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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[561]

No. 36.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Friedrich Oetker.


Währt sie stets noch unvergessen,
Ungesühnt, die alte Schuld,
Zeiht noch stets die Mahnung Hessen
Uns der schimpflichsten Geduld:
Strahlt aus Finsterniß und Schande
Fleckenlos ein Name doch,
Groß die Schmach im deutschen Lande,
Größer seine Ehre noch!

Friedrich Oetker, Mann des Rechtes,
Des Gesetzes treue Hut,
Mit dem stumpfen Sinn des Knechtes,
Mit des Büttels Uebermuth
Hast Du kühn den Kampf begonnen,
Deine Waffe nur das Wort,
Fruchtlos ist manch Jahr verronnen,
Fruchtlos währt Dein Kämpfen fort.

Nicht um Gold und Ruhmeszierde,
Nicht um Lohn von dieser Welt,
Nie war niedrige Begierde
Deinem Streiten zugesellt,
Wie der Blitz aus finstrer Wolke
Leuchtend züngelt reinen Lichts,
Zeigst den Weg Du Deinem Volke,
Doch Du suchst am Boden nichts.

Für das Recht hast Du gestritten,
Das verstrickt in Banden liegt,
Für das Recht hast Du gelitten,
Unbeirrt und unbesiegt;
Was auch Mächtige versprochen,
Blieb allein das Recht Dein Hort,
Niemals ward Dein Muth gebrochen,
Und Du brachest nie Dein Wort!

Friedrich Oetker, reinen Glanzes
Strahlst, ein Stern, Du durch die Zeit,
Jede Blüthe Deines Kranzes
Hegt die Frucht der Ewigkeit,
Nimmer kann Dein Schwert zerbrechen,
Fällst Du selbst auch im Gefecht,
Mag Gewalt Dein Urtheil sprechen,
Die Geschichte nur spricht Recht!

Ruhm ist nicht bei allen Siegen,
Widerlegt nicht, wer gebeugt,
Auch ein mannhaft Unterliegen
Für des Streiters Sache zeugt,
Und bis einst in Schlachtgewittern
Rettend der Befreier naht,
Still auch hinter Kerkergittern
Reift der Zukunft gold’ne Saat.

Friedrich Oetker, Schweres tragen,
Müssen wir noch immerdar,
Dämmernd kaum beginnt’s zu tagen,
Doch die Sonne ahnt der Aar;
Und ob wir mit bangen Nöthen
Seufzen noch im finstern Bann,
Zeigt der Freiheit Morgenröthe
Uns doch schon Dein Name an!

Albert Traeger.


Des Kaufmanns Ehrenschild.
Von Dr. J. D. H. Temme.

Wir hatten jeden Sonnabend einen Club, in welchem Kaufleute, Beamte und Officiere sich einfanden. Es war in einer reichen Handelsstadt und die Kaufleute überwiegend. Unter ihnen hatte ich einen mir besonders nahestehenden Freund. Er war älter als ich, aber wir hatten uns bei manchen Gelegenheiten kennen gelernt, und es hatte sich dadurch ein gegenseitiges inniges Vertrauen zwischen uns gebildet.

Freiherr von Holberg war sein Name, Friedrich Holberg seine kaufmännische Firma. Er war früher ein armer Officier gewesen, hatte die Feldzüge von 1813 bis 1815 mitgemacht, sich Ehren und Orden erworben, dann, da er arm und in seinem Regimente ein schlechtes Avancement war, seinen Abschied genommen und sein Glück als Kaufmann versucht. Er hatte es gefunden, zuerst in Amerika; seit Jahren war er schon nach Europa zurückgekehrt und gehörte zu den reichsten Handelsherren der Stadt, zu den gewissenhaftesten und geachtetsten. Er war Mitglied unseres Sonnabendclubs, den er regelmäßig besuchte.

Eines Abends im Sommer fand er sich später als gewöhnlich ein. Als er erschien, bemerkte ich eine Aufregung an ihm, die er, wenigstens vor mir, der ich ihn genau kannte, vergeblich zu verbergen suchte. Ich glaubte schon seit einiger Zeit eine Veränderung an ihm wahrgenommen zu haben, er war stiller als sonst, nicht immer von gleicher, unbefangener Laune, es schien ihn etwas zu drücken. Seine Augen hatten mich bald nach seinem Eintreten gesucht. Nach wenigen Minuten trat er auf mich zu, begann ein gleichgültiges Gespräch und führte mich in diesem wie absichtslos aus der Nähe der übrigen Gesellschaft. Das Sommerlocal der Gesellschaft war in einem großen Garten vor der Stadt.

Wir waren in eine Laube eingetreten, in der wir von den Anderen nicht gesehen werden konnten. Sein Wesen war auf einmal ein anderes geworden. Er warf den Zwang von sich ab, den er sich angethan hatte, sich zu verbergen, aber nur halb, nicht einmal halb; wie schwer mußte der Druck sein, der auf ihm lastete!

[562] „Ich habe eine Frage an Dich,“ begann er, „eine Frage an den Freund, aber auch an den Criminalrichter –“

Er stockte. Es war, als wenn ihm die Zunge festklebe, oder als wenn er nach Athem suchen müsse.

„Also doppelt auf Dein Gewissen,“ fuhr er dann fort.

„Ich werde Dir nach meinem besten Wissen und Gewissen antworten,“ sagte ich.

„Aber,“ stieß er heraus und er konnte mich nicht dabei ansehen, „die Sache betrifft nicht mich. Ich habe von einem Freunde den Auftrag, Dich um Deine Ansicht und Deinen Rath zu befragen.“

„Meine Antwort soll Dir werden, als wenn es Deine Sache wäre. Trage sie vor.“

Er mußte trotz der Versicherung, daß er nur eine fremde Sache vertrete, wiederum eine Pause machen. Es kostete ihm Ueberwindung, mit ihr hervorzukommen.

„Dem Kaufmann,“ sagte er dann, „sind seine Bücher sein Ehren- und Adelsschild. Habe ich Recht darin?“

„Es ist die Anschauung eines Edelmannes,“ erwiderte ich, „aber auch eine sachlich richtige.“

„Und durch eine Unrichtigkeit darin hat er sein Schild beschmutzt, zerbrochen?“

„Und vor dem Gesetze eine Fälschung, ein Verbrechen begangen.“

„Immer?“ fragte er hastig. „Durch jede Unrichtigkeit?“

„In der Regel wenigstens, zumal wenn die Rechte eines Andern verletzt werden sollen.“

„Dann immer?“

„Ich wüßte kaum eine Ausnahme. Nur ganz besondere Umstände des Falles möchten sie begründen können.“

Er mußte sich wieder zusammennehmen.

„Denke Dir folgenden Fall: Jemand hat mich betrogen, oder er will mich betrügen, und ich habe in das Geschäft, durch das dies geschehen soll, mich wirklich mit ihm eingelassen, es auch schon in meine Büchern eingetragen. Ich kann mich nun vor den nachteiligen Folgen nicht anders retten, als durch weitere falsche Eintragungen in meine Bücher. Ist daß ein Verbrechen?“

„Eine objective Fälschung wäre immer da,“ sagte ich.

„Auch ein Verbrechen?“ rief er.

„Nein, denn es fehlte die Absicht einer Verletzung der Rechte des Anderen; Du wolltest Dich nur gegen eine unrechtmäßige Verletzung Deiner eigenen Rechte schützen. Indeß –“

„Indeß?“

„Du müßtest unter allen Umständen und vor Allem den Beweis führen können, daß Du Dich nur eben so habest schützen wollen, und daß Du also der Betrogene seiest.“

„Und wenn ich den Beweis nicht führen könnte?“

„So wärst Du vor dem Gesetze ein Betrüger und Fälscher.“

„Und die Strafe wäre Zuchthaus?“

„Die Strafe wäre Zuchthaus, wahrscheinlich mehrjähriges.“

Er war einen Augenblick erblaßt. Dann hatte er sich wieder jene frühere Gewalt angethan, daß sein Aeußeres nicht verrathen solle, was in seinem Inneren vorging.

„Und der Ehren- und Adelsschild wäre für immer beschmutzt,“ murmelte er vor sich hin.

Er hatte sich auf eine Bank gesetzt, den Kopf gesenkt, die Augen zur Erde niedergeschlagen; so zeichnete er mit seinem Stocke unförmliche Figuren in dem Sande. Ich hatte den Druck, der auf ihm lastete, ihm nicht erleichtert. Ich wollte es.

„Wir haben noch immer keinen besonderen Fall besprochen,“ sagte ich. „Darf ich denn erfahren, um den es sich handelt?“

Er sann nach. Er konnte zu keinem Entschlusse gelangen.

„Der Freund,“ fuhr ich fort, „hat nicht immer die Verpflichtung, dem Criminalrichter zu denunciren.“

Auf einmal fuhr er auf. Ein Schritt war der Laube nähergekommen. Er hatte nach ihm ausgeblickt.

„Morgen,“ sagte er hastig, indem er schnell aufstand.

Als ich ihn anblickte, sah ich nur eisige Kälte und Ruhe in seinem Gesichte. Mit welcher Gewalt mußte er sie erzwungen haben!

Ein unangenehmer Mensch halle sich uns genähert, ein Amerikaner, Namens Jones, der sich seit ungefähr sechs bis acht Wochen in der Stadt aufhielt, mit guten Empfehlungen von amerikanischen Handelshäusern versehen, hier überall Ausnahme gefunden hatte und namentlich auch mit Holberg und in dem Holbergschen Hause viel verkehrte. Es hieß sogar, daß er der ältesten Tochter Holberg’s, einem eben so schönen, wie braven und liebenswürdigen Mädchen den Hof mache.

Ein wie schöner, edler und stolzer Greis der Freiherr von Holberg war – Mühen und Entbehrungen, namentlich in dem fremden Welttheile, hatten ihm vor der Zeit das Haar gebleicht – so roh, übermüthig, anmaßend, geldgemein war das Aussehen des Amerikaners Mr. Jones, obwohl seine Gestalt schlank und wohlgebildet, sein frisches, gebräuntes Gesicht regelmäßig und seine Augen groß, dunkel und blitzend waren. Sie bildeten die völligsten Gegensätze, jener wahrhaft adelige Freiherr, dieser ordinäre Geldmensch. Oder war er das nicht einmal ? Und sie waren auch nicht Freunde. Daß der Herr von Holberg den Menschen nur mit Widerwillen um und bei sich duldete, hatte ich längst bemerkt; heute glaubte ich noch mehr zu gewahren. Wie der Amerikaner aber zum Anbeter der schönen Therese Holberg sich hatte aufwerfen können, das war schon längst Allen um so mehr ein Räthsel, als man sie zugleich im Stillen mit einem anderen Bewerber verlobt hielt, einem der reichsten und liebenswürdigsten jungen Männer der Stadt. Karl Rauscher und Therese Holberg liebten sich wenigstens, darüber glaubte kein Mensch in Zweifel sein zu können. Warum sie sich dann nicht verlobten und öffentlich verlobten, zumal da der junge Rauscher zugleich völlig unabhängig war, das war freilich ein neues Räthsel.

Der Amerikaner hatte uns gesehen, er kam auf uns zu und trat in die Laube. Nach einer leichten Begrüßung wandte er sich sofort an Holberg.

„Dam, Sir, ich freue mich, Sie zu sehen. Ich hatte Sie schon gesucht.“

„Mich, Mr. Jones?“ fragte der Herr von Holberg vornehm und mit jener kalten Ruhe, die er so schnell hatte annehmen können.

„Sie, Sir. Ich hätte etwas mit Ihnen zu sprechen.“

„Mit mir allein? “

„Hm, ja.“

„So werden Sie die Güte haben müssen, zu warten, bis ich mit meinem Freunde fertig bin.“

„Dam, Sir, es hat keine Eile. Und Sie haben mit Ihrem Freunde wohl wichtige Sachen zu besprechen?“

„Ja, Sir.“

„Mit dem Herrn Criminaldirector?“

Der Mensch schien die Worte mit einer Beziehung zu sprechen. Holberg verfärbte sich leise.

„Aber ein hübschen Plätzchen haben Sie hier gewählt,“ fuhr der Andere leicht fort. „Sie erlauben doch, daß ich mich zu Ihnen setze?“

Ich konnte mich nicht mehr halten.

„Ich weiß nicht, mein Herr,“ sagte ich zu dem Menschen, „ob Sie vom Herrn von Holberg gehört haben, daß ich mit ihm zu sprechen habe?“

„Dam, Sir, Sie mit ihm? Dam –“

Er wollte aufstehen. Holberg, der vornehme Freiherr, der stolze Kaufmann, war verlegen geworden.

„Du erlaubst,“ sagte er zu mir, „daß ich vorher die Angelegenheit mit Mr. Jones abmache. Wir können dann unser Gespräch mit desto mehr Muße fortsetzen.“

„Wenn Du es wünschest, gewiß.“

„Darf ich bitten, mir zu folgen, Mr. Jones?“

Beide verließen die Laube. Ich blieb darin zurück, nachdenklich, gedrückt, vielleicht nicht minder gedrückt, als mein Freund. Er war so brav, er war ein wahrer Edelmann, aber auf seine kaufmännische Ehre stolzer, als auf seinen Adel; und was war das mit seinen kaufmännischen Büchern? – denn um ihn selbst hatte es sich gehandelt. Und welchen Einfluß, welche Gewalt übte dieser rohe, gemeine Amerikaner über ihn aus? Auch er war früher in Amerika gewesen; er hatte dort zuerst Vermögen erworben, den Grund zu seinem gegenwärtigen Reichthum gelegt. Er hatte dort noch lange Zeit nach seiner Rückkehr nach Deutschland Verbindungen unterhalten. Ich verlor mich in Vermuthungen, die nur leere bleiben konnten.

Die Beiden waren nicht weit gegangen. Ich sah sie durch die Zweige der Laube mit einander sprechen, dem Anscheine nach ruhig. Der Amerikaner schien sogar weniger übermüthig zu sein; Holberg hatte seine ganze Ruhe und Vornehmheit beibehalten, die [563] dem schönen Greise so wohl standen. Nach ungefähr zehn Minuten trennten sie sich.

„Also bis morgen, draußen,“ glaubte ich den Amerikaner noch sagen zu hören.

Holberg kehrte zu mir in die Laube zurück. Aber so wie er von dem Anderen sich abgewendet hatte, sah ich sein Gesicht blässer werden, die Züge erschlaffen, den Körper in einander sinken. In der Laube mußte er sich niedersetzen.

„Holberg, was hast Du mit dem Menschen gehabt?“

„Nichts, nichts.“

„Wir sind Freunde. Du mußt es mir sagen. Der gemeine Mensch wird Dein Dämon, der Dich vernichtet; er ist es schon.“

Er fuhr zusammen. „Was sagst Du da? Ja, ja, Du hast Recht.“

„So hast Du die Pflicht, Dich mir zu entdecken. Ich beschwöre Dich darum. Du mußt gerettet werden.“

„Kann ich es? Kann ich es?“

„Dich mir nicht entdecken? Oder nicht gerettet werden?“

„Beides nicht.“

Ich mußte ihm näher treten. „Er will morgen zu Dir kommen? “

„Ja.“

„Hinaus nach Holbergen?“

„Ja.“

Holbergen war ein reizendes Landgut, das mein Freund ungefähr zwei Meilen von der Stadt sich angelegt hatte. Seine Familie hielt sich im Sommer dort auf. Er kam oft, des Sonntags regelmäßig, hinüber.

„Deine Familie ist dort?“

„Ja.“

Seine Tochter fiel mir ein; allerdings lag der Gedanke an sie nahe genug. „Auch Deine Tochter ist draußen?“

„Mein Kind, mein Kind!“ rief er auf einmal im tiefsten Schmerze.

Die Tochter war sein Liebling; er nannte sie die Perle unter seinen Kindern.

„Holberg, Freund,“ sagte ich, „Dir steht wirklich ein Unglück bevor, ein schweres Unglück, Dir und Deinem Kinde. Darfst Du, kannst Du es mir nicht entdecken? Kann Dein treuester Freund nicht mit Dir berathen, wie es abzuwenden ist? “

Er starrte mich an; er stand wie abwesend. Zu einem Entschlusse konnte er auch jetzt nicht gelangen.

„Morgen,“ sagte er nach einer Weile. „Nein, nicht morgen, übermorgen. Ich muß vorher noch einmal Alles überdenken, nachsehen, ordnen. Uebermorgen komme ich zurück. Lebe wohl.“

Er ging; ruhiger und gefaßter, als ich nach dem letzten Sturme in seinem Innern erwartet hatte. Was ihn so niederdrückte, was ihn so aufregte, ich sann vergebens darüber nach. Nur Eins schien mir klarer zu sein: es lagen hier alte Beziehungen zwischen ihm und dem Amerikaner zum Grunde. Aber welche und von welcher Art, das war mir wieder unklar genug. Schien dagegen nicht noch Eins wieder klar genug zu sein, daß der Amerikaner ihm für alte Verbindlichkeiten sein Kind abkaufen wollte? Ich mußte, um Licht zu bekommen und vielleicht Hülfe bringen zu können, bis zum zweiten Tage, zum Montage, warten. Licht, ein entsetzliches Licht, sollte ich schon früher erhalten.

