matrosen wendeten sich in der entgegengesetzten Richtung, um Holz zu sammeln, der vierte begleitete mich, und seinen Falkenaugen überließ ich es auch gern, den passendsten Weg zu suchen; ich hatte ohnehin mit meinen Augen genug in der Höhe zu thun.

Sobald wir den Busch betreten, fanden wir, daß die Insel ihrem Namen Ehre machte. Noch war es still zwischen den Bäumen, und wir konnten deshalb das bekannte und gehaßte Schwirren der Mücken deutlich genug vernehmen. Wie hungrige Blutegel fielen sie über uns her; nach wenigen Augenblicken waren wir von einer Wolke umgeben, und diese nahm an Dichtigkeit und Größe zu, je weiter wir vorwärts schritten. Aber das jetzt sich regende Jagdfeuer ließ, mich wenigstens, der Mücken nicht mehr achten. Gleich beim Eintreten in den Wald verkündigte mir die tiefe Baßstimme eines Pelekan, daß er etwas Ungewöhnliches gewahrt haben mußte, und bald darauf hörte ich an dem Flügelschlag, daß er sich erhoben hatte, um Rundschau zu halten. Ich blieb auf einer kleinen, lichten Blöße stehen und sah, daß mehrere der Vögel wach und rege geworden waren, bemerkte aber zugleich auch, daß sie noch keine Ahnung von dem Vorhandensein eines so gefährlichen Feindes haben konnten. Sie kreisten ruhig und still über dem Walde; einer nahte sich, und der erste Schuß donnerte durch die Nacht. Der Pelekan zuckte zusammen; die Flügel wurden schlaff, er sauste nieder. Allein ich hatte die Richtung seines Fluges nicht beachtet. Das Parallelogramm der Kräfte machte sich geltend. Hart vor mir, aber immer noch zu weit, stürzte der getödtete Vogel klatschend auf die Meeresfläche, und die von dem Ufer zurückgeworfenen Wellen trugen ihn bald weiter und weiter hinaus in die dunkle See.

Unmöglich vermag ich den Eindruck zu beschreiben, welchen dieser Schuß auf die schlafende Gesellschaft hervorrief. Hunderte von Pelekanbässen wurden hörbar, die Reiher kreischten laut auf; Alles flog und schwirrte durcheinander; von jeder Seite her vernahm man das Fuchteln der Flügelschläge, und an dem dunklen Himmel zog ein Schatten nach dem andern vorüber. Ich sandte rasch den zweiten Schuß ab. Er blieb erfolglos; wahrscheinlich hatte ich mich in der Entfernung getäuscht. Wiederum erhob sich ein neuer Schwarm aus dem Dickicht. Es schien, als hätten die Thiere den ersten Schuß überhört oder wären nach ihm starr vor Schrecken geworden und hätten gleich wieder gebäumt. Mit dem dritten Schuß donnerte ich einen zweiten Pelekan herab. Er fiel unweit von uns in das Gebüsch. Wie ein Leopard kroch der Somali, welcher mich begleitete, durch die Büsche, und lange mußte er suchen, ehe er die Beute auffand.

Tiefer und tiefer waren wir in den Wald gekommen; aber mit jedem Schritte wurde er undurchdringlicher. Tausende von Dornen bemühten sich, wenn auch glücklicher Weise vergebens, mir meine Kleidung vom Leibe zu reißen; Aeste, welche nicht richtig gesehen worden waren, schlugen mir den Hut vom Kopfe oder hingen sich in die Riemen der Jagdtasche; jeder Schritt mußte erst erkauft, errungen werden. In solchen Augenblicken merkte ich nun auch wieder die mir nachziehenden stechenden Quälgeister: – es war unmöglich weiter vorzudringen. Der Führer erhielt also den Befehl, umzukehren. Er tappte, er suchte, er kroch; der gute Somali hatte den Weg verloren! – Jetzt war unsere Lage keineswegs eine angenehme mehr, obgleich ich es überaus lächerlich fand, in einem Walde, welcher höchstens ein paar Morgen Landes deckte, mich verirrt zu haben. Alle Mittel wurden nun aufgeboten, um uns wieder herauszusitzen. Aber wie es bei solchen Gelegenheiten zu gehen pflegt: wir kamen dadurch nur noch tiefer in das Dickicht hinein. Der Matrose erhob seine Stimme, so laut er konnte; er lauerte umsonst auf Antwort. Selbst das eintönige und doch so angenehme Schlagen der Wogen, welche gar nicht weit von uns an den Felsen brandeten, tönte nur wie ein schwacher Schall herüber; denn jeder Laut wurde von den im höchsten Grad erschreckten Vögeln vollständig übertäubt. Man vernahm nichts weiter, als ein unentwirrbares Zusammenklingen der allerverschiedenartigsten Stimmen, von denen auch nicht eine einzige angenehm genannt werden konnte. Das war ein Kreischen und Quaken ohne Aufhören! Der Baß der Pelekane grollte da nur dumpf dazwischen.

Mich fesselte unsere Lage. Ich träumte mich so recht in das Vogelleben hinein und dachte, daß eine Nacht in diesem Dickicht unter so anziehender Gesellschaft doch auch ertragen werden müßte. Wir hätten ja zuletzt uns häuslich einrichten können. Gefährliche Thiere gab es in diesem Urwalde nicht, und ein recht kräftiges Feuer mit darauf geworfenen grünen Zweigen hätte die Mücken schon vertrieben. Mein Somali aber war anderer Ansicht. Er schauderte bei dem Gedanken, auf der verrufenen Insel nur eine Stunde länger bleiben zu müssen, als nöthig. Immer und immer wieder versuchte er einen Ausweg zu finden. Endlich schien ihm das Glück gelächelt zu haben. Er rief mich zu sich; ich arbeitete mich durch die Büsche und sah nach etwa hundert mit mancher Fährlichkeit zurückgelegten Schritten vor mir den leuchtenden Schaum der Wogen, welche[WS 1] sanft an der Küste sich umstürzten.

„Gott sei gelobt!“ rief der Erfreute, „wir haben das Meer und gehen nun am Strande hin.“ Der gute Mann irrte sich wiederum. [731] Ungefähr auf fünfzig oder sechzig Schritte weit war der Strand so, wie man sich ihn nur wünschen konnte. Ein köstlicher gelber Sand lag da unter ziemlich hochästigem Gebüsch und bot uns einen wahren Lustpfad dar. Das Meer selbst versuchte ihn zu beleuchten. Jede Woge, welche sich am Strande brach, schimmerte hundertfach im phosphorischen Licht; wie Feuerstreifen floß es vom Strande nach der Tiefe zurück; ein feuriges Band umrankte das Eiland, so weit wir blicken konnten. Es war ein Anblick zum Entzücken. Ungern fast setzte ich meinen Weg fort. Er war sehr kurz. Ein uns jetzt in der Dunkelheit unersteiglich erscheinendes Korallenriff thürmte sich plötzlich vor uns auf und ließ nur die Wahl zwischen Umkehren oder neuem Betreten des Waldes. Ich wählte das Letztere, und nach wenigen Minuten befanden wir uns genau in derselben Lage wie früher: mitten im Gebüsch, umschrieen, umtobt und umflogen von unzähligen Vögeln, von denen ich einen um den andern herabdonnerte und, wenn ich oder der Somali ihn glücklich gefunden, der Last zufügte, welche der Matrose schon schleppen mußte. Der arme Schelm gerieth zuletzt geradezu in Verzweiflung; ich dagegen konnte mich von dem Komischen unserer Lage nicht losmachen und mußte bei jedem seiner Klagelieder immer und immer wieder auflachen. Natürlich steigerte ich dadurch seine betrübte Stimmung nur noch mehr. Er war sehr unglücklich. Plötzlich machte der gute Bursch, welcher, wie ein Jagdhund, keinen Augenblick ruhig stehen konnte, Halt und begann von Neuem nach seinen Gefährten zu rufen. Zu meiner nicht geringen Verwunderung antwortete einer der andern Matrosen, und nach wenigen Minuten hatte er sich glücklich bis zu uns durchgearbeitet.

