Die Gartenlaube (1861)/Heft 37
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No. 37. | 1861. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
Des Kaufmanns Ehrenschild.
Der Bediente führte mich in das Haus, in das Zimmer der
Hausfrau. Den Polizeidiener ließ ich unten. Die Frau von Holberg
ging in großer Aufregung in dem Zimmer umher; sie fuhr
heftig erschrocken zusammen, als sie mich plötzlich sah. Dann trat
sie mir doch, wie einem Hülfe, Schutz, Rath Bringenden entgegen.
Sie war sehr blaß. Den Bedienten hatte ich unterwegs nicht weiter
befragt. Bei meinem Eintreten in das Zimmer hatte er sich
entfernt. Die Frau von Holberg war allein.
„Gnädige Frau, was ist hier vorgefallen?“ rief ich ihr entgegen.
„Wissen Sie nichts von meinem Mann?“ fragte sie hastig.
„Nichts, als daß die Bedienten mir sagten, er werde gesucht.“
„Er ist seit einer Stunde fort.“
„Aber nur auf einer Promenade. Die Nacht ist schön –“
„Nein, nein,“ rief sie. „Das ist es nicht. Es ist ein Unglück vorgefallen.“
„Welcher Art könnte es sein?“
Sie wollte mir etwas sagen. Sie stockte und wandte sich händeringend von mir.
„Gnädige Frau, hier ist wirklich ein Unglück vorgefallen. Theilen Sie es mir mit.“
Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
„Sie müssen es mir mittheilen. Ich bin Holberg’s nächster Freund; ich bin Ihr Freund.“
Sie schüttelte den Kopf.
„Gnädige Frau, Sie erschraken, als Sie mich sahen. Es fuhr mir durch das Herz. Sie müssen mir dennoch Alles sagen, gerade darum.“
Sie wandte sich zu mir; ihr Gesicht war leichenblaß. Sie sah mich entsetzt und doch fragend und hülfesuchend an. Einen Entschluß hatte sie noch nicht gefaßt, noch nicht fassen können. Wie Schweres mußte sie drücken! Ich mußte ihr entgegenkommen.
„Lassen Sie uns mit Ruhe sprechen, mit Ruhe überlegen, gnädige Frau. Theilen Sie mir mit, was hier vorgefallen ist.“
Sie konnte es nicht, nicht sogleich.
„Was führt Sie hierher?“ fragte sie in ihrer bebenden Angst. „So unerwartet? Mitten in der Nacht?“
„Ich werde es Ihnen nachher mittheilen.“
„Nicht sogleich? Warum nicht? Wen betrifft es? Meinen –?“
„Es betrifft nicht Ihren Mann, Niemanden der Ihrigen. Beruhigen Sie sich darüber völlig. Erzählen Sie mir jetzt.“
Sie konnte sich etwas mehr beruhigen.
„Setzen wir uns. Ich werde Ihnen erzählen. O, könnten Sie mir, könnten Sie uns Hülfe bringen! Sie wissen, ich bin mit den Kindern schon seit mehreren Wochen hier. Mein Mann kommt öfter zu uns heraus. Er kam auch heute – wir haben schon Morgen – er kam auch gestern Abend. Er war sehr still, verstimmt, gedrückt. Auf meine Frage, was ihm fehle, sprach er nur im Allgemeinen von unangenehmen Geschäften. Nachher wurde er mittheilender. Er hatte zum Amüsement der Kinder und der Leute des Gutes und der Nachbarschaft einer Truppe von Seiltänzern und Gauklern erlaubt, ihre Kunststücke auf dem Schloßhofe zu machen. Er kam selbst hin. Die Kinder freuten sich, und er wurde munter mit ihnen. Auf einmal, gegen Abend, kam Herr Jones hier an. Sie kennen ihn?“
„Ich kenne ihn,“ sagte ich. „Aber,“ mußte ich sie zugleich fragen, „hatte Holberg Ihnen seine Ankunft nicht vorher angekündigt?“
„Nein. – Es fällt Ihnen auf?“
„Fahren Sie fort, wenn ich bitten darf.“
„Er blieb eine Weile in unserer Gesellschaft, dann ging mein Mann mit ihm allein in sein Cabinet. Sie waren sehr lange dort. Erst nach halb zehn Uhr kehrte mein Mann in das Familienzimmer zurück. Er kam allein und sah fast wie zerstört aus. Ich konnte ihn in Gegenwart der Kinder nicht fragen, was ihm fehle. Ich fragte ihn nur nach Jones, der mit ihm zum Abendbrod hatte zurückkommen wollen. Er sei fortgegangen, gab er mir zur Antwort; es sei ihm zu spät geworden. Wir setzten uns darauf zum Abendessen, aber mein Mann konnte nichts anrühren. Er starrte nur schweigend vor sich hin. So hatte ich ihn noch nie gesehen, auch die Kinder nicht. Es herrschte die peinlichste Todtenstille im Zimmer. Niemand konnte etwas verzehren. Auf einmal sprang er vom Tische auf; er nahm seinen Hut, um das Zimmer zu verlassen.
„Wo willst Du hingehen?“ fragte ich ihn.
„Ich muß eine Promenade machen, im Park.“
„In so später Stunde?“
„Ich habe Kopfschmerzen; in der frischen Luft wird mir besser werden.“
Ich begleitete ihn aus der Thür; draußen im Gange waren wir allein.
„Holberg, Dir fehlt etwas Anderes?“
„Nein, nein.“
„Du hast etwas mit dem unheimlichen Menschen gehabt. Seine Gegenwart war Dir schon längst unangenehm, drückend. Es ist ein Geheimniß zwischen Euch, daß Dir Sorgen macht. Willst Du Deine Sorgen nicht mit Deiner Frau theilen?“
[578] Er konnte meinen Bitten nicht ferner widerstehen.
„Ja, der Mensch ist mein Unglück, unser Aller.“
„Und was hast Du mit ihm?“
„Ich habe alte Verbindlichkeiten gegen ihn. Ich kann sie nicht lösen. Er will unser Kind dafür.“
„Therese? “
„Unser braves, gutes, engelreines Kind.“
„Der entsetzliche Mensch?“
„Der Betrüger, der Schurke! “
„Für alte Verbindlichkeiten? Gieb ihm Alles, Alles an Geld und Vermögen, was wir haben, wenn wir nur unser Kind dafür retten können.“
„Ich kann ihn mit all’ unserem Geld und Gut nicht abkaufen.“
„Grosser Gott, was ist es denn?“
„Morgen. Ich muß mich sammeln, ehe ich es Dir mittheilen kann. Morgen sollst Du es erfahren.“
Ich wollte ihn beschwören, mich nicht in der fürchterlichsten Ungewißheit zurückzulassen. Er stürzte fort. Ich konnte ihn nicht halten, wenn ich nicht vor den Kindern und den Domestiken Alles bloßstellen wollte. Er ist noch nicht zurückgekehrt. Als es Mitternacht geworden war, sandte ich Leute aus, ihn zu suchen, sie hatten ihn nicht gefunden; ich schickte mehrere aus, zu genauerer Nachsuchung in weiterer Ferne. Die Leute waren selbst unruhig; sein gedrücktes, verstörtes Wesen war ihnen aufgefallen. Keiner hat mir Nachricht über ihn bringen können. Darf ich noch die Hoffnung liegen, daß er sich nicht ein Leid zugefügt habe? Sich – oder?“
Sie stockte.
„Oder?“ mußte ich fragen, und eine schreckliche Ahnung ergriff mich.
Sie kämpfte mit sich, ob sie mir antworten, ob sie die schwere Last, die sie noch drückte, von sich abwälzen solle. Sie konnte es nicht, wenigstens nicht ganz. Ich sah es ihr an.
„Jones!“ sagte sie nur. „Der Amerikaner.“
Es war meine Ahnung gewesen. Er war nicht im Schlosse und war auch nicht zu dem Gasthofe zurückgekehrt. Sein Pferd war noch dort.
„Wie kommen Sie auf ihn?“ fragte ich dennoch.
„Einer der Gutsknechte hatte ihn noch spät im Parke gesehen.“
„Wann?“
„Gegen zehn Uhr. Der Mann wußte die Stunde nicht genau. Es muß ungefähr um dieselbe Zeit gewesen sein, als mein Mann fortgegangen war. Der Amerikaner hatte mit einem der Seiltänzer gesprochen.“
„Mit einem Seiltänzer?“ Eine sonderbare Helle wollte in mir auftauchen. „Wo war das gewesen? “
„Hinten im Park, nach der Grenze von Alsleben hin.“
„In dem Dorfe haben die Seiltänzer ihr Quartier?“
„Ja, bis morgen.“
„Was hatten die Beiden gesprochen?“
„Der Knecht hat es nicht verstanden.“
„Können Sie auf der Stelle den Knecht zu mir schicken?“
„Er ist mit den Uebrigen zum Aufsuchen meines Mannes fort. Aber welches Gewicht legen Sie auf den Umstand?“
Ich mußte ihr jetzt mittheilen, was mich hergeführt hatte.
„Der Amerikaner ist wahrscheinlich ein Betrüger, ein Mitglied einer herumziehenden Gaukler- und Seiltänzerbande, und der Mörder des Mannes, dessen Namen er führt und dessen wahre oder fingirte Rechte er auch gegen Holberg geltend machen will.
Ein englischer Polizeibeamter ist mit mir zu seiner Verfolgung herübergekommen. Er wartet draußen im Gasthofe an der Chaussee.“
Ein neuer Schreck halte die Frau ergriffen; dann lebte doch ein neuer Hoffnungsschimmer in ihr auf. Auch sie hatte nur jetzt noch etwas mitzutheilen. Sie hatte bisher nicht darauf geachtet; auf einmal wurde es ihr wichtig, und auch mir.
Der Amerikaner war zu dem Spiele der Seiltänzer auf den Hof gekommen. Er hatte, was ihr gleichfalls jetzt erst auffiel, nur mit Widerstreben und nur auf kurze Zeit von ihrem Manne sich hinführen lassen. Einer der Gaukler hatte ihn gleich nachher fixirt. Es war ein großer, fast riesiger, kräftiger Mann, mit einem großen, schwarzen Barte, rohen Zügen, stechenden Augen. Als, schon nach wenigen Minuten, auf das Drängen des Amerikaners, Holberg mit diesem fortgegangen, war der Mensch ihnen gefolgt; er war an den Amerikaner herangetreten und hatte ihm, wie um eine Gabe bittend, die Mütze hingehalten. Der Amerikaner hatte ihm schnell ein Geldstück in die Mütze geworfen und sich dann in das Schloß entfernt. Die Frau von Holberg wollte dabei bemerkt haben, daß der Amerikaner sich verfärbt habe und in seiner Hast ihr verwirrt vorgekommen sei. Auffallend war ihr auch noch das Benehmen des Seiltänzers, den ihr Mann vollständig für die ganze Vorstellung bezahlt und der auch nur von dem Amerikaner eine Gabe gefordert hatte.
Das erzählte sie mir. Es gab mir ein neues Licht auf den Weg, den ich als Criminalbeamter zu nehmen hatte, eine neue Spur für die Verfolgung des Verbrechers. Aber auch zu Gunsten des Freundes, dessen Schicksal sich mir mit jedem Augenblicke trüber gestalten wollte? Vielleicht war das Eine mit dem Anderen in eine neue Verbindung getreten. Ich mußte vor allen Dingen dieser letzten Spur weiter nachgehen. Ich mußte sofort den Gaukler befragen und überraschen.