Am nächsten Abend, Sonntags, es war schon beinahe Nacht, brachte der Polizeidirector der Stadt einen Fremden zu mir. Er stellte ihn mir als einen englischen Polizeibeamten vor, der in einer dringenden Angelegenheit an ihn gewiesen sei, den er aber gleich zu mir führe, weil hier neben dem polizeilichen Einschreiten ebenso wesentlich sofort ein richterliches Verhandeln Noth thue.

Der englische Beamte theilte Folgendes mit: Von New-York war vor ungefähr einem halben Jahre ein Schiff mit Passagieren nach England abgegangen. Unter den Passagieren hatte sich ein Master Frank aus New-York befunden, ein Mann von ungefähr fünfunddreißig Jahren, dem Anscheine nach wohlhabend, nach seinen Gesprächen auf einer Reise nach Deutschland begriffen, woher seine nach Amerika ausgewanderten Eltern stammen. Er war mit dem Schiffe in Liverpool angekommen. Vier Wochen später war er auch, oder vielmehr ein Mann, der in seinem Alter gewesen und seinen Namen geführt, in einem Londoner Handlungshause erschienen, hatte dort New-Yorker, auf seinen Namen Frank lautende Wechsel vorgezeigt und deren nicht unbedeutenden Betrag gegen Quittung erhoben. Er war dabei zugleich im Besitze von völlig unverdächtigen Legitimationspapieren gewesen. Man hatte seitdem nichts weiter von ihm gehört. Der Zufall hatte es aber gewollt, daß vier Monate später, vor ungefähr drei Wochen, derselbe New-Yorker Kaufmann, der jene Wechsel auf den Londoner Bankier ausgestellt, diesen besuchte. Bei der Gelegenheit kam das Gespräch auf die Wechsel und auf Mr. Frank. Der Londoner beschrieb sein Aeußeres, der New-Yorker wollte es nicht zutreffend finden. Die Wechsel mit den Quittungen Frank’s wurden herbeigeholt. „Das hat Frank nicht, das hat ein Anderer geschrieben!“ rief der New-Yorker. Die Sache war von Wichtigkeit; ein Verbrechen schien jedenfalls vorzuliegen; der einmal angeregte Verdacht mußte weiter verfolgt werden. Es wurde der Polizei Anzeige gemacht, diese forschte nach, und es ergab sich zuerst, daß vor ungefähr fünf bis sechs Monaten im Hafen von Liverpool die Leiche eines fremden, völlig unbekannten Mannes von ungefähr fünfunddreißig Jahren aufgefunden war. Der Verstorbene war mit einem Taschentuche, das man noch fest zusammengezogen um seinen Hals fand, erdrosselt gewesen. Papiere oder Werthsachen fand man nicht bei der Leiche, auch sonst nichts, das über ihn hätte Auskunft geben können; nur trug seine Leibwäsche den Buchstaben F. Alle Nachforschungen nach ihm und dem Verbrechen, das an ihm verübt sein mußte, waren damals fruchtlos geblieben. Jetzt aber wurde ferner Folgendes festgestellt: Die Leiche war ungefähr acht Tage nach der Ankunft des nämlichen Schiffes entdeckt, auf welchem sich der Mr. Frank befunden hatte. Auf dem Schiffe hatte ein anderer junger Mann, in dem nämlichen Alter wie Frank, die Ueberfahrt gemacht, ein Deutscher, Namens Johansen, der sich mehrere Jahre in Amerika aufgehalten hatte, wahrscheinlich als Mitglied einer herumziehenden Gaukler- oder Seiltänzerbande. Auf dem Schiffe hatte er wenigstens die Gesellschaft vielfach durch Kunststücke solcher Leute zu unterhalten gewußt. Er war deshalb auch gern gesehen gewesen, und besonders hatte Mr. Frank sich an ihn angeschlossen. Beide waren in Liverpool zusammen an’s Land gestiegen. Von da an hatte man nichts wieder von ihnen gesehen und gehört, bis, nachdem ein Mr. Frank die Wechsel in London präsentirt, der New-Yorker Kaufmann jetzt die Zweifel an der Echtheit dieses Mr. Frank angeregt hatte. Der Verdacht wollte sich geltend machen, daß Frank ermordet und daß jener Johansen der Mörder sei, der den Ermordeten seiner Papiere und Sachen beraubt und seinen Namen angenommen habe. Der Verdacht wurde durch einen andern Umstand bestätigt. Bei weiteren Nachforschungen wiesen nämlich die Schiffsregister nach, daß am zweiten Tage nach der Eincassirung der Wechsel ein Mr. Jones von Dover nach Calais gefahren sei. Wenn nun auch der Name Jones in England ein sehr gewöhnlicher war, so mußte dennoch andererseits beachtet werden, daß der Vater des Mr. Frank in Amerika lange Zeit den Namen Jones geführt und auch unter dieser Firma Handelsgeschäfte dort betrieben hatte. Jedenfalls waren weitere Verfolgungen der so aufgefundenen Spuren geboten. Man unterzog sich ihnen und, Dank der strengen französischen Fremdencontrole, man fand, daß ein Amerikaner, Namens Jones, gerade zu der Zeit, um die es sich handelte, in Calais angekommen, sich einige Zeit in Paris aufgehalten und dann nach Deutschland weiter gereist war.

Als Ziel seiner Reise hatte er die Handelsstadt angegeben, in der wir uns befanden. Der englische Beamte war ihm sofort nachgereist. Er war vor einer Stunde angekommen, von dem Polizeidirector hatte er erfahren, daß der Gesuchte hier sei.

Was jetzt weiter zu thun und in welcher Weise zunächst zu verfahren sei, mußte ich mich fragen. Aber andere Gedanken hatten zu allernächst mich ergriffen, fast überwältigt.

Ein Mr. Frank war in New-York der Compagnon Holberg’s gewesen, freilich unter einem anderen Namen, unter der Firma Schüler und Compagnie. Ihm hatte Holberg sein Glück zu verdanken gehabt; durch ihn hatte er dann freilich, als er schon nach Europa zurückgekehrt war, einen bedeutenden Theil seines Vermögens wieder verloren. Und erst da hatte er den wahren Namen Frank seines früheren Compagnons erfahren, und daß dieser ein großer Schurke war, den seine Betrügereien genöthigt hatten, aus Europa nach Amerika zu flüchten und dort eben so oft Aufenthalt wie Namen zu wechseln. Er war vor einigen Jahren, wie es hieß, in Armuth gestorben. Er hatte einen Sohn hinterlassen, der jetzt in dem Alter von etwa fünfunddreißig Jahren stehen konnte, [564] und von dem Nachrichten eingelaufen waren, daß er ein würdiger Sohn seines Vaters sei.

Das Alles wußte ich aus Mittheilungen Holberg’s, der allerdings in Beziehung auf Einzelnheiten seines früheren Verhältnisses zu Frank immer Zurückhaltung gezeigt hatte. War der Ermordete der Sohn Frank’s? Hatte er hierher, zu Holberg, gewollt? Gar jener gemeine Amerikaner Jones der Mörder, der des Namens und der Papiere seines Opfers sich bemächtigt halte? der alte Verhältnisse, alte Verbindlichkeiten, vielleicht noch mehr geltend machen wollte?

Und wenn das Alles so war, was half es meinem armen Freunde? Mußte ich nicht annehmen, daß es auch bei ihm sich um ein Verbrechen handle? Und war dieses nicht um so mehr bloßgestellt, wenn der Verbrecher sein Verfolger war? War er nicht schon dadurch, wenngleich nur äußerlich, in die Verbrechen jenes Menschen mit hinein verwickelt? Aber es mußte gehandelt werden, schleunig, sofort, und ich mußte als Criminalrichter einschreiten. Ich durfte dabei der Freund bleiben.

Der Polizeidirector hatte Recht gehabt. Zugleich mit dem polizeilichen Vorangehen that ebenso sehr ein gerichtliches Verhandeln Noth. Bestätigte sich der einmal vorhandene Verdacht, so mußte der Verfolgte sofort bei dem ersten Angriffe gerichtlich vernommen werden. Die ersten Fragen an einen zumal überraschten Verbrecher sind nur zu oft entscheidend für die ganze fernere Untersuchung. Der englische Polizeibeamte hatte ein ziemlich genaues Signalement des Verfolgten bei sich; es war nach den Angaben in dem Londoner Bankierhause aufgenommen, bei dem er seine Wechsel realisirt hatte. Es paßte vollständig auf den Mr. Jones. In Verbindung mit den übrigen Momenten war es danach völlig gerechtfertigt, auf der Stelle, noch in der Nacht, bei Mr. Jones einen polizeilichen Besuch zu machen; der Polizeidirector mußte dazu den englischen Beamten zuziehen. Meine, des Criminalrichters, Anwesenheit war eine Garantie mehr für die Gesetzmäßigkeit des Verfahrens.

So hatte auch der Polizeidirector sich die Sache überlegt und er hatte schon vorher einen seiner Beamten zu der Verfolgung von Jones geschickt, um sich, ohne alles Aufsehen, zu erkundigen, ob dieser zu Hause sei.

Der Beamte brachte in unsere Berathungen die Nachricht, der Gesuchte sei nicht da; er sei am Nachmittage ausgeritten und nicht zurückgekehrt, und man wisse nicht, wo er sei. Ich wußte es wohl, wenigstens wohin er geritten sei, er mußte auch noch dort sein.

Er hatte Holberg einen Besuch auf Holbergen angesagt. Schon früher war er mehrere Male draußen gewesen und hatte dann, wenn es ihm zu spät zur Rückkehr nach der Stadt geworden war, die Nacht in einem Gasthofe logirt, der ungefähr zehn Minuten von dem Gute an der Chaussee lag. Unzweifelhaft war er auch jetzt da. Ich theilte es den beiden Polizeibeamten mit. Es wurde beschlossen, ihn dort aufzusuchen. Seine Ueberraschung mußte um so größer sein, mithin auch, wenn er der Verbrecher war, seine Verwirrung. Seine Wohnung in der Stadt sollte unterdeß unter scharfe polizeiliche Beobachtung gestellt werden.

Wir brachen so schnell wie möglich nach Holbergen auf. Wir fuhren; einige Gensd’armen und Polizeidiener zu Pferde begleiteten uns. Es war eine warme, stille, ziemlich klare Sommernacht. Gegen Mitternacht hatten wir die Stadt verlassen und bald nach ein Uhr in der Nacht erreichten wir den Gasthof bei Holbergen; er lag diesseits des Schlosses, unmittelbar an der Chaussee. Das Haus lag im tiefsten Dunkel vor uns; man gewahrte auch nicht die geringste Bewegung. Unsere Ankunft war nicht vernommen worden.

Der Kutscher mußte vom Bocke steigen und an die Hausthür klopfen, als wenn noch späte Gäste angekommen seien, die Einlaß begehrten. Es war mir unterdeß schwer genug auf dem Herzen. Auf dem ganzen Wege hatte sich eine immer größere, drückendere Angst meiner bemächtigt; meine Gedanken konnten das Schicksal des Menschen, den wir verfolgten, von dem Holberg’s nicht trennen. Und daß der widerwärtige, gemeine Mensch ein Verbrecher war, das wollte mir immer gewisser werden, ich konnte immer weniger daran zweifeln.

Die Thür des Gasthofs wurde geöffnet. Wir traten in das Haus wie verspätete Gäste. Die Gensd’armen und Polizeibeamten hielten sich zurück. Der Wirth erschien und wurde nach dem Herrn Jones gefragt. Er kannte ihn. Der Amerikaner logirte dort, aber er war nicht im Hause. Es war des Abends gegen sechs Uhr angekommen, hatte sich zum Schlosse Holbergen begeben, bei dem schönen Wetter zu Fuße, und war noch nicht zurückgekehrt. Das war auffallend; die Nacht war schon bis um halb zwei Uhr vorgerückt.

Ich fragte den Wirth, ob Herr Jones, wenn er sonst auf Holbergen gewesen, wohl so spät dageblieben sei.

„Niemals,“ war die Antwort.

„Ob heute auf dem Schlosse etwas Besonderes sei, vielleicht ein Fest gefeiert wurde?“

„Auch das nicht soviel er wisse.“

Mir wollte es unheimlicher werden. Da mußte sich etwas ereignet haben. Sollte der Mensch jenen entsetzlichen Handel erzwungen haben? Sollte die Perle der braven Familie –? Ich durfte den Gedanken nicht ausdenken.

„Doch etwas,“ fuhr der Wirth fort, „war heute am Schlosse los. Vorgestern Abend war in dem Dorfe Alsleben hinter Holbergen eine Seiltänzerbande angekommen. Der Herr von Holberg hat sie gestern Abend auf dem Hofe spielen lassen, um seinen Leuten ein Vergnügen zu machen. Meine Leute waren auch hin.“

Es konnte an dem Ausbleiben des Amerikaners nichts ändern.

Ich mußte dennoch unwillkürlich stutzen, als eine Seiltänzerbande erwähnt wurde. Auch der, den wir verfolgten, sollte zu einer solchen Bande gehört haben. Wir überlegten, was weiter zu thun sei. Sollten wir die Rückkehr des Amerikaners abwarten, oder ihn geradezu im Schlosse aufsuchen? Es wurde ein Mittelweg beschlossen. Ich, als Bekannter der Holbergschen Familie, sollte mich allein, nur unter Begleitung eines der Polizeidiener, der bürgerliche Kleidung trug, in das Schloß begeben, dort Erkundigungen einziehen, und je nach dem Befunde zum Wirthshause zurückkehren oder durch den Polizeidiener die anderen Beamten herbeirufen lassen.

Ich machte mich mit dem Diener auf den Weg, in der schönen, ruhigen Nacht ebenfalls zu Fuße. Weg, Schloß und Umgebung waren mir bekannt; ich war oft da gewesen. Wir mußten eine Zeitlang die Chaussee weiter hinaufgehen; dann bog eine gerade Pappelallee links ab und führte in vier bis fünf Minuten zum Schlosse. Das Schloß gehörte zu einem großen Gute, es lag mitten in einem weitläufigen Park; dieser erstreckte sich bis an die Chaussee, und wir hatten ihn in der Pappelallee schon zu beiden Seiten. Jenseits des Schlosses zog er sich bis zu der Feldmark des Dorfes Alsleben hin. Das Dorf lag eine starke Viertelstunde von dem Schlosse entfernt.

Ich erreichte mit meinem Begleiter das Schloß; es war noch hell darin, in mehreren Zimmern brannte Licht. Auch unter dem großen Eingangsportale war es hell. Es standen Leute dort, im Hause an den hell erleuchteten Fenstern glaubte ich Menschen hin und her gehen zu sehen. Und es war schon nahe an zwei Uhr Morgens. In einer Stunde, noch früher, mußte der Tag grauen.

Hier hatte sich etwas Besonderes zugetragen, oder man hatte es noch vor. Eine peinigende Angst ergriff mich; ich mußte meine Schritte beschleunigen. Wir erreichten das Portal. Die Menschen, die dort standen, waren Leute, die zum Schlosse gehörten, ein paar Bediente und einige Mägde, welche in Gruppen mit einander sprachen. Sie kannten mich, und einer der Bedienten trat auf mich zu.

„Wissen der Herr Director etwas von dem gnädigen Herrn?“

„Wie so?“

„Er ist um zehn Uhr am Abend ausgegangen und noch immer nicht zurück.“

„Wohin war er gegangen?“

„In den Park, um noch zu promeniren.“

„Hat man ihn gesucht?“

„Sie suchen noch nach ihm. Die gnädige Frau hat alle Anderen ausgeschickt.“

„Die gnädige Frau ist zu Hause?“

„Sie ist oben in ihrem Zimmer.“

„Führen Sie mich zu ihr.“


(Fortsetzung folgt.)
[565]

Schickler’s Blumentisch.


Wenn die Menschen zu träge oder zu beschäftigt sind, um zu der Natur hinaus zu gehen, so muß man jene zu diesen in ihre Zimmer und Werkstätten hereinzuholen versuchen, denn ohne Naturgenuß wird der Mensch unnatürlich, wozu bei unseren überkünstelten Gesellschaftsformen ohnehin übergroße Gefahr vorhanden ist. Glücklicherweise macht sich unsere Mutter und Erzieherin an uns und in uns so mächtig geltend, daß wir, wir mögen wollen oder nicht, ihre Kinder bleiben, und nur Verblendete oder Heuchler stimmen in das einfältige Lamento ein, daß die Erde ein „Jammerthal“ sei.


Blumentisch mit Springbrunnen.


Die Natur ist zwar nicht immer sehr beflissen, ihre Kinder mit Wohlthaten zu überschütten, sondern sie läßt sich oft gewaltig bitten, ja sie fordert diese heraus, daß sie ihr ihre Gaben abringen, und mit einem nachsichtsvollen Mutterlächeln gönnt sie ihnen sann die hochmüthige Freude, welche sich einbildet, sie habe sich allein das Errungene zu danken. Ihre Absicht hat sie doch erreicht: ihre Kinder sind thätig und betriebsam geworden. Dabei läßt sie die Ihrigen bald dieses bald jenes Mittel finden, bei denen die Finder nur nicht vergessen dürfen, daß ihre Wohlthäterin es für sie verloren hatte, verloren, damit jene es finden sollten.

Wie wir bei einem Blumentischchen zu diesen Gedanken kommen? Nun, weil Herr Schickler ein solcher Finder gewesen ist und er uns seinen glücklichen Fund mittheilt.