Ein lebhaftes Gespräch zwischen Beiden entspann sich, es wurde aber in der mir vollkommen unzugänglichen Somalisprache geführt, und so mußte ich ruhig abwarten, bis sich beide verständigt. Ich hatte natürlich erwartet, daß der Ankommende von den übrigen Matrosen abgeschickt worden wäre, um uns zu holen, erfuhr aber zu meiner nicht geringen Ueberraschung, daß er im Gegentheil sich blos nach meinen Schüssen gerichtet und uns aufgesucht hatte, weil ihm das gleiche Schicksal geworden war, wie früher uns.

Jetzt wurde mir der Wald selber unheimlich, so klein er auch war. Die Matrosen sprachen ihre Furcht unverhohlen aus: sie träumten natürlich von Gespenstern. Ich trieb sie zu neuem Suchen an und befahl ihnen, vor allen Dingen die Küste wieder ausfindig zu machen. Dies gelang, obgleich die Dunkelheit inzwischen sich sehr vermehrt hatte. Nach kurzer Zeit vernahm ich die mir geltenden Rufe und arbeitete mich jetzt, allerdings mit größter Vorsicht, durch das Gestrüpp. Wir befanden uns an einem vorher noch nicht betretenen Theile des Strandes, und zwar auf einem langgestreckten Korallenriff, welches ziemlich weit in die See hineinragte. Auf diesem gingen wir bis zur Spitze vor; aber vergeblich spähten wir nach dem Feuer auf dem Schiffe: die Insel mußte zwischen uns und dem Ankerplätze liegen. Wir gingen wieder zurück und versuchten nochmals längs des Strandes hinzugehen; allein dies war wirklich unmöglich: wer Korallenklippen jemals begangen hat, wird es mir glauben. Man konnte keinen sicheren Schritt thun, ohne vorher mit dem Fuße gefühlt zu haben. Das Meerleuchten täuschte nur, aber es half Nichts. Unzweifelhaft hätten wir die Nacht am Strande zubringen müssen, wären die andern Matrosen nicht klüger gewesen als meine Begleiter, welche jetzt ziemlich kleinlaut auf der Klippe hockten. Selbst mir war die Musik des Wogenschlages vollkommen gleichgültig oder unverständlich geworden; ich sehnte mich nunmehr so recht innig nach dem harten Lager auf der Barke.

Da zeigte sich von fern ein leuchtender Streifen auf den Wellen, beide Matrosen jauchzten auf. Ihre Gefährten hatten, wie sich später ergab, ihre Holzladung glücklich zum Boote gebracht, vergeblich uns erwartet und waren auf den schlauen Gedanken gekommen, die ganze Insel zu umfahren. Auf unser Rufen näherten sie sich uns, und ungeachtet der Brandung, welche das Einschiffen nicht gerade erleichterte, sprangen wir in das Boot, welches von den Leuten sogleich umgedreht und nach der ersten Landungsstelle zurückgebracht wurde. Wir fuhren ziemlich lange am Saume der Insel dahin, und ich erkannte jetzt erst, wie weit wir in den Wald hinein gekommen waren. Von dem Landungsplatze schimmerte das Feuer freundlich zu uns herüber. Nach wenigen Minuten lag ich, meine Pfeife schmauchend, auf meiner ungarischen Bunda, welche ich vorsorglich mit nach Afrika genommen hatte und später dort auch sehr gut brauchen konnte.





Die Todtenfeier eines deutschen Flüchtlings.

Von Hans Blum.[6]

Die zur Gerechtigkeit weisen, werden leuchten wie die
Sterne, immer und ewiglich. –

Jetzt, wo der ungeheuere Jubel des allgemeinen deutschen Schützenfestes zu Frankfurt verklungen und sich auf dem allgemein glänzenden Niveau jener Festestage einzelne Schattenstreifen deutlicher sondern, und wiederum einige Lichtstrahlen sich leuchtender wiederspiegeln, da wird es dem ruhigen Beobachter nicht schwer, den leuchtendsten unter den leuchtenden Strahlen zu finden. Es ist dies – man kann es unbeschadet der Liebe zu unsern Tyroler Brüdern offen bekennen – jener Strahl, der aus dem sonnigen Mittagshimmel schweizerischer Freiheit hineinfiel in unsere deutsche Morgendämmerung, es ist die herzinnige Freude, die der Schweizer und der Deutsche zu Frankfurt aneinander empfunden, die Freude zweier Brüder, die sich nach langer Schicksalstrennung wieder gefunden. Dieser Eine Moment ruht in seiner vollen Bedeutung und Inhaltsschwere noch im Schooße der Götter. Aber er ruht auch nur. Unsere Jugend, unsere Schützen, unsere Zeitungen und unsere ernsten nationalen Feste vor Allem werden ihn immer von Neuem erwecken und in den Vordergrund drängen, wie in jenen Tagen zu Frankfurt.

Giebt man dies zu – und wer sollte sich Herz und Sinn dagegen verschließen? – so werden selbst Diejenigen, die jene fröhlichen, großartigen Tage gesehen, nicht unwillig bei einer Feier verweilen, die diesen Gedanken der Verbrüderung Deutschlands mit der Schweiz so rein und edel gepredigt, wie kaum jene. Doch hüte man sich, den Maßstab des Frankfurter Festes auch nach andern Dimensionen hin an diese stille Feier zu legen. Eine einzige Ehrenpforte, ein schlichtes Ehrendenkmal und wenige frische Kränze an der Todesstätte eines theuren deutschen Mannes sind der ganze Ersatz eines großstädtischen Festschmucks. Wenige Hunderte: eine naturkräftige Dorfbevölkerung, eine Handvoll Sänger und Studenten, und an der Spitze Aller die geächteten Deutschen, wie sie das Schicksal über ganz Europa zerstreut, spielen hier die Rolle der prunkenden Gestalten und prunkenden Namen, wie sie sich vor wenig Monaten in Frankfurt zusammengehäuft. Fast scheint es eine Entweihung, jene friedliche Feier der großen geräuschvollen Welt zu verkünden. Am liebsten möchte man sie dem Herzensfreunde erzählen in einer stillen Stunde – oder dann einem Blatte, das ein lieber Freund ist an jedem Heerde. Warum also nicht der „Gartenlaube“?