Den mitgebrachten Polizeidiener sandte ich zu dem Gasthofe zurück, mit dem Ersuchen an den Polizeidirector, zur Verfolgung des Amerikaners außer dem Gasthofe auch noch das Schloß bewachen zu lassen und mir nach Alsleben einige Gensd’armen nachzusenden. Dann ließ ich mich durch einen Bedienten des Schlosses nach dem Dorfe Alsleben führen, in dem die Seiltänzer sich befanden. Der Diener brachte mich in die elendeste Schenke des Dorfes. Dort lagen die Künstler, die auch in ihrer Weise durch die Kunst die Welt darstellen, freilich auf dem Seile, also nur etwas mehr in der Luft – dort lagen sie in dem elendesten Raum des Hauses, in der Scheune und in den leeren Ställen zu beiden Seiten der Scheune. Ihre Ruhestätte waren Stroh, Steine, Lumpen, Dünger. Der Schnaps hatte sie in den Schlaf gewiegt, manchen auch wohl der Hunger.
Der Tag graute, als ich an der Schenke angekommen war.
Ich ließ den Wirth wecken und fragte ihn, ob der Anführer der Truppe noch da sei. Jener riesige Gaukler, der an den Amerikaner herangetreten war, war der Anführer, wie mir die Baronin Holberg gesagt hatte. Sie seien alle in der Scheune, sagte der Wirth, auch der Signor Trapani Simo. So ließ also der große Künstler sich nennen. Ich fragte, wann der Signor am gestrigen Abende oder in der vergangenen Rächt nach Hause gekommen sei.
Sie seien nach Beendigung der Kunststücke auf dem Schloßhofe Alle zusammen zurückgekommen und sofort in die Scheune gegangen. Dort habe er nach Dunkelwerden nichts weiter von ihnen gehört. Sie wollten um sechs Uhr Morgens aufbrechen, da hätten sie sich wohl früh zur Ruhe gelegt. Ob Einer später die Scheune wieder verlassen habe, wußte der Wirth nicht; die Scheune hatte einen besonderen Ausgang unmittelbar in’s Freie.
Die Gensd’armen waren vom Gasthofe schnell angekommen. Ich trat mit ihnen in die Scheune. Gerade ging die Sonne auf; ihre ersten Strahlen fielen durch ein breites Fenster in den Raum.
Welch ein Bild beschienen, zeigten sie! Halb bekleidet, halb nackt lagen über ein Dutzend menschlicher Gestalten am Boden, bunt durch einander; Männer, Weiber, Kinder; kräftige Glieder, abgemagerte und abgehärmte Figuren, vom Schnaps des gestrigen Tages noch geröthete, von Hunger und Kummer gebleichte Gesichter, Eine leichenblasse Frau, einen Säugling an der Brust, in der Brust die Schwindsucht, über Brust und Kind unordentlich dichte, lange, glänzend schwarze Haare herabhängend, vergesse ich nie. Auch nicht ein Mädchen von zwölf bis dreizehn Jahren, schön wie ein Engel, aber auch bleich wie der Todesengel. Man konnte kein schöneres schlafendes Gesicht sehen. Wie könnte ich je das ganze Bild vergessen! Die Frau schlief nicht, sie war die Erste, die uns sah. gleich bei unserem Eintreten.
„Gensd’armen!“ schrie sie laut auf.
Sie mochte wohl noch mehr als die Auszehrung in der unglücklichen Brust tragen. Im Nu waren sie Alle aufgesprungen, nur die Kinder suchten sich zu verkriechen, nicht unter Decken, denn die hatten sie nicht, aber in den ärmlichen Lumpen, mit denen sie ihre Blöße halb bedeckt hielten. Ein riesiger Mann mit schwarzem Barte stand vor mir. Er wäre ein schöner Mann gewesen, wenn er nicht gar zu verkommen und gemein ausgesehen hätte. Er stand halb drohend und halb erschrocken da. Er war der Signor Trapani Simo, der, den ich suchte. Ich redete ihn deutsch an, trotz seines italienischen Namens.
[579] „Ich bin Signor Trapani Simo!“ antwortete er stolz.
„Richtig, Sie suchte ich. Folgen Sie mir. Ihr Uebrigen rührt Euch nicht von hier. Gensd’arm, Sie sind mir dafür verantwortlich.“
Einer der Gensd’armen blieb in der Scheune zurück. Der andere mußte den Gaukler mir in eine Stube der Schenke nachführen. Dort befragte ich ihn.
„Wie heißen Sie jetzt?“
Er war auffallend kleinlaut geworden.
„Heinrich Hochmann.“
„Aus –?“
„Aus Sachsen.“
„Treiben Sie Ihr Handwerk schon lange?“
„Meine Kunst,“ sagte er.
Er war fast ängstlich geworden, aber Künstler wollte er bleiben.
„Ihre Kunst denn?“
„Seit meinen Kinderjahren. Mein Vater war gleichfalls Künstler.“
„Kennen Sie Jemanden Namens Johansen?“
„Nein,“ sagte er fest, bestimmt, aber zu fest und zu bestimmt für die bis jetzt völlig beziehungslose Frage. Er hatte sich auf sie vorbereitet und mußte für die Antwort sich dennoch Gewalt anthun. Ein Geheimniß lag sicher da vor. Durfte ich auch schon eine Schuld annehmen? Aber welche?
„Waren Sie in Amerika?“ fuhr ich fort.
„Nein.“ Er war schon sicherer geworden.
„Waren Sie nie außerhalb Deutschlands?“
„O ja, oft, in Italien, in den Niederlanden, in Ungarn, Frankreich –“
„Und niemals in Amerika?“
„Niemals.“
„Sie haben heute auf dem benachbarten Schlosse Ihre Künste producirt?“
„Ich habe eine Vorstellung gegeben.“
„Bei der Gelegenheit sind Sie an einen fremden Herrn herangetreten, der zum Besuch kam?“
„Ich erinnere mich.“
„Sie haben eine Gabe von ihm gefordert?“
„Ein Zutrittsgeld. Er war ein fremder, vornehmer Herr.“
Wir wurden unterbrochen. Ein Polizeidiener trat in die Stube, eilig, mit einem wichtigen, zugleich Schrecken verkündenden Gesichte. Er bat mich allein sprechen zu dürfen. Ich verließ mit ihm das Zimmer. Bei dem Gaukler ließ ich den Gensd’armen zurück. Der Polizeidiener kam vom Schlosse; der dort eingetroffene Polizeidirector hatte ihn zu mir geschickt. Er überbrachte mir eine Nachricht, die mich eben so sehr überraschte als erschreckte.
„Der Amerikaner, der gesucht wird, ist todt gefunden.“
„Und der Herr von Holberg?“ war meine Frage, die die höchste Angst mir eingab.
„Von ihm ist noch immer keine Nachricht da.“
Ein furchtbarer Schlag hatte mich getroffen. Ich durfte es nicht zeigen.
„Wo ist der Amerikaner gefunden?“
„Im Schloßparke.“
„In welcher Gegend?“
„Hinten am Parke fließt ein Bach vorbei, eigentlich ein Fluß, er ist tief und reißend.“
„So ist es; ich kenne ihn.“
„Vom Parke aus führt eine hölzerne Brücke mit einem verschlossenen Thore hinüber.“
„Nicht weit von der Chaussee, nach dem Gasthofe hin.“
„Dreißig Schritte unterhalb der Brücke wurde der Leichnam gefunden. Er lag in den Zweigen einer Weide, die in das Wasser hineinreichten. Der Strom mußte ihn dahin getrieben haben.“
„Wer hat ihn gefunden?“
„Einer der Diener vom Schlosse, beim Nachsuchen nach dem Herrn.“
„Wann?“
„Vor etwa einer halben Stunde, als es angefangen hatte, hell zu werden.“
„Hat man die Leiche aus dem Wasser genommen?“
„Auf Befehl des Herrn Polizeidirectors, der sogleich herbeigerufen war und hineilte.“
„Hat man Verletzungen, Spuren von Gewalt gefunden?“
„Keine.“
„Eine Beraubung des Todten?“
„Durchaus nicht. Uhr und Börse waren noch in den Taschen.“
Und Holberg war noch immer nicht wieder da, man hatte noch nicht die geringste Nachricht von ihm! Ich sprach es nicht aus, desto schwerer lastete der Gedanke auf mir.
„Ich werde sogleich zum Schlosse kommen,“ sandte ich den Polizeidiener dahin zurück.
Ein anderer Gedanke war mir plötzlich gekommen. Der Gaukler, Heinrich Hochmann, der in der Welt herumstreichende Mann des gemeinen Aussehens, der nach Allem mit dem verstorbenen Amerikaner bekannt gewesen sein mußte, der ihn dennoch abgeleugnet, der bei meinem und der Gensd’armen Erscheinen sich erschreckt hatte! Wie hatte ich auch an Holberg denken können, den stolzen, edlen, ritterlichen Mann? Wie konnte er ein Mörder, ein gemeiner Meuchelmörder sein? Freilich was hätte jenen bewegen können, den Amerikaner ums Leben zu bringen? Umgekehrt hätte es wohl in den Interessen des Amerikaners liegen mögen, den Gaukler, den ehemaligen Cameraden aus dem Wege zu räumen, der ihn verrathen, sein ganzes Glück vernichten, ihn sogar auf das Schaffot bringen konnte. Indeß die beiden ehemaligen Gesellen konnten auch in Streit gerathen sein, mit einander gekämpft haben, und in dem Kampfe konnte der riesige Seiltänzer den Gegner, dessen er sich vielleicht nicht anders zu erwehren wußte, in das Wasser geworfen haben.
Aber mußte denn nothwendig ein Mord, nur ein gewaltsamer Mord vorliegen? Ueber Alles, auch über das letztere, mußte mir eine sofortige Fortsetzung der abgebrochenen Befragung des Gauklers, wenn auch nicht ein klares Licht, eine bestimmte Auskunft, doch irgend einen Anhalt zu weiterer Aufklärung geben. Ich traute mir wenigstens so viel Gewandtheit des Inquirirens und der Beobachtung zu, um für meine innere Ueberzeugung Anzeichen darüber zu gewinnen, ob, wenn eine gewaltsame Tödtung verübt worden, der Gaukler der Thäter sei oder nicht.
Ich kehrte zu ihm zurück und konnte die gleichgültigste Miene von der Welt annehmen. Er empfing mich mit der nämlichen Ruhe und Kaltblütigkeit. Aber aus dem äußersten Winkel seines Auges sah er mich forschend an, und tief hinten im Auge konnte eine Angst sich nicht verbergen. Wir hatten einen Kampf mit einander begonnen, den Kampf des Inquirenten mit dem Inquisiten.
Wie viele hundert Mal hatte ich ihn schon durchgekämpft! Meist war ich der Sieger geblieben. Wie oft aber auch war der Verbrecher siegreich daraus hervorgegangen, frech und verstockt, oder listig und gewandt! Wenn ich ihm nachher das ganz oder gewöhnlich nur vorläufig freisprechende Urtheil publiciren mußte, dann hatte der lauter und freier triumphirende Blick mir wohl deutlich genug meine Niederlage verkündet, bei der es doch nun einmal bleiben mußte. Aber ich hatte redlich meine Schuldigkeit gethan, als Richter und auch als Mensch, und ich dankte doch Gott, daß ich – kein Geschworner war.
Wer sollte jetzt der Sieger bleiben? Jenes Lauern aus dem Augenwinkel, jene Angst hinten im Auge, sie waren schon zwei Kampfesblößen, die er sich gegeben hatte. Er hatte vorhin das etwas Außerordentliches und Schreckhaftes verkündende Gesicht des Polizeidieners gesehen. Nur sein Schuldbewußtsein konnte die Nachricht, die mir mitgetheilt worden, auf sich beziehen. Aber hatte ich nicht vielleicht in demselben Augenblicke auch ihm schon eine Blöße gegeben? Es war mir um das Herz wahrhaftig immer schwer und traurig genug gewesen, wenn ich mich als Inquirent von der Schuld eines Menschen überzeugen mußte. Aber jenes Zeichen eines Schuldbewusstsein wollte mir das Herz leichter machen. Deutete ich es richtig, so war mein Freund Holberg kein Schuldiger. Ich, knüpfte das Verhör mit ihm wieder an, wo ich es hatte abbrechen müssen. Er nahm eben so ruhig denselben Faden wieder auf.