Luftdruck heißt dieser Fund. Herr Schickler freilich ist nicht der erste Finder; diese waren schon vor mehr als 200 Jahren Galilei und Toricelli. Daß aber unser schwäbischer Gewährsmann das Gesetz des Luftdruckes im Innern des abgebildeten Blumentischchens angewendet hat, um diesem einen Springbrunnen als reizende Zugabe hinzuzufügen, ist ein sicherlich dankenswerthes Verdienst.

Wenn wir uns an der Betrachtung des Blumentisches mit dem Springbrünnchen erfreut haben (Fig. 1), durchschneiden wir die Säule des Tisches und sehen uns ihr Inneres an, um dort die treibende Kraft zu entdecken (Fig. 2, s. folgende Seite).

In der Mitte des weiten Raumes der Tischplatte, ringsum nur einen kreisförmigen Raum zum Einstellen der Blumentöpfe übrig lassend, befindet sich ein rundes Blechgefäß e, und ein zweites f, genau von demselben Rauminhalt, im Fuße des Tisches, unter der Säule. Beide Gefäße sind durch 2 Rohre, c und d, verbunden. Auf der Decke des oberen Gefäßes e ist jedoch noch ein gleichweiter beckenartiger Behälter aufgelöthet, so also, daß beide durch den Boden getrennt sind, der eben so dem oberen beckenartigen Behälter als Boden wie dem Gefäße e als Decke dient.

Das Rohr c ist am oberen Ende knieförmig abwärts gebogen und geht in seiner ganzen Länge durch Decke und Boden des Gefäßes e und durch die Decke des Gefäßes f bis dicht über den Boden dieses letzteren, wo es offen endet. Das andere Rohr, d, beginnt in der Decke des Gefäßes f und reicht bis dicht unter die Decke des Gefäßes e. Zwischen beiden Rohren ist in der Decke des Gefäßes e ein drittes kurzes Rohr eingelöthet, welches unten offen und oben in eine feine Oeffnung endet.

In diesen Apparat wird mit einem Trichter durch den kleinen verschließbaren Hahn a (auf der Figur wie ein Kreuz aussehend) das Gefäß e voll Wasser gefüllt, jedoch so, daß nichts davon oben in das Rohr einläuft. Hat man alsdann den Hahn wieder gut verschlossen, so hat nun dieses Wasser nur einen Ausweg, nämlich die feine obere, durch den aufrechten Pfeil angedeutete Oeffnung des kurzen Rohres zwischen den beiden längern. Dieses Wasser ist es also, welches springen soll. Die Luft soll es dazu treiben, nämlich die Luft, welche in dem unteren Gefäße f und in dem von ihm ausgehenden Rohre d enthalten ist. Diese muß aber wieder getrieben werden und zwar durch anderes Wasser. Wir gießen nun in das oberste Becken ebenfalls Wasser, welches das treibende ist. Dieses tritt in das knieförmig gebogene obere Ende des Rohres c ein und fließt in das untere luftgefüllte Gefäß f hinunter, und in demselben Maße, als dieses Gefäß Wasser aufnimmt, muß die Luft durch das Rohr d aufwärts entweichen. Am oberen Ende dieses Rohres unter der Decke des Gefäßes e steht aber das in diesem enthaltene Wasser der Ausbreitung der Luft im Wege. Da jedoch das in dem Rohre c abwärts stürzende Wasser unablässig die Luft in dem Rohre d aufwärts drängt, so muß das Wasser in e weichen und einen Ausweg suchen. Dieser ist für dasselbe nur in der feinen Sprungöffnung des mittelsten Röhrchens gegeben. Dort muß es hinaus dringen und die kleine Fontaine bilden.

Wie lange dauert nun das Springen derselben? So lange bis alles Wasser aus e hinausgedrängt ist. Alsdann ist c leer, oder richtiger mit Luft gefüllt, und f ist mit Wasser gefüllt. Dieses wird nun durch den Hahn b abgezogen und e durch den Hahn a wieder gefüllt. Es beginnt der Kreislauf auf’s Neue, und ist derselbe an unserer Figur durch die Richtung der kleinen Pfeile angedeutet.

Es versteht sich von selbst, daß die kleine Fontaine um so länger springt, je größer die Gefäße e und f sind und je enger die Oeffnung des Sprungröhrchens ist.

Der Verfertiger dieses Blumentisches, Herr Schickler in Stuttgart, schreibt darüber: „Der hier abgebildete Blumentisch hat eine passende Größe und eine gefällige Form. Der Wasserstrahl wird auf 1 1/2 Fuß

[566]

Durchschnitt der Säule des Blumentisches.

Höhe getrieben und springt ungefähr vier Stunden ohne Unterbrechung, und es bleibt dabei die ganze Umgebung rein und trocken, so daß ich durchaus keinen Anstand nehme, diese neue Einrichtung als eine wahre Zierde für Salons um so mehr zu empfehlen, als namentlich im hohen Sommer Springbrunnen, im Zimmer angebracht, der Gesundheit sehr zuträglich sind. Einige Goldfischchen in das Bassin gesetzt, verleihen dem Ganzen noch mehr Eleganz und Zauber.“

Der Preis für diese neuen Blumentische mit Springbrunnen durch Luftdruck ist für einfachere Exemplare 75–100 fl., mit feinster künstlerischer Schnitzarbeit und Vergoldung 150 fl. Blumentische mit Springbrunnen durch Luftdruck von feinstem Eisenguß mit reichen Verzierungen schön bronzirt und vergoldet kosten 90–100 fl.

Wir können diese schöne Zimmerzierde nur bestens empfehlen.

R.




Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.
Von Carl Vogt in Genf.
Nr. 4.
Landschnecken – Ihre Wanderungen – Ihre Feinde – Regenwürmer und deren Muskelkraft – Die Sage von zerschnittenen und wieder zusammen geheilten Regenwürmern – Der Tausendfuß – Abenteuer eines preußischen Officiers – Die Kellerasseln und Spinnenthiere – Zecken und Milben – Ehren Hahnemann und die Krätze.

Meine Herren!

Ehe ich zu den Insecten übergehe, welche unsere sämmtlichen übrigen Stunden ausfüllen sollen, glaube ich in der heutigen Vorlesung einige Thiere zusammenfassen zu müssen, die weder zu den Wirbelthieren, noch zu den Insecten gehören und nicht ohne Einfluß auf die menschliche Oekonomie sind. Die Einen sind Weichthiere, Mollusken, nackte oder mit einem Haus versehene Landschnecken, die schleimigen Körpers auf fleischiger Sohle dahingleiten und zwischen ihren weichen Lippen starke Hornkiefer oder selbst eigenthümliche Raspelinstrumente tragen, sogenannte Zungen, d. h. hornige Bänder, auf welchen eine Unzahl von feinen Zähnen auf regelmäßigen Längs- und Querreihen aufgestellt sind. Diese Raspelzunge arbeitet mit ihren feinen Hornzähnchen gegen einen hornigen Unterkiefer und kann auf diese Weise sehr bedeutende Wirkungen besonders auf weiche Pflanzengewebe hervorbringen.

Alle unsere Landschnecken athmen durch Lungen. Betrachten Sie einmal eine ruhig dahin kriechende Schnecke, so werden Sie auf der rechten Seite des Körpers in ziemlicher Entfernung hinter dem Kopfe ein eirundes Loch gewahren, welches die Schnecke von Zeit zu Zeit schließt und wieder öffnet. Die Höhle, welche sich hinter diesem Loche befindet, führt nicht nur in einen geräumigen Athemsack, sondern auch in die Mündungen des Darmcanales und der Geschlechtstheile. Das Athembedürfniß ist indeß bei den Schnecken bei weitem nicht so groß, als bei anderen Thieren, und sie können Wochen lang mit zugesponnener Schalenöffnung harren, ohne bedeutenden Schaden darunter zu leiden.

Feuchtigkeit ist ein absolutes Bedürfniß, Dunkelheit eine Wohlthat für die Schnecken. Ihr Körper sondert beständig eine Masse zähen, fadenziehenden Schleimes ab, der auf allen ihren Wegen zurückbleibt und in Gestalt eines silberglänzenden, feinen Ueberzuges ihre Spur verräth. Nur wenn die Unterlage durch diesen Schleim feucht gemacht ist, können sie auf derselben vorwärts gleiten, weshalb sie auch auf Asche, Sägemehl, das sich noch obendrein an den Schleim anhängt, nur mit größter Mühe vorwärts gelangen. Man hat hieraus auch die Anweisung zum Abhalten der Schnecken von Gartenbeeten begründet, die darin besteht, daß man die Wege herum mit höchst feinem, trockenem Sand, Sägemehl, Asche, Hammerschlag oder Kohlenstaub bestreut. Nur hat man leider dabei vergessen, daß die Verwüstungen der Schnecken im Allgemeinen nur in feuchten und nassen Jahren zu fürchten sind, wo durch das häufige Regnen alle diese Gegenstände eine so glatte Oberfläche bekommen, daß die Schnecken mit leichter Mühe darüber weggleiten. Eine längere Reise über einen breiten Weg bei heißem Sonnenscheine würde eine nackte Schnecke unzweifelhaft tödten. Der reichlich abgesonderte Schleim, mit welchem sie sich gegen die Einwirkung der Sonnenstrahlen zu schützen sucht, wird bald so zähe, daß alle Bewegungen aufhören. Sie trocknet förmlich wie zu einem Stückchen Horne aus und geht gänzlich zu Grunde, sobald dieser Zustand länger andauert. Deshalb verbergen sich auch die nackten Schnecken während der heitern und trockenen Tage in der Erde, unter Hecken und Blättern, am Fuße der Stämme und Mauern und kommen nur Nachts, sobald der Thau beginnt, oder bei anhaltendem Regenwetter hervor.

In den Feldern und Gärten ist es namentlich die kleine graue, gelbliche oder bräunliche Feldschnecke (Limax agrestis), welche in nassen Jahren, wie z. B. 1816 und 1817, die furchtbarsten Zerstörungen anrichtet und mit Vorliebe jungen Klee und sprossendes Getreide, Salat und Bohnen, Erdbeeren und Kürbisfrüchte, sowie Rüben und Kohlrabi anfrißt. Vom ersten Frühjahre an kriecht sie aus der Erde, wo sie selbst bis zu einer Tiefe von 3 Fuß ihr Winterquartier aufschlägt und fest zusammengezogen das Eintreten der Frühlingsregen erwartet, ja häufig schon bei Thauwetter durch das niedersickernde Naß zu früh geweckt wird, daß sie selbst unter dem schmelzenden Schnee an [567] der Oberfläche anlangt. Die Fortpflanzung findet den ganzen Sommer hindurch, vom Mai bis in den November hinein statt, und da die Thiere Hermaphroditen sind, d. h. weibliche und männliche Geschlechtsorgane stets vollständig auf einem einzigen Individuum ausgebildet sind, so befruchten sie sich immer wechselseitig und legen mehrere Hunderte von Eiern unter dürre Blätter, sowie in die Erde, an Mauern und Hecken. Nichts ist leichter, als sich solche Eier zu verschaffen; man braucht nur einige Schnecken in einem feuchten Kasten mit Salatblättern zu füttern und man wird fast regelmäßig Morgens an der unteren Fläche dieser Blätter Häufchen von verhältnißmäßig großen, runden Eiern finden, welche eine höchst dünne Kalkschale besitzen und in deren Innerem ein kleiner, mit bloßen Augen nur unter günstigen Umständen sichtbarer Dotter in einer sehr großen Menge wasserhellen Eiweißes schwimmt. Die Entwickelungszeit dieser Eichen dauert 14 Tage bis 3 Wochen. In Zeit von 2 Monaten ist bei gutem Futter das ausgeschlüpfte Schneckchen schon zu mehr als halber Größe herangewachsen.

Die großen rothen und grauen, nackten Waldschnecken (Arion empiricorum und hortensis), welche man häufig zur Herstellung schleimiger Fleischbrühe benutzt, namentlich für Brustkranke, sowie die graumarmorirten sehr großen Kellerschnecken (Limax maximus), die sich an einzelnen Orten ziemlich häufig finden, kommen doch fast nie in solcher Menge vor, daß sie erheblichen Schaden zufügen könnten; doch sind sie ebenso unangenehme Gäste, als die großen Weinbergsschnecken mit dem gelbbräunlichen Gehäuse (Helix pomatia), und die Busch- und Strauchschnecken (Helix nemoralis und hortensis) mit gelber oder röthlicher, häufig mit braunen Binden gezierter Schale, die an Zierbüschen und Obstbäumen zuweilen nicht unerheblichen Schaden anrichten.

Die Feinde der Ackerschnecken sind nicht gering an Zahl. Kröten und Blindschleichen nähren sich fast ausschließlich von ihnen; Maulwürfe, Spitzmäuse, Enten, Hühner, Dohlen, Krähen, Elstern und Raben stellen ihnen eifrig nach, und selbst der goldschimmernde Laufkäfer verschmäht sie nicht. Ihr bester Jäger ist, wie schon angeführt, in Gärten die Kröte, und das beste Mittel, um sie zu hegen, Einfassungen von Buchs um die Beete zu pflanzen, in deren dichten, immergrünen Blättern sie sich leicht verbergen können. Auf Grasplätzen sammelt man sie leicht, indem man ein nasses Bret die Nacht hindurch auf das Gras legt und durch Begießen die Feuchtigkeit in der Umgegend erhält. Auf Gartenbeeten kann man sie sammeln, indem man frische Kürbisschnitte umherlegt, welchen sie begierig nachziehen. Nur hat diese Sammelmethode den Uebelstand, daß sie erst im Herbste angewendet werden kann, wenn die Kürbisse der Reife nahe sind, und daß gerade im Frühjahre die Schnecken durch Benagen der jungen Pflänzchen den meisten Schaden thun.

Soll ich Ihnen auch von den Regenwürmern (Lubricus agricola) reden, die ein heimliches Leben unter der Erde führen, nur bei warmem Regenwetter hervorkommen und dann stets noch die Vorsicht brauchen, daß sie mit einem Theile ihres Hinterleibes in ihrem Loche stecken bleiben, um bei der geringsten Erschütterung der Erde schnell in dasselbe sich zurückziehen zu können? Sehr schädlich sind sie gerade nicht, aber doch sehr gefräßig, und die humusreiche Erde genügt ihnen nicht allein, „sie suchen nach vermoderten Vegetabilien,“ wie ein Beobachter sagt, „und wenn sie deren nicht finden, so präpariren sie sich ihren Fraß, indem sie, was ihnen vorkommt, in ihre Löcher herunterziehen. Jedermann weiß, daß die Strohhalme, Federn, Blätter, Papierstreifen, welche man des Morgens auf den Höfen und in den Gärten in der Erde stecken sieht, als wären sie von Kindern hineingepflanzt, während der Nacht von den Regenwürmern verschleppt werden. Wenige jedoch werden gesehen haben, wie mit so schwachen Werkzeugen ein Wurm im Stande ist, so große Gegenstände zu überwältigen. Wenn man jedoch den Widerstand erprobt hat, den der Wurm dem entgegensetzt, der ihn aus dem Loche hervorzuziehen versucht, so wird man sich über die Muskelkraft eines nur aus Muskeln und Haut bestehenden Thieres nicht so sehr verwundern. Ein starker Strohhalm wird in der Mitte gefaßt und so scharf angezogen, daß er zusammenknickt, und so in’s Loch hinabgezogen; ein breite Hühnerfeder mit der Fahne war ohne Schwierigkeit in ein enges Loch gezerrt; ein an der Spitze gefaßtes grünes Blatt von einer Himbeerstaude zerreißt.“ Jungen Setzlingen wird der Regenwurm auf diese Weise besonders schädlich, indem er sie in sein Loch hinabzieht. Die Laufkäfer, die Skolopender und Tausendfüße, besonders aber die Maulwürfe sind die gefährlichsten Feinde der Regenwürmer.

Eines Vorurtheiles muß ich hier noch erwähnen. Gärtner haben mir öfters Regenwürmer gezeigt, an deren Leib der sogenannte Gürtel, ein rother, mehrere Linien breiter Ring, besonders angeschwollen war. „Da sehen Sie, der ist gewiß mit dem Spaten mitten von einander geschnitten worden und wieder zusammengeheilt.“ Ich weiß nicht, ob Regenwürmer, wie andere niedere Thiere, einen verlorenen Theil wieder zu ersetzen vermögen; es liegen keine weiteren Erfahrungen darüber vor. Aber das weiß ein jeder Naturforscher, daß jeder Wurm einen solchen Gürtel besitzt, der besonders zur Begattungszeit stark anschwillt und in dem Fortpflanzungsgeschäfte eine wesentliche Rolle spielt. So viel Hunderte von Würmern auch bei dem Umgraben eines Gartenbeetes zerschnitten werden, so habe ich doch nie einen vernarbten oder in der Reproduction begriffenen Wurm gefunden und glaube deshalb, daß die getrennten Theile sehr bald sterben und zu Grunde gehen.

