Vier Fragen beantwortet von einem Ostpreußen
Die Sprache der Ereignisse - gleich vernehmlich für Jeden - ist nicht immer und Jedem verständlich. Aus derselben eindringlich und sinngetreu in die Sprache des Volkes zu übersetzen, ist die Aufgabe des Publicisten. Wir werden in diesen Blättern
dergestalt zu übertragen versuchen.
- Was wünschten die Stände?
- Was berechtigte sie?
- Welcher Bescheid ward ihnen?
- Was bleibt ihnen zu thun übrig?
Jeder Preuße lese und prüfe unsere Antwort. -
Gesezmäßige Theilnahme der selbständigen Bürger an den Angelegenheiten des Staates.
Die ständische Denkschrift, von dem üblichen Redeschmucke entkleidet, lautet:
- Wir verzichten auf die „in veralteten Formen sich schwer bewegende Vertretung einzelner und bevorrechteter Stände“; wir wünschen dagegen „eine Vertretung des gesammten preußischen Landes“ und hoffen, daß der König die von seinem Vater am 22. Mai 1815 verheißene Versammlung der Landes-Repräsentanten dem Volke zuzusichern nicht anstehen werde. —
Theilnahme des Volkes — Leidende sowohl als mitwirkende - findet in jedem Staate, selbst den despotischen, statt; gering oft und unscheinbar im Frieden, tritt dieser Einfluß des Volks (wir haben’s erlebt) zur Zeit der Noth offen und mächtig hervor. Nicht diese allgemeine durch Naturnothwendigkeit bedingte Theilnahme kommt hier in Betracht, sondern allein die durch das Gesez festgestellte. Der Meinungs-Kampf über constitutionelle und absolute Regierungsform lößt sich in die einfache Frage auf:
- soll die Regierung allein in den Händen abhängiger, besoldeter Beamten (Königl. oder Staatsdiener) sein;
oder
- soll gesetzlich auch den selbstständigen Bürgern wahrhafte Einsicht und Theilnahme zustehen?
So allgemein gefaßt läßt diese Frage sich nicht beantworten, weil der zur Entscheidung erforderliche Maasstab: der sittlich-intellectuelle Standpunkt des Volks in jedem Lande und zu jeder Zeit ein verschiedener ist. Wie nun aber verhält es sich hiermit im preußischen Vaterlande?
Welche Cultur-Stufe hat hier das Volk erreicht?
Welchen Antheil an den öffentlichen Angelegenheiten gewährt ihm das Gesez?
Steht dieser Antheil mit dem Culturgrade in richtigem Verhältnisse oder nicht? —
Man darf dreist behaupten, daß unser Vaterland (und wir nehmen hier keine Provinz aus) an sittlicher und geistiger Bildung seiner Bewohner keinem Lande Europa’s nachstehe. Selbst von den eifrigsten Gegnern, von Franzosen und Engländern wird Preußen mit seinen sieben Universitäten, seinen 20,085 Schulen und seiner volksbildenden Militair-Verfassung als ein bisher unerreichtes Vorbild gründlicher Volkserziehung gepriesen.
Wo hat die deutsche Literatur eine reichere Quelle, wo einen einträglicheren Markt als in Preußen? Wo wird jeder wahre Fortschritt der Zeit mit größerem Interesse begrüßt, jedes politische Ereigniß vorurtheilsfreier beurtheilt als in Preußen? welche Nation hat im Unglücke soviel sittliche Kraft, im Glücke und mitten unter allgemeiner Völkergährung soviel Mäßigung offenbart, als die preußische? doch wozu hier an die Jahre 1807, 1813 und 1830 erinnern. Erst vor wenigen Tagen sprach Friedrich Wilhelm IV. in Königsberg öffentlich zu seinem Volke, und die Art wie er sprach, die Aufnahme die seine Worte fanden waren eine herrliche Anerkennung, ein lautes Zeugniß für die Bildungsstufe des Volkes.
Und welchen Antheil an der Regierung hat dieses an Sitte und Intelligenz so hoch stehende Volk? Erröthend müssen wir gestehen: kaum den allergeringsten. Leider wird es nur zu leicht diese Antwort zu begründen.
In zwiefacher Form kann die Theilnahme des Volks an den öffentlichen d. h. seinen Angelegenheiten sich kund und geltend machen, durch die Presse und durch Vertretung. Die schlimmsten Feinde beider: Censur und Scheinvertretung walten in Preußen.
- „Die Publicität ist für die Regierung und die Unterthanen die sicherste Bürgschaft gegen die Nachlässigkeit und den bösen Willen der Beamten, die ohne sie eine bedenkliche Eigenmacht erhalten würden (!); ohne sie würde kein Mittel übrig bleiben, um hinter die Pflichtwidrigkeiten untergeordneter Behörden zu kommen. Sie verdient daher auf alle Weise gefördert und geschützt zu werden.“
Vom Könige Friedrich Wilhelm III., der sicher das Gute wollte, rühren diese Worte her. — Wie das darin ausgesprochene Princip aber auf die Wirklichkeit angewendet werde, weiß Jeder, der auch nur in die entferntste Berührung mit der preußischen Censur gekommen ist. Bekanntlich darf bei uns weder der kleinste Zeitungs-Artikel noch Schriften über 20 Druckbogen ohne Censur-Prüfung erscheinen; ist der Gegenstand ein politischer, so fällt meistens die Prüfung einem Polizeiagenten anheim, der bei den vagen Bestimmungen des Censurreglements (vom 18. October 1819) sich allein nach den besonderen Instructionen des Ministers zu richten hat. Vom Minister vollkommen abhängig und nur dem Minister verantwortlich, ist dieser Censor alles zu streichen gezwungen, was den individuellen Ansichten und Absichten seines Obern nicht genehm ist. Führt der Verfasser gegen ihn Klage, so wird er in der Regel abschlägig beschieden, oder erhält sein Recht erst nach so langer Zeit, daß er keinen Gebrauch mehr davon machen kann. Wie wäre es sonst auch möglich, daß seit jenem im Jahre 1804 ausgesprochenen Lobe anständiger Publicität man in keiner preußischen Zeitung, in keinem hier gedruckten Buche auch nur den leisesten Tadel über das Verfahren des untergeordnetsten Beamten findet, daß jede das öffentliche Interesse nur entfernt berührende Andeutung (die Rubrik Inland der Staats-Zeitung wird wohl Niemand hierher rechnen), um veröffentlicht zu werden sich erst außerhalb der preußischen Grenzen flüchten muß! Und auch hier selbst ist sie nicht sicher vor jener bedenklichen Beamten-Eigenmacht, welche mit Recht Friedrich Wilhelm III. als die nothwendige Folge unterdrückter Publicität bezeichnete, damit auch durch ausländische Zeitungen kein ungünstiges Urtheil über Beamten-Handlungen, keine irgend freimüthige Beleuchtung unserer Zustände nach Preußen gelange, werden dergleichen Blätter entweder verboten, oder deren Redactionen durch wohlbekannte Mittel fügsam gemacht. Wir übertreiben leider! nicht. Die französischen Zeitungen sind freilich erlaubt, die meisten aber dürfen nicht unter Kreuzband nach Preußen kommen, so daß Ein solches Blatt mehr als 400 Thaler an jährlichem Postporto kosten würde; nur der Schein ist gewahrt, der Sache nach aber eine solche Erlaubniß und ein Verbot ein und dasselbe. Anders verfährt man mit den deutschen Zeitungen. Sind deren Redacteure nicht schon in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse auf ihrer Hut, nehmen sie über Preußen oder preußische Beamte einen in Berlin mißfälligen Artikel auf, so werden an sie von Seiten des preußischen Ministeriums (dem Zweifler sind wir dies durch Actenstücke darzuthun bereit) Vorwürfe und Reclamationen gerichtet, Angabe ihrer Correspondenten drohend verlangt und nur unter demüthigenden Bedingungen der einträgliche preußische Markt ihnen fernerhin offen gelassen.