„Wir sprachen von dem Herrn, dem Sie eine Gabe oder ein Zuschauergeld abforderten.“
„Er war ein fremder Herr, der bezahlen konnte.“
„Und Sie kannten ihn nicht?“
„Ich kannte ihn nicht.“
„Er hat Sie erkannt!“
„Hat er das gesagt?“ .
„Sein Blick hat es Ihnen selbst gesagt.“
„Ich habe den Blick nicht gesehen.“
[580] „Später, als es dunkler Abend war, haben Sie mit ihm gesprochen.“
„Ich?“ – Er sprach das Wort völlig unbefangen.
„Gewiß, Sie.“
„Wo wäre das gewesen?“
„Im Schloßpark.“
„Ich war nicht in dem Park.“
„In der Nähe des Flusses, der den Park auch von der Feldmark dieses Dorfs trennt.“
Ich hatte ihn fest und scharf angesehen, absichtlich, daß er es merken, das Stechen meines Blicks gleichsam fühlen sollte. Er mußte wirklich plötzlich die Augen niederschlagen. Aber es dauerte keine halbe Secunde lang.
„Ich war da nicht,“ sagte er, und er sah mich eben so fest an, wie ich ihn.
Er log. Auch ohne das Zeugniß des Bedienten, der ihn gesehen hatte, wußte ich es. Aber mußte die Lüge sich auf den Tod des Amerikaners beziehen? Konnte sie nicht im Gegentheil eben so sehr und noch mehr zum Zweck haben, den Amerikaner nicht zu verrathen?
„Wann hatten Sie Ihre Vorstellung auf dem Schloßplatze gestern Abend beendet?“ fuhr ich fort.
„Es konnte gegen acht Uhr sein.“
„Wohin gingen Sie von da?“
„Wir kehrten hierher zurück.“
„Sie mit den Andern?“
„Wir Alle zusammen.“
„Auf geradem Wege?“
„Auf dem kürzesten, am Rande des Parks entlang.“
„Hierher in diese Schenke?“
„In jene Scheune.“
„Haben Sie die Scheune seitdem verlassen?“
„Nein. Doch, ich war einmal auf dem Hofe nebenan, um nach meinem Wagen zu sehen, ob er zur morgenden Abreise im Stande sei.“
„Wann war das?“
„Unmittelbar vorher, ehe ich mich zum Schlafen legte, vielleicht um halb zehn Uhr.“
„Waren Sie lange draußen gewesen?“
„Vielleicht zehn bis fünfzehn Minuten.“
„Hat Jemand Ihre Rückkehr bemerkt?“
„Ich weiß es nicht; die Leute schliefen schon.“
„Sind Sie verheirathet?“
„Ja.“
„Ist Ihre Frau mit hier?“
„Sie gehört zur Gesellschaft.“
„Wer ist das blasse Mädchen von ungefähr zwölf Jahren?“
Die plötzliche Frage erschreckte ihn sichtlich; sie hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen.
„Das Mädchen?“ wiederholte er, mit verwirrt umher irrenden Augen.
„Sie lag in der Nähe der blassen Frau mit dem Säugling im Anne.“
„Das war meine Frau mit unserem Kinde.“
Er wollte durch die Antwort Zeit gewinnen, sich von seinem Schreck zu erholen.
„Und das Mädchen?“ fragte ich.
Er hatte sich erholt.
„Sie ist von ihrer frühesten Kindheit bei meiner Gesellschaft.
Ein früheres Mitglied, ein liederlicher Mensch, ging mir durch und ließ sie mir zurück.“
„Er war ihr Vater?“
„Ja. Die Mutter war schon früher gestorben.“
„Sein Name?“
„Rosenberg hieß er.“
„Wo ist er jetzt?“
„Ich habe nie wieder von ihm gehört.“
Er hatte alle diese Fragen bestimmt und ruhig beantwortet. Mit dem Mädchen war es doch ein Geheimniß. Wieder ein neues Geheimniß? Weitere Fragen, die ich an den Gaukler stellen konnte, hätten sich unmittelbar auf den Tod des Amerikaners beziehen müssen. Sie wären jetzt noch verfrüht gewesen. Ich mußte vorher seine Frau und das Mädchen vernehmen, und auch dann ging ich sicherer, vor irgend einer Erwähnung des Todes oder der Auffindung der Leiche des Amerikaners ihn nach der Stelle des Auffindens zu führen und zu beobachten, welche Eindrücke das allmähliche Näherkommen zu der Stelle und darauf der Anblick der Leiche auf ihn machen werke. Ich ließ ihn in sicheren Verwahrsam bringen und dann seine Frau vorführen.
Es war die kranke, blasse Frau mit der Auszehrung in der Brust. Sie hatte das schöne, lange und dichte schwarze Haar geordnet. Man sah, wie schön sie einst gewesen war. Jetzt war sie ein Bild des Elends, des Hungers, des in seiner Blüthe rasch dahin schwindenden Lebens. Sie konnte kaum fünfundzwanzig Jahre zählen. Auch ihr innerliches, geistiges Leben war schon tief angefressen, gebrochen. Ein gewisser Stumpfsinn sah aus den starren, grauen Augen hervor; tägliches Elend von so mancherlei Art, Sünde und Laster, und die Unmöglichkeit, aus dem Allem je herauszukommen, können den Geist völlig abstumpfen. Ihren Säugling trug sie im Arme; er schlief. Das Kind war schon blaß, wie die Mutter; die Muttermilch war ihm schon der Todestrank geworden. Ich konnte der armen Frau nicht wehe thun.
„Sie sind gestern Abend mit der übrigen Gesellschaft vom Schlosse hierher zurückgekehrt?“
„Ja.“
„War auch Ihr Mann dabei?“
„Er war mit dabei.“
„Ist er später wieder fortgegangen?“
„So viel ich weiß, nicht.“
„Soviel Sie wissen?“
„Ich bin bald eingeschlafen, ich war müde.“
„Sind Sie in der Nacht nicht erwacht?“
„Nur einmal, als mein Kind Nahrung forderte.“
„War zu der Zeit ihr Mann da?“
„Ich weiß es nicht. Ich habe mich nicht nach ihm umgesehen, und es war dunkel in der Scheune.“
Sie antwortete Alles leise, etwas schüchtern, mit jenem Stumpfsinn, als wenn es sich der Sache nach um nichts handle. Ich fragte sie nur noch: „Kennen Sie einen Menschen Namens Johansen?“
Sie besann sich eine Weile ruhig.
„Ich habe den Namen nicht gehört,“ sagte sie dann in der vorigen Weise.
Wußte sie wirklich von nichts? Oder war es ihr, vielleicht mit in Folge langjähriger Drohungen und Mißhandlungen von Seite ihres Mannes, zur Gewohnheit geworden, nur gleichgültige, nichts gestehende und nichtssagende Antworten zu geben? Ich ließ noch das bleiche Mädchen vorführen. Ihr Geheimniß zog mich an, und wie leicht konnte ich, durch oder ohne dieses Geheimniß, von ihr eine wichtige Auskunft erhalten!
War sie im Schlafe einem schönen Engel, wenn auch dem Engel des Todes, gleich gewesen, jetzt war sie das Bild eines wunderbaren menschlichen Lebens. Sie war groß, schlank, zart gebaut. schon früh mitten auf dem Wege zur Entwicklung der Jungfrau. Große, schwarze Augen lagen wie dunkle Kohlen in dem schönen, schneeweißen Gesichte, ein wildes Feuer ausströmend. Ihre Lippen waren stolz und trotzig aufgeworfen. Sie sah mich neugierig, aber zuversichtlich an, als sie eintrat. Die Neugierde gehörte dem Kinde, die Zuversicht aber einem schon reiferen, bewußten Wesen.
„Wie heißt Du?“ fragte ich sie.
„Amelie.“
„Mit Deines Vaters Namen?“
„Ich kenne ihn nicht.“
Ihre Antworten waren rasch und bestimmt; es ging eine gewisse klare Entschlossenheit aus ihnen hervor.
„Dein Herr hat ihn Rosenberg genannt.“
„Der Signor!“ warf sie verächtlich die Lippen auf.
„Was willst Du sagen?“
Sie hatte eine schnelle Gegenfrage: „Der Signor hat ein Verbrechen begangen, nicht wahr, mein Herr?“
„Wüßtest Du mir etwas davon zu sagen?“
„Also nicht?“
Bürgersleute und Bürgermeister.
Zu den traurigsten Folgen des Polizeistaates gehört allezeit der Mangel an Gemeinsinn und der Ueberfluß an Unselbständigkeit im Volke. Der deutsche Bürger, dessen Bezeichnung als solcher an die männliche Würde eines Vertheidigers seiner festen Stadt, ihrer Freiheit, ihrer Rechte erinnert und der seit dem dreizehnten Jahrhundert allen Einfluß landesherrlicher Beamten in seine inneren Angelegenheiten immer entschiedener zurückgewiesen hatte, dieser kernhafte deutsche Bürger ging aus dem Elende des dreißigjährigen Krieges arm und schwach hervor und endlich im gleichen Schritte, als das Reich sank und die Fürsten stiegen, nach und nach ganz im Unterthan auf. –
Wer sieht sie nicht noch
vor sich, jene vorsichtigen
Stadtbürger, die ihre
oberste Zuversicht ausschließlich
in dem „Schutze
der Obrigkeit“ und der
Zunft erkannten, die keinen
Schritt aus dem gewohnten
Alltagsgleise anders
als mit „hoher
obrigkeitlicher Bewilligung“
zu thun wagten,
die – leider nicht blos
aus Rücksicht auf die geschäftliche
Kundschaft, sondern
aus purem angeborenen
und anerzogenen
Respect – zu Adeligen
und fürstlichen Dienern
wie zu höheren Wesen
hinaufschauten, vor jedem
„herrschaftlichen“ Wagen
den Hut bis tief zur
Erde zogen und, um die
„Furcht“ vor der Obrigkeit
früh genug zu pflegen,
den „Polizeidiener“
zum Popanz ihrer Kinder
machten? – Welch’
niederdrückender Anblick,
den freien stolzen Bürger
der großen deutschen
Städtezeit nach Jahrhunderten
sogenannter Civilisation
in solcher Knechtsgestalt
wiederzufinden!
Diese Versunkenheit des Bürgerthums trat am sichtbarsten zu Tage bei der Behandlung derjenigen städtischen Angelegenheiten, bei welchen der einzelne Bürger berufen war, ein bürgerliches Recht öffentlich zu behaupten, und namentlich das wichtigste von allen: das Wahlrecht seiner obersten Magistrate. Hier spielten Gleichgültigkeit, zaghafte Rücksicht und selbstische Schlauheit ihre unerquicklichsten Rollen. Der Berechnung des allereigensten Vortheils erlag jede Regung für das allgemeine Wohl: man wählte nach höherem Wink oder nach Verwandtschaft und Kundschaft, oder nach dem Gewichte der Bestechung, und die Mehrzahl wählte gar nicht, um sich vor jeder „Ungelegenheit“ zu bewahren. In manchen Städten suchte man sogar die Bürger dadurch zum Wahlacte herbei zu locken, daß man ihnen am Wahltage einen freien Trunk gab, und noch heute giebt es Orte, wo bei jeder Bürgermeisterwahl die „Biermarke“ mitwirkt.