An feuchten, dumpfigen Orten, unter Rinden und im Moose, in Kellern und unter der Erde finden wir häufig kleine, schlangenartige, aus sehr vielen Ringen zusammengesetzte Gliederthiere, welche einen deutlichen Kopf mit Augen und Fühlhörnern besitzen und auf einer Unzahl von Beinen umherlaufen, weshalb man sie auch Tausendfüße (Myriapoden) genannt hat. Es sind gewissermaßen Mitteldinge zwischen Krustern und Insecten; denn während sie einerseits, wie diese letzteren, durch vielfach im Körper verzweigte Luftröhren athmen, besitzen sie gegliederte Anhänge oder Beine an allen Ringen des Körpers in derselben Weise, wie die Krebsthiere. Die großen Skolopender der südlichen Gegenden sind ihres giftigen Bisses wegen berüchtigt; die kleineren, bei uns lebenden Arten können mit ihren schwachen Kieferzangen zwar ein kleines Insect bewältigen und, wie wir eben sahen, den Regenwurm erfolgreich angreifen, aber nicht einmal die Haut des Menschen verletzen. Sie erscheinen also eher als nützliche Thiere, wenn auch einige Arten, wie besonders der gelbliche Julus mit blutrothen seitlichen Tupfen, gern an gefallenes Obst und gelbe Rüben geht, in welche er Höhlungen bohrt.

Der sogenannte elektrische Tausendfuß leuchtet in der That nicht nur in der Dunkelheit mit schwachem Glühen, sondern läßt auch eine leuchtende Spur zurück, wo er kriecht. Man findet ihn besonders gern in Miststätten, in alten, feuchten Ställen und Gewölben, wo er Nachts nach Nahrung umherschleicht. Ein preußischer Husarenlieutenant mußte eines Tages im siebenjährigen Kriege auf einer Streife in einem alten Gemäuer übernachten, wo er auf einem Bündel Stroh am Boden schlief. Es war eine schaurige, kalte Regennacht; der Wind heulte grauslich und schüttelte die morsche Thüre gewaltig. In der Nacht wurde das Heulen so stark, daß der Lieutenant aufwachte. Er sah zu seinem Schrecken an dem Boden, an den Wänden, selbst an der Decke leuchtende Streifen und Züge, die, seltsam in einander verschlungen, hie und da einige Aehnlichkeit mit hebräischen Lettern boten. Jetzt ward es dem tapferen Lieutenant doch etwas unheimlich zu Muthe; er glaubte vielleicht in den leuchtenden Zügen, deren Bedeutung er leider nicht enträthseln konnte, sein eigenes „Mene tekel“ zu erblicken, das ihm aus einem Versehen der höllischen Hofkanzlei in alttestamentlicher, ihm unverständlicher Schrift zugefertigt wurde. Seine aufgeregten Sinne ließen ihn auch schon den bekannten Schwefelgeruch verspüren, und in dem Heulen des Sturmes glaubte er den höllischen Chor der Dämonen zu hören, die der Empfangnahme seiner armen Seele entgegenjauchzten. Da indessen unser Lieutenant zur Armee des alten Fritz gehörte, so ermannte er sich sehr bald, griff nach seinen Waffen, tappte aber dabei auf einen der Lichtstreifen, der sich vor ihm zu bewegen schien. Er fühlte etwas, wie einen leichten Stich, und bemerkte nun, daß die leuchtende Materie an seinen Fingern hängen blieb. Jetzt war alle Furcht verschwunden. Er schlug Licht, sah bei dem Scheine der Laterne einiges Gewürm, das auf dem Boden umherkroch, fing einige Exemplare davon auf und schickte sie in einer Federspule eingeschlossen dem Pastor Götze, nicht dem berüchtigten Hauptpastor, den sein Streit mit Lessing so bekannt gemacht hat, sondern dem Pastor Götze in Magdeburg, der in jener naiven Zeit lebte, wo ein Pfarrer sich noch mit Eingeweidewürmern, Insecten und mikroskopischen Thieren beschäftigen durfte, ohne daß die Stillen im Lande ein Aergerniß an seiner Frömmigkeit nahmen. Der Pastor Götze, ein gewiegter Naturforscher, dessen Name noch heute einen vortrefflichen Klang besitzt, [568] erkannte sogleich den elektrischen Tausendfuß und zog aus der ganzen Geschichte nur den Schluß, daß de Geer Unrecht habe, wenn er das Leuchten der Thiere bezweifle. Zu bedauern ist freilich, daß die Geschichte nicht in bessere Hände kam. Für einen Verfasser von Tractätchen oder einen Zögling des Rauhen Hauses wäre sie wohl einige Pfund Sterling werth gewesen.

Die Kellerasseln (Oniscus murarius) gehören in die Nähe der Tausendfüße, obgleich sie von ihnen wesentlich verschieden und in ihrer Organisation mehr den eigentlichen Krustenthieren genähert sind. Ihre Athmung wird durch eigenthümliche Blättchen mit verzweigten Höhlungen bewerkstelligt, die unter den Klappen am Hinterleibe verborgen sind und die auch beim Weibchen zum Schutze der Eier während der Entwickelung dienen. Die verschiedenen Arten, von denen einige sich kugeln können, leben, wie schon der Name andeutet, an feuchten, dunkeln Orten und verbergen sich im Freien Tags über unter Steinen und faulenden Blättern, um Nachts ihrem Fraße nachzugehen, der besonders aus modernden Pflanzenstoffen besteht. Solche Lebensweise könnte ihnen nun wohl schwerlich zum Vorwurfe gereichen; aber da sie außerdem auch noch die süßen Obstbaumfrüchte, welche man in den Kellern aufbewahrt, namentlich die Birnen, an solchen Stellen, wo die Oberhaut schon etwas beschädigt ist, und selbst die Spalierfrüchte, die noch an den Bäumchen hängen, angreifen und Höhlungen hineinfressen, so thut man wohl besser, wenn man sie so viel als möglich zu vertilgen strebt. Auch sollen sie eine ganz besondere Vorliebe für einige Arten von Sämlingen und Setzlingen haben, besonders für die Petunien, die in den Mistbeeten oft gänzlich von ihnen verwüstet wurden. Da diese Blumen jetzt eine Lieblingspflanze für die moderne Cultur geworden sind, so dürfte allerdings einige Vorsicht in dieser Beziehung anzurathen sein.

Die Spinnenthiere oder Arachniden, welche die eigentlichen Spinnen, die Skorpionen und Geißelspinnen, die Weberknechte, Zecken und Milben begreifen, zeichnen sich fast alle durch ihren räuberischen, heimtückischen Charakter und das Gift aus, welches sie theils in ihren Kinnladen, theils in ihrem Schwanze tragen. Durch den vielfachen Wechsel ihrer Formen und die Mannigfaltigkeit ihrer Organisation wiederholen sie gewissermaßen in der Reihe der Gliederthiere die Reptilien, mit denen sie sonst übrigens im Entferntesten keine Aehnlichkeit haben. Trotz ihrer Häßlichkeit und Grausamkeit sind doch die meisten unter ihnen dem Menschen nur nützlich, indem ihr Gift nur kleineren Thieren schädlich ist, unter welchen sich zahlreiche Feinde des Menschen befinden. Denn was sonst ihnen aufgebürdet wird, ist größtentheils Fabel und Verleumdung und kann vor der besonnenen Naturforschung nicht Stich halten.

Die Zecken (Ricinus) und Milben (Acarus) sind meistens Schmarotzer und fallen demnach nicht in den Kreis unserer Beschäftigungen, obgleich Vieles über sie zu sagen wäre. Namentlich unter den Angriffen der Milben hat die Menschheit nicht wenig gelitten, da ja, wie jetzt festgestellt ist, eine häßliche, fast mikroskopische Bestie aus dieser Familie, die Krätzmilbe (Sarcoptes scabiei), die alleinige Ursache jener juckenden Hautkrankheit und ihrer Ansteckung ist. Das kleine Thier gräbt sich in die Oberhaut ein, legt in diese Gänge Eier; die Jungen graben weiter und bringen durch die Reizung Pusteln und Schärfe hervor. Kömmt nur eine einzige Milbe lebend auf die Haut einen anderen Menschen, so erzeugt sie bei diesem dieselbe Krankheit. Soviel die Menschen früher, wo man die Ursache der Krankheit nicht kannte, durch diese selbst, sowie durch die langwierige Behandlung geplagt wurden, ebenso viel wurden die Geister angefüllt mit pathologischem Unsinn über die schreckhaften Folgen der vermeintlichen Krankheit. War ja doch die allgemeine Krätzkrankheit, die Psoriasis, das hohe Parateroß, auf welchem seiner Zeit Ehren Hahnemann, der Erfinder der gleichwerthigen Homöopathie, vor der staunenden Menge einhertrabte und sich Ruhm und Geld erwarb! „Zurückgetretene Krätze“ war zu jenen Zeiten das Schibboleth für alle chronischen Krankheiten ohne Ausnahme, und da es wohl nie einen Menschen gegeben hat, der nicht einmal in seinem Leben ein Bläschen oder eine Blüthe auf der Haut gehabt hätte, so war die innere Krätze gleich demonstrirt und die Ursache der Krankheit gefunden. Heutzutage, wo man das Thierchen kennt, wo man seine Lebensweise bis in die kleinsten Einzelheiten erforscht hat, heutzutage sind alle jene Hirngespinste einer auf die Leichtgläubigkeit gegründeten Speculation in ihr Nichts zerfallen. Man heilt die Krätze, indem man die Milben tödtet; man tödtet sie so schnell als möglich, in wenigen Stunden, mit einigen Bädern und ätzenden Einreibungen, was früher für ein Verbrechen an der Zukunft des Menschen gehalten wurde, und man weiß nichts mehr von all den schauderhaften Uebeln, welche die zurückgetretene Krätze verursachen sollte.

(Schluß folgt.)




Erinnerungen aus dem Schleswig-Holsteinschen Kriege.
Von Graf A. Baudissin.
Nr. 2.
Der Lurbaß.

Ich lag mit einer Compagnie des dritten Jägercorps auf Friedrichshof, wo der Commandeur der Avantgarde, General von Gerhardt, sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte. Der General war ein liebenswürdiger Vorgesetzter; er suchte die Gesellschaft der jungen Officiere, brachte ganze Abende plaudernd und erzählend unter ihnen zu, und erfreute sich deswegen einer großen Popularität. Zu seinen vielen Eigenthümlichkeiten gehörte auch die, daß er Morgens nach dem Frühstück den Dohnenstieg besuchte, um die Krammetsvögel auszunehmen, welche sich über Nacht gefangen hatten. Ich stand bei dem General gut angeschrieben, und als ich mich daher eines Morgens mit der ersten Compagnie des dritten Jägercorps zum Dienste meldete, sagte er: „Lassen Sie es gut sein – ich will gerade Vögel ausnehmen. Sie können mitgehen – der Lorenz hat einen Korb, bitten Sie den Lorenz, Ihnen denselben zu geben. Nach der nebligen Nacht müssen viele Vögel in den Dohnen hängen.“

Lorenz gab begreiflich den Korb her, und ich wanderte mit dem Commandeur der Avantgarde nach dem Tannenholze, um Weindrosseln auszunehmen. „Da hängt einer!“ rief der General, der jeden Platz kannte, wo eine Dohne hing. „Da ist wieder einer – zwei! Sehen Sie nicht? da hängen zwei in einer Schlinge.“ Der alte Herr war ganz entzückt über den reichen Fang. Fast in jeder Dohne hing ein Vogel, so daß unser Korb halbvoll war, als wir die erste Hälfte des Dohnenstiegs ausgenommen hatten.

„Warten Sie nur, bis wir auf den Hügel kommen,“ sagte der General; „ich wette Ihnen eine Flasche Champagner, daß wir in jeder Schlinge einen Vogel treffen. Hier unten in der Ebene habe ich nie viele gesehen, aber oben hängt es brechend voll.“

Wir erreichten die Höhe und betraten den Dohnenstieg. Die ersten Dohnen waren leer – leer – Alles leer – wo eine Dohne hing, war die Schlinge in Unordnung, die Beere abgerissen – die Vögel waren ausgenommen. Kaum hatte ich die schwarze Ahnung ausgesprochen, als der General zwischen den jungen Tannen eine Uniform zu entdecken glaubte. „Kommen Sie doch ’mal her, mein Geliebter,“ rief er wuthschnaubend. Ein Jäger meiner Compagnie kam etwas verlegen aus dem Dickicht und stellte sich vor dem General in Positur.

„Was machen Sie hier?“ fragte der General.

Der Jäger sah mich bittend an, ich nickte ihm verstohlen zu, und da er sah, daß ich ihm mit einem blauen Auge durchhelfen würde, gestand er seine Schandthat.

„Wie viele Vögel haben Sie ausgenommen?“

„Ich weiß nicht, Herr General!“

„Sie wissen nicht? Können Sie zählen?“

„Zu Befehl, Herr General!“

„Dann zählen Sie mir sie vor!“

„Die Vögel liegen da in meinem Tornister,“ stotterte der Jäger.

„Holen Sie ihn her! – Der Kerl soll die Angst kriegen. Mir die Vögel ausnehmen und in den Tornister packen! Himmelsacrament und kein Ende!“

[569] Der Jäger brachte den Tornister, öffnete ihn vorsichtig – er war voll von Krammetsvögeln.

„Zählen – ein bei ein,“ befahl der General.

„Een, twee, dree, veer, fif –“

„Hochdeutsch zählen! bleiben Sie mir mit Ihren „Fifen“ weg! Hochdeutsch!“

„Ich kann nicht, Herr General!“

„Sie sprechen doch Hochdeutsch, da werden Sie doch auch zählen können.“

„Nein, Herr General.“

„Nun, denn man immer zu mit Ihren Fifen!“

„Söß, söben, ocht, negen, tein –“ hier blickte der Jäger mich ängstlich an; ich gab ihm aber durch alle möglichen Zeichen zu verstehen, daß er sich nicht fürchten solle; und er hub wieder an zu zählen und hörte nicht eher auf, bis er „Söben und dörtig“, siebenunddreißig Krammetsvögel ausgepackt hatte.

„Was glauben Sie, wird jetzt geschehen?“ fragte der General; „ich möchte blos wissen, ob Sie eine Idee von dem haben, was heute mit Ihnen passirt? Nun, was denken Sie wohl?“

„Ich weiß nicht,“ sagte der Jäger.

„Ein Jahr Festungsarrest ist das Allerwenigste, vielleicht fünf Jahre Zuchthaus! Ich will Ihnen was sagen, Jäger, – wie heißen Sie?“

„Matthias Johannsen, Herr General.“

„Also, Jäger Johannsen, Sie sind ein Lurbaß, ein ganz niederträchtiger Lurbaß! Jetzt nehmen Sie die Krammetsvögel und bringen sie dem Lorenz, und dann melden Sie sich beim Wachtcommandanten in Arrest. Ich will Euch lehren, meinen Dohnenstieg respectiren! Also, daß Sie es wissen, Sie sind ein Lurbaß!

Wissen Sie, was Sie sind?“

„Ein Lurbaß, Herr General.“

„Ja, und ein ganz gehöriger Lurbaß sind Sie! Jetzt marsch fort! Sie Millionen-Lurbaß! Das einzige Vergnügen, das man hat, wird Einem von den eigenen Leuten gestört; ich thue den Leuten zu Liebe, was ich kann, und zum Dank dafür nimmt mir der Lurbaß meine Vögel aus. Ist der Kerl von Ihrer Compagnie?“

„Zu Befehl, Herr General.“

„Scheint eine saubere Compagnie zu sein! Gefällt mir nicht! Müssen Ihre Leute besser anhalten! Taugt der Kerl etwas? dient er schon lange?“

„Er ist ein braver Soldat, Herr General – und trotzdem steht er in der zweiten Classe und hat die schleswig-holsteinsche Cocarde ablegen müssen.“

„Ein braver Soldat, und Krammetsvögel steh– ausnehmen!

Ein braver Soldat und doch keine Cocarde? Wie reimt sich das zusammen?“

„Wenn Sie es erlauben, werde ich Ihnen erzählen, durch welchen Umstand er die Cocarde einbüßte. Der Mann jammert mich, und ich möchte ein gutes Wort für ihn einlegen, damit Sie ihm verzeihen, Herr General.“

„Ihr Schleswig-Holsteiner haltet zusammen wie Pech!“ knurrte der General. „Schießen Sie los und erzählen Sie mir, was diesen Tugendhelden in die zweite Classe gebracht hat.“

„Er war mit vielen anderen Soldaten auf einem Tanzboden. Ein Unterofficier, der des Guten zu viel gethan, zog gegen einen Soldaten den Säbel. Die Anderen fielen über ihn her, nahmen ihm den Säbel ab und brachten ihn aus dem Saal. Am folgenden Tage zeigte der Unterofficier Matthias Johannsen als denjenigen an, der sich gegen seinen Vorgesetzten thätlich vergangen habe – und das Kriegsgericht verurtheilte ihn zu einmonatlichem Arrest und Verlust der Cocarde. Seit dieser Zeit ist der Jäger Johannsen tiefsinnig und begeht bisweilen Thorheiten wie die heutige, gleichsam, als wolle er sich absichtlich ins Unglück stürzen.“

Der General kaute am Schnurrbart. „Also sonst ein braver Kerl?“ fragte er, mich scharf anblickend.

„Ein sehr braver Mann.“

„Soll die Cocarde wieder haben!“

„Und wegen der Vögel, die er ausgehoben?“

„Der verdammte Lurbaß! Siebenunddreißig Vögel hat er ausgenommen und nicht einmal die Dohnen wieder gerichtet. Bestraft muß er werden, geben Sie ihm zwölf Stunden Arrest – und, damit er die Vögel nicht umsonst ausgenommen hat, soll er mir sie rupfen, alle Siebenunddreißig. Sagen Sie aber Ihren Leuten, daß ich mir ausbitte – Wer Teufel kommt da an? Ist das nicht der Pape?“

„Ja wohl, Herr General, es ist der Lieutenant Pape, und wie mir scheint, hat er Eile!“

Pape sprengte im Galopp heran, sprang vom Pferde und übergab dem General einen Befehl des Generalkommandos.