Die präventive (vorkehrende) Censur hat vernünftiger Weise nur das zu streichen, was der Richter, wenn’s gedruckt wäre, bestrafen würde. Eine Censur aber, die also wie in unserem Vaterlande gehandhabt wird, hört auf eine rein präventive zu sein: sie wird zu einer anmaßenden Bevormundung, zu einer wahrhaften Unterdrückung der öffentlichen Meinung und führt endlich zu einer - höchst bedenklichen, dem Volke und dem Könige gleich gefährlichen Eigenmacht der Beamten.
Wie es in einem Lande, wo man so peinlich jede der Regierung mißliebige Aeußerung bewacht, mit der
stehe, läßt sich leichtlich errathen. Wenn man die unbedingten (meist beamteten) Vertheidiger des Bestehenden fragt, jene Schriftsteller, deren Dienstbeflissenheit es so trefflich versteht Mücken zu feigen und Kameele zu verschlucken, so hört man alsbald die Communal-Verfassung, die Kreis- und Provinzial-Stände als repräsentirende Organe des Volksbewußtseins, als genügende Garantien der Zukunft lobpreisen. Daß diese Einrichtungen aber, so lange sie nicht in öffentlich berathenden Reichsständen ihre nothwendige Ergänzung erhalten, schlimmer als gar keine Vertretung, nämlich bloße Scheinvertretung sind, wird aus dem Folgenden sich nur zu augenfällig ergeben.
In Betracht der Communal-Verfassung muß vor allem die Städte-Ordnung von 1808 von der revidirten des Jahres 1831 wohl unterschieden werden. Erstere trägt den lieberalen Charakter der damaligen Zeit und achtet der Bürger Selbstständigkeit; die zweite wird überall von der Jetzt-Regierung begünstigt und den Städten dringend anempfohlen.
Während man 1808 keinem unbescholtenen Einwohner der Stadt das Bürgerrecht versagte (§. 19. d. St.-Ord.), wird von der revidirten Städte-Ordnung (§. 14. 15.) ein nicht unbedeutender Census verlangt; während 1808 die Wahl der Stadt-Verordneten nach Zünften und Corporationen ausdrücklich verboten wurde (§. 73.), ordnet das neue Gesetz eine derartige Wahl förmlich an (§. 51. u. 52.). Während die ältere Städte-Ordnung jeden stimmberechtigten Bürger für wählbar erklärt (§. 84.), verlangt die revidirte in kleineren Städten ein Einkommen von 200 Thlr., in größeren von 1200 Thlr. (§. 56. u. f.) Während die Veräußerung städtischer Grundstücke früher von den Stadtverordneten allein abhing (§. 189.), macht die Städte-Ordnung von 1831 selbst hierzu die Erlaubniß der Regierung nothwendig (§. 117.); der Magistrat, nach dem älteren Gesetze eine allein städtische Behörde, ist nach dem neuen vorwaltend ein von der Regierung durchaus abhängiges „Organ der Staatsgewalt“ (§. 84, 104 u. 105); die Regierung d. h. die Minister können, durch kein Gesetz beschränkt, die Wahlen der Bürger annulliren und bei „Unangemessenheit“ (!) oder „Verzögerung“ der Wahl die Stellen auf Stadt-Kosten commissarisch verwalten lassen (§. 93.). Die Regierung d. h. die Minister können die Magistrats-Mitglieder wegen „mangelhafter Dienstführung“ (!) absetzen und alsdann die Größe ihrer Pension bestimmen (§. 99. 100.); – der Bürgermeister, dessen Stelle im Falle „unangemessener“ Wahl von der Regierung besetzt wird (§. 93.), ist befugt die Beschlüsse des Magistrats zu suspendiren und darüber nur der Regierung d. h. den Ministern Verantwortlichkeit schuldig (§. 108.); endlich steht es gar den Ministern (das Gesetz sagt: dem Könige) frei die Stadtverordneten-Versammlung „bei Parheiungen in derselben“ (!) aufzulösen, oder die Schuldigen auszuschließen (§. 83.), ja selbst unter Umständen den Gemeinden die Städte-Ordnung ganz zu entziehen (§. 139.). Von allem Diesem enthielt die ältere Städte-Ordnung kein Wort.
Die genannten und viele andere Unterschiede der beiden Gesetze würden von selbst in die Augen fallen, wenn man bei der Zusammenherausgabe beider die einzelnen §§. dem Inhalte nach, nicht – wie weislich geschehen – der Zahl nach gegenüber gestellt hätte; eine Vergleichung beider Ordnungen wäre dann aber freilich dem Leser zu leicht geworden und hätte einen zu factischen Prüfstein für die Beurtheilung der damaligen und jetzigen Richtung dargeboten. –
Wo die Städte-Ordnung von 1831 gilt (und nur diese darf jetzt neu eingeführt werden), ist nach Obigem der gesetzliche Einfluß des Cabinets schon mächtig genug; anders dagegen in Städten, die das Gesetz von 1808 noch nicht mit dem revidirten vertauscht haben: da hier das Recht der Regierung großen Theils nur auf die Einsicht der Rechnungs-Extracte beschränkt ist, muß man freilich der Gleichförmigkeit wegen auf allmählige Erweiterung der Schranken bedacht sein. Erwägt man außerdem, daß in großen Städten besondere, nur von dem Minister abhängige Polizeydirectionen angestellt sind, in kleinern Stadt- und Dorfgemeinden die Ortsbehörden sich unter unmittelbarer Aufsicht von der Regierung besoldeter und oftmals auch von ihr ernannter Landräthe befinden; erwägt man die den städtischen Verhandlungen vollkommen entzogene Oeffentlichkeit, die daher rührende bei Wahlen wie überall sich offenbarende Gleichgültigkeit der gebildeten Classen, endlich die zweimal (im Jahre 1826 und 1833) von den liberalen rheinpreussischen Ständen erfolgte Ablehnung einer derartigen Gemeindeverfassung: – so wird man wohl schwerlich geneigt sein die vielgerühmte preussische Städte-Ordnung als Gegengewicht des selbstständigen Volksbewußtseins gegen Ministerwillkühr, geschweige, als ein Surrogat constitutioneller Vertretung gelten zu lassen. –
Sehen wir, ob etwa
das Vermißte darbieten. Im Sinn des Gesetzes vom 22. Mai 1815 lag es allerdings, daß dies Institut durch allmählige Entwickelung zu einer wahrhaft volksthümlichen Repräsentation heranreifen sollte. Fünf und zwanzig Friedensjahre sind seitdem verflossen; die Einrichtung der Landtage ist unverändert dieselbe geblieben, wie sie bei der ersten des Jahres 1824 war, und diese 16jährige Dauer dürfte wohl als ein genügender Zeitraum erscheinen, um nach den Früchten ihrer Arbeit zu fragen. Die Volksstimme hat bereits das Urtheil gesprochen; kaum wird man ein Institut auffinden können, das eine geringere Popularität zu beklagen hat, das von dem gesunden Volksverstande als eine unnützere Last betrachtet wird, als die Provinzial-Stände. Gern wird man uns der Mühe überheben, aus den bisherigen Landtagsabschieden den Nachweis zu führen, daß unter allen dort erledigten Gegenständen sich auch nicht ein einziger von allgemeinem Interesse befindet, daß kein nur einigermaßen erheblicher Mißbrauch abgestellt, keiner Beamten-Willkühr entgegengetreten, daß die ganze Wirksamkeit zahlreicher Sessionen sich auf Errichtung von Zucht- und Correctionshäusern, von Taubstummen-, Irren- und Feuerversicherungs-Anstalten, auf Gesetze über neue Straßen, Wagengeleise, Hundesteuer u. dgl. m. beschränkt habe: – Gegenstände, die, großentheils von der Regierung selbst proponirt, auch eben so gut mit Zuziehung einiger Sachverständigen durch die gewöhnlichen Provinzialbehörden hätten vermittelt werden können.