Da, wo der Wallensee sich grundlos eingesenkt hat zum Fuße senkrechter Felsen, und nur hin und wieder einem Streifen fruchtbaren Bodens gestattet, heranzutreten an seine Wasser, hat sich auf einem dieser Seegelände das Dorf Murg erhoben. Hier gedeiht die zahme Kastanie im Freien, und der Wallnußbaum strotzt in üppiger Fülle; hier pflegte auch der deutsche Flüchtling Heinrich Simon am liebsten zu rasten von Arbeit und Mühe, und das traurige Loos der Verbannung zu vergessen – und hier ist er vor zwei Jahren beim Baden ertrunken im See, der seinen Körper nie zurückgegeben! Bald wurde die Klage der kleinen Gemeinde zu Murg, die er als Leiter ihres Kupferbergwerks glücklich gemacht und gesegnet hatte mit menschenfreundlichem Wohlthun, bald wurde sie übertönt durch die Klagen, die die eherne Zunge der Öffentlichkeit predigte im Lied und in gewaltiger Prosa, die selbst von jenseit des Oceans herüberschollen über sein allzufrühes Dahinscheiden. Aber unsere Zeit schreitet zu unbarmherzig schnell und verwischend einher, als daß ihr Geschlecht sich lange aufhalten ließe an der Trauerurne eines Mannes, und wäre es der beste und größte.

Nur eine kleine Anzahl von Männern war es, Freunde des Verblichenen in der Heimath und im Exil, die zusammentraten, [732] auf daß sein edler Name auf edlem Marmor eingegraben werde wo das Auge hinblicken kann auf die Stätte, da er für immer versunken. An der Spitze dieses Comités standen Jacoby von Königsberg, der berühmte Verfasser der „Vier Fragen“, welche dazu beitrugen, den März des Jahres 1848 zu dem März zu machen, der er geworden, Nauwerk, Köchly und Temme in Zürich und Andere, die mit Freuden zur Hand sind, wo es gilt ein Zeugniß abzulegen für die Ehre des deutschen Namens. Mit der Ausführung des Denkmals wurde ein Architekt betraut, der, kaum vom Polytechnicum zu Zürich abgegangen, dennoch durch seine ausgezeichneten Studien, die vortreffliche Zeichnung des Entwurfs und vor Allem durch die liebevolle Hingebung in dieser Sache hinreichende Bürgschaft dafür bot, daß sein Erstlingswerk gelingen werde. Es ist Luigi Chialiva, ein Bürger Italiens, doch geboren und aufgezogen in der Schweiz, da sein Vater der Verfolgungssucht und Kerkerhaft seiner großen österreichischen und kleinen einheimischen Tyrannen vor langen Jahren mit Mühe und Noth entronnen. Anfang September d. J. ward der Grundstein zum Denkmal gelegt auf einem Stücke Gemeindeboden von 40 Quadratruthen Umfang, das die Bewohner Murgs in dankbarer Erinnerung dem Bruder des Todten zu diesem Zweck geschenkt, der seinerseits diesen Raum dem Comité überlassen hatte. Als sich der Bau seiner Vollendung nahete, ward seine Einweihung auf Sonntag den 5. October festgesetzt, und freudig berief das Comité die Freunde und Gesinnungsgenossen Heinrich Simon’s aus diesen Tag nach Murg, dem großen Patrioten die letzte Ehre zu erweisen.

Ich traf am 4. October gegen Abend ein. Der Neffe Simon’s, der seinen Namen trägt, an Wuchs und Erscheinung das lebendige Ebenbild seines Onkels, führte mich in das Wirthshaus zum „Kreuz“, wo der Gemeindepräsident Gmür wirthet, und sich die Verwandten Simon’s, seine Schwester, Frau Gärtner, mit Sohn und Tochter, Dr. Borchardt aus Manchester mit seiner Tochter, Chialiva, mein alter Pensionsgefährte, Dr. Hilty aus Chur, der Anwalt des Denkmals, und vor Allem auch Johann Jacoby aus Königsberg bereits eingefunden hatten. „Ihr Vater würde auch gekommen sein, wenn er noch lebte,“ sagte mir Jacoby, herzlich die Hand drückend. Dann schritten wir unter der einzigen Ehrenpforte hindurch, die, mit einfachen Tannenreisern, Laubkränzen und schwarz-roth-goldenen Schleifen bekleidet, über der Mitte die Worte verkündete, die Verfasser an die Spitze dieser Zeilen gestellt. Der Pfad zum Denkmal führte steil bergan. Jetzt trat uns dies selbst vor Augen, malerisch an eine vom Wallensee bespülte Bergwand gelehnt (Vergl. die Abbildung). In rein griechischem Styl erhebt sich in der Mitte ein schlanker Tempelporticus, auf dessen Giebelfelde in goldenen Lettern Simon’s Wahlspruch eingegraben steht: Virtuti. Zwei schlanke ionische Sänken fassen die schwarze Marmortafel ein, welche als Blende den Porticus schließt. Sie zeigt an ihrem obern Ende, in der Hinterwand eingelassen, das in einem Medaillon von weißem Marmor gemeißelte Hautrelief des Verewigten aus der Hand des Bildhauers Kaiser in Zürich. Darunter stehen auf der Tafel die Worte: „Den Manen Heinrich Simon’s gewidmet von seinen Freunden und Gesinnungsgenossen.“ Zu beiden Seiten des Tempels zieht sich eine offene und mit steinernen Ruhebänken versehene Veranda hin, mit zwei in die Hinterwand eingefügten oblongen Votivtafeln, ebenfalls aus schwarzem Marmor, deren Inschriften von Johann Jacoby herrühren. Die Tafel des rechten Flügels enthält die Worte: „Er kämpfte für das Recht des deutschen Volkes und starb im Exil“; die auf der andern Seite: „Der Leib ruht in der Tiefe des Wallensees; sein Andenken aber lebt im Herzen des Volkes.“ Schmucklose Eichenkränze und Tannenreis zierten Relief und Porticus, und lebendiges Grün war der Veranda entlang gezogen. So war Alles bereit für die kommenden Morgenstunden, wo diese Stätte der Mit- und Nachwelt, der Schweiz und Deutschland übergeben werden sollte.

Seit einer Woche war der Festsonntag der erste, der statt eines regnerisch dunstigen Herbsthimmels die Sonne wieder wolkenlos heraufführte. Im bläulichen Duft thürmten sich die sieben Firnen der Churfürsten zum Himmel, leichte Morgennebel sandte opfernd der tiefblaue See empor, als ob er niemals noch mit wildem Tosen den Frieden seiner Umgebung gestört, und darein klangen die Frühglocken der Gemeine. Da braust der Zug heran. Ihm entstiegen die wackern Handwerkerbildungsvereine von Zürich, Glarus und Schwanden mit drei deutschen Fahnen; die deutsche Polytechnikerverbindung Teutonia von Zürich mit einer dritten großen schwarz-roth-goldenen Fahne aus schwerem Sammt; die Harmonie aus Zürich, 40 Mann stark, der berühmteste Männergesangverein der Schweiz; und mit ihnen eine Reihe von Männern, deren Namen für sich selbst sprechen. Da war fernher aus Paris Bamberger erschienen, und Ludwig Simon, dem die Thränen in die Augen stürzten, als er zum ersten Male seit acht Jahren wieder die geliebten Farben vor sich wehen sah. Da kam Moritz Hartmann aus Genf mit seinem Schwiegervater Rödiger, die Züricher Nauwerk, die beiden Wislicenus, Berlepsch, Temme, dann Marschall und Peter von Constanz. Born und Meyer, der Flüchtlingsvater vom Jura, und endlich die Schweizer Gottfried Keller und Prof. Vögeli von Zürich und Oberst und Nationalrath Bernold aus St. Gallen.