Während der alte Herr las, flüsterte er mir zu: „Morgen früh um vier Uhr marschiren wir nach Missunde. Diesmal setzt es etwas. Fünfzehntausend Mann und acht Batterien haben Marschordre.“

Der General winkte dem Adjutanten und gab mir durch ein freundliches Kopfnicken zu verstehen, daß ich gehen könne. Ich begab mich zu meinen Leuten und erzählte ihnen, was ich eben vernommen hatte. Den Lurbaß nahm ich extra vor und sagte ihm, daß er morgen seine Cocarde wieder haben solle; er möge nur vermeiden, dem General zu begegnen, und die unglücklichen Drosseln rupfen.

Die Jäger nahmen die Nachricht, daß es morgen zum Gefechte kommen würde, mit der Ruhe und Besonnenheit auf, welche den Deutschen, besonders den Norddeutschen, so eigenthümlich ist. Statt Hurrah zu rufen und sich zu betrinken, packten sie ihre Tornister aus und behielten nur das Nothwendigste zurück. Wer seine Bandage verloren hatte, ersetzte sie durch eine neue; die alten Zündhütchen wurden vorsichtig abgenommen und gegen frische vertauscht. Manche schrieben nach Hause, andere horchten der Terrainschilderung aufmerksam zu, die ein Unterofficier von der Gegend um Missunde entwarf.

Die Dänen hatten ein Lager aufgeschlagen bei Kochendorf, einem Kirchdorfe zwischen Eckernförde und der Schlei. Das Lager war, wie wir durch Spione wußten, durch einen Laufgraben gedeckt und durch mehrere Batterien verstärkt. Die Zahl der Feinde wurde auf 6–8000 angegeben. Die Rückzugslinie der Dänen ging über das Dorf Cosel nach Missunde, wo ein starker Brückenkopf die an dieser Stelle sehr schmale Meeresbucht, welche unter dem Namen Schlei bekannt ist, vollständig beherrschte. Zudem hatten die Dänen vor Eckernförde Kriegsschiffe liegen, und das nördliche Ufer der Schlei, Missunde gegenüber, mit Batterien bespickt. Die Knicke und Wälle waren rings umher niedergerissen, die Distancen sorgfältig gemessen, sodaß die dänische Artillerie ein schrecklickes Feuer auf die Angreifenden richten konnte. Um aber der deutschen Artillerie das Auffahren zu erschweren, waren die Wege durchstochen und unpassirbar gemacht.

Die Jäger hörten diesen Mittheilungen mit gespannter Aufmerksamkeit zu und bemerkten sehr richtig, daß es nothwendig sein werde, nicht viel Federlesens zu machen, sondern mit dem Bajonnet darauf loszugehen.

Früh am 12. September 1850 marschirten wir von Friedrichshof ab. Es war ein herrlicher Herbstmorgen; unsere Straße führte uns durch prangende Wälder und reiche Dörfer und Felder – das schöne deutsche Land war wohl eines Kampfes werth. Die Bewohner der Dörfer kamen uns mit Erfrischungen aller Arten entgegen; manche Mutter erkannte ihren Sohn und drückte ihm weinend einen Kuß aus das bärtige Gesicht. Das zweite Jägercorps hatte die Spitze; es traf schon vor Kochendorf auf den Feind, warf ihn aber überall mit dem Bajonnet zurück. Als wir uns Kochendorf näherten, rückten das erste Bataillon und das dritte Jägercorps in die Gefechtslinie. Es war ein Wetteifer unter den Bataillonen, welches zuerst an den Feind kommen sollte. Das zweite Jägercorps, geführt von dem tapferen Hauptmann von Ganzer, ließ uns lange nicht in’s Gefecht kommen. Der kleine Hauptmann schwenkte seinen Säbel und stürzte sich, von dem herrlichen Corps gefolgt, auf die Dänen. Eine Position nach der anderen, ein Haus, ein Zaun, eine Waldlistère nach der anderen wurde mit dem Bajonnet genommen, und wenn der begeisterte Führer nach der Erstürmung einer Position „Schlagt an! Feuer!“ rief – beantworteten unsere Leute sein Commando mit einem lauten Hurrah. – Wir hatten noch keinen Schuß gethan und glaubten schon, daß das zweite Jägercorps die ganze Arbeit allein thun würde; aber es kam anders.

Vor uns stand das Lager der Dänen – eine vollständige Stadt aus Stroh und Latten gebaut; aus den Laufgräben blitzten die Bajonnete, die Kanonen drohten Tod und Verderben. Hauptmann von Ganzer drängte die Dänen nördlich nach der Schlei zu, wir – d. h. das erste Bataillon und dritte Jägercorps – griffen mit Sturm das Lager an. Kaum waren wir aus freiem Terrain, als die Kanonen uns begrüßten. Zweiunddreißig Geschütze beschossen uns mit Voll- und Hohlkugeln – noch höre ich den klatschenden [570] Schlag in meinen Ohren, mit welchem eine Vollkugel in das erste Bataillon einschlug und zehn oder zwölf Mann niederriß. – „Schließt Euch!“ rief der Major von Behrens – unstreitig einer der tüchtigsten Officiere unserer Armee – „Vorwärts, erstes Bataillon!“

„Schwärmen!“ rief mein Commandeur, der heldenmüthige Major von Eickstedt. – „Schnell avanciren!“ Im Nu rissen die Jäger die Büchsen von der Schulter und flogen über das Feld. Ein schreckliches Feuer empfing uns, und laß Dir sagen, lieber Leser, Alles ist zu ertragen in der Schlacht, nur nicht ein wohlgezieltes Kanonenfeuer, das mit furchtbarer Consequenz eine Vollkugel nach der andern daherschickt. Mir ist es in solchen Stunden, wenn ich den weißen Rauch aufsteigen sah, immer gewesen, als ob die Kugel mir direct in’s Gesicht fliegen müsse. Die Dinger sausen Einem um die Ohren und wühlen die Erde neben Einem auf! - - Brrr! – Wir lagen auf der Erde, krochen vorsichtig weiter, schossen und luden im Liegen, und krochen wieder vorwärts. Kartätschen sausten daher – Granaten platzten über und neben uns – wir krochen näher. Die Dänen im Laufgraben feuerten ihre Donnerbüchsen ab, die mit zwei Rehposten mit einer Bleiplatte geladen waren – die Jäger lachten über „Hannemann“ und rückten immer näher.

„Avanciren! drittes Jägercorps, avanciren!“ blies der Hornist. – Rasch sprangen wir auf – Hurrah! – d’rauf und d'ran durch Rauch und Feuer, Kanonen- und Flintenkugeln! – Wir hatten den Laufgraben. Die Artillerie hatte ihre Stellung aufgegeben. In sausender Carriere fuhr sie ab; eine neue Position wurde gewählt, neues Verderben spieen die Kanonen. Ich sah mich um; es schien mir, als ob die Erde bebte; – da kam die vierte Sechspfünder-Batterie. Die Kanoniere schwenkten die Helme, Trompeten bliesen, Rosse schnoben – „Ha! welche Lust, Soldat zu sein!“ sangen die Leute – die Kanonen flogen daher – eine Bombe reißt zehn Pferde und sechs Mann in Stücke – im Umsehen sind die Pferde abgespannt, vorwärts fliegt die Batterie.– „Abprotzen! Batterie, Feuer!“ ertönt der Ruf des Officiers – Acht Kanonen donnern dem Feind entgegen. – Wieder eine Salve! – In der nächsten dänischen Batterie fliegt ein Pulverkarren in die Luft.– „Avanciren, erstes Bataillon! Avanciren, drittes Jägercorps!“ rufen die Hörner. Die Musikcorps spielen auf, und „Schleswig- Holstein meerumschlungen“ singen die stürmenden Krieger. Eine zweite Batterie fährt hinter uns auf, eine dritte, vierte, fünfte, sechste. Wie rasend stürzen die Pferde vorwärts, lustig schmettern die Trompeten. „Feuer! Batterie-Feuer!.“ blasen die Signale. Weißer Rauch steigt auf aus hundert Geschützen, die Erde dröhnt unter dem Donner der Schlacht. Die Dänen retiriren, ihre Batterien fahren ab über die Brücke bei Missunde, Ordonnanzen fliegen längs der Chaussee nach Schleswig. Plötzlich hören wir Gewehrfeuer in der linken Flanke. Es ist Ganzer, er treibt die fliehenden Dänen vor sich her. Einen Augenblick machen sie Halt – „d’rauf und d’ran!“ ruft der unermüdliche Verfolger – er wirft sie in die Schlei.

Wir hatten die Dänen bis an den Brückenkopf getrieben und richteten ein verheerendes Spitzkugelfeuer auf die Artillerie. Namentlich eine dänische Batterie war unsern Schützen fast ganz preisgegeben; wir schossen die Kanoniere nieder, wenn sie mit der Lunte an’s Geschütz traten. Ihr Hauptmann sprach ihnen Muth zu. Er stieg kühn auf einen Wall, kreuzte die Arme, um seinen Leuten Courage zu machen – ein Schuß knallt neben meinem Ohr – der Hauptmann schlägt die Arme auseinander und fällt todt hin. „Endlich!“ sagt eine Stimme neben mir; ich drehe mich um – es ist der Lurbaß. Sein Gesicht ist mit Blut gefärbt, sein linker Arm ist verbunden, der Roßschweif ist vom Käppi abgeschossen – und dennoch lächelt der Jäger zufrieden und sagt: „Acht Mal habe ich vorbeigeschossen auf den Hauptmann – aber jetzt hat er sein Theil!.“ – Der Hornist wankt; das Blut strömt aus seiner Seite – er drückt mir die Hand und überreicht mir das Horn. Zwei Mann tragen ihn fort. – „Kann Einer von Euch blasen?“ frage ich. – „Das kann ich,“ sagt der Lurbaß. Er hebt den verwundeten Arm und bläst „avanciren!“

Das erste Bataillon rückt geschlossen heran. Ein entsetzliches Feuer empfängt die braven Burschen. Wie Hagelkörner so dicht schlagen die Kugeln der Dänen in das Bataillon. – „Es ist Euer Tod,“ ruft ihnen ein Officier zu. – „Makt nix, Tambour schlag an!“ rufen die Soldaten, und wie ein Gewitter stürzen wir uns auf den Brückenkopf. Wir mochten fünfzehnhundert Mann sein und sollten eine Schiffbrücke stürmen, die von sechs- bis achttausend Infanteristen und acht Batterien vertheidigt wurde!

Die achtzehnpfündige Batterie des Hauptmanns Christiansen und vier Bataillone kamen nicht in’s Gefecht. Ein furchtbarer Kampf entspann sich am Brückenkopf; die Leute schlugen sich wie Verzweifelte. Wir hofften sicher auf Hülfe von unsern Brüdern - statt dessen hörten wir aber das Signal: „Zurück!“ –Zurück? Fünfzehnhundert Mann im Kampfe mit Sechstausend, im Bajonnetkampfe – und zurück? – Wer erbarmt sich der Verwundeten, die uns flehend zurufen: „Nehmt uns mit!“? –

Wir mußten zurück, das steile Ufer im furchtbaren Feuer ersteigen, den Andrang des Feindes, das Kanonenfeuer der nachsetzenden Batterien aushalten. Als wir die Höhe erreichten, waren unsere Kanonen abgefahren, unsere Bataillone in vollem Rückmarsch. Wir formirten eine Tirailleurkette und wichen langsam zurück, bis wir Kochendorf erreichten. Da lag der Hauptmann Schmidt neben Hauptmann Domeyer und dreißig bis vierzig Jägern in einer Schenke, Schmidt war in den Leib, Domeyer durch den Hals geschossen. Die Leute waren alle Schwerverwundete. Manche waren schon todt, manche lagen im letzten Todeskampfe. Schmidt’s Rechte ruhte in der Hand seines Flügelmannes, der in den Kopf geschossen war. Als ich eintrat, weinte Schmidt und sagte: „Trauern Sie nicht um mich – um den da thut mir’s leid!“ Wir waren kaum im Stande, unsere verwundeten Cameraden zu retten, so hart drängten die siegreichen Dänen nach, und noch immer ließ Willisen, der in seinen Proclamationen gesagt hatte, daß er den Krieg kenne, keine Position zu unserem Schutze nehmen.

Erst spät am Abend erreichten wir das dänische Lager. Es war künstlich und mit Geschmack gebaut. Die Officiershütten hatten Lehnstühle, aus Stroh geflochten, Blumen waren gepflanzt, Kränze hingen über den Thüren. Ingrimmig über unser nutzloses Kämpfen zündeten wir das Lager an. Es war ein furchtbar schöner Anblick! Kein Lüftchen bewegte sich; Ruhe und Frieden herrschten ringsum; da, plötzlich steigt eine Flamme empor, erst klein und unbedeutend, doch schnell sich weiter fressend zum Ungeheuer heranwachsend. Die Bataillone marschirten langsam und feierlich durch die Säulen von Rauch; die züngelnden Flammen schlugen über ihnen zusammen, Millionen Funken hinaussendend in die dunkle Nacht. Scheu bebten die Rosse zurück vor dem Flammenmeer. Die blanken Helme der Reiter funkelten im grellen Widerscheine des Lichts, schauerlich ertönten die Lieder der Soldaten inmitten der entsetzlichen Verwüstung.

Der Anblick des brennenden Lagers erzürnte die dänischen Seeleute vor Eckernförde. Mit einer der dänischen Nation würdigen Tapferkeit warfen sie von den Schiffen Bomben in die Mühle von Eckernförde, in das Holzlager des Kaufmanns Lange. Der Verräther hatte seine Tochter dem tapfern Hauptmann Jungmann, welcher bei der Vernichtung der Flotte im April 1849 unsterblichen Ruhm erwarb, zur Gattin gegeben – Grund genug für das dänische Volk, den Vater zu verfolgen. Sie bombardirten die friedliche Stadt, vernichteten die bedeutenden Holzvorräthe und zerstörten die Windmühle. Kein Wunder! Es lag kein deutscher Fürst mit Nassauern und Schleswig-Holsteinern in der Nähe, der ihnen zum zweiten Male eine Probe deutschen Muths und deutscher Kraft hätte geben können. Aber die stolze dänische Flotte mußte ihren Heldenmuth beweisen, die verlorenen Lorbeeren wieder gewinnen – Eckernförde wurde bombardirt von den dänischen Helden! - -

Zwei Tage nach dieser „Recognoscirung“, wie Se. Excellenz den Angriff auf Missunde nannte, bei welchem wir mehrere Hundert Todte und Verwundete und eben so viele Gefangene verloren, befahl der General von Gerhardt mir, die Jäger-Compagnie antreten zu lassen.

„Lassen Sie einen Kreis formiren!“

Die Compagnie schwenkte links und rechts – der Kreis war gebildet.

„Lassen Sie den Jäger Matthias Johannsen vortreten.“

„Matthias Johannsen!“

„Hier!“

„Vortreten!“

Von zwei Cameraden geführt, trat er vor den General. Sein linker Arm hing in der Binde, oberhalb des Knie’s trug er eine Bandage. Ein Streifschuß hatte seine Brust getroffen. [571] Der General reichte ihn, die Hand und sagte: „Sie tragen keine Cocarde?“

Das blasse Gesicht des Soldaten färbte sich purpurn.

„Nehmen Sie meine Cocarde – erweisen Sie mir die Ehre! Ich bin stolz darauf, sie Ihnen geben zu dürfen, stolz, wenn Sie sie nehmen.“

„Achtung! – Schultert das Gewehr! – Präsentirt das Gewehr! – Ihre Cameraden präsentiren vor Ihnen – das ist eine Ehre – denn Ihre Cameraden sind brave Männer – aber Sie sind der bravste!“

Ein Strom von Thränen drang aus den Augen des verwundeten Kriegers – kein Auge blieb thränenleer.

„Achtung! – Schultert das Gewehr!“

„Leute, ich habe Euerem Cameraden Unrecht gethan, habe ihn einen Lurbaß genannt. Er ist kein Lurbaß, sondern stehende Ordonnanz bei dem Commando der Avantgarde und nicht mehr in der zweiten Classe, sondern in der ersten Classe des Soldatenstandes. Nicht wahr, Jäger?“

„Ja, Herr General!“

„Oeffnet den Kreis! – Rechts und Links um! Marsch! Halt!“

Der General faßte Johannsen unterm Arm und zog ihn ins Zimmer, wo ein gedeckter Frühstückstisch bereit stand. Die Officiere des Stabes tranken das Wohl des ehrlichen schleswig-holsteinischen Bauerjungen, der glühend vor freudiger Aufregung dem Wiederhersteller seiner Ehre die Hand reichte. - -



Zehn Jahre später begegnete mir auf einer einsamen Wanderung am Missourifluß ein zum Skelet zusammengefallener Mensch. Er schleppte sich mühsam weiter in der brennenden Sonnenhitze, in dem giftigen Boden des Waldes. Bestürzt über sein geisterhaftes Aussehen bot ich dem Kranken meine Hülfe an – es war Matthias Johannsen! Ob er mich erkannte? – ich weiß es nicht. Dankend nahm er meine Hülfe an. Ich erquickte ihn durch einen frischen Trunk und eilte nach der nächsten Farm, um einen Wagen zu holen. Als ich zurückkehrte, war der Kranke geheilt! Er lag neben einer umgestürzten Eiche, die Hände über die Brust geschlagen; – auf dem zerrissenen Hemde saß die schleswig-holsteinische Cocarde!