Nicht für die würdigen Mitglieder der Stände-Versammlung soll dies ein Vorwurf sein. Dürfen sie doch gesetzlich nur über die Propositionen des Ministeriums und über rein locale Angelegenheiten berathen, wird ihnen doch selbst jede Bitte oder Beschwerde, die sich nicht auf das Sonderinteresse der Provinz bezieht, jede Mittheilung an die andern Provinzial-Landtage streng untersagt, ist doch endlich, um auch die bloße Aeußerung über Staatswesen und Gesetzgebung im Allgemeinen unmöglich zu machen, der vom Ministerium ernannte Landtagsmarschall nach Willkühr jede derartige Berathung zurückzuweisen ermächtigt.
Eine Versammlung die so mißtrauisch in ihrer Thätigkeit überwacht wird, die alles bei geschlossenen Thüren verhandelt und ihre Vorträge und Beschlüsse nicht einmal veröffentlichen darf, kann wohl für Alles eher als für ein adäquates Organ der Volksbedürfnisse gehalten werden. Es wäre überflüssig von ihrem vornämlich auf Grundbesitz gestützten Wahlprincipe, von der verhältnißmäßig geringen Berücksichtigung der Land- und Stadt-Gemeinden und von der völligen Ausschließung der geistlichen Stände zu sprechen. Wenn nach allem Diesem noch irgend ein Zweifel über die völlige Nichtigkeit des Instituts in Bezug auf die allgemeine Wohlfahrt übrig bleibt, dem seien hier zwei Auctoritäten angeführt, wie man sie gewichtiger kaum erlangen kann: der Staatskanzler Hardenberg und die ostpreußischen Stände selbst. Letztere nennen in ihrer Denkschrift vom 7. September 1840 die Provinzial-Stände
- „eine in hemmenden Schranken veralteter Formen sich schwer bewegende Vertretung einzelner und bevorrechteter Stände, auf welche sie zum Wohle gemeinsamen Rechtes zu verzichten bereit sind.“
und Hardenberg sagt in einer Rede an die interemistischen Repräsentanten:
- „Wäre es möglich gewesen die im Edict vom 27. October 1810 zugesagte Repräsentation des Volks schnell genug zu Stande zu bringen, wodurch allein ein Geist, ein Nationalinteresse, an die Stelle ihrer Natur nach
- immer einseitiger Provinzialansichten treten kann; – so würde der König gern die Meinung der Repräsentanten der Nation über das Steuersystem gehört haben. Eine Berathung mit den jetzt bestehenden Provinzialständen würde aber weder dazu geführt haben die Meinung der Nation zu erfahren, noch hätte sie ein den Zweck erfüllendes Resultat liefern können. Dies bedarf wohl keiner Auseinandersetzung.“ —
- Nicht minder als die Gesezgebende ist auch die
richterliche und verwaltende Staats-Thätigkeit
der Einsicht wie der Mitwirkung des Volkes gänzlich entzogen. Das Gerichtsverfahren ist in Preußen von Anfang bis zu Ende ein heimliches und einzig und allein in Händen besoldeter, vom Cabinet eingesetzter Beamten. Die Unpartheilichkeit wird bei gewöhnlichen Fällen nicht leicht fehlen, wo aber irgend die Minister, oder was sie den Staat nennen betheiligt ist, dürfte diese Richtertugend in eine harte Collision mit den persönlichen Interessen gerathen; denn – abgesehen von dem subordinirten Verhältnisse – ist Gehaltserhöhung, Beförderung, Versetzung[1], die ganze Zukunft jedes Justizdieners von dem Willen des Ministers abhängig: Conduitenlisten, von den oberen Beamten über die unteren geführt, müssen alljährlich den Ministerien eingeschickt werden, und nur der willenlose Gehorsam, das unbedingte Eingehen in Ansichten, Meinungen und Wünsche der Minister darf auf Belohnung, äußere Ehre, Förderung rechnen. So weit geht in Preussen die Unterordnung der richterlichen Gewalt unter die ausübende, daß alle Erkenntnisse in Untersuchungen wegen Hochverraths, Landesverrätherei oder beleidigter Majestät und über alle Verbrechen, wenn auf Ehrenverlust, Todesstrafe, oder lebenswieriges (früher selbst auf mehr als drei Jahre) Gefängniß erkannt worden, – der ministeriellen Bestätigung unterliegen und vor derselben, „weil sie bis dahin nur als Gutachten anzusehen“, zur Publikation nicht geeignet sind. Werden die zur Bestätigung eingehendenden Urtel nach dem Gutachten eines Andern Gerichtshofes abgeändert, so fertigt dieser ein Erkenntniß „im Auftrage des Justiz-Ministeriums“ aus, das dem ersten Gerichtshofe zur Publication übersendet wird. (Ergänzung. z. Pr. Cr. R. herausgegeben v. Gräff, Koch etc. 1838. I. pag. 155—157.) Die Cabinets-Ordre v. 25. Januar 1823 befiehlt ferner, daß – wenn bei Prozessen zwischen Privatleuten, oder zwischen Privaten und dem Staate (!) eine in Staatsverträgen enthaltene Bestimmung zur Entscheidung der Sache beiträgt, die Gerichte „ohne Unterschied, ob der preußische Staat bei Abfassung der Verträge concurrirt oder nicht,“ „vor Abfassung des Erkenntnisses“ die Aeußerung des Ministers einholen und bei der Entscheidung lediglich darnach zu achten haben (siehe Klüber Selbstständigkeit des Richteramts etc.) –
Und trotz alledem mißtraut man der richterlichen Willfährigkeit; denn nicht selten (wie bei sog. Staatsvergehen) werden Special-Commissionen ernannt oder wohl gar polizeylich-administrative Maßregeln beliebt. Hieher gehört z. B. das Gebot für die rheinischen Justizbehörden, sich in die Verhaftungen von Demagogen nicht eher zu mischen, als bis die Administration die Sache dem Gerichte übergeben werde. (Cab. Ordr. v. 21 Augst. 1819, nie förmlich publicirt und erst im Jahre 1824 durch Lottners Sammlung III. 569, bekannt geworden). Eine fernere Cab. Ord. v. 15. Januar 1825 ermächtigt die rheinischen Polizeibehörden, nach den Gesezen der alten Provinzen zu verfahren und mit Gefängniß oder Zwangsarbeit von 8 Tagen bis 4 Wochen (ohne Concurenz der Justiz) zu strafen.