Um 11 Uhr Morgens sammelte sich der Festzug. Voran schritten die Teutonen und Handwerker mit ihren Fahnen, die an und über dem Denkmal befestigt wurden. Dann folgte die Harmonie. Ihr reihten sich die Verwandten des Gefeierten an, und die Festredner Jacoby, Präsident Gmür und Moritz Hartmann eröffneten die Reihe der Freunde und Gesinnungsgenossen, die den Zug schlossen. Jetzt hatte sich nach den ersten erhebenden Gesängen eine andächtige Stille um die Versammlung am Denkmal gelagert, und in scheuer Zurückhaltung standen die Einwohner von Murg ringsum auf höher liegenden Punkten des Gebirges, als Johann Jacoby die Stufen des Denkmals hinanstieg und mit seiner männlichen, weithin vernehmbaren Stimme also begann:[7]

„Freunde und Genossen, deutsche Brüder und Männer des Schweizerlandes! Vollendet ist das Denkmal, zu dessen Weihefeier wir hier versammelt sind. Dem Andenken Heinrich Simon’s gewidmet, soll es zugleich Zeugniß geben kommenden Geschlechtern von den Kämpfen unserer Zeit, deren Früchte sie einst genießen werden. Welchen Antheil Heinrich Simon an diesen Kämpfen genommen, wie er im Vordertreffen stets als Mann des Volkes, als unerschütterlicher Hort des Rechts und der Freiheit sich bewährt hat, wird ein beredterer Mund als der meine Ihnen heute zu schildern versuchen. Meinem Herzen stand der Dahingeschiedene zu nahe, als daß ich ein Recht dazu hätte, sein Lobredner zu sein. Wohl aber liegt mir eine andere Pflicht ob, und ich erfülle sie mit Wehmuth zugleich und mit Freude. An Euch, Ihr Männer der Schweiz, richtet sich mein Wort. Im Namen des geliebten, nun für immer verstummten Freundes sage ich Dank, aus Herzensgründe Dank für die ehrende Anerkennung, für all das Gute und Liebe, was Ihr dem Freunde im Leben und nach seinem Tode erwiesen …“ Die Ehrfurcht vor unserer deutschen Preßfreiheit gestattet uns nicht, den vollen Inhalt von Jacoby’s Rede mitzutheilen. – Er fuhr also fort:

„Hier bot eine großartige Natur seinem für alles Edle und Schöne so empfänglichen Gemüthe reiche Befriedigung. Hier athmete in vollen Zügen seine Brust die reine Luft der Freiheit, die er so lange schmerzlich vermißt, so lange vergeblich erstrebt hatte. Doch nicht etwa das persönliche Wohlbehagen war es, was die neue Heimath ihm werth und theuer machte. In dem Lande der Telle und Winkelriede, da erkannte, da erlebte er bereits in voranschauendem Geiste die Zukunft, die staatliche Zukunft, den heranbrechenden Freiheitstag seines eigenen Vaterlandes. Uns so auch endete er. Angesichts dieser hohen, mächtigen Alpenriesen, die kühn und frei ihr Haupt in den Himmel erheben, starb er, voll Jugendmuth, voll Jugendhoffnung, und wie er selbst wenige Tage vor seinem Tode aussprach: „den Sieg im Herzen.“ Das Herz aber täuscht den Menschen nimmer … (Auch hier eine Lücke der Ehrfurcht.) Nachdem dann der Redner die Schenkungsurkunde, die in würdiger feierlicher Sprache die Entstehung des Denkmals enthält, verlesen, fuhr er also fort:

„Ihnen, verehrter Herr Präsident, als dem Vertreter der Gemeinde Murg, übergebe ich jetzt diese Urkunde. Möge unter dem Schutze Ihrer Gemeinde, unter Ihrer Fürsorge das Denkmal fort und fort von Geschlecht zu Geschlecht erhalten werden; möge es den spätesten Nachkommen das Andenken Heinrich Simon’s, des begeisterten Freiheitskämpfers, erwecken! Der Himmel gebe Murg, der ganzen Schweiz und dem ganzen theuern deutschen Vaterlande seinen Segen für und für!“

Der Eindruck dieser wenigen Worte war zu tief und gewaltig, als daß sich äußere Zeichen des Beifalls aus der Brust des

[733]

Heinrich Simon’s Denkmal am Wallensee.
Nach der Natur aufgenommen von Hans Blum.

[734] Zuhörerkreises hätten losringen können. Noch schüttelten die Nächststehenden Jacoby tiefgerührt die Hände, als Präsident Gmür, eine bejahrte, aber ungebeugte hohe Gestalt, hervortrat und mit sichtbarer Bewegung folgende schlichte Worte sprach: „Ich bin, wie Sie mir glauben werden, nicht vorbereitet und auch nicht gewandt zum öffentlichen Sprechen. Nur einfach erkläre ich, daß das, was die Schrift und der Vertrag enthaltet, mit aller Bereitwilligkeit eingehalten werden soll und die Gemeinde Murg dieses Denkmals Hüter sein wird. In allem andern bitte ich, daß man bereitwillig nur die große Liebe und Verehrung für den Seligen statt aller fernern Worte von mir und uns annehme.“

Laute Beifallsrufe begleiteten die Worte des wackern Mannes, und ein vaterländisches Lied entstieg den geübten Stimmen der Harmonie. Dann begann Moritz Hartmann seine Festrede:

„Bürger! deutsche und Schweizerbrüder! Wo die Vorväter einen Bund schlossen, da richteten sie einen Altar, und „das Buch“ vergißt es nicht, Bund und Altar zu erwähnen. Wo sie Brunnen gruben am Wege und in der Wüste zur Labung des Wanderers, des Pilgrims, auch da vergißt das Buch nicht es zu erwähnen, und sie benennen nach diesen Brunnen die Geschichte der Städte und Länder. Mit diesem Denkmal der menschlichen Bünde der Liebe und Milde hat dieses Denkmal, das wir heute hier errichten, mehr Aehnliches, als mit den Denkmälern der Eitelkeit, der Herrschsucht. Es ist ein stilles Denkmal der erfüllten Pflicht. Es ist ein Denkmal der Milde und Liebe. Der Ruhm Heinrich Simon’s klingt nicht laut wie Kanonendonner und wie das Brechen geschworner Eide (Beifall) oder wie Ambos und Hammer beim Kettenschmieden. (Lauter Beifall.) Es ist ein stiller Ruhm wie ein gutes Gewissen; und ein unbeweglicher Ruhm ist wie das Recht selbst, und demgemäß liegt dieses Monument hier hinter unnahbaren Bergen in unentweihtem Boden, gerade wie das unnahbare Bewußtsein, wie das unangreifbare Gewissen!

Als er für die Unabhängigkeit des Rechtes, für das Recht des preußischen Volkes überhaupt aufgetreten war – damals brachte ihm eine Zahl von Freunden und Gleichgesinnten einen Pokal dar, mit der Inschrift: „Virtuti“. Dieses wurde das Symbol seines Lebens. Sein Lebensbrod und Kelch trug diese Inschrift, worin er mit der ganzen Welt communicirte. Virtuti steht hier in seinem Monumente, das einzige, vielbedeutende Wort: die Mannhaftigkeit, die Tapferkeit, die Tugend. Er dachte, er beschloß wie ein Mann; er kämpfte mit Tapferkeit für das, was er als Recht erkannt und beschlossen hatte; und fleckenlos ging seine Tugend aus dem Kampfe hervor. Dieses Eine Wort ist sein ganzen Leben, sein ganzes Leben diese einzige Thatsache, daß er im Exil gestorben, und diese einfachen Worte sind nur ein kürzerer Commentar zu der ganzen Geschichte, die das Eine Wort Virtus erzählt.