Ich habe ihn begraben in fremder Erde und das Gewehr präsentirt, als der Sarg in die Gruft gesenkt wurde. Wohl ihm!

– sein Herz hat ausgeblutet. Sein Leib ruht in freier Erde!




Das deutsche Sängerfest in Nürnberg.

Nürnberg! Nürnberg! Das war das Losungswort, welches unlängst die Herzen vieler tausend Sänger wunderbar erregte.

Im Osten begann es bereits zu dämmern, als wir zwischen Vierzehnheiligen und Banz hindurch fuhren. Das ehemalige reiche Stift Banz blickte wie trauernd über all die geschwundene Herrlichkeit in das reizende Mainthal hernieder. Drüben im Kloster Vierzehnheiligen herrscht noch immer reges Leben, und wer weiß, ob nicht die von dorther tönende Frühmettenglocke schon jetzt wieder gläubige Wallfahrer zur Eile antrieb.

Mit der prächtig aufgehenden Sonne wurde das schöne Bamberg erreicht, und der Jubel, der uns hier empfing, ermunterte auch die hartnäckigsten Schläfer. Ueber Nacht waren die Sänger aus dem Frankenlande und aus Frankfurt a. M. in gewaltiger Menge hier eingetroffen, um sich unserm Zuge anzuschließen. Das bunte Durcheinander auf Bambergs Bahnhofe bot ein köstliches Bild. Die ganz oder theilweise geopferte Nacht war rasch vergessen; hier und da wurde schon wieder ein Gesang angestimmt, und voller Herzlichkeit begrüßten sich die aus Nord und West hier zusammentreffenden Sänger. Die balsamische Morgenluft hatte Herz und Gemüth urplötzlich wieder frisch gemacht. Jeder Einzelne fühlte sich stolz gehoben, wenn er auf den mächtigen Zug von Sangesbrüdern blickte, die voll herrlicher Zuversicht kaum den Augenblick erwarten konnten, der sie dem herzlich ersehnten Ziele nun so bald zubringen sollte.

Je näher wir Nürnberg kamen, desto ruhiger und ernster wurden Alle. Seit Monden war dies ja der Brennpunkt unsrer innigsten Wünsche gewesen, wir hatten geträumt und geschwärmt von dem Augenblicke, wo wir Nürnberg erreichen würden, und jetzt klopften die Herzen schneller, denn dort erhoben sich die wunderbaren Thürme der ersehnten Stadt, und über ihr thronte die alte, mächtige Burg. Einzelne, weit von der Stadt abgelegene Häuser winkten uns schon mit ihrem festlichen Schmuck die ersten Grüße zu. Ein wirklich zauberhafter Anblick bot sich uns jedoch dar, als wir in den Bahnhof einfuhren. Die lange Halle schien in einen schwebenden Blumengarten verwandelt, denn von der Bedachung herab hingen zahllose Guirlanden und Kränze, welche wieder prächtige Blumenampeln trugen. Dazwischen und an den Wänden aber war ein so reicher und doch so geschmackvoller Schmuck von Flaggen und Wappen angebracht, daß man kaum wußte, wohin das entzückte Auge sich zuerst wenden solle. Da war das Wappen keines deutschen Landes vergessen, denn alle Länder sandten ja Sänger hierher, und mächtig wehte das erhabene schwarz-roth-goldene Banner darüber und dazwischen, wie in gemeinsamer Liebe Alles vereinigend zu einem einzigen, mächtigen Stamme.

Ein tausendfaches Hoch tönte uns entgegen, als der kolossale Wagenzug hier endlich hielt, und ein begeistertes Hoch erklang als Gegengruß. So manchem Auge entquoll eine Freudenthräne, wenn man all die Hände sah, die sich uns zum brüderlichen Empfang entgegenstreckten. Man empfing uns nicht als Fremde, deren Wohnort hundert und mehr Meilen weit entfernt lag; nein, man empfing uns wie alte, treue Freunde, wie Brüder.

Am Bahnhofe bot sich uns ein überraschendes Bild dar. Gegen dreihundert Bürger der Stadt hatten sich erboten, die fremden Sänger hinein zum Rathhause zu geleiten, und jedem dieser sich aufopfernden Männer war ein auf hohem Stabe befindliches, mit Bändern und Kränzen geschmücktes Schild zugetheilt, welches den Namen einer der Städte zeigte, von woher man laut der eingegangenen Anmeldungen Sänger erwartete. Die Masse dieser dicht neben einander aufgestellten Schilder bildete jetzt gleichsam eine große, bewegliche Städtekarte des gesammten deutschen Reiches. Aber auch fremdländische Namen waren hier zu finden, z. B. London, Constantinopel, Hermannstadt u. s. w., denn von da aus waren wenigstens Deputationen der dortigen deutschen Männergesangvereine angemeldet.

Nach herzlicher Erwiderung des unerwartet treuherzigen Empfanges hatten sich die mit uns angelangten Sänger um ihre rasch enthüllten Fahnen und Banner geschaart, und so traten wir unsern langersehnten Einzug in die herrliche Stadt unter klingendem Spiele und in stattlicher Zahl an. Das alte Frauenthor empfing uns in wahrhaft poetischer Weise, denn über dessen äußerem Eingange war folgender Spruch angebracht:

Von ihrer Zinnen Höhen, von ihrer Thürme Kranz
Begrüßt die Stadt, die alte, des heut'gen Tages Glanz;
Der Feste sah sie viele, ein solches nimmermehr:
Zieh ein in ihre Mauern, du fröhliches Sängerheer!

Und als wir das altehrwürdige Thor durchschritten, welch ein überraschender Anblick bot sich da uns plötzlich dar! Das alte, königliche Nürnberg strahlte im herrlichsten Festschmucke. Auf den Straßen wogte die Menge auf und ab, und die dicht mit jubelnden Menschen besetzten Fenster waren von Blumenguirlanden umgeben oder mit Tannen- und Eichenkränzen geziert, und von allen Dächern wehten gewaltige blau-weiße und schwarz-roth-goldene Flaggen, die fast bis auf die Straße herabreichten.

Du armes, so lange verfolgtes und verpöntes schwarz-roth-goldenes Banner, dessen Farben sich einst Achtung gebietend über einen halben Welttheil verbreiteten, hier also durftest Du endlich wieder einmal frisch und frei wehen über den Söhnen des gemeinsamen Vaterlandes! Mit Freuden mußte man dies als ein Zeichen begrüßen, daß man hier sich fern hielt von, kleinlichen Separatismus, von der erbärmlichen Selbstsucht, die so gern der Welt glauben machte, wie gefährlich und wie revolutionär Alles sei, was unter unseren alten, geheiligten Farben sich kund giebt.

Als unser Zug an der herrlichen Lorenzkirche vorüberkam, die mit erhabener Schönheit vom Glanze vergangener Zeiten erzählt, senkten sich wie unwillkürlich die wehenden Fahnen vor diesem [572] Denkmale deutscher Baukunst. Allein zu längerem Anschauen gab es jetzt keine Zeit, denn rüstig drängte der Zug vorwärts über die merkwürdige Fleischbrücke nach dem Herrenmarkte und von da zum altehrwürdigen Rathhause. Dies war der Endpunkt unseres Einzuges. Fahnen und Embleme wurden im großen Rathhaussaale einstweilen aufgestellt, und die alten von Dürer und seinen Schülern gemalten Ritter aus dem Triumphzug Kaiser Maximilian’s I. schienen in dem zu ihren Füßen sich entwickelnden Leben selbst wieder frisches Leben zu gewinnen.

Droben im Rathhaussaale aber waren die mit aufopfernder Liebe thätigen Männer des Festausschusses jetzt in unaufhörlicher Wirksamkeit. Herzlich begrüßten sie die ankommenden Sänger und schmückten deren Fahnen mit nationalen Ehrenbändern. Alsdann wurden die Sängerzeichen vertheilt, welche in der ebenfalls schwarz-roth-goldenen Schleife bestanden, auf der unter dem aus Metall gefertigten Stadtwappen mit entsprechender Umschrift noch ein kleines roth-weißes Band als Vertretung der Stadtfarben angebracht war. Voll Stolz und Freude schmückten wir uns mit dem schönen Sängerzeichen, das fortan der Talisman für das herzlichste Entgegenkommen und für die liebevollste Aufnahme war. Gleichzeitig wurden im Rathhause auch die Quartierbillets vertheilt. Dieselben enthielten auf einem künstlerisch ausgestatteten Blatte den Namen des Inhabers und dabei die Worte: Herr .... findet gastliches Obdach bei Herrn ....... Die Rückseite des Blattes zeigte einen Plan der Stadt, welcher dem Besitzer der Karte sogleich beim Aufsuchen des Weges als Leitfaden dienen konnte.

Allein da brauchte man nicht erst ängstlich die graden und krummen Straßenlinien des Planes zu studiren oder die Bitte um Auskunft über den einzuschlagenden Weg auszusprechen, denn noch ehe wir eines von Beiden thun konnten, boten sich schon freundliche Menschen in Menge an, die uns an den Ort unserer Bestimmung bringen wollten.

„Gastliches Obdach!“ Das versprachen unsre Quartierbillets; allein dies war doch der kleinste Theil dessen, was man uns bot, denn wir begegneten überall einer Herzlichkeit, die wir unmöglich in dieser Weise erwarten konnten. Der lang entbehrte Freund, der nach Jahren aus der Fremde heimkehrende Sohn kann sich kaum eines herzlicheren Willkommens erfreuen. Wie mit einem Zauberschlage hatten wir hier mit einem Male Freunde und Brüder gefunden, von denen man noch im Augenblicke vorher keine Ahnung gehabt. Schon unten auf der geräumigen Hausflur kamen uns die Kinder entgegengesprungen, die mit dem Rufe: „Die Sänger! Unsere Sänger sind da!“ – unsere Ankunft den harrenden Eltern jubelnd verkündeten, und diese empfingen uns mit einer Herzlichkeit, als wären wir von Jugend auf Freunde des Hauses gewesen. Nie aber werde ich den beseligenden Blick stummer Freude vergessen, mit welchem eine seit langen Jahren gelähmte, im altmodischen Lehnstuhle ihre Schmerzenstage verbringende Matrone mir die welke Hand zum Willkommen bot. Die schmerzbewegten Lippen suchten, wenn auch vergeblich, den Gruß zu stammeln, den das verklärte Auge doch so deutlich schon ausgesprochen hatte. – Es kostete Mühe, sich all der Freundlichkeit zu erwehren, mit der man unsern Wünschen in jeder Weise zuvorzukommen suchte. Küche und Keller wurden sofort in Bewegung gesetzt und deren Genüsse in einer Art aufgetragen, als vermuthete man, daß wir die letzten sechs Monate in den nahrungslosen Polarländern zugebracht hätten.

„Wer weiß, ob es einem Jeden just so gut ergangen ist, als dir,“ so dachte ich, als ich zur Mittagsstunde dem Orte zueilte, welchen wir als unsern Sammelplatz bestimmt hatten. Als ich dort ankam, waren die meisten meiner heimathlichen Sangesgenossen bereits versammelt, aber ihre fröhlichen, zufriedenen Mienen machten jede weitere Frage überflüssig. Nicht blos die wohlhabenden Bürger Nürnbergs hatten Alles aufgeboten, um ihre Gäste so glänzend als möglich zu empfangen, auch die weniger Bemittelten hatten nicht hinter jenen zurückbleiben wollen, denn Alle setzten eine Ehre darein, daß der altbegründete Ruhm von Nürnbergs Gastlichkeit in diesen Tagen nichts von seinem Glanze einbüßen sollte.

Ueber 5000 Sänger waren angemeldet, allein an 60000 erschienen, denn so Mancher hatte sich erst spät noch entschlossen, die fröhliche Sängerfahrt mitzumachen. Allein wären ihrer auch achttausend gewesen, so hätten sie doch alle ein gastliches Unterkommen gefunden, denn die braven Nürnberger setzten ihren ganzen Bürgerstolz darein, sich über alle Maßen gastfrei zu zeigen. Die wohlmeinende Fürsorge des umsichtigen Festausschusses, der für überzählige oder verspätet anlangende Sänger noch große Säle gemiethet und eingerichtet hatte, erwies sich als unnöthig, denn fast überall hieß es: wo Zwei Platz finden, wird auch noch für einen Dritten oder Vierten Rath geschafft, und solche Eindringlinge hatten sich fürwahr keiner minder freundlichen Aufnahme zu erfreuen, als ihre schon früher erwarteten Genossen.

Der Nachmittag jenes Empfangstages wurde von den Meisten benutzt, das alte, herrliche Nürnberg zu durchstreifen. Ich kannte die Stadt schon von früheren Jahren her; damit will ich jedoch nicht sagen, daß nicht jeder neue Schritt durch die ehrwürdigen Straßen immer wieder neue Schönheiten in diesem Schmuckkästlein altdeutscher Baukunst entdecken läßt. Mich aber zog es wieder hinaus zum Bahnhofe; ich wollte sehen, ob die mächtigen Regungen, die mich bei dem herzlichen Empfange da draußen ergriffen hatten, das Gemeingut Aller wären, die von nah und fern Nürnbergs freundlichem Rufe Gehör schenkten. Der Nachmittag brachte in fast ununterbrochener Reihe zumeist die Sänger aus Süden. Wien, Innsbruck, Salzburg, Linz, München, Augsburg, Stuttgart und wie die Städte da drunten alle heißen mögen, hatten die ihnen angestammte Liebe für Musik und Gesang auf glänzende Weise bewährt, denn aus jenen Gauen waren die Sänger in einer Anzahl erschienen, zu welcher der Besuch aus Norden in gar keinem Verhältnisse stand. Unvergeßlich bleibt mir der Jubel der tyroler und steierschen Sänger bei ihrer Ankunft und wie sie ihre kurzen, prächtigen Sängerwahrsprüche harmonisch ertönen ließen. Freudenthränen über den herzlichen Empfang glänzten aber in den Augen Vieler, sie mochten nun aus Süden ober aus Norden kommen.

Von Stunde zu Stunde gingen jetzt ähnliche Züge, wie der unsrige am heutigen Morgen, mit Sang und Klang hinein durch die jubelnde Stadt zum Rathhause, und jeder einzelne davon hatte wieder seine Eigenthümlichkeiten. Hier trug man mächtige Trinkhörner mit im Zuge, dort vertraten kunstvolle und originelle Pokale deren Stelle, auch Städtewahrzeichen sah man einhertragen – kurz, es war ein Bild voll steter Abwechslung.

So war der Abend herangekommen, und gegen 7 Uhr versammelten sich die Sänger beim Rathhause, um im gemeinschaftlichen Zuge hinauszuwallen nach dem vor dem Lauferthor gelegenen Maxfelde, wo die Festhalle errichtet war. An 5000 Sänger mochten jetzt schon anwesend sein, doch noch immer brachte jede Stunde neuen Zuwachs, selbst dann noch, als sich der große Zug in Bewegung setzte, der wieder überall von der dichtgedrängten Menge mit Hurrahs und Tücherschwenken empfangen wurde. Aber es war auch ein prächtiges Schauspiel, so viele glückliche und fröhliche Männer zu sehen, denn Jeder hatte das ihm heute früh noch ganz fremde Nürnberg bereits so lieb gewonnen, als wenn es seine Vaterstadt wäre. Ein besonders festliches Ansehn erhielt der Zug durch die 240 zum größten Theile kostbaren Fahnen, welche die Vereine aus ihrer Heimath mitgebracht hatten. Nur eine kleine Anzahl von Männern war im Zuge, deren ernstere Miene bei so viel Fröhlichkeit ringsumher auf tiefgegründeten Kummer schließen ließ. Die ernsten Männer führten keine Fahne mit sich; auf dem ihnen vorgetragenen Schilde aber war zu lesen – Kiel, und das erklärt alles Uebrige zur Genüge. Obgleich die Männer wohl bitteres Leid im Herzen trugen, waren sie dennoch zu dem Freudenfeste gekommen, denn deutsche Sänger versammelten sich ja hier, es war ein deutsches Fest, und da wollten die braven Kieler beweisen, daß auch sie noch mit Leib und Seele Deutsche sind nur deutsch fühlen, und so mochten sie nicht zurückbleiben. In den immer wachsenden Jubel stimmten sie freilich nicht so herzlich als die Andern ein, weil sie den Gedanken an ihre geknechtete Heimath nicht unterdrücken konnten. Aller Herzen aber weihten ihnen und ihrem mit Füßen getretenen Rechte die wärmste Theilnahme.