Es ist nicht zu verwundern, daß demgemäß auch die meisten Bürgermeister dem Geiste entsprachen, unter dessen Walten sie zum Amte gelangt waren. Die Geschichte der Mehrzahl deutscher Städte wird uns nicht widersprechen, wenn wir dieselben größtentheils als dienstwonnevoll nach oben und herrisch nach unten bezeichnen. Anstatt Beschützer der städtischen Rechte waren sie nur zu oft die Tyrannen des kleinen Bürgers und die Schmeichler der landesfürstlichen Macht, die es dann trefflich verstand, aus solchen Zuständen den größten Vortheil zu ziehen. Die alte Selbstständigkeit der Städte ging allgemach verloren, bis es endlich, mit der Ausbildung der Landeshoheit in neuerer Zeit, den fürstlichen Regierungen sogar gelang, Stadträthe sammt Bürgermeister als Unterbehörden sich zu subordiniren. Ja leider fehlt es sogar nicht an Stadträthen, welche sich so sehr als Unterbehörden fühlen, daß sie in Differenzen mit den Vertretern der Bürgerschaft (Gemeinderäthen, Stadtverordneten etc.) jeder Nachgiebigkeit gegen diese voll beamtlichen Subordinationsstolzes den schiedsrichterlichen Ausspruch einer fürstlichen Oberbehörde vorziehen.
In unseren Tagen ist auch in dieser Beziehung Manches besser geworden, haben sich wieder Bürgermeister gefunden, welche in beharrlichem Kampfe für die freie Entwickelung der Städte und ihres Bürgerthums ihre oberste Pflicht erkannten und die in Wahrheit Bürgermeister, das heißt Muster als Bürger und Männer darstellten, bei denen die Tugenden der Vaterlandsliebe und der Freisinnigkeit sich von selbst verstanden. Wir haben den Lesern der Gartenlaube bereits zwei solcher Männer in Bild und Wort vorgeführt und lassen heute einen der würdigsten der zuletzt Heimgegangenen folgen: Johann Smidt, den Bürgermeister von Bremen. Wenn auch die amtliche Stellung dieser Häupter unserer freien Städte von denen in monarchischen Ländern bedeutend verschieden ist, indem diese der Regierung unterthan sind, während jene selbst die Spitze der Regierung bilden, nicht blos die städtischen Vorrechte, sondern zugleich die Ehrenrechte des Staats ausüben, Gesandte empfangen und schicken und somit vielfach auf diplomatischem Boden wandeln müssen, so ist doch gerade Johann Smidt einer von den Bürgermeistern gewesen, die auch in Beziehung auf ihre rein städtischen Arbeiten als Muster gelten können. Es ist nothwendig, daß unsere Städtebewohner allenthalben einsehen lernen, welche Wichtigkeit in der Ausübung ihres Wahlrechts liegt, daß sie prüfen lernen, welche Eigenschaften einen Mann zu einem solchen Amt befähigen, daß sie an glücklichen Beispielen schätzen lernen, wie viel Ehre, Wohlstand und Lebensfreudigkeit der Gemeingeist einer rührigen Bürgerschaft sicherlich in jeder deutschen Stadt zu schaffen vermag.
Johann Smidt war der Sohn eines Predigers an der St. Stephanikirche in Bremen und wurde am 5. November 1773 geboren. Er genoß die Erziehung seiner Zeit und bezog im Jahre 1792 die Universität Jena, von welcher damals die neue Lehre einer verjüngten Wissenschaft und Bildung ausging, denn dort stand Fichte eben in voller Jugendkraft, und eine Menge anderer bedeutender Männer wirkten ihm zur Seite.
Im Jahre 1795 kehrte er nach Bremen zurück zu selbstständigem Wirken auf der Grundlage einer gediegenen philosophischen, humanistischen und historischen Bildung; Geist und Gemüth aber [582] waren bis an sein Lebensende der Theologie zugewandt. Unter strebsamen Freunden und ohne feste Anstellung verflossen ihm die ersten Jahre nach seiner Rückkehr. Nachdem er auf Veranlassung der Predigers Stolz an der St. Martinikirche in Bremen, eines geborenen Zürichers, der zu seinem vertrautesten Umgange gehörte, sich in Zürich zum Prediger hatte ordinieren lassen, erhielt er im Jahre 1797 in Bremen die Stelle eines Professors in der philosophischen Facultät des Gymnasii illustris. Diese Stellung gewährte ihm reichliche Muße, um Vorlesungen über populär-wissenschaftliche Gegenstände zu halten und Politik zu treiben, bis er im Jahre 1799 das „Hanseatische Magazin“ begründete, von welchem im Ganzen bis zum Jahre 1804 sechs Bände erschienen. Wir geben zugleich eine Probe seiner Denk- und Schreibweise, wenn wir aus dem „Vorberichte“ zu diesem Magazin folgende Stellen mittheilen: „Bei allen den Unruhen und Verwirrungen,“ sagt er, „welche die furchtbaren politischen Phänomene unsers Jahrzehends auch hervorgebracht haben, ist es doch unleugbar, das diese merkwürdige Krise mehr wie irgend eine andere dazu beitrug, den Blick größerer und kleinerer Staatsgesellschaften auf sich selbst zu lenken und ihnen durch eine Selbstprüfung die Periode künftiger Vervollkommnung vorbereiten zu helfen. Der Gedanke, daß die individuelle Existenz eines jeden Staats einer Apologie vor dem Richterstuhle der Vernunft bedürfe, ist allgemeiner wie je zur Sprache gekommen, mehr wie sonst hat man angefangen es einzusehen, daß diese Apologie nur durch die Zweckmäßigkeit seiner ganzen innern Einrichtung begründet werden könne, daß die fortschreitende Vervollkommnung derselben zu den nothwendigen Bedingungen seiner künftigen Fortdauer gehöre, und daß es die angelegentliche Sorge jedes Staatsbürgers sein müsse, dazu Alles beizutragen, was er vermöge. Ueber das Mittel zur Erreichung dieses Zwecks mußte man bald einverstanden werden, es konnte kein anderes sein als die volle Publicity dieser Sorge. Nur dann, wenn jeder in seinem Kreise das, was er der Verbesserung bedürftig hält, und die Mittel, welche er zu dieser Verbesserung zweckmäßig glaubt, ohne Scheu denen, welche dahin zu wirken vermögen, zur Prüfung darlegt, nur dann kann echter Bürgersinn der als der belebende Geist den todten Buchstaben jeder Verfassung lebendig und kräftig erhalten muß, empor kommen, nur dann kommt durch Menschen, wie sie sein sollen, auch der Staat, wie er sein soll, immer mehr dem Reich der Wirklichkeit näher. Die unumgängliche Nothwendigkeit einer solchen Publicität wird in Deutschland auch wirklich nachgerade so allgemein anerkannt, daß in unsern Tagen (1799!) gewiß weniger von dem Nutzen, als von der zweckmäßigen Anwendung derselben die Rede sein darf. Man hat aufgehört, Staatsgebäude wie Staatsgefängnisse zu betrachten, in deren wohlverwahrten Mauern nur eine heimliche Procedur ihrer ungestörten Ordnung sicher zu sein wähnt, und überzeugt sich vielmehr, daß nur da fröhlich und sicher zu wohnen sei, wo man das Licht nicht scheut und beim Schein desselben seine Bahn sich zu ebnen bemüht ist.“
Von diesem allgemein deutschen Standpunkt geht er dann auf den besondern der Hansestädte über, indem er sicher davon überzeugt ist, „daß Deutschland die Erhaltung oder Verwüstung seiner vorzüglichsten handelnden Seestädte nicht mit gleichgültigen Augen ansehen dürfe und ansehe.“ – „Zu steter Vervollkommnung werden wir fortschreiten,“ sagt er a. a. O., „wenn wir vor äußern Stürmen ebenso sicher sein könnten, wie wir es vor inneren sind; der Baum unserer Staatscultur trägt wirklich noch zu schöne Früchte. Durch übermäßige Abgaben wird unser Volk nicht gedrückt; es genießt die Producte seines Fleißes. Nicht nur das Maß der öffentlichen Abgaben legen wir uns selbst auf, sondern auch die Art derselben wird durch gemeinschaftliche Rath- und Bürgerschlüsse bestimmt, und was man freiwillig trägt, trägt man leicht.“ – „Wir haben keine privilegirten Stände, die Geburt schließt Niemand von irgend einem Amte aus, wozu er sich die Fähigkeit zu erwerben weiß“ etc.
Die äußern Stürme blieben nicht aus, und als Smidt im December 1800 in den Rath erwählt worden war, zielte sein ganzes Streben dahin, Bremen die eben erwähnten Vorzüge zu erhalten und, was in Folge der Fremdherrschaft verloren gegangen war, wieder zu erringen. In den ersten Jahren seines neuen Amtes wurde er, wie jeder Andere, nur zur Erledigung unbedeutender Arbeiten verwendet; aber gerade im rechten Augenblicke war die Bahn für ihn frei. Als das deutsche Reich in völliger Auflösung begriffen und in allen Staaten das zusammenhaltende Element angefault war, zog an der Seine das große Unwetter des Jahrhunderts sich zusammen: Napoleon warf mit kräftigem Stoß in der alten Welt Staat um Staat über den Haufen. Durch dieses erschütternde Ereigniß wurde Smidt an seinen rechten Platz gestellt. Inmitten der ihn umgebenden moralischen Fäulniß war er mit einem Häuflein Gleichgesinnter gesund geblieben und hatte unverzagt zugegriffen, um das Gute unter den Trümmern hervorzuziehen. Er rettete, was zu retten war, sein Bremen im Herzen, Deutschland im Auge, wohl wissend, daß es im Interesse Deutschlands sei, den Hansestädten die Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu erhalten.
Auf seinen einzelnen Wegen und schweren Gängen in der Zeit der tiefsten Erniedrigung können wir ihm nicht folgen, weil das Material dazu noch in den Archiven vergraben liegt. Nur an dem von ihm Errungenen läßt sich abmessen, wie er mit den damaligen faulen Zuständen gerungen haben mag. Je toller es draußen stürmte, desto zuversichtlicher stand er auf dem Fundamente seines Wahlspruchs: „Niemand wird getreten, er lege sich denn zuvor nieder!“ – Niemals hat er sich und seine Sache treten lassen. Still und ruhig ging er den sichern Weg auf das eine Ziel hin, welches er sich vorgesteckt hatte: Deutschlands Freiheit, Bremens Selbstständigkeit.
Daß Beides nur durch Waffengewalt errungen werden könne, darüber waren alle Einsichtigeren mit Smidt einig. Er wirkte im Dienste dieser Idee und wartete ruhig bis zum entscheidenden Moment, wo es galt, die nicht leichte Aufgabe zu lösen. Die Schlacht bei Leipzig war geschlagen und Bremen durch die ersten fliegenden Corps der Alliirten von französischen Truppen befreit worden. Deutschland lag in den Wehen einer Wiedergeburt, Napoleon’s Macht war für immer gebrochen. Diesen günstigen Moment ergriff Smidt, um bei der nun nothwendig eintretenden neuen Weltvertheilung die Selbstständigkeit den Hansestädten zu retten. Unter seinem Einfluß trat man kühn den großen Mächten mit einer Selbstconstituirung entgegen und war bereit, mit ihnen alle Opfer und Gefahren zu theilen. Schon am 5. November 1813 versammelte der Senat sich zum ersten Male wieder, und Tags darauf berief er die Bürgerschaft. Beide Corporationen proclamirten die Herstellung der bremischen Selbstständigkeit in unauflöslicher Verbindung mit Deutschland. Sofort ließ man die bremischen Truppen den alliirten Heeren sich anschließen. Smidt veranlaßte auch Hamburg und Lübeck, Bevollmächtigte in's Hauptquartier der Verbündeten zu senden, er selbst begab sich in dieser Eigenschaft für Bremen dahin und zog mit nach Paris, immer wach und rührig, wo es galt, die vaterländischen und vaterstädtischen Interessen zu vertreten. So wurde nicht allein die staatliche Form den Hansestädten wiedergewonnen und aus dem monarchistischen Fanatismus glücklich gerettet, sondern zugleich auch die ebenbürtige Stellung denselben neben den monarchischen Staaten im Bunde gesichert. Dies Alles verdankt man lediglich den Bemühungen Smidt’s, er wohnte dem Wiener Congresse bei, unterschrieb die Wiener Congreßacte, die deutsche Bundesacte und die Wiener Schlußacte, trat dann als Gesandter seiner Vaterstadt in die Bundesversammlung ein und wirkte dort von 1816 bis 1857. Im Mai 1821 gelang es ihm, den Elsflether Zoll durch den Bundestag definitiv zu beseitigen und damit ein Ziel zu erreichen, das man seit 200 Jahren angestrebt hatte.