Soll ich Ihnen das Leben, das Ihnen Allen bekannt ist, noch einmal erzählen? Ja, denn es ist ein Spiegel des Schönsten und Besten im deutschen Volke; denn sein Leben ist ein Sammelpunkt aller jener edlen Strömungen, die in der deutschen Nation über die Katarakte der deutschen Geschichte zusammenströmen. Es ist jener Thautropfen, in dem sich die ganze Sonne spiegelt; sein Leben jene klare Atmosphäre der Höhen, durch die wir in die ferne Zukunft blicken. Sein Leben für das öffentliche Wohl begann naturgemäß zu dem Zeitpunkt, wo in seinem Vaterlande die Liebe für das Abgestorbene und Dahingeschiedene den Thron bestiegen.[8] Die Liebe für die Zukunft mußte in diesem Zeitpunkt auftreten, wie das Heilmittel und das Gift eng bei einander sproßt in der großen Natur. Er trat zuerst für Religionsfreiheit auf, und als man dem preußischen Volke das Einzige nehmen wollte, die Unabhängigkeit des Richters, d. h. die Unabhängigkeit des Rechtes selbst, trat er gegen diesen fürchterlich drohenden Gewaltstreich auf. Seine größte That aber war es, als er zum dritten Mal auftrat, da man dem deutschen Volk anstatt des Brodes einen Stein, anstatt des Weines Essig, und anstatt der Wahrheit Heuchelei bieten wollte, als das sogenannte Februarpatent veröffentlicht wurde. Wie freute sich ein Theil der deutschen Nation, sich mit dem Scheine begnügen zu können; wie froh war man, nicht kämpfen zu müssen, da Einem nicht ein Papier geboten werden sollte, und doch nichts Anderes es war, als ein Papier! Er aber rief im entscheidenden Momente: „Annehmen oder Ablehnen?“ und er selbst gab die Entscheidung zu Letztem.

Von diesem Augenblicke an stand Heinrich Simon überall in den ersten Reihen der Kämpfer für das Recht des Einzelnen, wie für das Recht des Staates. Ihn schickte deshalb seine Vaterstadt an Friedrich Wilhelm IV., als sie wollte, daß ein Mann vor einem Thron spreche, ihn schickte das Vertrauen seiner Mitbürger und Gesinnungsgenossen in das Vorparlament, das Vertrauen dieser Männer in den Fünfzigerausschuß und das Vertrauen des ganzen Volkes in das deutsche Parlament zu Frankfurt. Sie kennen seine Stellung hier, und Viele von Ihnen als Augenzeugen.

Sie wissen, mit welcher Achtung, ja mit welcher Ehrfurcht man horchte, wenn Er sprach. Sie wissen, daß er Einer der Wenigen war, die die Parteienwuth selbst nicht mit der Verleumdung, die doch alle Welt angriff, anzugreifen wagte. Man wußte zu gut, daß die deutsche Nation es wisse, wie Heinrich Simon sein Auge und Herz nur dem Einen Ziele zugewandt habe: der Größe, der Freiheit seines Vaterlandes. Sehr bezeichnend ist es, daß seine Stellung ursprünglich eine vermittelnde war, daß er sich aber der kämpfenden und thätigen Partei mehr und mehr näherte, je größer die Gefahr für das Recht und die Freiheit ward, und Jeder, der ihn kannte, konnte es voraussagen, daß er auch beim letzten Häuflein stehen würde. So war es auch. Er stand mit den Letzten; und als das Lager der Freiheit gänzlich versprengt wurde, war er es, auf den zuletzt noch das kleine Häuflein die Blicke richtete, war er es, der sich in die vordersten Reihen stellte, als Führer dieses Häufleins. Auch auf diesem Posten harrte er bis zum letzten Augenblicke aus, denn das Ausharren war es, was ihn auszeichnete. Schritt für Schritt, und Fußbreit für Fußbreit kämpfte er für das Recht, bis er mit dem letzten Schritte das Land des Exils betrat. –

Auch hier hörte seine Wirksamkeit nicht auf. Wir wollen bei diesem Lobe nicht verweilen; wir wissen, daß er sein Brod mit seinen Gesinnungs- und Leidensgenossen theilte. Ein großer Verwandter seines Geistes, der große Ghibelline, der in der Verbannung die Hölle malte, schildert sein eigenes Elend in den Worten: „Mit allen Unglücklichen empfinde ich Mitleid, aber das größte Unglück mit den Unglücklichen, denen es nur im Traum vergönnt ist, ihr Vaterland zu sehen.“ –

Doch sollen wir über das Exil sprechen? Nein, es hieße den Triumph unsrer Feinde vergrößern. Vergessen wir nur nicht, was er opferte! Seine Stellung, in der er von der Achtung der Besten umgeben war; eine Familie, eine seelenadlige Familie, deren Blüthe er war, in der sich die schönsten und besten Eigenschaften dieser Familie vereinigten, die ihm mit Stolz und Sehnsucht nachsah, wie einer Mutter und einem Vater, der ihr jene Wege des Rechtes und der Tugend gelehrt hatte zu wandeln; und ein Vaterland, das ihm um so werther war, je mehr er ihm Opfer brachte.

Dürfen wir aber von Heinrich Simon und seinem Exile sprechen, ohne des Landes zu gedenken, das ihn gastlich und edel aufnahm?

Dieser Freistaat, dieser edle Freistaat aller freien Gedanken aller Welt! Wohin wir sehen, an allen Seen liegen sie, die Märtyrer aller Nationen; die Märtyrer für den Glauben, die Italien, Frankreich und selbst Spanien hergesandt hat; die Märtyrer der Könige – und endlich haben wir hier in nächster Nähe einen Märtyrer, Ullrich Hutten, den würdigen Vorläufer Heinrich Simon’s. Gesegnet sei dieses Land, das so vielen Kämpfern für ihre Ueberzeugung eine Freistatt gewährt hat, dessen Freiheit das Dach war für so viele Obdachlose, und Sie Alle, die Sie hier sind, Nichtschweizer, Sie werden in diesen Segen mit voller Herzlichkeit einstimmen, wie Sie Alle, Schweizer! (Anhaltender Beifall.)

Aber, meine Herren, selbst durch die Gegenwart dieses Grabes seien wir nicht betrübt! Wir feiern kein Todtenfest, wir feiern ein Fest der Heiterkeit. Wir haben ein Recht, mit Heiterkeit auf einen Menschen und ein Leben zurückzublicken, das von der Heiterkeit erfüllter Pflicht getragen war. Mit Uebereinstimmung des Wesens Heinrich Simon’s hat der Künstler jene rein griechischen Formen gewählt, die dem freien Staate und der schönen Lebenslust voll sich geweiht hatten. Heinrich Simon’s Leben war ein eng in sich abgeschlossnes Kunstwerk, und er selbst ein schönes Menschenbild, und er starb, wie Einer, den die Götter lieben, in der Fülle des Lebens, wie Einer, der ewige Jugend in sich fühlt. Warum sollten wir traurig sein? Modell der Bürger, die wir erwarten, derjenigen Bürger Beispiel, deren Mitbürger er war – feiern wir ihn nicht besser als mit jener heitern Hoffnung, die ihn beseelte, wenn wir damit in die Zukunft sehen, und ihr festvertrauend mit dem Rufe endigen: Es lebe dieses edle und [735] gastliche Land, die Schweiz, das theure Vaterland Deutschland, es lebe allwaltend die Freiheit!“