Wenn demungeachtet nicht geleugnet werden kann, daß der Preuße im Allgemeinen Vertrauen zu seiner Justiz hege, so ist dasselbe wohl mehr auf Glauben als auf Ueberzeugung, mehr auf Personen als Verhältnisse gegründet. –
So viel von Preußens-Rechtspflege. Ueber die Administration des Staats ruht gleichfalls ein dem Volke undurchsichtbarer Schleier des tiefsten Geheimnisses; jede derartige Veröffentlichung, ja jede Mittheilung wird als eine strafbare Amtsuntreue angesehn und so dem Volke mit der Einsicht zugleich jede Controlle über den Stand seiner eigenen Angelegenheiten unmöglich gemacht. Selbst die Verausgabung der erhobenen Steuern geschieht ohne Rechnungsablage. Zwar bestimmt eine Cab. Ord. vom 17 Janu. 1820, daß „der Haupt-Finanzetat von drei zu drei Jahren zur öffentlichen Kenntniß kommen soll,“ allein seit 1820 bis jetzt, also in 20 Jahren ist dies nur dreimal (1821, 1829 und 1832) geschehen, und auch da nur in solcher Unvollständigkeit und Oberflächlichkeit,[2] daß wohl schwerlich daraus, wie es in jenem Edict heißt, „jeder Bürger sich vollständig überzeugen könne, daß nichts mehr als das strengst Nothwendige zum Staatshaushalte an Abgaben gefordert werde.“ – – Die Minister und deren Beamte allein sind in das Geheimniß der Verwaltung eingeweiht; sie selber schweigen aber und – wer spräche ohne ihren Willen?! wie hier so überall ist Wissen und Handeln Monopol der Minister; ihr ergebenes Dienerpaar Censur und Polizey wacht darüber, daß keine andere Meinung, keine andere Thätigkeit sich geltend mache, als die ihrige; ihnen untergeordnet ist Alles; Gesetzgebung wie Rechtspflege, Schule wie Kirche, Steuereinnahme wie Steuerverwendung; in ihnen sammelt, regt und verzehrt sich das ganze Leben des Staats. Das Volk – ohne thätigen Antheil an diesem Leben, ohne Einsicht und Controlle der sein Eigenthum, seine Person und sein Wohl betreffende Verhandlungen muß in der Oeffentlichkeit fremdländischer Zustände Befriedigung für seinen politischen Lebensdrang suchen; die außerbeamtliche Intelligenz – stets bevormundet und ausgeschlossen von jeder Einwirkung auf die Verhältnisse des Vaterlands – wendet sich mit immer regerer Theilnahme der staatlichen Entwickelung Englands und Frankreichs zu, und büßt so nothwendig immer mehr des nationalen Selbstgefühls ein. – –
Bedarf es nun noch unserer Antwort auf die obige Frage, ob der politische Antheil des preußischen Volkes mit seinem Culturgrade im richtigen Verhältnisse stehe? –
Das unleugbare Mißverhältniß zu beschönigen, pflegen offizielle Apologeten eben diese musterhafte Volksbildung als ein Verdienst der jetzigen Regierungsform und daher die unveränderte Fortdauer derselben als wünschenswerth anzusprechen; sie übersehen aber daß selbst die beste Schule ihre Zöglinge nicht für immer behalten kann, vielmehr je reifer sie sind desto eher sie zur Selbstständigkeit zu entlassen verpflichtet ist. Und ist’s denn wirklich das gegenwärtige Staatsregiment, dem wir die hohe Culturstufe verdanken? Von der in Preußen vorhandenen politischen Bildung wird dieß wohl Niemand behaupten; und auch die sonstige – sittliche wie geistige – Volksbildung, ist sie nicht vielmehr Folge jener großartigen, für Preußen so überaus wichtigen Erziehungs- und Gesezgebungs-Epoche der Jahre 1807 bis 1819? sind die damaligen liberalen Principien noch die der jezigen Regierung? Hat man die volksthümlichen Institutionen jener Zeit weiter entwickelt, oder war man sie rückzuschrauben bedacht? Ist seit dem die Mitwirkung der selbstständigen Bürger erweitert oder beschränkt worden? – Wir haben schon oben diese Frage durch Facta beantwortet und wollen zur Bekräftigung hier nur noch die Worte eines Mannes anführen, der – wenn irgend einer – die vaterländischen Zustände zu durchschauen geeignet ist. „Wir werden,“ so schildert der Staatsminister v. Stein Preußens Gegenwart, – „wir werden von besoldeten Buchgelehrten, interessenlosen ohne Eigenthum seienden Bureaulisten regiert; – das geht so lange es geht. – Diese vier Worte enthalten den Geist unserer und ähnlicher geistlosen Regierungsmaschienen. Besoldet, also Streben nach Erhalten und Vermehren der Besoldeten; – buchgelehrt, also lebend in der Buchstabenwelt und nicht in der wirklichen; – interessenlos, denn sie stehen mit keiner der den Staat ausmachenden Bürgerklasse in Verbindung; sie sind eine Classe für sich, die Schreiberkaste; – eigenthumslos, also alle Bewegungen des Eigenthums treffen sie nicht? es regne oder scheine die Sonne, die Abgaben steigen oder fallen, man zerstöre alte hergebrachte Rechte, oder lasse sie bestehen, – alles das kümmert sie nicht. Sie erheben ihren Gehalt aus der Staatskasse und schreiben, schreiben, schreiben im stillen mit wohlverschlossenen Thüren versehenen Bureau unbekannt, unbemerkt, ungerühmt und ziehen ihre Kinder wieder zugleich brauchbaren Schreibmaschienen an.“ –
„Eine Maschinerie (die militairische) sah ich fallen 1806 den 14. October, vielleicht wird auch die Schreibmaschinerie ihren 14. October haben! – –
Das ist das Gebrechen des theuern Vaterlandes: Beamtenallgewalt und politische Nichtigkeit seiner selbstständigen Bürger. Wie über die Krankheit, so ist auch über das Heilmittel bei den Vaterlandsfreunden kein Zweifel: Oeffentlichkeit heißt es und wahre Vertretung! –
Und das ist es eben, was der ostpreußische Postulaten-Landtag seinem Könige offen und männlich aussprach. Die Stände entsagen der veralteten Form die ihnen nur einen Scheinantheil an den öffentlichen Angelegenheiten verstattet; im Bewußtsein der eigenen Reife wollen sie wahrhaft Theil haben am Leben des Staates – mitwissend und mitwirkend. Nicht um eine Garantie bloß ist’s ihnen zu thun, sondern um Befriedigung eines tief gefühlten Bedürfnisses. Dem Könige vertraut das Volk; denn es weiß, daß er nur das Gute will. Nicht also den Ministern. Ob mit oder ohne Grund – allgemein ist im Lande die Meinung verbreitet, das sie der Oeffentlichkeit und dem politischen Fortschritte feind – mehr in dem Gehorsame der Beamten als in der Liebe selbstständiger Bürger die Stütze des Thrones suchen; man ist besorgt wegen ihrer Liebe für längst verjährte Institutionen, wegen ihrer Neigung zum Pietismus, der dem gesunden religiösen Sinne des Volkes nicht zusagt; man fürchtet Bevorzugung einer Provinz vor der andern, Ueberschätzung der eigenen Staatsweisheit und Intoleranz gegen Jeden, der (um die Worte eines preußischen Ministers zu brauchen) „der Maasstab seiner geringen Einsicht an die Befehle der von Gott eingesetzten Obrigkeit anzulegen sich erdreistet.“ Nur freie Publicität und Vertretung können über die Wahrheit oder Unwahrheit jener patriotischen Befürchtungen Aufschluß geben. Wenn die Bedürfnisse, Wünsche und Beschwerden des Volkes durch selbstständige Vertreter unmittelbar zum Throne gelangen, dann erst ist König und Volk sicher vor jener Beamten Eigenmacht, die Friedrich Wilhelm III. so treffend geschildert, dann erst wird Fürst und Volk Eins, und Preußen die seiner Bildung angemessene Stelle im Gesammtvaterlande erhalten und behaupten. Gestärkt durch das Vertrauen des constitutionellen Deutschlands, wird es jeder feindlichen Macht gegenüber fest und würdig dastehen, - eine unbezwingliche Waffe gegen die hereindringende Barbarei des Nordens, ein Medusenschild gegen die Uebergriffe des Westens.
Das ist es, was die ostpreußischen Stände wollten und in ihren Denkschriften - so deutlich es einem Könige gegenüber ziemte - auszusprechen den Muth hatten. -
Das Bewußtsein eigener Mündigkeit und ihre am 22. Mai 1815 factisch und gesezlich erfolgte Mündigsprechung. –
Die Reife des Volks für eine Gesammtvertretung haben wir schon oben dargethan. Hier daher nur einige Worte über die historische Berechtigung.
Es ist oftmals ausgesprochen worden, Preußens Bestimmung sei die Früchte der französischen Revolution auf friedlichem Wege sich anzueignen. Im gleichen Sinne und mit größerem Rechte könnte man es Preußens Bestimmung nennen, dem deutschen Volke das, was es durch frühere Umwälzungen verloren hat, wiederzugeben: denn der Grundgedanke neuerer Repräsentativverfassung: kein Gesetz ohne Zustimmung der Volksvertreter! liegt schon baar und klar in dem altdeutschen Rechtssatze: „wo wir nicht mitrathen, wollen wir auch nicht mitthaten“.