Zum Bürgermeister von Bremen wurde Smidt am 26. April 1821 erwählt. Von dieser Zeit ab wendet sich seine Thätigkeit fast ausschließlich den vaterstädtischen Angelegenheiten zu. Hatte die wiedergewonnene Selbstständigkeit die alten überlebten Zustände auch einstweilen nur restaurirt, so galt es doch, dem angebrochenen neuen Tage gerecht zu werden, vor dessen hellem Strahle am allerwenigsten ein so weit blickendes Auge, wie das Smidt’s, sich verschließen konnte. Wir sehen ihn nun mit den veralteten Formen staatlicher und kirchlicher Verhältnisse ringen und endlich siegen. In der Kirche wurde den beiden Hauptconfessionen gleiche Berechtigung gewährt, wenn auch unter staatlicher Souverainetät; das Schulwesen wurde neu organisirt; eine sogenannte Handelsschule gegründet; im Staate die Finanzverwaltung vereinfacht; die Civilstandssachen wurden der Kirche entzogen und dem Staate übergeben etc. An die Stelle der Syndici trat eine „Commission für auswärtige Angelegenheiten“, deren Chef Smidt ward und blieb. Eine titellose Gleichheit Aller wurde eingeführt und all’ und jeder Bocksbeutel der „guten, alten“ Zeit abgeschafft, weil der Ehre und Würde des Staats damit nichts vergeben werde und davon die Erfüllung einer [583] würdigen nationalen Aufgabe nicht abhänge. Aber zu einer eigentlichen Verfassungsänderung kam es doch nicht; eine dieserhalb niedergesetzte Deputation schlummerte nach Vollendung eines Entwurfs wieder ein. Der nationalen Erhebung folgte eine politische Abgespanntheit; man war hier wie überall im deutschen Vaterlande zufrieden, daß die Fremdherrschaft ein Ende genommen. Smidt aber ließ sich dadurch nicht beirren. Die Kunst des Regierens hatte er vollständig begriffen und aus ihr erkannt, daß dem Staate eine Spitze, die wisse, was sie wolle, Noth thue, und daß darin die erste Bedingung eines gesunden Fortschrittes enthalten sei. Eine systematische Leitung müsse die Zügel straff halten und auf gevatterschaftliche Kannegießerei dürfe nichts gegeben werden. Um dies zu erreichen, müsse der Senat von allen Seiten unbeeinflußt dastehen und fortwährend eingedenk sein, daß die Leitung des Staats in seiner Hand ruhe. So stand denn Smidt fortan als die Spitze der Spitze immer mit wachsamem Auge auf seinem Posten.
Von dieser Zeit an hat manche Idee von weitreichenden Folgen, nachdem sie als trefflich von ihm erkannt worden war, Fleisch und Blut erhalten, und aus kleinen Anfängen ist Großes geworden. So nur eines in die Augen fallenden Beispiels von welthistorischer Bedeutung hier zu erwähnen: die Gründung Bremerhavens. Durch sie kamen Handel und Schifffahrt erst recht in Schwung, und dieser Schwung wirkte wohlthätig auf das ganze Gebiet der Weser zurück. Es lernte sich als einen untrennbaren Organismus fühlen, und die hannoverschen und bremischen Staatsmänner gaben diesem Gefühle in dem Staatsvertrage vom 11. Januar 1827 Ausdruck. Von Jahr zu Jahr steigt die Bedeutung Bremerhavens; es nimmt an Umfang zu; ein Wald von Masten ist auf der Rhede und in den beiden Bassins schon jetzt sichtbar, und wie mag dies erst werden, wenn das Dampfroß eine directe Verbindung mit dem Binnenlande hergestellt hat! – Diese Einwirkung auf die fernere Entwicklung der alten Hansestadt gehört ohne Zweifel zu Smidt’s segensreichsten Thaten.
So war das öffentliche Leben dieses deutschen Mannes und bremischen Patrioten; nicht weniger interessant und wohlthuend ist es, ihn in seinem Privatleben kennen zu lernen. Alles Große ist einfach und schlicht. Auch der große Mann behängt sich nicht mit schillernden Flittern. Smidt war ebenso einfach und schlicht als groß, ein Bürgermeister in des Wortes vollster Bedeutung. Mit Band und Orden hat er sich nie geschleppt; nur die eine Auszeichnung ist ihm geworden, die eines juristischen Doctortitels von der Universität Jena bei Gelegenheit der Elsflether Verhandlungen. Auch die Familientradition Smidt’s ist reich an rührenden Zügen seines einfachen und schlichten Charakters.
Smidt hatte sich am 1. Januar 1798 mit Wilhelmine Rode vermählt, einer Frau im edelsten Sinne des Wortes, ganz dazu geschaffen, dem großen Manne zur Seite zu stehen, und würdig, seine Gefährtin zu sein über die goldene Jahreszahl 50 hinaus. Johann Smidt, Bremens großer Bürgermeister, starb am 7. Mai 1857. Am 11. Mai ward er ebenso schlicht und einfach, als er durch’s Leben gegangen war, zu Grabe getragen, und am 5. November 1860 setzte ihm bremische Dankbarkeit ein Denkmal im großen Saale des Rathhauses. Die Festrede des Bürgermeisters Duckwitz schloß mit folgenden Worten: „So gehet denn heim und führet Eure Kinder und Eure Enkel zu diesem Standbilde und erzählet ihnen, wie der alte schlichte Bürgermeister mit männlicher Würde und länger als ein halbes Jahrhundert gestrebt hat, daß der Name Bremen überall mit Achtung genannt werde, und wie die Quelle seines ganzen Wirkens seine warme Liebe zur Vaterstadt und zum deutschen Vaterlande gewesen ist; und erzählet ihnen ferner, wie der Mann, den die Mächtigen der Erde ehrten, in seinem Familienkreise das Muster aller häuslichen Tugenden war. Lehret daher Eure Kinder und Eure Enkel ein Beispiel und Vorbild zu nehmen an diesem Mann, und nach dem Maße ihrer Kräfte zu thun, wie er gethan hat, auf daß auch sie in ferner Zukunft bereit seien, ihr Alles zu setzen an ihres Bremens Ehre!“ –
Von Carl Vogt in Genf.
(Schluß.)
Kehren wir aber zu unserem eigentlichen Gegenstande zurück.
Da haben wir denn eine Menge von Milben, die alle der Krätzmilbe mehr oder weniger ähnlich sehen und die auf unseren Vorräthen mancherlei Verwüstungen anrichten, ja selbst zum Theil nicht ungern gesehen werden, da man sie gewissermaßen als Beweise für die Güte der Waare ansieht. Alter Käse zerfällt nach und nach in Staub. Betrachtet man den Staub näher mit einer Lupe, so wimmelt es darin von unzähligen kleinen, achtfüßigen Milben, die den Käse nach und nach so aufzehren, daß nur sie selbst mit ihren abgelegten Hautbälgen und ihrem Unrathe übrig bleiben. Das ist aber gerade die rechte Höhe, und kein Feinschmecker würde billigen, daß man ihm alten Roquefort ohne dieses Milbenpulver vorsetzte. Es ist in der That die Käsemilbe (Acarus siro), die schon dem alten Linné bekannt war, welche diesen Unfug anrichtet. Auf gedörrten Zwetschen und Pflaumen von Bordeaux, auf Feigen und Datteln zeigt sich ein weißlicher oder gelblicher Anflug, der die Güte der Waare bekundet; denn es ist ja nach der Meinung der verständigen Hausfrauen ausgeblühter Zucker. Die Lupe zerlegt auch diesen Anflug in kleine Milben, welche sich allerdings von dem Zucker der getrockneten Früchte nähren. In altem Brod, in Mehl, an Rosinen, an allen modernden Stoffen finden sich verschiedene Milbenarten, die man erst bei genauerer Untersuchung erkennt.
Die kleine grünliche Webermilbe oder Pflanzenspinne (Trombidium telarium) treibt auf Linden und Bohnen, sowie in unseren Gewächshäusern und Mistbeeten mancherlei Unfug. Sie legt sich auf der Unterseite der Blätter äußerst feine, seidenartige Gespinste an, wahre Nester, in welchen Tausende dieser Thiere wimmeln und den grünen Saft so aussaugen, daß die Blätter welken und abfallen, die Pflanzen kränkeln und zu Grunde gehen. Doch entwickeln sie sich nur bei trockenem, heißem Wetter und lassen sich leicht schon durch häufiges Bespritzen mit kaltem Wasser entfernen.
Von besonderem Nutzen sind dagegen außer den eigentlichen Spinnen die sogenannten Weberknechte oder Kanker (Phalangium opilio), diese sonderbaren Krakehler, welche auf ihren unendlich langen Beinen einen kurzen, fast kugeligen Leib schwankend einhertragen und bei der leisesten Berührung die langen Stelzenbeine fahren lassen, die sich geraume Zeit hindurch noch zuckend bewegen. Es sind nächtliche Thiere, die Tags über sich gern in ein Versteck drücken, Nachts aber überall umherklettern und hauptsächlich die Stubenfliegen überfallen, welche sie aussaugen.
Sehen wir uns bei den eigentlichen Spinnen um, die in zwei Abtheilungen zerfallen, die Gewebespinnen, die ein künstliches Gewebe zum Fangen der fliegenden Insecten anfertigen, das bei jeder Art seine ganz specielle Form und Größe hat, und die Jagd- oder Wolfsspinnen, welche kein solches Gewebe verfertigen, sondern höchstens irgend ein Versteck sich anlegen, aus welchem sie sich auf ihre lebende Beute stürzen. Alle Spinnen besitzen große, hakige Kinnladen, die in ähnlicher Weise wie die Giftzähne der Schlangen durchbohrt sind und mit einem Giftbläschen in Verbindung stehen. Diese scharfen Haken schlagen sie in den Leib ihres Opfers ein, das fast augenblicklich durch den Einfluß des Giftes gelähmt und getödtet wird; dann saugen sie das Innere auf und lassen den leeren Balg fallen. Grausam und unersättlich tödten die Spinnen alles, was in ihr Bereich kommt; ja sogar die schwächeren Thiere ihrer eigenen Gattung, und was sie nicht gerade zur augenblicklichen Nahrung bedürfen, spinnen sie [584] meistens in ein Gewebe ein, um es so lange aufzuheben, bis sie es bei Gelegenheit aussaugen können.