So laut auch das dreifache Hoch wiederhallte aus den Herzen der Menschen und Berge, als Hartmann diese Worte gesprochen, so herzlich auch die Harmonie einfiel mit ihren kräftigen Stimmen, ein merkwürdiges Gefühl blieb über der Versammlung schweben, sie fesselnd und sie niederdrückend. Keiner gestand es in diesem Augenblicke; Alle später; Keiner konnte sich selbst eine Erklärung desselben verschaffen, und doch haftete eines Jeden Fuß jetzt noch an der geweihten Stätte, als nehme der Geist dieser Berge ihn gefangen, bis er seine Söhne und die Fremdlinge, die ihn hier heraufbeschworen, angeredet mit Worten des Scheidens. Und siehe da, dieser Geist fuhr in die Gestalt des Herrn Bernold, Mitglied des Nationalraths und Oberst aus St. Gallen, der tiefbewegt von den Stufen des Denkmals herab also redete:

„Meine Freunde! Es will mich bedünken, daß wir nicht scheiden dürfen, nicht scheiden dürfen, bevor ein Schweizer sein volles Herz ausgeschüttet hätte. (Allgemeiner Beifall.) Ich stehe vor dem Denkmal eines echten Deutschen. Ich sage Ihnen, daß ich tief ergriffen bin, denn auch wir Schweizer sind Deutsche! (Lautes, stürmisches Bravo.) Wir sprechen deutsch, fühlen deutsch und haben in Deutschland unser Tiefstes und Höchstes geholt: unsere Bildung und Begeisterung für alles Hohe. Denn wenn wir Schweizer uns begeistern wollen, so müssen wir hinanschauen auf die deutsche Größe. Bekennen wir das offen, denn das hat nichts gemein – leider nichts gemein mit der andern Stellung, die Deutschland politisch einnimmt. Das ist leider etwas Anderes, und wir müssen uns wundern, daß ein solcher Geist, ein solcher Charakter, ein solcher Muth nichts Anderes zuwege gebracht hat, als wie es in Deutschland jetzt steht. Diese großen Errungenschaften im Geiste, und diese kleinen im politischen Volksinteresse, wie erklären wir uns das? Da steht Einem, wie man zu sagen pflegt, der Verstand still! Ich kann das Räthsel nicht lösen. – –

Verzeihen Sie diese kurze Abschweifung, aber ich mußte das sagen an dem Denkmal des Mannes, der uns hierher geführt hat mit seinem Geist und seinem Ruhm in den Dingen, die man jetzt anstrebt in Deutschland. Ja, wir geben uns heute das Wort (und als Schweizer spreche ich das aus), wir geben uns heute das Wort, dieses Denkmal treu zu wahren, diesem Denkmal unsere wärmsten Gesinnungen zu weihen und vor diesem Denkmal nicht vorüberzugehen, ohne den Weihegedanken eines edlen patriotischen Herzens. Hier gehen wir vorüber wie an den Thermopylen (stürmischer, fortdauernder Beifall), wo auf dem Denkmal auch stand: „Hier sage, Wanderer, dem Vaterlande, hier starben wir der Pflicht getreu!“ (Laute Bravos.) Und wenn wir hier vorübergehen, sagen wir Wanderer dem Vaterlande: Hier ist das Denkmal einem deutschen Manne geweiht. Thut Seinesgleichen; und wenn wir Seinesgleichen thun, dann wird und muß es anders werden! Er war leider allein, oder nicht Viele mit ihm, aber der Geist, der in Deutschland lebt, muß durchdringen trotz aller Cabale und Heuchelei, wie sie heute so treffend geschildert wurde.

Ja, meine Freunde, ich muß es sagen, auch ich war in Arkadien, auch ich war im Teutoburger Dynastenwalde, wo kein Hermann mehr war – ein paar Jahre. Und ich darf es sagen, daß ich meine Richtung in Deutschland geholt. Die schönsten Erinnerungen richten sich dahin, wo ich meine Jugendjahre verlebt habe mit den deutschen Herzen. Ich darf es frei und offen sagen, denn da war es noch eine Zeit, wo man hoffen durfte, in den 30er Jahren, kurz nach dem Sturm vom Juli. Und hier durften wir einander damals schon sagen: Es giebt ein deutsches Reich, ein großes deutsches Volk; und wir, damals ein Herz und eine Hand, erlabten uns an dem Gedanken eines großen deutschen Volkes, das die Knechtschaft abwirft, und umfaßt uns Deutsche Alle, Deutsche und – Schweizer. (Lauter Beifall.) Kein Land, keine Grenze, keine Confession, keine Scheide zog sich unter uns! Wir waren Brüder in der bekannten Burschenschaft! (Stürmisches Bravo.)

Meine Freunde! ich sage es nochmals, ich bin hierher gezwungen worden durch den innersten Trieb meiner Seele, Ihnen dies zu sagen, und Ihnen zu sagen, meine Schweizer Freunde, zu gedenken und zu thun, wie dieser Mann Ihrer gedacht und Ihnen gethan hat. Und daß wir schützen die heilige Stätte eines Patrioten im Exil, das geloben wir Ihnen!“

Während Alle dem wackern Oberst zuerst in donnerndem Applaus und dann in kräftigem Händeschütteln ihren Beifall bezeugten. Deutsche und Schweizer, hatte die Harmonie in glücklichster Wahl ihr letztes Lied an der Feststätte begonnen: „Die Wacht am Rhein.“ Sodann begab sich der Zug in umgekehrter Ordnung nach Murg zurück.

So viel Gäste hat wohl das Kreuz in Murg nie gesehen, wie an jenem Nachmittage des 5. October, als die geräumigen Localitäten des Hauses nicht zulangen wollten, um an einer Tafel die Verehrer Heinrich Simon’s zu versammeln zu einem heitern Mittagsmahle. So endete denn die Feier, wie sie begonnen, unter Gottes schönem Dom, und was hier gesprochen wurde, erhob sich, wie am Morgen, frei zum Himmel. Hinter dem Hause, der Eisenbahn zu, liegt ein kleiner Wiesenplan. Da reihte sich nun Tisch an Tisch und Bank an Sessel, die manches freundliche Nachbarhaus geliefert, als des Kreuzes fahrende Habe nicht mehr zureichte. So sehr aber auch Präsident Gmür’s wirthlicher Scharfblick bewundert wurde, da unter seinen Anordnungen der beschränkte Raum zu gewinnen schien an Länge und Breite – die braven Handwerker fanden keinen Platz mehr, ja sie suchten keinen zu finden, denn ehe man sich’s versah, waren sie vorübergezogen unter Sang und Klang in einen benachbarten Gasthof.

Beim Kreuz auf der Wiese ging’s unterdessen bunt genug zu, ehe Jeder sein Plätzchen erobert. Allein als dies geschehen und Schüsseln und Flaschen anfingen zu kreisen, herrschte die vollkommenste Ordnung ohne unsere deutsche Angewohnheit eines Tischpräsidiums. Frei nach Schweizersitte erhob sich Jeder an seinem Platze, der zu sprechen wünschte, und Alle hörten andächtig zu, und dazwischen füllte die unermüdliche Harmonie die Pausen mit einem kräftigen Liede. Und doch stand ganz Murg zwei Schritte blos von den Tafelnden, durch nichts geschieden, als durch einen leichten hölzernen Zaun, den jeder laute Toast in seinen Grundvesten erschütterte, und doch waren dies einfache Bauern und keine Polizei unter ihnen, und neben ihnen speisten manche der höchsten Würdenträger ihres Volkes. Deutscher Tafelbesucher, was meinst Du zu dieser Anarchie?! O wenn die Männer der Kreuzzeitung jene Liste gesehen hätten, wo sich die Männer und Frauen des 5. October zu Murg einzeichneten als Gäste des Festes – welche Fülle von gefährlichem Deutschland und anarchischer Schweiz würden sie darauf entdecken!