Es begann bereits zu dunkeln, als unser Zug draußen auf dem Maxfelde anlangte. Noch hatten wir nicht die Festhalle gesehen, von welcher man uns schon überall die herrlichsten Schilderungen gemacht hatte. Man kann sich deshalb unsre immer wachsende Neugierde vorstellen, je näher wir jetzt diesem Ziele rückten. Da bogen wir endlich um die letzte Baumgruppe, und vor uns lag der prachtvolle Riesenbau, dessen Anblick in Allen das freudigste Staunen hervorrief. Den vorherrschend gothischen Styl der Kirchen und alten Gebäude Nürnbergs hatte man auch bei der Festhalle zu Grunde gelegt. Der ganze Bau zeigte trotz seiner [573] riesigen Ausdehnung dennoch überall die schönsten Verhältnisse und machte dadurch einen prächtigen Eindruck. Dieser ward jedoch auf das Höchste gesteigert, als wir nun das innere betraten. Welch ein gewaltiger Raum! Nach Art der Basiliken war das Innere in fünf Schiffe abgetheilt; das Auge wurde in dem kolossalen hohen Mittelschiffe auch nicht durch eine einzige Säule oder Stütze gestört. Es erschien Alles so leicht und ungezwungen, und dennoch wieder so solid, daß die Furcht, 15,000 Menschen in diesem Gebäude versammelt zu sehen, gar nicht die Oberhand gewinnen konnte. Die für 5 bis 6000 Sänger eingerichtete Tribüne bot hinreichenden Raum zu freier Bewegung, und dennoch war von allen Seiten der Dirigent bequem zu sehen, was bei andern Gesangsfesten, wo vielleicht blos der vierte Theil an Sängern anwesend war, oft unmöglich erschien. Die schlanken Säulen, welche die Gallerien und die Bedachung der Seitenschiffe trugen, waren


Die Sängerhalle in Nürnberg.


mit Guirlanden umwunden und zeigten die Wappen sämtlicher Städte, welche Sänger hierher entsandt hatten, so wie die Namen unsrer gefeiertsten Dichter und Componisten. Das Licht erhielt der großartige Raum durch bunte Fenster, in denen das Glas durch gemaltes starkes Oelpapier ersetzt wurde. Herrlich war der hierdurch erzielte Lichteffect, wenn die Sonne diese Fenster beschien, im Innern der Halle; eben so großartig war wieder der Anblick des Abends, wenn das Licht, welches vier enormen Gaskronleuchtern und einer Masse einzelner Flammen entströmte, von außen der Festhalle eine erhabene Weihe verlieh. In der Mitte des Zuhörerraumes war ein von Blumen eingefaßter großer Springbrunnen, dessen Wasser während der Pausen zwischen den Gesängen eine erfrischende Kühle, wenigstens in nächster Umgebung, verbreitete. Die Fahnen der Sänger wurden auf der hoch oben um das ganze Mittelschiff laufenden Gallerie angebracht und trugen nicht wenig zu dem schönen Eindruck des Ganzen bei, wenn sie auch in akustischer Einsicht wohl einigen Abbruch thaten.

Ungemein herzlich und erhebend aber war der Verkehr, der sich zwischen den hier zum ersten Male vereinigten Sängern rasch entwickelte. Da genügte ein biederer Händedruck, ein ehrlicher Gruß, um Männer rasch zu Freunden zu machen, deren Heimath Hunderte von Meilen auseinander lag. Die Mitglieder jedes einzelnen Vereins trugen neben dem Nürnberger noch das aus der Heimath mitgebrachte Sängerzeichen, und so war bei dem sich immer herzlicher gestaltenden Verkehre nichts natürlicher, als daß man zum Andenken an das herrliche Fest die heimischen Sängerzeichen gegen fremde auszutauschen suchte, wobei man überall williges Entgegenkommen fand. Der Preuße freute sich, das Zeichen seines österreichischen Festgenossen auf der Brust zu tragen, und ebenso umgekehrt. Da gab es keine politische Scheidewand mehr, denn der erhabene Zweck, ein wahrhaft nationales Fest zu feiern, hatte jeden Einzelnen mit Allgewalt durchdrungen.

Als endlich das Zeichen zum Beginn der Feier gegeben ward, trat in den weiten, dicht besetzten Räumen plötzlich tiefe Stille ein. Die Nürnberger Gesangvereine trugen zur Eröffnung der Feierlichkeit ein Lied vor, einen alle Genossen willkommen heißenden Sängergruß, der allgemeinen Dankesjubel hervorrief. Hieran knüpfte sich die Ansprache des Sängerausschußvorstandes Dr. Gerster, der in begeisterten Worten das Glück Nürnbergs pries, dieses herrliche Fest zum Ruhme der Stadt hier gefeiert zu sehen, womit er ein Hoch auf den König von Baiern verband, in welches die Versammlung von Herzen einstimmte. Tiefergreifend sprach der Redner dann noch von der großen Bedeutung dieses Festes und schloß mit den Worten:

„Wie verschiedenartig auch die Pfade des Lebens sind, welche wir sonst wandeln und naturgemäß wandeln müssen, in der Liebe zum deutschen Vaterlande, in dem Streben nach dessen Einigkeit, Unabhängigkeit und Macht schreiten wir Alle, ob aus Süden, ob aus Norden, auf gemeinsamem Wege. Auf diesem Wege leuchtet uns das deutsche Banner voran, auf diesem Wege leitet uns das deutsche Wort, begleitet uns das deutsche Lied. In diesem Sinne, mit diesem Willen heiße ich Euch Alle nochmals willkommen als unsre lieben Gäste, und es sei und bleibe immer wahr unsres Festes Spruch:

Deutsches Banner, Lied und Wort
Eint in Liebe Süd und Nord!
Hoch! Hoch!“

Wie enthusiastisch hierbei Alles einstimmte, brauche ich wohl kaum zu sagen. Nach einem würdevollen Instrumentalvortrag (Festmarsch von B. Lachner) begrüßte die Augsburger Liedertafel in einem trefflichen Liede die Stadt Nürnberg, und hieran knüpften [574] sich verschiedene Vorträge einzelner Vereine, von denen das Doppelquartett der Königsberger Sänger ganz besonders ansprach. Wie gut auch in akustischer Beziehung die kolossale Halle gebaut sei, das konnte man vollständig beurtheilen, wenn man die Klangwirkung der oft nur von wenigen Sängern vorgetragenen einzelnen Lieder verfolgte.

In den Pausen zwischen den Gesängen gab es oft genug von Seiten des Vorstandes erfreuliche Mittheilungen zu machen; da waren telegraphische Grüße aus Rußland, Belgien und aus vielen deutschen Städten eingetroffen. Von den in Bern lebenden Deutschen langte an jenem Abend ein prachtvoller silberner Pokal an, mit der Bestimmung, daß derselbe bei diesem Feste erwachenden Nationalsinnes dem sich durch die beste Leistung auszeichnenden Vereine als Preis zuerkannt werden sollte. Alle diese Meldungen wurden mit Jubel und mit Dank aufgenommen.

Für diesen Abend der Vorfeier stand blos ein einziger Gesammtvortrag aller Vereine auf dem Programm und zwar ein in jeder Beziehung würdevoller. Gegen Mitternacht traten alle Sänger zusammen und stimmten mit wahrer Begeisterung Arndt’s Vaterlandslied an. Was ist des Deutschen Vaterland? Wie brausten diese Fragen, von den gewaltigen Tonmassen gehoben, hin durch den großartigen Raum, und wie zündete jedes Wort in den Herzen aller Anwesenden! Da strahlte jedes Auge höher im Bewußtsein der hier herrschenden Einheit, die dem ganzen Vaterlande hätte als würdiges Vorbild dienen können. Und als man endlich zu der Strophe kam: das ganze Deutschland soll es sein! – da stimmten auch Tausende und aber Tausende im Publicum mit ein, und in diesem erhebenden Augenblicke schöpften wohl auch diejenigen unsrer deutschen Brüder, über deren Heimath die dunkeln Wolken sich noch immer nicht zertheilen wollen, Muth und Hoffnung für eine bessere Zukunft, die um so näher erscheint, je fester und treuer Alle zusammenhalten. – Der Beifallssturm, der nach dem Arndt’schen Liede losbrach, ließ nicht früher nach, bis endlich die letzten tiefergreifenden Strophen wiederholt wurden. Möge der Nachklang dieses Liedes als ein heiliges Vermächtniß von jedem Sänger mit in die Heimath gezogen sein!

Mit diesem Liede war die Vorfeier zu Ende. Es war ein schöner Tag, den wir heute durchlebt, und er erfüllte uns mit froher Zuversicht auf die übrigen Festtage.


(Schluß folgt.)




Amerikanische Zustände.

Von Otto Ruppius.
Nr. 1.

Die letzten Ereignisse in den Vereinigten Staaten, der Conflict zwischen Süd und Nord, die Niederlage der nördlichen Armee in der Schlacht bei „Bulls Run“, die Flucht der nördlichen Freiwilligen, eine Flucht, wie sie die Kriegsgeschichte in dieser Sonderbarkeit noch nicht aufzuweisen hat, sind in Aller Munde; trotz aller bereits bekannten Specialitäten aber steht der deutsche Beobachter noch vor den Begebenheiten, ohne sich dieselben in ihrer Eigenthümlichkeit ganz erklären zu können, ohne einen rechten Maßstab für ihre Tragweite zu finden, und auch nur Derjenige, welcher tief in die Geheimnisse der amerikanischen Zustände eingedrungen, wird zu einer richtigen Erkenntniß von Ursache und Wirkung, zu einem klaren Urtheile über Gegenwart und Zukunft gelangen können. Dabei aber sind die öffentlichen amerikanischen Verhältnisse nicht allein von staatlichen, sondern auch von so hohem allgemein menschlichem Interesse, daß ein tiefes Eingehen in dieselben seitens eines deutschen Blattes um so mehr zu einer Nothwendigkeit wird, als die amerikanischen Zeitungen bei der augenblicklichen kritischen Lage der Dinge sich schwerlich herbei lassen werden, die bewegenden Ursachen bei ihrem rechten Namen zu nennen.

Die Geschichte lehrt uns, daß, je freier die Staats-Einrichtungen waren und je unbeschränkter die einzelne Persönlichkeit sich darin zu entwickeln vermochte, auch die schlimmen menschlichen Anlagen innerhalb der Staatsgesellschaft zu einer Entwickelung gelangten, welche endlich den Segen ungehemmter Freiheit in einer Weise paralysirte, die das fernere Bestehen des bisherigen Staats zu einer Unmöglichkeit machte. Die alten Republiken gingen meist an innerer, naturgemäß hervorgerufener Fäulniß zu Grunde, gerade wenn sie äußerlich in der höchsten Blüthe zu stehen schienen. – Dieselben Verhältnisse wie dort, oft wahrhaft frappirende Spiegelbilder, bestehen jetzt in den Vereinigten Staaten, dennoch aber suchen die Wenigsten die Ursachen der letzten amerikanischen Ereignisse in diesen Zuständen, und doch ist es so wahr, daß es dem geöffneten Auge wie ein Gorgonenhaupt entgegenstarrt: die Vereinigten Staaten sind politisch so durch und durch verfault, daß eben nur eine entstehende innere Schwierigkeit, wie die jetzige, nothwendig war, um den äußerlich glänzenden Bau auseinander bersten zu lassen und selbst für die kräftigste Hand, für den klügsten Kopf eine Wiederherstellung früherer Verhältnisse unmöglich zu machen. – Die Schlacht bei „Bulls Run“, in welcher für den Eingeweihten zum ersten Male in der crassesten Weise die Natur der innern Zustände zu Tage trat, ist der Anfang zum Ende der Union und wohl auch der Republik,[1] – das ist keine Prophezeiung, sondern ein einfach aus den bestehenden Verhältnissen sich entwickelnder logischer Schluß, und der Leser mag ihn aus den Thatsachen, wie sie zum klaren Verständnis hier folgen werden, sich selbst ziehen.

Die amerikanische Republik ist auf die breiteste Basis freier Selbstregierung gegründet. – Die sämmtlichen Beamten der einzelnen Staaten und Communen, wie die Mitglieder der gesetzgebenden Körper werden in directer Wahl vom Volke ernannt, und nur die Unions-Aemter, wozu vor Allem die Minister-, auswärtigen Gesandten- und Consulatstellen mit ihren Nebenämtern, die Post- und Zollämter gehören, sind dem Präsidenten zur Besetzung überlassen, welcher damit die thätigsten Mitglieder der Partei, welche ihn erwählt hat, belohnt.

Sich um eines der ersteren, durch Volkswahl zu besetzenden Aemter zu bewerben, oder dafür zu „laufen“, wie der technische Ausdruck ist, gehört aber zu den kostspieligsten Dingen. Die Wähler müssen bearbeitet und für diesen Zweck einflußreiche Männer angeworben und bezahlt werden; hartnäckige Opponenten sind, wiederum durch Geldvergütung, aus dem Wege zu schaffen; je bedeutender das mögliche Einkommen oder der Einfluß durch ein Amt ist, je höher steigen die Kosten, und mancher unglückliche, noch nicht mit allen Schleichwegen zur Erlangung von Stimmen bekannte Candidat ruiniert sich finanziell durch den Wettlauf nach einem wünschenswerthen Posten für sein ganzes Leben.

Dieses aufgewandte, oft nur geliehene Geld, was in den meisten Fällen in gar keinem Verhältniß zu dem zu erwartenden gesetzlichen Einkommen steht, muß nun von dem glücklichen Sieger vor allen Dingen aus dem erlangten Amte wieder herausgearbeitet werden; ein unschuldiger Deutscher, welcher die Höhe der Einkünfte kännte, würde freilich nicht begreifen, wie das möglich sei. Die gesetzlichen Einkünfte aber sind eben nur das Geringste bei einem Amte, und was durch „pickings and stealings“, in ehrlichem Deutsch: durch angenommene Bestechungsgelder, unredliche Profitmacherei und offenen Diebstahl, herausgeschlagen werden kann, ist die Hauptsache. Der Terminus „Pickings and stealings“ ist ein in der politischen Sprechweise Amerikas völlig eingebürgerter technischer Ausdruck, und der Begriff hat seine Berechtigung in einer Weise erlangt, daß das Einkommen eines Amtes fast durchgängig nicht mehr nach den gesetzlichen Emolumenten, sondern nach der Möglichkeit des unredlich zu erwerbenden Geldes berechnet wird. Einige Fälle aus der gewöhnlichsten Praxis zur Erklärung.

Dem Assessor einer kleinen Stadt, d. h. dem Beamten, welcher [575] den Werth des Privat-Grundeigenthums behufs Feststellung der Grundsteuer jährlich abzuschätzen hat, steht eine gesetzliche Vergütung von vielleicht 300 Dollars zu – er macht sich indessen durch die ihm in die Hand gedrückten Geschenke der Grundbesitzer für niedrige Abschätzungen 5000 Dollars daraus. Der Vorsitzende eines Stadtraths läßt für Straßenbauten und andere städtische Arbeiten sich von dem Unternehmer derselben Rechnungen zum doppelten Betrag der Arbeiten ausstellen, weist sie als richtig zur Zahlung an und theilt den Ueberschuß mit dem Unternehmer – viele Städte weisen derartige Männer auf, die ohne einen Cent Vermögen zum ersten Male in den Stadtrath gewählt wurden und nach acht bis zehn Jahren ein fürstliches Vermögen zusammengestohlen hatten. Ein New-Yorker Constable – Gerichtsbote und Executor – kann bei guten Zeiten durch „Züchtigen und Loslassen“ bequem 10,000 Dollars jährlich aus seinem Amte machen, freilich sind nicht alle derartige Stellen dort gleich fett. Der Schatzmeister einer Stadt verwendet die eingehenden Steuern zu eigenen Speculationen, erklärt den Inhabern von Stadt-Anweisungen, womit jeder einheimische Gläubiger der Stadt ausbezahlt wird, daß zur Einlösung kein Geld in der Casse sei, kauft aber endlich aus „eigenen Mitteln“ den Geldbedürftigen ihre Anweisungen mit 10 Procent Abzug ab. Die heimlichen Einkünfte eines Sheriffs, des „Engels mit dem Racheschwerte“, gehen oft in’s Unglaubliche und lassen sich meist nur nach der Geriebenheit des Beamten berechnen. Die Gesetzgeber der verschiedenen Staaten, wie die Abgeordneten im Congreß treiben zum größten Theile mit ihren Stimmen völligen Handel, sobald die Bewilligung eines Privatvortheils, wie die Vergebung eines Contractes für Staatsarbeiten, eine Unterstützung für Eisenbahn-Compagnien, die Gewährung eines gewinnreichen Patents oder dergleichen in Frage liegt; und die Gewinnung eines einflußreichen Abgeordneten mit zehn- und zwanzigtausend Dollars bei Gelegenheiten, die einen solchen Betrag rechtfertigen, sind nichts Ungewöhnliches;– ein Lieferant oder Unternehmer öffentlicher Arbeiten, welcher auf diese Weise seinen Contract erlangt, muß natürlich das ausgegebene Geld durch Betrug an der Regierung wieder einbringen und riskirt bei der Entdeckung desselben höchstens ein neues Geldopfer; etwas Anderes erwartet aber auch Niemand von dem Verstande eines solchen Mannes. Für den Präsidenten sind die zu vergebenden Aemter nichts als die Mittel zu einem politischen Schacher, wenn auch in anderer und complicirterer Weise als bis jetzt angedeutet, und der letzte Präsident Buchanan hat diesen mit einer Schamlosigkeit ausgeübt, die den letzten Congreß unter seiner Verwaltung, des öffentlichen Scandals halber, sogar zur Aufwerfung der Frage nöthigte, ob der Genannte nicht ebenso in Anklagestand zu versetzen sei, als es mit einzelnen seiner Cabinetsglieder wegen offenen Betrugs geschehen.