Auf dieser Grausamkeit beruht denn auch die eigenthümliche Einrichtung, wodurch bei ihnen die Begattung und Befruchtung ermöglicht wird. Die Taster der Männchen sind nämlich löffelartig geformt und verdickt und können in ihren Höhlungen die befruchtende Flüssigkeit aufnehmen. Die Männchen laden diese Taster förmlich, sobald sie sich anschicken, den meist um die Hälfte größeren und stärkeren Weibchen in ihrem Netze einen Besuch abzustatten. „Denn,“ sagt de Geer, „nur zur Zeit der Begattung haben sie mit den Weibchen Gemeinschaft, und haben auch alsdann alle Vorsicht nöthig, um nicht von ihnen gefressen zu werden, welches oft geschieht, wenn sie zu kühn zu Werke gehen. Denn es ist kein Thier in der Welt grausamer und blutdürstiger, als eine Spinne. Indessen findet man auch gewisse Arten kleiner weiblicher Spinnen, die mit den Männchen in ihren Netzen ziemlich vertraulich leben, ob sich diese gleich immer aus Furcht in einiger Entfernung halten. Ich habe die besondere Begattungsart der Spinnen oft mit angesehen, wobei das Männchen ein Opfer der Grausamkeit des Weibchens wurde. Einmal sah ich, daß sich das Männchen einer großen Kreuzspinne dem im Mittelpunkte des Netzes sitzenden Weibchen mit aller Vorsicht und ganz langsam näherte, wie gewöhnlich ein paarmal zurückfuhr und wieder ansetzte, endlich auf einmal auf das Weibchen lossprang, dasselbe umhalsete und sich zum Werke anschickte. Es gelang ihm aber sehr übel. Denn den Augenblick faßte dieses das Männchen mit den Zangen, überspann es, und es wurde nachher rein ausgesogen. Ich wurde wirklich dabei mit Abscheu und Unwillen erfüllt.“
Man kann diese Liebe unter Schrecken nicht selten an schönen Herbsttagen bei den großen Kreuzspinnen beobachten, die an Reblauben so häufig ihre Netze spinnen. Das Männchen nähert sich mit der unendlichsten Vorsicht; bei der geringsten Bewegung des übermächtigen Weibchens schaudert es entsetzt zurück oder stürzt sich an einem Faden zur Erde, und sobald es nur mit seinem Taster die Geschlechtsöffnung des Weibchens berührt und damit die Begattung vollzogen hat, zieht es sich auf das Schleunigste zurück, weil es selbst nach diesem Liebesdienste in unmittelbarer Lebensgefahr schwebt.
Die Jagdspinnen oder Wolfsspinnen (Lycosida), die man häufig im Nachsommer mit einem Säckchen antrifft, in welchem sie die Eier oder kaum ausgeschlüpften Jungen tragen, erhaschen ihre Beute im Sprunge. Es ist wirklich interessant zu sehen, wie ein solches Thier einer Fliege nachstellt, die etwa an einer weißgetünchten, von der Sonne hell beschienenen Wand sitzt, an der man die Bewegungen der meist schwarzen Wolfsspinne und der dunkelen Fliege am besten aus der Ferne belauschen kann. Die Fliege sitzt ruhig und putzt sich mit den Vorderfüßen. Die Wolfsspinne rennt augenblicklich auf sie zu, aber in solcher Weise, daß sie stets dem Hinterleibe der Fliege gegenüber steht und von dieser nicht gewahrt werden kann. Die Fliege dreht sich um sich selbst; die Wolfsspinne rennt im Kreise, um stets ihren Posten dem Hinterleibe gegenüber zu wahren. Dreht sich die Fliege mehrmals hin und her, so sieht es gerade aus, als sei die Wolfsspinne mittelst eines unsichtbaren Perpendikels an ihren Hintern gebunden; so genau folgt sie im Kreise rennend und stets sich mehr nähernd den Bewegungen der Fliege. Endlich ist sie nahe genug und dann stürzt sie sich in gewaltigem Sprunge wie ein Tiger auf ihre sorglose Beute, die sie selbst im Fallen von der Wand nicht losläßt und augenblicklich aussaugt.
Zu der Gattung der Wolfsspinnen gehört auch die berüchtigte Tarantel (Lycosa tarantula), welcher italienische Leichtgläubigkeit jene eigenthümliche Krankheit zugeschrieben hat, die Oken nach den Beobachtungen des schwedischen Arztes Kähler im vorigen Jahrhundert folgendermaßen beschreibt: „Wenn ein Mensch stiller wird als zuvor, viel nachzudenken scheint, stets unruhig ist, den Appetit verliert, schwere Glieder bekommt, mark- und kraftlos wird, ein Drücken unter dem Herz, große Beängstigung empfindet, eine gelbliche Gesichtsfarbe bekommt; endlich die Zähne wackelig werden, der Harn häufig und bleich abgeht, und der Mensch allmählich scheu und melancholisch wird; wenn dieser Zustand zwei bis drei Jahre dauert: so glaubt man, die Tarantel habe ihn gestochen, obschon weder er noch Jemand anders etwas davon weiß, und das Uebel müsse durch Musik gehoben werden. Man läßt sodann Musikanten kommen, meistens mit einer Geige oder Cither, welche nun eine eigene Melodie spielen, wozu anfangs der Kranke den Takt giebt mit einem hohlen und jämmerlichen Geschrei, roth im Gesichte wird und endlich in völligen Tanz geräth. Je älter und schwerer die Krankheit ist, desto länger dauert der Tanz und oft zwei Stunden ohne Unterbrechung. Wollten die Musikanten früher aufhören, als der Anfall vorüber ist, so glaubt man, daß der Kranke sterben müsse. Bei einem falschen Ton thut er einen jämmerlichen Schrei, rückt den ganzen Leib und gebehrdet sich, als wenn er die gräßlichste Pein ausstände. Zuweilen wird das Herzdrücken und die Angst so heftig, daß er nicht mehr tanzen kann; dann faßt er mit den Händen einen Tisch oder Stuhl und tritt den Takt mit den Füßen. Ist der Anfall vorüber, so fällt er in starken Schweiß, und man giebt ihm ein Glas Wasser oder Wasser mit Wein und läßt ihn eine Stunde ruhen. Nachher läßt man ihn noch drei Tage hinter einander tanzen, aber immer nach einer besonderen Musik, weil eine andere nicht auf ihn wirkt. Hört er während dieser Zeit zufällig dieselbe Musik, so kann er sich des Tanzens nicht enthalten; nachher aber hat er das ganze Jahr keine Lust mehr dazu, als bis wieder die nämliche Zeit kommt, wo das alte Heilmittel wieder versucht wird. Es giebt Leute, welche 16 bis 25 Jahr getanzt haben. Geht die Krankheit zu Ende, so kommt an irgend einem Gelenk eine Geschwulst, worauf man die Blätter von der Eselsgurke legt, um sie in Eiterung zu bringen. Vornehme Leute halten die Krankheit geheim. Bei meinem Aufenthalte zu Tarent ließ ich zwei Musikanten kommen, um diese Musik zu lernen. Zufällig ging ein Mädchen durch das Zimmer und fing sogleich, als es die Musik hörte, an zu tanzen und hielt damit drei Stunden an, obschon es nichts von einem Tarantelstich wußte. Das ganze Uebel ist offenbar nichts als eine Art Milzsucht, welche durch die sitzende Lebensart, besonders des weiblichen Geschlechts, in der schmutzigen Stadt hervorgebracht wird.“
Leon Dufour, der bekannte Entomologe, dem die Kenntniß der Insecten so viel verdankt, erzählt Folgendes von der Tarantel, die er in Spanien zu beobachten Gelegenheit hatte: „Sie bewohnt vorzugsweise trockene, sandige Gegenden, die der Sonne ausgesetzt sind, und baut sich dort tiefe Höhlungen, in welchen sie lauert. Ein solcher Tarantelbau besteht aus einem cylindrischen Loche, das häufig einen Zoll Durchmesser hat und über einen Fuß tief in den Boden hineinreicht. Anfangs ist dieser Gang ganz senkrecht; aber in vier bis fünf Zoll Tiefe bildet er einen Winkel und setzt sich erst eine Zeit lang in horizontaler Richtung fort, um später erst wieder in die Tiefe hinab zu gehen. In der Ecke dieses Winkels sitzt die Tarantel als Schildwache, um von dort aus wie ein Pfeil auf ihre Beute zu stürzen. Dort sieht man in der Tiefe ihre funkelnden Augen, die wie Diamanten glitzern und wie Katzenaugen im Dunkeln leuchten.
Gewöhnlich findet sich auf dem äußeren Loche ein trichterförmiger Aufsatz, der einen Zoll über den Boden emporragt, zwei Zoll im Durchmesser hat und aus Holzstückchen gebaut ist, die mit etwas Lehm zu einem Ganzen verkittet sind. Der Aufsatz ist sehr fest und von innen mit einem dichten Seidengewebe übersponnen, welches sich durch die Röhre und den ganzen Bau hindurch fortsetzt. Diese kunstreiche innere Auskleidung ist der Spinne äußerst nützlich, sowohl zur Erhaltung der Reinlichkeit, als zur Verhinderung des Einsturzes, wie auch zur Erleichterung des Erkletterns im Inneren, indem die Fußkrallen daran einen sicheren Halt haben. Der Aufsatz fehlt zuweilen, in den meisten Fällen aber ist er vorhanden, und sein Nutzen läßt sich auch leicht einsehen. Die innere Röhre ist dadurch vor Regen und Überschwemmungen geschützt; die heftigen Winde können den Eingang nicht verwehen; der Aufsatz selbst bietet den Fliegen und übrigen Insecten, von denen die Tarantel sich nährt, einen willkommenen Ruhepunkt.
Der Mai und der Juni sind die geeignetsten Monate, um sich Taranteln zu verschaffen. Als ich sie zum ersten Male in der Tiefe des ersten Stockwerkes in ihren Röhren entdeckte, glaubte ich mich ihrer mit Gewalt und lebhafter Verfolgung bemeistern zu können. Stundenlang belagerte ich sie förmlich in ihrer Festung, indem ich mit einem großen Pflanzenmesser Laufgräben anlegte, diese bis zu einer Tiefe von einem Fuß und einer Breite von zwei Fuß ausgrub, ohne jemals die Tarantel erhaschen zu können. Nach wiederholten vergeblichen Versuchen gab ich diese Art des Angriffes auf und bediente mich der List, die mir besseren Erfolg versprach. Ich nahm einen Grashalm, an dessen oberem Ende sich eine kleine Aehre befand, und bewegte diesen leise an der Oeffnung [585] der Röhre. Ich merkte bald, daß die Tarantel aufmerksam wurde und sich auf diese Weise ködern ließ. Sie kletterte langsam tastend empor und stürzte sich öfters mit einem gewaltigen Sprunge aus der Oeffnung, die ich dann geschwind schloß, dem Grashalme nach, den ich eiligst zurückzog. Die so ausgeschlossene Tarantel war äußerst unbehülflich und ließ sich dann leicht in eine Papierdüte jagen, in welcher ich sie einschloß. Zuweilen aber auch traute die Tarantel nicht ganz oder hatte weniger Hunger, sodaß sie dann in ganz geringer Entfernung von der äußeren Oeffnung Halt machte und in keiner Weise zu bewegen war, ihre Röhre zu verlassen. In diesem Falle suchte ich mich genau über die Richtung des Ganges und die Tiefe, in der sie saß, zu vergewissern und stieß dann plötzlich ein breites Messer schief so unter ihr durch, daß ich ihr den Rückzug in den Gang verschloß. Im sandigen Boden fehlte ich darin selten; Steine dagegen vereitelten manchmal mein Manöver. Gewöhnlich sprang dann die erschreckte Tarantel aus ihrem Loche hervor; in anderen Fällen aber blieb sie hartnäckig auf meiner Messerklinge sitzen, wo ich sie dann mit einem heftigen Stoße mitsammt der Erde emporschnellte und mich so ihrer bemächtigte. So fing ich manchmal bis zu fünfzehn Taranteln in einer Stunde. Die Bauern der Pouille fangen nach dem Bericht von Baglivi die Taranteln auf andere Weise. Sie ahmen, indem sie in der Nähe des Loches in einen Grashalm blasen, das Summen der Bienen nach. Die Tarantel, welche dies hört, glaubt ein Insect summen zu hören, stürzt zum Fange desselben hervor, wird aber von dem listigen Bauer selbst gefangen.