Diese Liste kreiste noch, als sich der junge Dr. Hilty aus Chur erhob, und den ersten Toast im Namen der Verwandten Simon’s dem Comité, Luigi Chialiva und Jacoby ausbrachte.

Jacoby erwähnte darauf das alte prophetische Wort: daß der Brocken einst mitten in der Schweiz stehen werde. Dies Wort könne sich bewahrheiten durch den Bruderbund der Schweiz mit Deutschland, und diesem gelte sein Hoch.

Mit diesen Worten war dem gesammten Zuhörerkreise wieder jene peinliche Wahrheit des Oberst Bernold nahe gerückt worden, daß das Mißverhältniß zwischen der geistigen Blüthe und der politischen Nacht Deutschlands den „Verstand stille stehen“ mache. Prof. Vögeli aus Zürich that den ersten Schritt zur Lösung des Räthsels. Er führte aus, wie sich nach der Durchbildung der Völkerindividualität der Deutschen Schweizer und Deutsche brüderlich lieben müßten. „Und dieser Ausbildung der großen germanischen Nation,“ schloß er, „die aber in der großen europäischen Völkerfamilie auch nur ein Stamm ist – der bringe ich mein Lebehoch an dem heutigen Tage.“

Der zweite Redner, der in die von Bernold angeregte Frage eintrat, war Bamberger aus Paris. Leider verstattet es uns der Raum nicht, diese vortrefflichen Worte in ihrer vollen Ausdehnung zu geben. Bamberger führte das heutige politische Elend Deutschlands auf jene Zeiten zurück, wo zahllose Kriege scheinbar religiösen Ursprungs in dem 30jährigen Kriege ihr letztes tragisches Nachspiel fanden, aus deren Zerrüttung es sich heutzutage noch nicht völlig erholt. Und daran schloß er Worte über die Stellung des Exilirten zum Vaterlande und dessen idealen Bestrebungen, die diejenigen hätten vernehmen sollen, welche in der Sprache des Exilirten blos eine Summe von Entstellungen und Bitterkeiten finden. Dann schloß er: „Und Sie, theure Bruder, denen es vergönnt ist, in das Vaterland zurückzukehren, bringen Sie ihm unsere Grüße; sagen Sie, daß wir im Auslande treulich aushalten. [736] Bringen Sie ihnen aber vor Allem Grüße des edlen Todten; sagen Sie ihnen, daß sicherlich sein letzter Gedanke das Beste des deutschen Vaterlandes besorgte, und sagen Sie ihnen, daß ihm ein anderes Denkmal folgt in Breslau auf dem Markte, und ein anderes in der Brigittenau zu Wien und an den Richtstätten von Rastatt und Mannheim.“

Freudig fiel in diese Worte der Jubel der Versammlung ein, freudig erklärte Oberst Bernold in längerer Rede, „daß ihm der Verstand nicht mehr still stehe, wenn man sich so unterhalte,“ und feierte diesen Tag als den „Grütlibund Deutschlands in der Schweiz“, dessen Bestrebungen zur freisinnigen Fortentwicklung Deutschlands er sein Hoch brachte.

Ludwig Simon aus Paris schloß sich ihm an mit den Worten: „Ich möchte trinken auf das Wohl des Joseph Garibaldi, der in diesem Augenblicke darniederliegt an den Wunden, die er empfangen für das Wohl seines Vaterlandes, dessen Schicksal so eng verknüpft ist mit der Unabhängigkeit Deutschlands und aller andern Nationen! Ich möchte trinken auf das Wohl des Mannes, der das, was wir Deutsche in zu geringem Maße besitzen, für den Augenblick vielleicht in zu hohem Maße besessen hat. – Aber jede gute Sache muß ihre Märtyrer haben, die zu früh kommen, während Andere noch schlafen. Und gerade in ihrer getadelten Kurzsichtigkeit, d. h. in demselben edeln Rausche, womit sie die Schwierigkeiten der Gegenwart übersehen, darin liegt die Kraft, welche befruchtend auf die Zukunft wirkt. Ein Hoch denn dem Manne der That, ein Hoch Joseph Garibaldi, ein Hoch dem Helden von Aspromonte!“

Die Reihe von glänzenden Toasten und glänzenden Namen, die sich bisher hatten vernehmen lassen, wurde plötzlich unterbrochen durch eine schlichte Erscheinung, die aber gerade durch ihre natürliche Einfachheit des Gefühls eine Wirkung hervorbrachte, um den mancher Kammerredner den braven Redwisch, Präsidenten der anwesenden Arbeitervereine, beneidet hätte. Er ließ die schwarz-roth-goldenen Farben leben. Manches treffende Wort von Jacoby, Prof. Vögeli, Dr. Borchheim, Peter von Constanz und Anderen muß ich unterdrücken, um zum Schlusse zu eilen. Die Reihe der Toaste schloß mit dem dritten Hoch auf die Schweiz, das Meyer von Eßlingen anstimmte.

Während sich der Jubel, den die letzten Worte hervorriefen, noch lange verbrüdernd weiter pflanzte unter die Gäste der Kreuzwiese, folgte eine größere Anzahl derselben den Schritten Jacoby’s, Ludwig und Heinrich Simon’s, Bamberger’s u. A., die dem Orte zueilten, wo sich die braven Handwerker zum letzten Abschiedstrunke versammelt hatten. Ludwig Simon redete sie hier an mit seinem ganzen edlen Feuer und seiner hinreißenden Herzlichkeit. Dort sprach er zu ihnen etwa Folgendes: Er sei durch die Revolution um seine ganze materielle Existenz gekommen, habe Krankheit, Mangel und Elend reichlich durchgemacht und dann, nachdem alle seine Bestrebungen zur Fortsetzung seiner frühern Lebensbahn gescheitert, vor nun etwa acht Jahren als Commis in Paris einen neuen Lebensweg betreten. Er habe mit dem Copiren von Wechseln und anderen kleinen Arbeiten begonnen, sei mittellos gewesen, habe Nichts als seine Arbeitskraft gehabt und sich mit dieser durch Ausdauer allmählich eine Vertrauensstellung in einem angesehenen Pariser Bankgeschäfte errungen. Er fühle sich daher unter den Arbeitern als ein Gleicher unter Gleichen, auch er sei ein einfacher Arbeiter und stolz auf diese Eigenschaft. Viele Hindernisse seien wegzuräumen, welche der Arbeiterkraft entgegenstehen. Aber die Hauptsache sei doch die aus der Tiefe ausdauernd geübte Kraft des Einzelnen. Das wahre gesunde Wohl könne dem freien Manne nicht von oben geschenkt werden; das müsse schließlich immer auf der eigenen Kraft ruhen. Hindernisse seien wegzuräumen; wo die Kraft des Einzelnen nicht ausreiche, sei der Hebel der Association anzusetzen. Er schloß mit einem Hoch auf die deutschen Arbeiter, worauf Viele ihm die Hand schüttelten und Einer für Alle sagte: Wo sie solche Vorbilder hätten, wie so viele der hier erschienenen Männer, da könne es nicht fehlen.