Ein Beamter in den Vereinigten Staaten ist erst in zweiter oder dritter Reihe zum Dienste des Volks, das ihn erwählt, da. In erster Reihe hat er die Milchkuh, für welche er allein sein Amt ansieht, auf jede mögliche Weise auszubeuten. Allerdings giebt es nun in der großen Republik genau so bestimmt abgefaßte und strenge Gesetze gegen Schwindel und Betrug jeder Art, wie in andern wohlgeordneten Staaten. Die Gewohnheit der Profitmacherei, der „pickigs and stealings“, der Bestechlichkeit und des Wahlbetrugs seitens der Beamten hat aber während der langen Jahre der Ausübung jedes Gefühl für Ehre und Rechtlichkeit in Bezug auf diese Zustände im Volke, so abgestumpft, daß selbst die eclatantesten Fälle von der eingefressenen Corruption in den öffentlichen Verhältnissen kaum mehr als eine kurze Aufregung schaffen konnten – Untersuchungs-Committees wurden zu öfteren Malen selbst im Congreß gegen die hochgestelltesten Beamten in’s Leben gerufen. Die Verhandlungen derselben verliefen aber stets nach kurzer Zeit so im Sande, daß der nächstbeste Gegenstand von öffentlichem Interesse sie ohne Abschluß völlig aus der Welt schaffte. Gestattete es der Raum, so ließen sich aus den letzten Jahren amtliche Schwindelgeschichten erzählen, die zu dem Wunderbarsten in ihrer Großartigkeit und Frechheit gehören, was nur die Geschichte der verdorbensten Staaten jemals geliefert, und die nach einer Woche voll glänzender, in ihrem erbitterten Tone erhabener Congreßreden und scharfer Zeitungs-Polemik verschwanden, ohne dem Schuldigen ein Haar gekrümmt zu haben, um jetzt bei einer zufälligen Erinnerung daran nur noch mit einem Achselzucken berührt zu werden.

Bis zur Erwählung des jetzigen Präsidenten Lincoln herrschte die demokratische, dem Süden freundliche Partei, ihr wurde deshalb vor Allem die eingerissene Verderbniß zugeschrieben, und was seit Erwählung des jetzigen Präsidenten im Süden geschah, schien auch diese Beschuldigung völlig zu rechtfertigen. Ein bedeutender Theil des Terrains, welches jetzt die südlichen Staaten bilden, ist mit dem Gelde der ursprünglichen Vereinigten Staaten erworben worden. In andern Fällen, wie in Texas, welches später zu der Union trat, wurde von dieser die Staatsschuld des neuen Bundesgliedes übernommen. Alle anfänglich nothwendigen Verbesserungen und Einrichtungen waren mit nördlichem Gelde bezahlt, und schon der einfachste Rechtssinn hätte eine Losreißung von Staaten verbieten müssen, die mit Opfern erworbenes Eigenthum der Union waren. Diese Losreißung aber geschah nicht allein im Interesse der hungrigen südlichen Politiker, welche bis jetzt die Beute aus den fettesten Aemtern unter sich allein getheilt und diese nun nicht aufgeben mochten – sondern auf dem Wege des offenen Raubes werden dazu die in der südlichen Münze befindlichen Baarfonds, die Waffenvorräthe, öffentlichen Gebäude und Forts der Vereinigten Staaten weggenommen. Die von der Union angestellten Postmeister und Zollbeamten erklären die in ihren Händen befindlichen Amtsgelder für gute Prise. Die im Süden geborenen Officiere der Vereinigten-Staaten-Armee und Marine vergessen Eid und Ehre, übergeben ihre Posten und Schiffe den Rebellen, und selbst Männer, wie der alte General Twiggs in Texas, der Zweit-Commandirende in der Union, schänden ihr graues Haar mit Verrath. Damals wandte sich die Sympathie der ganzen civilisirten Welt dem Norden zu, und die Deutschen in Amerika standen aller Orten zur Vertheidigung der Union auf; man glaubte die Fäulniß und Verdorbenheit, welche sich bisher geltend gemacht, nur in der südlichen Partei zu Hause und hoffte von einem „republikanischen“, nördlichen Regimente neue, reinere Zustände – als ob eine Generation, die mit den Grundsätzen der allgemeinen Corruption von Jugend auf groß gesäugt, durch einen einfachen Regierungswechsel hätte zu gänzlich entgegengesetzten Instincten und Anschauungen gebracht werden können!

Heute, wo sich ein freierer Blick auf die Maßnahmen der Lincolnschen Regierung gegen den Süden werfen läßt und die letzten Ereignisse vieles anfänglich Räthselhafte erklärt haben, kann mit voller Bestimmtheit angenommen werden, daß die leitenden Politiker des Nordens, in deren Hand der Präsident sich oft ganz machtlos gezeigt, nie daran dachten, gegen den Süden in einer Zwangsweise vorzugehen, wie es die Aufstellung der nördlichen Armee erscheinen ließ. Der Süden, welcher seine sämmtlichen äußeren Bedürfnisse, seine Bekleidungsstoffe, sein Haus- und Feldgeräth vom Norden bezieht und dadurch zum Haupttheile den nördlichen Fabriken mit ihrem Arbeiterheere Brod giebt, durch welchen der Export- und Commissionshandel von New-York meist nur existirt, durfte nicht zum Aeußersten getrieben werden; er sollte die Macht des Nordens fühlen gleich einem unartigen Jungen, durch die Blockade seiner Häfen eingesperrt werden und Hunger zu leiden haben, bis die erste Hitze verraucht und er Vernunft anzunehmen gesonnen sei, aber am wenigsten durch blutige Maßregeln zu einer Todfeindschaft gegen den Norden getrieben werden, und so wurde auch nach Lincoln’s Amtseinführung an viel nöthigere Dinge gedacht, als die südliche Rebellion sofort im Keime zu ersticken. Die Beute, welche der republikanische Wahlsieg gebracht, mußte zuerst eingeheimst, die sämmtlichen bisherigen Bundesbeamten entsetzt und die Aemter unter der siegreichen Partei vertheilt werden – die Aemterjagd und der Aemterschacher begannen in Washington schlimmer und ekelhafter als je und zeigten dem Volke, das umsonst nach sofortigen kräftigen Maßregeln zur Erhaltung der Union rief, daß die jetzt zur Herrschaft gekommene Partei gerade da in dem alten Unwesen beginnen wolle, wo die frühere aufgehört. Aber es bekam bald noch mehr zu sehen.

Die Bildung einer nördlichen Armee war angeordnet; sollte auch damit kein großer Krieg geführt werden, so schuf sie doch eine Masse von neuen Aemtern und Gelegenheit in Fülle, ein ausgezeichnetes Geschäft zu machen. Regiment auf Regiment wurde angenommen, die Ausrüstung derselben aber bis zur Verzweiflung der Angeworbenen hinausgeschoben. Müßig lag die nördliche Jugend, die danach brannte sich mit dem Feinde zu messen, umher, und selbst die endlich bewaffneten und einexercirten Truppentheile warteten vergebens von der Woche zum Monat auf Befehl zum Ausmarsch. Inzwischen suchte Alles, was einen Posten hatte erwischen können, sein Schäfchen möglichst zu scheeren. Die Lieferanten [576] hatten genug für Erlangung ihrer Contracte zahlen müssen, um nicht für theueres Geld das möglichst Schlechte zu liefern. Als einzelnen Factum sei angeführt, daß bei verschiedenen großen Pferdelieferungen, wobei die Regierung 119 bis 125 Dollars pro Stück zahlte, zwischen 50 bis 75 Dollars am Stück profitirt ward und eine Hand voll Geld jede Untersuchung der Brauchbarkeit bei der Ablieferung beseitigte. Die Quartermasters oder Proviantmeister stahlen wie die Raben, was dem Soldaten zukommen sollte, und die „pickings and stealings“ derselben wurden allgemein zur Höhe von 6 – 800 Dollars monatliches Einkommen für jeden Einzelnen angenommen; während dem begann aber durch die entstehende übele Verpflegung, die selbst Russell von der „London Times“ für schlechter erklärte, als er sie je im Krim - Kriege erlebt, eine bösartige Diarrhöe unter den Truppen einzureißen und mehr Leben hinwegzuraffen, als eine Schlacht hätte thun können. Sold ward nicht gezahlt; das Geld war längst dafür vorhanden und angewiesen – aber es wollte den Weg zu dem gemeinen Soldaten nicht finden. Bei der großen Armee ward endlich ein Theil nach 2 ½ Monaten ausbezahlt, viele der Hülfsbedürftigen hatten sich indessen während dieser Zeit ihre Forderungen von dem Zahlmeister mit 25 bis 30 Procent Verlust abkaufen lassen. In Missouri war nach drei Monaten noch kein Cent an die Mannschaften gekommen, und während Alles, was nur die Hand zur Krippe bringen konnte, sich nach dem längst als berechtigt anerkannten Gebrauch die Taschen auf Kosten des entbehrenden Freiwilligen, der für eine große Idee Heimath und Familie verlassen zu haben glaubte, füllte, während das Volk vergebens über die Unthätigkeit seiner Regierung schrie, verstärkte die südliche Armee von Tage zu Tage ihre Stellungen mehr, organisirte die südliche Regierung in voller Ruhe ein Vertheidigungssystem ihres Landes, das einem Einmarsche der nördlichen Truppen auf jedem Schritte tödtliche Hindernisse in den Weg legte. – Was lag aber daran, da die Lincolnsche Regierung nie an einen wirklichen Krieg gedacht, da der Ober-General Scott erklärt hatte, er werde den Süden ohne großes Blutvergießen zur Raison bringen und bedürfe deshalb auch nicht einmal einer Cavallerieforce? Die leitenden Politiker sammt ihrem Anhange machten ihr prächtiges Geschäft, wie die Sachen standen, und als erst die Idee auftauchte, die Armee auf 500,000 Mann zu bringen und 500 Millionen Dollars zu diesem Zwecke aufzunehmen, mußte es als Hauptsache gelten, so lange als möglich in statu quo zu bleiben, um den zu erwartenden Goldstrom ruhig in die rechten Taschen zu leiten.

In der Heimath, welche die Freiwilligen zur „Rettung der Union“ verlassen, waren währenddem überall Tausende und Tausende von Familien ohne Ernährer, einzig der Mildthätigkeit der zurückgebliebenen Bürger überwiesen. Aber nichts erkaltet rascher als eine Mildthätigkeit, die durch einen augenblicklichen Enthusiasmus hervorgerufen worden, und die im Felde befindlichen Männer und Väter müssen hören, wie die heiligen Versprechen ihrer Mitbürger, auf die vertrauend sie fortgezogen, zu nichte geworden, wie ihre Familien darben und betteln gehen, ohne daß die entfernten Versorger die Mittel zum Helfen in die Hände bekommen können. Außerdem sind diesen während der verronnenen Dienstzeit die Augen über die Zwecke dieses Kriegs aufgegangen, sie sehen, während die Südländer jeden Verdächtigen hängen und füsiliren, von ihnen eingebrachte und überführte südliche Spione frei ausgehen, sehen erwiesenen Verrath kaum beachtet und Alles, was südlich heißt, mit vorsichtigster Schonung und Rücksicht behandelt; sie haben ihre eigenen Offiziere kennen gelernt, die nicht die Befähigung, sondern die Parteigunst an ihren Platz gebracht, militärische Ignoranten in den höchsten Stellungen, während die Männer von Kenntniß und Erfahrung bei Seite geschoben werden; sie sehen sich selbst als Opfer hungriger Speculanten, und der einzige Trost bleibt, daß sie nur auf drei Monate sich zum Dienst verpflichtet – durch die ganze Armee beginnt sich bald nur der eine Geist geltend zu machen: „nach Hause! fort aus dem ganzen Schwindel mit der Stunde der Erlösung!“ und in den Regierungskreisen beginnt man einzusehen, daß mit Ablauf der Dienstverpflichtung die Welt das Schauspiel einer auseinander laufenden Armee haben wird, ehe nur nach den gefallenen großen Worten ein einziger Schlag von Bedeutung geschehen ist. „Eine Schlacht, eine gewonnene Schlacht um jeden Preis!“ heißt jetzt die Parole, die Siegesbegeisterung soll die Truppen zu einer neuen Dienstverpflichtung führen – und die Schlacht wird gewagt, gewagt in der Weise, welche das ganze nördliche Kriegswesen bis jetzt bezeichnet. Ohne Frühstück müssen die Freiwilligen vorwärts zum Kampfe, kaum daß ihnen unterwegs gestattet wird, einen Bissen im Fluge zu nehmen. Dennoch gehen diese freudig, da es doch endlich einmal zum Schlagen kommen soll. Aber der commandirende General kennt weder die Stärke des Feindes, noch hat er einen rechten Begriff dessen, was die Leitung einer Schlacht verlangt – bis jetzt war er eben nur Advocat – in der ersten Stunde schon weiß er nichts mehr von der Stellung seiner Truppentheile, jeder ficht auf eigene Faust, ohne Ablösung, ohne Ruhe, ohne Verbindung mit der übrigen Armee, kämpfst lange Stunden bis zur Erschöpfung, und mitten hinein unter die Abgetriebenen, fast Verschmachteten schlägt plötzlich der Ruf: „die Schlacht ist verloren, die Cavallerie im Anrücken; rette sich, wer kann!“ Der Schrecken fährt in die erschöpfte Mannschaft, die Officiere, ohne daß Vertrauen ihrer Untergebenen, sind nicht im Stande, die sich wild auflösenden Glieder zu halten, die letzte Hoffnung auf einen Sieg, um den bis zur Todesmüde gekämpft, um den alle bisherige Enttäuschung vergessen worden, ist dahin, und: „Nach Hause!“ ist daß Losungswort derer, die noch Kraft genug in sich fühlen, nicht auf dem Wege liegen zu bleiben. Die Schlacht bei „Bulls Run“ war nur die Explosion all der faulen Gase, welche die verrotteten politischen Zustände Amerika´s erzeugt, und hat die Ordnung der dortigen Verhältnisse in eine Ferne gerückt, für die sich nirgends ein Maßstab finden läßt. Das wahrscheinlichste Resultat ist bei der offenen Erbitterung und Hartnäckigkeit des Südens in einer Trennung der Landestheile zu suchen, die aber kaum viel Anderes als die gänzliche Auflösung der jetzigen Staatenordnung nach sich ziehen kann.

Wird einmal die Theilbarkeit der Union angenommen, so hat damit selbstverständlich jeder einzelne Staat oder ein Theil desselben das Recht, sich nach Belieben zu trennen – in New-York existirt schon längst das ausgesprochene Gelüst, die Stadt und Umgebung zu einem unabhängigen Gebiete zu machen. Im aristokratischen Süden regen sich mächtig monarchische Gelüste. Frankreich und England betrachten mit scharfem Auge die jetzigen Vorgänge und warten nur ihrer Zeit – läßt sich auch nach keiner Seite hin eine Vorhersagung wagen, so tritt doch Eins dem erfahrenen Beobachter mit voller Sicherheit entgegen: Die Union und die amerikanische Republik stehen an der Grenze ihres kurzen Daseins, und ihre Grabschrift wird sein: „Our Institutions were only an Experiment“, d. h. unsere Staatseinrichtungen waren nur ein Versuch.


Zur Berichtigung. In dem Artikel: „Erinnerungen an Wilhelmine Schröder-Devrient. Von Claire von Glümer. XI.“ in Nr. 32, ist auf Seite 511, Spalte 2, Zeile 39 ein Kammerherr von Dorop in Detmold genannt. Der Name dieses Herrn ist Donop, was wir zu berichtigen bitten.


Für die Familienbibliothek.

In einer guten deutschen Familienbibliothek darf am wenigsten ein Werk fehlen, dessen Haupttendenz in der Verherrlichung deutscher Männer und einer der wichtigsten Episoden deutscher Vergangenheit besteht. Ludwig Storch, allen unsern Lesern bekannt, hat ein solches in seinem besten und berühmtsten Romane:

Ein deutscher Leinweber

geliefert, und wir freuen uns, dem großen vaterländischen Lesepublicum heute anzeigen zu können, daß dieses Werk, welches in der ersten Ausgabe 15 Thaler kostete, jetzt in der bekannten Familienausgabe der Storch’schen Schriften zu dem billigen Preise von 3 Thaler erscheinen wird.

Der ganze Ertrag der Schriften kommt allein dem wackern Verfasser zu Gute.
Der deutsche Leinweber erscheint in 12 Bänden von je 12-15 Bogen. Jeder Band, dessen Preis in der alten Ausgabe 1 ½ Thlr. betrug, kostet nur 7 ½ Neugroschen,

der Bogen also blos 5 Pfennige. Band 1-3 ist bereits erschienen, die folgenden erscheinen in monatlichen Zwischenräumen.

Ernst Keil in Leipzig. 

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. - Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Herr O. Ruppius ist soeben erst aus Amerika nach der Heimath zurückgekehrt. Er kennt Amerika und seine Zustände genau, und wir dürfen interessante Mittheilungen aus seiner Feder erwarten, trotz alledem möchten wir doch unsere Zweifel über die Richtigkeit seiner Schlußfolgerungen aussprechen. Ein politisches Institut wie die Union und die nordamerikanische Republik stürzt nicht über Nacht zusammen, so wenig wie Preußen und Oesterreich durch zeitweilige Corruption zu Schanden gegangen. Wo neben dem Faulen soviel Gesundes und Kräftiges in die Höhe strebt, kann von Untergang nicht die Rede sein.
    D. Red.