Die Tarantel ist eine häßliche, haarige und, wie man sieht, wilde Jagdspinne, aber dem Menschen so wenig gefährlich, daß sie sich sogar leicht zähmen, locken und aus der Hand mit lebendigen Insecten füttern läßt.“
Als Hausgenossen möchte ich sie nun freilich nicht haben, denn sie ist, trotz der rothen Binde über den Unterleib, ausnehmend häßlich, und da sie weit größer und stärker als die Kreuzspinne ist, so dürfte ihr Biß allerdings nicht schmerzlos, wenn auch ungefährlich sein.
Aus der guten alten Zeit.
Ungefähr in der Mitte unseres gesegneten neutralen Deutschlands, und zwar zu der Zeit, als dasselbe noch nicht zu einem bloßen geographischen Begriff zusammengeschrumpft war, sondern die Krone Karl’s des Großen noch auf dem Haupte eines deutschen Kaisers, wenn auch etwas matt und verblichen, glänzte, in einem der vielen kleinen Staaten, aus denen damals der große Reichskörper zusammengesetzt war, lag ein wohlbegütertes Bauerndorf, das wir aus strategischen Rücksichten Herbedorf nennen wollen, obwohl es unter einem andern Namen auf den Karten zu suchen ist. Besagtes Herbedorf umschloß mit seinen Mauern, die, beiläufig bemerkt, ihr Dasein dem Kaiser Heinrich dem Finkler und der Hunnennoth verdankten, ein liebendes Paar, das sich über den hoffnungslosen Starrsinn der Eltern gar sehr zu beklagen hatte.
Was wir bei unserer wahrhaftigen Geschichte verbürgen können, ist, daß sich der stämmige Schulzensohn Hannfried, der Stolz der männlichen Jugend des Dorfes, und Liesemargt, des Gemeindeschöppen Baltin Garbenbinder einzige Tochter, einander liebten, wie sich nur jemals ein Paar geliebt haben mag, das bei der Kirchweihe mitsammen auf den Plan zog, in den Spinnstuben sich neckte und schließlich mit einander nach Hause ging, sich zum öftern zankte und eben so oft mit einem herzhaften Schmatz Versöhnung feierte. Anfangs hatten die beiderseitigen Eltern nichts gegen das sich in alter hergebrachter Ordnung entspinnende Liebesverhältniß der jungen Leute einzuwenden gehabt; aber plötzlich wurden der Schulze und der Gemeindeschöppe Feinde, und zwar Feinde aus politischen Gründen und folglich recht grimmige Feinde. Diese Feindschaft war ein Hagelschlag, der das stille Liebesgärtchen zu zerstören drohte. Der Schulze verlangte von seinem hoffnungsvollen Sprößling nichts weniger, als er solle der blonden Liesemargt den Laufpaß geben, und wenn auch der Gemeindeschöppe dem Hannfried den Unverstand seines Alten nicht entgelten ließ, so sagte er doch, Liesemargt möge die Augen aufhaben und sich nicht wegwerfen, er getraue sich, ihr noch alle Tage einen Mann zu schaffen. – Trotz solchen Haders der Alten blieben die beiden Jungen sich in Liebe zugethan, und mußten sie sich öffentlich meiden, so kamen sie um so häufiger heimlich zusammen.
Sie hatten sich eben wieder recht innig umfangen. Die Mondessichel blinzelte aus den Wolken hervor wie ein alter Vertrauter, und die Blätter der Dorflinde rauschten leise. Die liebenden kümmerten sich weder um den Mond noch um die Linde, sondern allein um sich, wie es bei Liebenden zu geschehen pflegt in Stadt und Dorf. Wehe, da riß plötzlich eine nervige Faust die Umschlungenen auseinander; um Hannfried’s Wangen wetterte es, und Liesemargt hörte im Fliehen ein klatschendes Geräusch, wie wenn eine flache Hand mit einer fleischigen Wange in Berührung kommt. Liesemargt wird bei unsern schönen Leserinnen durch ihre feige Flucht nicht gewinnen, aber wir zeichnen nicht aus der Phantasie, sondern aus dem wirklichen Leben. Hannfried zürnte der Geliebten auch nicht wegen ihrer Flucht, er hätte im Gegentheil viel darum gegeben, hätte sie den verdächtigen Schall nicht gehört.
Es war der Schulze, der mit so roher Faust sein übertretenes Gebot rächte. Worte sprach er nicht viel; er war überhaupt kein Mann von vielen Worten. Hannfried wußte den Commentar zu der empfangenen Ohrfeige, zum Ueberfluß aber donnerte ihm der Vater noch zu: „Das sag’ ich Dir Junge! So wahr ich den Schulbau nimmermehr zugebe, so wahr geb’ ich nicht zu, daß Du die Liesemargt mir als Schwieger in’s Haus führst. Wonach sich zu achten!“
Mit dem Schulbau, auf den der erzürnte Mann anspielte, hatte es aber die einfache Bewandtniß, daß das Schulhaus zu Herbedorf seit Menschengedenken in einem entsetzlichen Zustande des Verfalls war, daß man schon vor vielen, vielen Jahren auf einen Neubau, wenigstens auf eine gründliche Restauration angetragen hatte, aber aus all den vielen Visitationen und Berichten erwuchs schließlich nichts, als die bittere Feindschaft zwischen dem Gemeindeschöppen und wenigen Verständigen, die zu ihm hielten, und dem Schulzen sammt seiner großen starrköpfigen Partei.
Was aber den Mann betrifft, der am meisten bei der Schulbaufrage mit betheiligt war, wir meinen den Schulmeister, so hatte sich derselbe bisher seufzend in das Unabänderliche gefügt. Als aber die Wände seiner Wohnung immer windschiefer wurden, so daß er sich jeden Morgen zu einem Dankgebet veranlaßt sah, daß das Dach noch nicht über ihm eingestürzt war, da riß auch ihm der langgesponnene Faden der Geduld, und er beschloß, einen entscheidenden Gang zu thun. Hatte die Regierung Gründe, ihren Befehl nicht mit Strenge durchzuführen, so wollte er sogleich an die „rechte Schmiede“ gehen, an den Herzog, bei dessen strengem Rechtssinn kein Ansehen der Person galt. Er zog daher eines schönen Morgens seinen Bratenrock an, setzte seinen besten Stürmer auf und wanderte nach Meiningen, der Haupt- und Residenzstadt des kleinen Fürstenthums, zu dem Herbedorf gehörte. Unangefochten gelangte er in das herzogliche Wartezimmer, von wo aus die Audienz suchenden Personen nach der Reihenfolge ihrer Anmeldung in die Gemächer des Herzogs geführt wurden.
Der Schulmeister hatte es sehr glücklich getroffen. Es befanden sich nur wenige Personen im Wartezimmer, und so hatte er Hoffnung, recht bald vorgelassen zu werden. Damals erkannte man noch mehr als heute einen Meister des Bakels auf zwanzig Schritte weit, und so war es nicht zu verwundern, daß ihn der herzogliche Kammerhusar, Herr Zeuner, sogleich mit seinem Titel anredete.
Herr Zeuner war übrigens ein durchaus volkstümlicher Charakter. Seinem Fürsten mit Leib und Seele ergeben, genoß er dessen vollstes Vertrauen und war trotz seiner Derbheit dessen steter unzertrennlicher Begleiter. Zeuner kannte die feinen Manieren scherwenzelnder Höflinge nicht; er ging mit dem Herzog um fast wie mit seines Gleichen, und der den edlen Kern in der rauhen [586] Schale würdigende Fürst nahm dem bewährten Diener nichts übel. Noch heute erzählt man sich manche ergötzliche Scene zwischen dem Herzog und seinem Kammerhusaren, die sich nicht einmal alle in ihrer ursprünglichen originellen Derbheit wiedergeben lassen. Eines Tages ging der Herzog aus und war bereits die Schloßtreppe hinab, als Zeuner bemerkte, daß der Herzog sein Taschentuch vergessen habe. Rasch eilt er damit an’s Fenster, sieht den Herzog eben über den Schloßhof schreiten, pfeift hinab und ruft: „Durchlaucht, Ihr Schnupftuch!“ Der Herzog wendet sich und antwortet: „Ei, kannst Du mir’s nicht herunterbringen?“ „Sie haben jüngere Beine als ich,“ versetzt Zeuner trocken und wirft das Tuch hinab. Der Herzog lacht, geht zurück und fängt das flatternde Tuch auf. Bemerken wir nun noch, daß der Kammerhusar als Meininger Stadtkind auch im Umgang mit dem Herzog den breitesten Dialekt sprach, so vermag sich der Leser wohl ein Bild von der originellen Persönlichkeit Herrn Zeuner’s zu entwerfen.
„Will wohl Zulage haben, he?“ sagte der Kammerhusar, als er dem Schulmeister die Nachricht brachte, der Herzog erwarte ihn. „Na, kann’s probiren; der Herzog ist guter Laune.“
„Ich hab’ ein ander Anliegen,“ antwortete der Schulmeister und folgte seinem Führer nach dem Audienzzimmer. Mit gutem Muthe war der Schulmeister gekommen, und er hatte sich seine Anrede an den Fürsten in Gedanken zurecht gelegt; jetzt aber klopfte ihm das Herz doch gewaltig, und er hatte fast Alles vergessen, als der Herzog Georg erschien und die klaren, durchdringenden Augen fragend auf ihm haften ließ. Das edle Antlitz des Fürsten mit der hohen, freien Stirne und der kühn gebogenen Nase war indeß so vertrauenerweckend, daß sich der Schulmeister ein Herz faßte und sein Anliegen vorbrachte, wie seine Dienstwohnung so baufällig sei, daß er jeden Tag befürchten müsse, sie stürze ihm über dem Kopf zusammen, wie die herzogliche Baucommission dies anerkannt und die herzogliche Regierung den Neubau befohlen habe, wie aber die Gemeinde sich hartnäckig weigere, dem Befehle zu gehorsamen.
Herzog Georg hörte den Bittsteller aufmerksam an, ließ sich über Manches näheren Aufschluß geben und erkundigte sich nach den Persönlichkeiten, die sich hauptsächlich als Gegner des Schulbaus bemerklich machten. Der Schulmeister gab über Alles genauen Bescheid und ward mit den Worten entlassen: „Geh’ Er in Gottesnamen! Ich will kommen und Seinen Bauern die Köpfe zurechtsetzen.“ Hoffnungsvoll verließ der Schulmeister das Audienzzimmer und erzählte Herrn Zeuner den Erfolg seiner Unterredung mit dem Fürsten.
Herzog Georg von Sachsen-Meiningen war ein Mann der That, der nicht gern in den Kanzleistuben herumschleppen ließ, was er selbst schlichten konnte. In das constitutionelle Wesen einer späteren Zeit hätte er wohl kaum gepaßt; aber dasselbe war auch der Anschauungsweise des damaligen Volkes fremd. In den patriarchalischen Zuständen jener Vergangenheit verlangte man vom Fürsten, daß er mit eigener Hand in das Getriebe der Staatsmaschine, die freilich weniger complicirt als heutzutage war, eingriffe und dem Hülfesuchenden persönlich Rath und Hülfe gewähre. Weil Herzog Georg diese Regentenpflicht rücksichtslos gewährte, weil der geringste seiner Unterthanen den Weg zu ihm offen fand, besonders aber weil der Herzog es liebte, mit dem Volke persönlich zu verkehren, und sich nicht scheute, die niedrigsten Hütten zu besuchen, darum ward er trotz mancher Schroffheit, trotz mancher gewaltsamen Handlung, die aus seiner Anschauung des Fürstenberufes entsprang, so allgemein verehrt, darum wird das Andenken des guten „Herzog Jörg“ noch heute gesegnet, und darum hört man noch heute von Zeitgenossen den ehrenden Ausspruch: „Es steht kein Herzog Jörg wieder auf!“ Aber Herzog Georg war nicht nur ein wohlwollender und volksfreundlicher Fürst, er war auch ein weiser und geistreicher Mann, er liebte und begünstigte die Wissenschaften und Künste, und es lag nicht an ihm, daß sein Hof nicht mit dem seines Herrn Vetters zu Weimar wetteifern konnte.