Ihr Präsident sammelte dann seine Schaaren zum Aufbruch, die wieder unter ihren deutschen flatternden Fahnen dahin zogen zum Bahnhof unter den Klängen Mozart’s: „Brüder, reicht die Hand zum Bunde.“

Mit fröhlichem Hurrah nahm sie der Bahnzug auf, in dichten Massen drängten sich die Zurückbleibenden an die Wagen, ihnen zum letzten Male die Hände zu schütteln, und noch lange flatterten aus den Fenstern ihre schwarz-roth-goldenen Fahnen.


Blätter und Blüthen.

Wohlgeboren und Hochwohlgeboren. Es giebt, wie sich gewiß nicht leugnen läßt, außerordentlich viel Unsinn in unseren lieben deutschen Landen, aber blühenderen kaum als in den beiden Wörtchen „Wohlgeboren“ und „Hochwohlgeboren“. Wenn es überhaupt möglich wäre, einem Indianer oder sonstigen Naturkind den Sinn der beiden Worte begreiflich zu machen (denn bei uns begreift ihn nicht einmal ein Professor), er würde sich todt darüber lachen, und doch schreiben sonst noch ganz vernünftige Menschen oben groß und breit auf die Adressen der Briefe, die sie abgeben und vielleicht selber sogar auf die Post tragen, „Sr. Wohlgeboren“ oder „Sr. Hochwohlgeboren“, je nachdem der Adressat das Unglück hat ein Bürgerlicher oder das Glück ein Adeliger zu sein, ja, das Bürgerthum schützt zuweilen nicht einmal vor dem Hoch. Und weshalb? Es ist einmal so Sitte – der oder jener, oder die oder jene würde es übelnehmen – das dürfte man ja gar nicht etc. etc.

„Es ist einmal so Sitte!“ Ei, zum Henker, es war auch früher einmal in den Städten Sitte, die Juden in besondere Straßen abzusperren und Nachts einzuschließen, und bei den Rittern, auf Landstraßen den Fuhrleuten aufzupassen. Das kam ebenfalls ab, weil es nicht mehr zeitgemäß war, aber das Wohlgeboren und Hochwohlgeboren blieb und amüsirt jetzt nur die europäischen Nachbarstaaten, die sich darüber, wie überhaupt über unsere tolle Titelwuth, lustig machen.

Ob Jemand „Wohlgeboren“ sei, kann nur die eigene Mutter wissen, und selbst die weiß nicht einmal, was ein Commerzienrath oder Commissionsrath, und noch viel weniger, was eine Commerzienräthin oder Commisionsräthin ist. Aber Spaß bei Seite; es wäre wahrlich an der Zeit, daß wir diesen Unsinn aufgäben, denn wenn mir Jemand sagt, der oder die nimmt es mir übel, wenn ich nicht so schreibe, so ist das nur eine Faxe mit der anderen verdeckt. Ich z. B, schreibe schon so lange, wie ich vernünftig denken kann, an keinen Menschen mehr Wohlgeboren oder Hochwohlgeboren (außerdem ich bin auf Jemanden wüthend und will doch die Grenzen der Höflichkeit nicht überschreiten), und wenn das Jemand übelnehmen sollte, so braucht uns auch wahrlich nichts an seiner Meinung zu liegen. Warum sollen wir überhaupt anders schreiben, als wir sprechen? und wie würde man über Jemanden lachen, der einen Anderen mit Euer Wohlgeboren anredete!

Ein eben solcher Mißbrauch wird mit dem Schluß eines Briefes getrieben, wo der „gehorsamste Diener“ eine hervorragende Stellung einnimmt. Wenn das ein wirklicher Diener an seinen Herrn schreibt, so habe ich nichts dagegen, wenn sich aber gleichstehende Leute also tituliren, so ist es weiter nichts, als eine einfache Lüge, zu der sich sonst vielleicht ganz ehrenwerthe Menschen, die nichts so sehr Verabscheuen als eine Lüge, aus alter Gewohnheit hinreißen lassen. – So seid doch ehrlich! Es giebt nichts Schrecklicheres als einen Brief mit obendran „Ew. Wohlgeboren“ und unten dem „gehorsamsten Diener“.

Ich weiß, daß Tausende, die diese Zeilen lesen, sich im Stillen sagen werden: „Ja, das ist wohl wahr.“ – Wenn es aber wahr ist, warum handelt Ihr nicht danach? denn ein solcher Mißbrauch ist nicht durch Gesetz oder Obrigkeit fortzuschaffen, er muß durch die gesunde Vernunft der Einzelnen besiegt und hinausgeworfen werden. Bleibt dann auch noch eine Partie guter, ehrlicher deutscher Staatsbürger zurück, die sich den Zopf unter keiner Bedingung wollen abschneiden lassen, gut, dann mögen Ihro Wohlgeboren dabei verharren, bis sie sich zuletzt vollkommen vereinzelt sehen – und nichts hassen derartige Leute mehr als das, denn sie wollen immer mit dem Strom schwimmen. Sie werden es deshalb endlich von selber lassen, und wir haben eine unserer größten Lächerlichkeiten aus der deutschen Sprache getilgt.

Meine dringende Bitte ergeht deshalb an alle vernünftigen Menschen in Deutschland, sich endlich einmal ein Herz zu fassen und diesen alten Mißbrauch abzuschaffen, mögen auch ein paar alte Damen oder ein paar Geheime Räthe die Stirn darüber runzeln. Sollte es aber wirklich nicht möglich sein, sollte es für unumgänglich nöthig erachtet werden, den verschiedenen Adressaten unverdrossen durch Wohlgeboren und Hochwohlgeboren das richtige Gefühl ihrer Würde beizubringen, so bitte ich wenigstens alle Solche, die mich mit einem Brief erfreuen wollen, um gänzliche Vernachlässigung solcher Form, denn wenn ich auch wirklich hoffe, daß ich wohl geboren bin, brauche ich es doch nicht auf jedem Brief zu lesen, da selbst das Interessanteste durch zu häufige Wiederholung langweilig wird.

Fr. Gerstäcker.

Zur Nachricht!

Eine ausführliche Schilderung der „Hebung des Dampfers Ludwig durch Wilh. Bauer“, nach authentischen Mittheilungen Bauer’s aus der Feder des Dr. F. Hofmann, mit Abbildungen, erscheint in einer der nächsten Nummern der Gartenlaube.

Ernst Keil.

Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Probe aus dessen demnächst erscheinendem Werk: „Ein Frühlingsleben.“
  2. Diese Todesstrafe war besonders für Frauenspersonen bestimmt.
  3. Decken von grobem Zeug.
  4. Das Königl. Preuß. Obertribunal hat in einer Entscheidung vom 18. März 1857 sich dahin ausgesprochen, daß der Begriff des Diebstahls wegfalle, wenn die Gewinnsucht ausgeschlossen sei.
  5. Ausführlich mitgetheilt in Dr. Friedrich Oscar Schwarze’s Allgem[.] Gerichtszeitung für das Königreich Sachsen und die Großherzogl. und Herzogl. Sächs. Länder, Jahrg. 1858.
  6. Des unvergeßlichen Robert Blums talentvoller Sohn, der hier zum ersten Male mit einer größern literarischen Arbeit vor das lesende Publicum tritt.
  7. Die Reden sind wörtlich stenographirt.
  8. Friedrich Wilhelm IV.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: walche