Die Geschichte lehrt, daß die Preussen unter ihren Kurfürsten und unter Friedrich II. mehr als irgend ein anderer Stamm zur Auflösung deutscher Einheit beitrug; die Zukunft wird lehren, ob sie für das Zerstörte den deutschen Brüdern einen geistigen Ersatz zu bieten bestimmt sind. –
Das Jahr 1807 zertrümmerte die preussische Monarchie. Der Gedanke, daß dazu eine einzige Schlacht – nicht so entscheidend wie die bei Kunersdorf – hinreichte, mußte das Gemüth jedes Vaterlandsfreundes erschüttern und seinen Blick auf die Gebrechen lenken, durch welche so unglaubliche Folgen möglich geworden. Da offenbarte sich, was bisher dem Lande gefehlt und was allein es zu retten im Stande war. Mit dem Edelsten, was ihr verblieb, flüchtete die Monarchie zu ihrer Wiege, um neuverherrlicht wieder zu erstehen.
In der Stadt, wo Kant die Welt erleuchtete, wo annoch seine Freunde, Männer von Tiefsinn und hoher Rechtlichkeit weilten, fand der unglückliche König jene erhabene Weltansicht, welche die fürchterlichsten Bedrückungen nur als einen nothwendigen Uebergang betrachten läßt, – fand Stein jene edle Genossenschaft, die ihm in der Wiedergeburt des Staates thatkräftig zur Seite stand. Fürst und Volk – bisher von einander getrennt durch ein stehendes Soldaten- und Beamtenheer – mußten in gegenseitiger Liebe vereint, der unterdrückte Nationalgeist belebt, die thätigste Mitwirkung der freien Bürger in Anspruch genommen werden. Große Reformen wurden damals mit Bedacht erwogen und mit Schnelligkeit ausgeführt. Durch das Gesetz vom 9. October 1807, betreffend den erleichterten Besitz und freien Gebrauch des Grundeigenthums wurden nicht nur die zeitherigen Fesseln der Erbunterthänigkeit gelöst, sondern auch eine factische Gleichstellung aller Stände bewirkt. – Die Städteordnung vom 19. November 1808 hob die jeden Gemeinsinn ertödtende Bevormundung der Communen auf und erklärte den Bürger für selbstständig und mündig. – Das Gesetz vom 26. December 1808 wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-, Polizey- und Finanz-Behörden schärfte den Verwaltungsbeamten das Bewußtsein, daß „sie selber Bürger sind und bleiben, auch wenn ihnen Staatsämter vertraut worden; daß auf der Wohlfahrt ihrer Mitbürger nur die Wohlfahrt des Staats und des Regenten beruht.“ Auch landständische Repräsentanten sollten „mit voller Stimme“ an den Regierungsgeschäften Theil nehmen, „um den Geschäftsbetrieb mehr zu beleben und durch ihre Sach- und Personen-Kenntniß zu vereinfachen. Sie sollten sich selber von der Rechtlichkeit und Ordnung der öffentlichen Staatsverwaltung näher überzeugen und diese Ueberzeugung in der Nation gleichfalls erwecken und befestigen.“ (s. Sammlung preuss. Ges. und Verordng. v. 1806 bis 1810. Berlin 1822). Ist gleich die hier ausgesprochene Theilnahme landständischer Repräsentanten nicht in Ausführung gekommen, so lebt doch ihre Bestimmung in dem Bewußtsein der Ostpreußen fort: die Regierung kann, was sie Freisinniges geweckt, unterdrücken, aber nicht ertödten.
Diese drei wichtigen, im Verlauf weniger Monate erlassenen Gesetze waren ganz dazu geeignet, eine tüchtige Nationalrepräsentation vorzubereiten, – eine Nationalrepräsentation, welche das Band zwischen Fürsten und Volk fester knüpfen und dem zertrümmerten Vaterlande seine Bedeutsamkeit im europäischen Staatenbunde wiedererringen sollte. Daß dies Stein’s Absicht gewesen, geht augenfällig aus dem Circularschreiben[3] hervor, welches er kurz vor seinem durch Napoleon gebotenen Abgange (Ende November 1808) an die obersten Behörden der Preußischen Monarchie erließ. Folgende Stelle dieses merkwürdigen Actenstückes möge hier einen Platz finden:
„Eine allgemeine Nationalrepräsentation ist erforderlich. Heilig war mir und bleibe das Recht und die Gewalt unseres Königs. Aber damit dieses Recht und diese unumschränkte Gewalt das Gute wirken kann, was in ihr liegt, schien es mir nothwendig, der höchsten Gewalt ein Mittel zu geben, wodurch sie die Wünsche des Volks kennen lernen und ihren Bestimmungen Leben geben kann. Wenn dem Volke alle Theilnahme an den Operationen des Staats entzogen wird, kommt es bald dahin, die Regierung theils gleichgültig, theils in Opposition mit sich zu betrachten. Daher der Widerstreit oder wenigstens Mangel bei Aufopferung für die Existenz des Staats. Wo Repräsentation des Volks unter uns bisher stattfand, war sie höchst unvollkommen eingerichtet. Mein Plan war daher:
- jeder active Staatsbürger, er besitze 100 Hufen oder eine, er treibe Landwirthschaft oder Fabrikation; er habe ein bürgerliches Gewerbe oder sei durch geistige Bande an den Staat geknüpft, habe ein Recht zur Repräsentation.
Mehre mir eingereichte Plane sind von mir vorgelegt. Von der Ausführung oder Beseitigung eines Plans hängt Wohl und Wehe unseres Staats ab; denn auf diesem Wege allein kann der Nationalgeist erweckt und belebt werden.“ –
Auf demselben Wege, den Stein gebahnt, schritt Hardenberg wieder entschieden vor; er übertrug auf den ganzen Staat, was seinem Vorgänger nur für Ostpreußen und Litthauen zu thun verstattet war. In schneller Folge wurde dem Adel die Steuerfreiheit genommen (27. October 1810), die geistlichen Güter zur Tilgung der Staatsschuld eingezogen (30. October 1810), allgemeine Gewerbfreiheit statt des früheren Zunftzwanges eingeführt (2. November 1810) und durch das denkwürdige Gesetz vom 14. September 1811 (über Ablösbarkeit der Frohnen) die Bauern zu freien Eigenthümern gemacht. Daß bei allen diesen Einrichtungen Hardenberg, ebenso wie sein Vorgänger, stets eine künftige Volksvertretung im Auge hatte, spricht das von ihm gegengezeichnete Finanz-Edict vom 27. October 1810 klar aus. In demselben sagt der König: „Wir behalten uns vor, der Nation eine zweckmäßig eingerichtete Repräsentation, sowohl in den Provinzen als für das Ganze zu geben, deren Rath wir gern benutzen und in der wir unseren Unterthanen die Ueberzeugung fortwährend geben werden, daß der Zustand des Staats und der Finanzen sich bessere“ u. s. w.
Und so wurde schon im Februar 1811 eine interimistische Volksrepräsentation in Berlin versammelt, unter deren Mitwirkung eine Reihe der freisinnigsten organischen Gesetze zu Stande kam. Hardenberg’s am 23. Februar 1811 im Namen des Königs gehaltene Eröffnungsrede[4] begann mit den Worten:
„Wie ein guter Vater von seinen Kindern, fordert der König von seinen treuen Unterthanen nicht bloß Gehorsam, er wünscht Ueberzeugung bei ihnen hervor zu bringen, daß seine Verfügungen nur ihr wahres Wohl bezielen; – er will seine Anordnungen lieber hierauf begründet sehen, als auf seinen Willen“ u. s. w. –
Nach Beendigung der Arbeiten (im September d. J.) sprach im Namen sämmtlicher Deputirten Graf v. Henkel- Donnersmark:
„Je wichtiger die Gegenstände sind, die jetzt entschieden wurden, um so dankbarer erkennen wir die Gnade, mit welcher Se. Majestät durch Gewährung einer Nationalrepräsentation uns bewiesen haben“ u. s. w.
So wurde Preußen durch sein Geschick selbst auf die Bahn constitutioneller Entwickelung gedrängt; der Erfolg ward durch die Geschichte der nächsten Jahre in seiner vollen sittlichen Kraft dargethan. Als die Stunde des Schicksals schlug, stand Ostpreußen mit seinem Tugendbunde, seiner Landwehr gewaffnet und gerüstet da; es erhob sich zuerst, es erhob sich in froher Begeisterung, das gekränkte Königshaus zu rächen und das Fremdenjoch vom Vaterlande abzuwälzen. Fürst und Volk ward wieder Eins, wie in jenen gewaltigen Urzeiten, der altgermanische Geist erwachte und – die ungerechte Macht fand ihren Untergang.
Nach der Siegesfreude hoffte vor allem Preußen einer schönen Zukunft entgegen zu gehen. Unter den Fürsten Deutschlands hatte Friedrich Wilhelm allein Alles seinem Volke und dieses wiederum ihm seine nationale Selbstständigkeit, die Bedingung jeder weitern Fortbildung, zu verdanken. Vor allen Staaten Deutschlands war Preußen in seiner inneren Entwickelung am weitesten vorgeschritten, vor allen Staaten Deutschlands stellte Preußen auf dem Wiener Congresse die freisinnigsten Anträge und drang am eifrigsten auf Volksrepräsentation. In dem am 13. September 1814 dem Fürsten Metternich von Hardenberg mittgetheilten Entwurfe einer deutschen Verfassung heißt es (Art. 7.) von den Landständen: „ihre Befugnisse sollen zugleich sein ein näher zu bestimmender Antheil an der Gesetzgebung, Verwilligung der Landesabgaben, Vertretung der Verfassung bei den Landesherrn und bei dem Bunde“ (!). –
Und dieses Wort ward in Preußen zur That. Friedrich Wilhelm der Gerechte, eingedenk seines Versprechens von 1810, eingedenk der Versammlung interemistischer Repräsentanten von 1811, gab
- unterm 22. Mai 1815 die allbekannte Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volks.
Sie lautet:
§. 1. Es soll eine Repräsentation des Volkes gebildet werden.
§. 2. Zu diesem Zwecke sind die Provinzialstände u. s. w.
§. 3. Aus den Provinzialständen wird die Versammlung der Landesrepräsentanten gewählt, die in Berlin ihren Sitz haben soll.
§. 4. Die Wirksamkeit der Landesrepräsentanten erstreckt sich auf die Berathung über alle Gegenstände der Gesezgebung – –, mit Einschluß der Besteuerung.
§. 5. Es ist ohne Zeitverlust eine Comission in Berlin niederzusetzen, die aus einsichtsvollen Staatsbeamten und Eingesessenen der Provinzen bestehen soll.
§. 6. Diese Commission soll sich beschäftigen:
- a) mit der Organisation der Provinzialstände;
- b) mit der Organisation der Landesrepräsentanten;
- c) mit der Ausarbeitung einer Verfassungsurkunde nach den aufgestellten Grundsätzen. –
§. 7. Sie soll den 1. September d. Jahres zusammentreten.
Man beachte es wohl! nicht ein bloßes Versprechen liegt uns hier vor, sondern ein nicht umzudeutentes Königswort, – ein Gesez. –
Auf den 22. Mai 1815 folgen trübe Jahre, über welche wir so schnell als möglich hinwegeilen. Im Ministerio entstand – man sagt, das Oestrereich seine Besorgniß vor zu kräftiger Geistesbewegung geltend machte – eine Reactionsparthei; die Deputirten, welche sich am 1. September in Berlin versammeln sollten, wurden nicht einberufen; das Verfassungswerk ruhte trotz der dem Bundestage übergebenen Note v. 5. Febr. 1818, und die von Görres überreichte Mahn-Adresse der rheinischen Landschaft (12. Januar 1818) ward bei Hofe sehr mißfällig aufgenommen. Durch die Cabinets-Ord. v. 31. März 1817 (Einsetzung des Staatsraths) wurde die Entwerfung einer Verfassungsurkunde befohlen, dieselbe aber – im Widerstreit mit dem §. 5 des Edicts v. 22. Mai – nur Staatsbeamten übertragen. Im Juli 1819 vollendet, blieb sie ununterzeichnet in der Staats-Canzlei; statt der allgemeinen erwarteten Bekanntmachung erfolgten polizeiliche Verhaftungen, Inquisitionen wegen demagogischer „Umtriebe“ und – die Karlsbader Beschlüsse; Censur-Edicte unterdrückten die öffentliche Stimme und das freiere Wort verhallte in Gefängnissen. –
Erst 1823 – acht Jahre nach der Verordnung über die „ohne Zeitverlust“ zu bildende Volksrepräsentation – erschien das Gesez über Errichtung der Provinzialstände; Reichsstände wurden darin als bevorstehend angekündet. Siebenzehn neue Jahre verflossen, – die Provinzialstände warteten vergebens auf ihre gesezliche Ergänzung: die Reichsstände. Stimmen des Mißbehagens über büreaukratische Erstarrung wurden indessen laut, und der westphälische Landtag erinnerte (i. J. 1830) einstimmig, an das unvollendete Verfassungswerk; – die reichständische Versammlung unterblieb nach wie vor. Das Edict v. 17. Januar 1820 hatte die Staatsschuld wie jede künftige Anleihe „unter die Garantie der Reichsstände“ gestellt; – Die garantirenden Reichsstände aber existirten und existiren noch immer – nur allein in der Gesezsammlung und in der Hoffnung des preußischen Volkes.
Und diese Hoffnung des preußischen Volkes auszusprechen, – wer war mehr dazu geeignet als der Königsberger-Huldigungslandtag?! Von seinem Könige aufgefordert, nach altherkömmlichem Brauche „die Bestätigung etwa noch bestehender Privilegien in Antrag zu bringen,“ beschloß der Landtag mit 87 Stimmen gegen 5, die Verfassungsrechte zu wahren und Sr. Maj. an die bereits durch das Edict v. 22. Mai 1815 gesezlich gewährte, aber factisch noch immer nicht ins Leben getretene Volksrepräsentation zu erinnern. Ostpreußen arm und wenig beachtet, noch wund von jenen unglücklichen Kriegsjahren hat nicht seine Leiden geklagt, vielmehr seine Noth anständig verhüllend die Sache des gesammten Vaterlandes in freier, männlich-loyaler Rede geführt. Seit drei Jahrzehnten deuten Preußens Geschichte und Preußens-Gesetzgebung gleich unabweisbar auf die Nothwendigkeit einer Volksvertretung hin; nur durch sie kann der Beamten-Willkür Einhalt geschehn, nur durch sie kann des Volkes Stimme zum Throne gelangen und zwischen Regierung und Regierten das Vertrauen wieder hergestellt werden, welches allein bei künftigen politischen Stürmen (und schon ziehen die Wolken dicht zusammen) das Land vor dem Schicksale des Jahres 1807 zu schützen vermag. Nicht bloß berechtigt war der Huldigungslandtag zu solcher Mahnung, er erfüllte dadurch eine Pflicht gegen das Vaterland und gegen den König. –
Anerkennung ihrer treuen Gesinnung, Abweisung der gestellten Anträge und tröstende Hindeutung auf einen künftigen unbestimmten Ersatz.
Der Landtagsabschied vom 9. September 1840 besagt, Friedrich Wilhelm III.
- habe wegen der Ereignisse, die er bald nach Erlaß der Verordnung vom 22. Mai 1815 in andern Ländern wahrnahm, die Deutung, welche mit seinen Worten verbunden wurde, in reifliche Ueberlegung gezogen. Von den herrschenden Begriffen sogenannter allgemeiner Volksvertretung sich fern haltend, habe er den auf geschichtlicher Entwickelung beruhenden, der deutschen Volksthümlichkeit entsprechenden Weg eingeschlagen und seinem Lande die Provinzialverfassung verliehen. Dieses Werk solle auch in Zukunft treu gepflegt und einer ersprießlicheren Entwickelung entgegengeführt werden. –
1. Insofern „die bald nach der Verordnung vom 22. Mai 1815 wahrgenommenen Ereignisse“ in dem Landtagsabschiede nicht näher bezeichnet worden, dürfte auch jedes Urtheil über die Bedeutsamkeit derselben hier unzulässig erscheinen. Vorgänge in den deutschen Kammern können wohl schwerlich gemeint sein. Die seit dem ersten Pariser Frieden zunehmende Unzufriedenheit Deutschlands wollen wir zwar – zur Ehre unseres Volkscharakters – keineswegs in Abrede stellen. Wenn aber auch in Folge derselben sich hie und da Irrungen zwischen Fürsten und Ständen erhoben, so geschah dies doch weder in so kurzen Zwischenräumen noch in solcher Ausdehnung, daß man darauf eine Rechtsverweigerung gründen konnte. „Wir“, – sagt Herr v. Gagern –, „wir Edelleute haben einiges Recht, die deutschen Repräsentativverfassungen anzuklagen, die Fürsten nicht, nicht ohne Undank. In München, Karlsruhe, Stuttgart ist man ihnen mit Liebe nicht nur, sondern mit Enthusiasmus entgegengekommen. Mit diesem Enthusiasmus hat man die Civilisten behandelt. So wenig – ein englisches Parlament nach den Redensarten des Lord Cochrane oder Sir Francis Burdett zu beurtheilen ist, so wenig unsere Kammer nach dieser oder jener isolirten Aeußerung. Die so urtheilen, haben nicht den entferntesten Begriff von unseren frühern landständischen Verhandlungen, so oft voll Sinn, Nachdruck und Vaterlandsliebe.“
Allein die Untersuchung, welche Ereignisse gemeint seien, ist auch unnöthig, da sie Preußen wieder bis zum 1. September 1815 (dem Termine der einzuberufenden Reichsstände) noch später betrafen. Welchen Mißbrauch auch immerhin „in andern Ländern“ das Repräsentativsystem erfahren, in Preußen war die Regierung zu weit vorgeschritten, um die Stimme freier Diskussion zu scheuen, in Preußen war der König von der Treue seines Volkes zu fest überzeugt, um durch irgend welche Befürchtung sich von der Erfüllung seines Versprechens abhalten zu lassen. –
2. Schwieriger noch ist die Aufgabe, „die Mißdeutung, welche mit den königlichen Worten verbunden wurde“, nachzuweisen. Oeffentliche Mißdeutung durch die Presse ist uns nicht bekannt, eben so wenig eine berichtigende Erklärung die von Seiten des Staatsoberhaupts gegen solchen Frevel nöthig geworden. Wo überhaupt mit dem Worte zugleich die Sache so scharf und bestimmt gegeben ist, wie in §. 3 und 4 des genannten Edicts:
- – „Aus den Provinzialständen wird die Versammlung der Landesrepräsentanten gewählt, die in Berlin ihren Sitz haben soll und deren Wirksamkeit sich auf die Berathung über alle Gegenstände der Gesetzgebung u. s. w. erstreckt“ –;
da muß wohl jede Deutung – sie mag ein Mehr oder Weniger erzielen – nothwendig fortfallen. Den einzig möglichen Sinn jener Worte findet man wiederholentlich in dem Finanz-Edict vom 17. Januar 1820, in der Verordnung über die zu errichtenden Provinzialstände (v. 5. Juni 1823) und in vielen nachfolgenden Gesezen ausgedrückt; zum deutlichen Beweise, daß der gewissenhafte König durch Anordnung der Provinzialstände sich keineswegs seines unter den dringlichsten Umständen gegebenen Versprechens entbunden glaubte.
„Ein König sagt nicht, wie gemeine Menschen,
Verlegen zu, daß er den Bittenden
Auf einen Augenblick entferne; noch
Verspricht er auf den Fall, den er nicht hofft: –
Dann fühlt er erst die Höhe seiner Würde,
Wenn er den Harrenden beglücken kann.“ –
Und in eben demselben nicht umzudeutenden Sinne hat der ostpreußische Huldigungslandtag das Edict vom 22. Mai 1815 verstanden, indem er so bescheiden als klar darauf antrug, den Provinzialständen ihre gesetzmäßige Bestimmung zu geben, d. i. die Versammlung der „Landesrepräsentanten“ aus ihnen erwählen zu lassen.
3. Unzweifelhaft ist’s, daß das Institut der Provinzialstände sowohl „auf geschichtlicher Entwickelung beruht, als auch der deutschen Volksthümlichkeit entspricht.“ Die Geschichte lehrt, daß die früheren Stände sehr ausgedehnte Freiheiten, wie das volle Recht der Steuerverwilligung, besaßen und in Preußen sogar (kurfürstliche Assecuration vom 12. März 1663) über Krieg und Frieden entschieden. Die früheren deutschen Landtage, – lehrt gleichfalls die Geschichte, – hatten die Aufgabe, besondere Rechte und Privilegien geschlossener Stände zu vertheidigen; die daselbst zwischen Fürsten und Ständen gepflogenen Verhandlungen glichen (wie Bülau es treffend ausdrückt) „einem Congresse zweier Mächte, die über ihre collidirenden Interessen einen Vergleich schließen.“ Daß aber jene Stände für ein allgemeineres Volksinteresse, für die heilige Unantastbarkeit des Vaterlands und eine glorreiche Einheit desselben aufgetreten, davon sind die Beispiele zu zählen. Zur Zeit wird wohl weder Fürst noch Volk eine Entwickelung ersprießlich finden, welche den jetzigen Ständen die Bedeutung und Wirksamkeit ihrer Vorgänger ertheilte. Will man nun einmal nicht anders als mit rückwärts gewendetem Blicke vorschreiten, so vergesse man doch nicht, daß in Deutschland
- das Princip „allgemeiner Volksvertretung“
bei weitem älter und volksthümlicher ist, als das der Land-Standschaft.[5] – Freiheit der Gemeinde, Verantwortlichkeit der von derselben erkorenen Obrigkeit und eine auf Gleichheit der Gemeinderechte beruhende (nicht octroyirte) Volksrepräsentation findet man bei den Deutschen und überall wo Deutsche hingekommen, lange vor der Entstehung des Feudalwesens. Werden wir auf die Vergangenheit hingewiesen, so wollen wir uns lieber auf die freie deutsche Eiche stützen, als den historischen Wurzeln mittelalterlichen Feudalität nachgraben. –
4. Der Reichsstände erwähnt der Landtagsabschied gar nicht, verspricht aber dafür eine „ersprießlichere Entwicklung der Provinzialverfassung.“ – Zu der Weisheit des neuen Regenten herrscht gewiß das unbedingteste Zutrauen, aber es liegt nicht in der Macht eines Einzigen, Institutionen, die sich bereits überlebt haben, ihre zukünftige Entwickelung vorzuschreiben. Erwägt man die jüngsten Standeserhöhungen und die darin liegende Suggestion zu Majoratsstiftungen, so könnte man die Absicht einer Pairieschöpfung nach englischem Vorbilde vermuthen, – eine Schöpfung, die gerade in Preußen auf unübersteigliche Hindernisse stoßen und ein ganz fremdartiges Element in das unaristokratische Institut der Provinzial-Landtage bringen würde. – Preußen, von drei Großmächten eingeschlossen, kann mit seinen 14 Millionen und seiner allgemeinen Wahrhaftigkeit überall hin den Ausschlag geben, und empfängt nur dieser Stellung wegen das Compliment der Ebenmächtigkeit. Wie aber, wenn es für sich allein steht? Seine Volkseinheit ist bis jetzt mehr mechanisch als organisch gewesen; denn nicht von jeder der acht Provinzen kann mit Gewißheit ausgesagt werden, daß sie, – durch außerordentliche Ereignisse vom Ganzen getrennt – sich als ein von seinem Körper losgerissenes Glied empfinden würde; eine solche Gliederung giebt es bei uns von Saarlouis bis Memel nicht. Jede einseitige Ausbildung der Provinzial-Verfassung ohne Reichsstände wäre daher eine Gefahr für die Zukunft; statt eines organisch gegliederten Staates würden wir nach wie vor ein Aggregat von Provinzen ausmachen, deren jede nur ihr Sonderinteresse im Auge hätte; an unserm theuern Vaterlande würde sich im Kleinen wiederholen, was wir im Großen an Deutschland erfahren. Untergang der Einheit, mit ihr Verlust der bürgerlichen Freiheit und ausländische Unterjochung. – – Wir für unser Theil kennen nur Eine ersprießliche und volksthümliche Entwickelung der zeitigen Provinzialstände, – die durch Königswort und Gesez verbürgte Entwickelung zu Reichsständen. – –
Die Unbestimmtheit des königlichen Bescheides mußte nothwendig mehrfache Deutung veranlassen: einige fanden darin eine abweisende „Berichtigung der in der ständischen Denkschrift ausgesprochenen Ansichten; die meisten aber, die geist- und gemüthvollen Worte des Königs für eine – nur noch nicht deutlich ausgedrückte Gewährung haltend, gaben sich einem patriotischen Enthusiasmus hin, wie er, „in der Geschichte unserer Landtage nicht nachzuweisen ist.“ Dadurch wurde die erläuternde Cabinets-Ordre vom 4. October 1840 erforderlich. In Folge eines Berichtes des Ministers v. Rochow erklärt sich darin der König gegen die Mißdeutung, welche seinen schriftlichen und mündlichen Aeußerungen eine „Zustimmung zu dem in der Denkschrift enthaltenen Antrage auf Entwikkelung der Landesverfassung im Sinne der Verordnung vom 22. Mai 1815“ unterläge. – Friedrich Wilhelm IV. ehrt das freie Wort und achtet auch die ihm entgegenstehende Ansicht, wenn sie in bescheidener Weise sich kund giebt. Unumwunden gestehen wir daher, daß die an den Minister v. Rochow gerichtete Cab.-Ordre an vielen Orten den traurigsten Eindruck machte, jenen vorgreifenden Enthusiasmus dämpfte und manche schöne bürgerliche Hoffnung zerstörte.
Ist nun aber – und diese Frage muß uns hier besonders interessiren – ist durch den Landtagsabschied und durch den berichtigenden Commentar v. 4. October. 1840.
- Das Edict v. 22. Mai 1815 aufgehoben, oder besteht es nach wie vor in seiner vollen gesezlichen Geltung?
1. Es ist schon dargethan worden, daß das genannte Edict nicht vereinzelt dastehe, vielmehr in den mit dem Staate vorgenommenen Veränderungen wurzelnd sich mit vielfachen Zweigen in die ganze nachfolgende Gesezgebung verbreite. Nicht ohne Zerstörung dieser Wurzeln und Zweige könnte es aufgehoben werden, wenn anders nicht eine Rechtsungewißheit, wie bereits ein anderer deutscher Staat sie beklagt, entstehen soll. Um schon mehrmals Gesagtes nicht von neuem zu wiederholen, gedenken wir hier nur des Staatsschulden-Edicts vom 17. Januar 1820, in welchem die Staatsschuld und alle künftigen Anleihen unter „Garantie der Reichsstände“ gestellt werden. Wie sollte zur Zeit gemeinsamer Noth der Staat, so lange er der Reichsstände entbehrt, ohne Umgehung des Gesezes eine neue Anleihe machen? Wahrlich! die Staatsgläubiger würden, bräche früh oder spät ein Krieg aus, dessen Chancen doch nicht zu bestimmen sind, durch das Edict v. 17. Januar eine noch geringere Garantie haben, als in den Jahren 1806/7 an den in der Berliner Bank deponirten Wittwen- und Waisengeldern. –
2. Was aber bei Entscheidung der Frage noch von größerm Gewicht ist, auch an der erforderlichen Rechtsform würde es einer derartigen Aufhebung des Gesezes v. 22. Mai 1815 gebrechen.
„Alle Menschen,“ – sagt Justus Möser der rechtseifrige advocatus patriae, – „alle Menschen können irren, der König wie der Philosoph, und letztere vielleicht am ersten, da sie beide zu hoch stehen und von der Menge der Sachen, die vor ihren Augen schweben, keine einzige vollkommen ruhig und genau betrachten können. Dieserwegen haben es sich alle Nationen zur Grundfeste ihrer Freiheit und ihres Eigenthums gemacht, daß dasjenige was ein Mensch für Recht oder Wahrheit erkennt,
- „nie eher als Recht gelten solle, bevor es nicht das Siegel der Form erhalten“. –
Nun bestimmt aber das allgemeine preuß. Landrecht Einleitung:[WS 2]
- §. 59. Geseze behalten so lange ihre Kraft, bis sie von dem Gesezgeber ausdrücklich wird aufgehoben werden.
- §. 60. So wenig durch Gewohnheiten, Meinungen der Rechtslehrer oder durch die in einzelnen Fällen ergangenen Verordnungen neue Geseze eingeführt werden können, ebensowenig können schon vorhandene Geseze auf dergl. Art wieder aufgehoben werden.
- §. 61. Statuten und Provinzialgeseze werden durch neuere allgemeine Geseze nicht aufgehoben, wenn nicht in letzteren die Aufhebung der ersteren deutlich verordnet ist. –
Da diese zur Aufhebung eines Gesezes erforderlichen Bedingungen – das Siegel der Rechtsform – dem Landtagsabschiede, wie der Cab. Ordre v. 4. October abgehen; so folgt daraus, daß der König dadurch keineswegs das Edict v. 22. Mai 1815 zurückzunehmen gewillt war. Es besteht dasselbe nach wie vor in seiner vollen gesetzlichen Kraft und die Befugniß, ja die Pflicht der Stände, auf die Vollziehung desselben zu beharren, ist außer Zweifel gestellt. Die vierte Frage erledigt sich dadurch von selbst. –
Das, was sie bisher als Gunst erbeten, nunmehr als erwiesenes Recht in Anspruch zu nehmen. –
Der Stamm, welcher Erbe hat an dem Hause Jsais, hat zuerst gesprochen, – und nicht werden die übrigen sich zu ihren Hütten heben. –
Königsberg, am Krönungstage 1841.
Anmerkungen
- ↑ Bis zum J. 1832 konnte kein Justizbeamter wider seinen Willen versetzt werden. Seitdem aber wird in den Bestallungs-Patenten nicht mehr wie früher der Ort ihrer künftigen Wirksamkeit genannt, sondern es erfolgt die Anstellung „für die ganze preußische Monarchie“; sonach sind sie nicht mehr gegen willkührliche Versetzung geschützt. – Die Dienstentlassung der Justizbeamten kann in Preußen freilich nicht ohne richterliches Erkenntniß stattfinden, ausgenommen davon sind jedoch die, welche als Vertheidiger der Angeklagten gerade die freiste und unabhängigste Stellung einnehmen sollten, die Justiz-Commissarien. Diese können jetzt auch ohne vorangegangenen Rechtsspruch auf bloß administrativem Wege (d. h. durch die Minister) außer Thätigkeit gesetzt werden.
- ↑ Siehe Hansemann Preußen und Frankreich. Leipzig, II. Auflage. – Das den französischen Kammern jährlich vorgelegte Budget füllt einen starken Octavband; das preußische kaum eine Octavseite.
- ↑ Der Entwurf zu diesem sogenannten Stein’schen Testament ist von der Hand des jetzigen Oberpräsidenten v. Schön.
- ↑ Eine Stelle aus dieser denkwürdigen Rede, die Unzulänglichkeit der Provinzialstände mit blos berathender Stimme betreffend, haben wir schon oben angeführt. –
- ↑ Historische Zeugen dessen sind Moeser, Zachariae, Welcker, Mittermaier, Feuerbach u. v. A. – Tamdiu Germania vincitur! so klagt Tacitus über die stets erfolglosen Triumpfe der Römer. Tamdiu Germania vincitur! wie den Römern wird es allen Feinden germanischer Freiheit ergehen. –
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Das Werk wurde tatsächlich bei dem Verleger und Sympantisanten der Radikaldemokraten, Georg Wigand, in Leipzig gedruckt und verlegt. Die Verlagsangabe ist wegen des politisch brisanten Inhalts bewußt falsch. [Quelle: u.a. Bernt Engelmann: Trotz alledem. Deutsche Radikale 1777-1977. Rowohlt, Hamburg 1979]
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