Am nächsten Sonntag ritt Herzog Georg mit seinem getreuen Zeuner nach Herbedorf. Er stieg am Pfarrhause ab und lud sich ohne Umstände beim Pfarrer zu Mittag ein. Die Gewohnheit des Herzogs, auf seinen Ausflügen im ersten besten Bauernhause einzukehren und mit dem Bewohner Hausmannskost zu theilen, war landkundig und trug viel zur Popularität des Fürsten bei. Auf einem dieser Ausflüge soll es geschehen sein, daß, als der heimgesuchte Bauer Obst auftrug und der Herzog ihn freundlich ermahnte, sich nicht allzu sehr zu berauben, dieser den Fürsten mit den Worten zum ungenirten Zulangen zu bewegen suchte: „Essen Sie nur zu; die Säu’ kriegen sie doch.“
Der Herzog war sehr gesprächig bei Tische. Er unterhielt sich mit dem Pfarrer über allerlei wissenschaftliche Dinge und zeigte sich in fast allen Fächern unterrichtet. „Wissen Sie,“ sagte er im Laufe des Gesprächs, „daß ich nun mit meinem Institute zu Dreißigacker so ziemlich im Reinen bin? Bechstein[1] hat zugesagt, und mit andern berühmten Gelehrten steh’ ich in Unterhandlung. Es soll eine Musteranstalt für Deutschland werden, so mir Gott Leben und Gesundheit und dem Werke Gedeihen schenkt. Es kann für ein Land nichts Nützlicheres geben, als eine solche Anstalt! Der Forstbetrieb liegt noch sehr im Argen, und unsere Jäger wissen nichts von der Wissenschaft. Die bloße Praxis aber thut’s nicht mehr. Ueberhaupt gedenk’ ich, noch mehr Gelehrte in mein Land zu zieh’n, damit wir uns nicht vor Weimar zu schämen haben, wo die Musen sich versammeln. Wenn ich mir auch keinen Goethe und Schiller und Wieland bestellen kann, so soll doch die Welt wissen, daß es außer Weimar noch ein Land giebt, wo das Genie mit offenen Armen aufgenommen ist. Das Land wird mir’s Dank wissen. Denn von den Tischen der Gelehrten, worunter ich aber nicht bloße Stubengelehrte verstanden wissen will, fällt immer ein Bröcklein Intelligenz für’s Volk ab, das daran noch gar sehr Mangel leidet.“
Ueber die Absicht seines Besuchs deutete er nur an, daß er wegen des Schulbaus einmal vernünftig zu den Leuten reden wolle. Der Pfarrer möge auf der Kanzel verkündigen, daß sich nach dem Gottesdienste die Ortsnachbarn unter der Linde, dem Platze für dergleichen Zusammenkünfte, einzufinden hätten. „Es kann nichts schaden,“ fügte er hinzu, „wenn Sie in Ihre Predigt etwas von dem Gehorsam gegen die Obrigkeit einfließen lassen. Gehorsam ist ein Ding, das Ihren Bauern noth zu thun scheint. Ungehorsame Unterthanen kann ich aber nicht brauchen. Ich habe meine Pflicht gegen Land und Leute immerdar vor Augen und im Herzen und handle so, daß in der Geschichte meines Landes mein Name mit Ehren genannt werden kann. Ich liebe meine Unterthanen und will nichts als ihr Glück; aber gehorchen sollen sie!“
Das Gerücht von der Anwesenheit des Herzogs hatte sich wie ein Lauffeuer im Dorfe verbreitet; daß er mit seinem Besuche einen besonderen Zweck verband, ahnte außer dem Pfarrer nur Einer – der Schulmeister. Erst als der Geistliche im Namen des Durchlauchtigsten Herrn die Gemeinde zur Versammlung berief, ging Manchem ein Licht auf. Dennoch waren die Hartnäckigsten entschlossen, nicht nachzugeben, und der Schulze studirte eine Rede ein, worin er die Unvermögenheit der Gemeinde, den Schulbau aus eigenen Mitteln zu bestreiten, gründlich nachweisen wollte.
Nach Beendigung des Nachmittagsgottesdienstes, an dem auch der Herzog Theil genommen, fanden sich die Nachbarn auf dem Versammlungsplatze ein. Die Parteien hielten sich gesondert. Der Gemeindeschöppe mit seinem Anhang triumphirte; die Andern steckten die Köpfe zusammen, und Einer ermuthigte den Andern im Widerstande. „Man kann uns nichts anhaben, wenn wir die Schule nicht bauen,“ demonstrirte der Schulze. „Wir haben kein Geld und damit Basta! Die Obrigkeit ist allerdings von Gott eingesetzt, wie der Herr Pastor gesagt hat, und wir sind ihr auch unterthan in allen Stücken; aber wo nichts ist, hat auch der Kaiser das Recht verloren.“
Die Gemeinde war vollständig beisammen, als der Kammerhusar Zeuner erschien, in Begleitung eines Knechtes, der einige Bunde Stroh trug. Er ließ das Stroh auf der einen Seite des Platzen niederlegen, ordnete einige Bunde wie zu einem bequemen Lager und legte das letzte Bund quer darüber. Verwundert schauten die Bauern drein; die Bedeutung dieser Anstalten blieb ihnen ein Räthsel. Einige schlichen um den Kammerhusaren herum und suchten ihn auszuforschen; aber Zeuner gab keine Antwort als die: „Abwarten!“
Jetzt trat der Herzog vor die Versammlung, zu seiner Linken das räthselhafte Strohlager. Alle Hüte flogen von den Köpfen: ehrfurchtsvoll erwiderten die Männer den Gruß des Fürsten.
„Ich bin gekommen, um ein paar verständige Worte mit Euch zu reden,“ begann der Herzog. „Es ist mir zu Ohren gekommen, [587] daß Euer Schulhaus in einem höchst miserablen Zustande sein soll, und ich hab’ mich mit eignen Augen überzeugt, daß dem also ist. Ja, als Hundestall und Schafhütte würde die Baracke zu schlecht sein, in der Ihr dem verdienten Lehrer Eurer Kinder zu wohnen zumuthet, in dem Ihr Eure eignen Kinder der Gefahr aussetzt, erschlagen zu werden. Schämt Euch dessen! Ferner ist mir berichtet worden, daß Euch längst befohlen worden ist, das alte Haus von Grund aus abzureißen und ein neues zu bauen, daß aber die Mehrzahl von Euch diesem Gebote beharrlichen Trotz entgegensetzt. Ist das wahr?“
Der Schulze, auf den die Augen des Landesherrn vorzugsweise gerichtet waren, nahm all seinen Muth zusammen und wollte sprechen. Er drehte den dreieckigen Hut in der Hand, räusperte und konnte das rechte Wort nicht finden. „Durchlauchtigster Herzog,“ stotterte er, „Durchlauchtigster Herzog wollen in Gnaden geruhen, zu bedenken, zu entschuldigen, zu verzeihen –“
„Gut, gut!“ unterbrach ihn der Fürst. „Ich glaub’ es nicht, was man mir von Eurem Ungehorsam, Eurem Trotz gesagt hat. Ich weiß, daß die Gemeinde Herbedorf die Mittel besitzt, eine anständige und zweckmäßige Wohnung zu bauen, und daß es nur der vernünftigen Vorstellung bedarf, um sie zu ihrer Pflicht zu vermögen. Zwingen will ich Euch bei alledem nicht. Es soll Jeder seinen freien Willen haben, und wenn die Mehrzahl von Euch den Bau nicht will, so mag er verbleiben – auf Eure Gefahr.“
Auf einen Wink des Herzogs trat Zeuner hart an das Strohlager, zog eine Hetzpeitsche unter dem Rock hervor, schlug das Riemenende derselben zurück, schlang es um die Hand und machte eine sehr bezeichnende Bewegung.
Herzog Georg fuhr unterdessen fort: „Ich will zu diesem Zweck unter Euch abstimmen lassen. Wer der Meinung ist, daß die Gemeinde Herbedorf ein neues Schulhaus bauen soll, der trete daher auf die rechte Seite, wer dagegen ist, dorthin auf die linke!“
Auf der linken Seite stand aber eben Zeuner’s drohende, peitschenbewaffnete Gestalt, deren verdächtiges Gebehrdenspiel die Bauern mit Entsetzen erfüllte. Auf der rechten Seite standen bereits der Gemeindeschöppe und seine Genossen, auf der linken noch niemand. Da schlich auch der Schulze langsam und gesenkten Hauptes der Rechten zu, und seine Anhänger folgten ihm nach, also, daß die ganze Gemeinde eines Sinnes zu sein schien.
Ein kaum merkliches Lächeln spielte um die Mundwinkel des Herzogs. „Es freut mich,“ sagte er, „daß ein vernünftiges Wort eine gute Statt bei Euch findet. Ich habe nicht einen Widerspenstigen unter Euch getroffen, sondern Ihr habt Euren guten Willen einstimmig ausgesprochen. Geht denn mit Gott an’s Werk! Ich aber werde ferner Euer gnädiger Herzog sein!“
Der Herzog hatte kaum ausgesprochen, als eine laute Stimme außerhalb der Versammlung rief: „Unser Herzog soll leben, vivat hoch und drei Mal vivat hoch!“ Es war Hannfried, der dabei die Mütze in der Luft schwenkte und sich so ausgelassen gebehrdete, als sei er auf dem Tanzboden und das Kirmesbier spuke ihm im Kopfe. Der Schulze stand wie auf Kohlen und schoß seinem Sprößling manchen zornigen Blick zu, der leider immer sein Ziel verfehlte. Der Herzog winkte endlich den Ueberlauten herbei und fragte ihn nach seinem Namen.
„Ich bin des Schulzen Aeltester,“ war die Antwort, „und ich bin deswegen so lustig, weil ich nun doch die Liesemargt heirathen darf. Der Vater hat’s mir versprochen, wenn er in den Schulbau einwilligen thäte, dann sollt’ ich auch die Liesemargt haben. Wenn Sie nun noch ein durchlauchtigstes Wörtchen dazu sprechen möchten –“
„Da kann ich Dir nicht helfen, Bursche!“ versetzte der Herzog. „In seinem Hause ist Bürger und Bauer ganz allein Herr. Wenn aber Dein Mädchen brav ist, so wird der Vater nichts dagegen haben, und ein ehrlicher Mann hält auch sein Wort. Wenn Du Hochzeit machst, komm’ zu mir, Deine Aussteuer zu holen, und Deinem ersten Jungen bin ich Pathe. Komm, Zeuner! Gott behüt’ Euch, Ihr Männer!“
Ein vielstimmiges Lebehoch schallte dem Fürsten nach, der bald darauf nach einem herzlichen Abschied vom Pfarrer mit seinem getreuen Kammerhusaren in die Stadt zurückritt. Selbst der Schulze schwenkte den Hut, dann reichte er dem Gemeindeschöppen die Hand, die dieser mit einem kurzen: „’s bleibt beim Alten!“ drückte. „Dir aber,“ wendete er sich an Hannfried, „sollt’ ich ungebrannte Asche auf den Buckel geben. Seinen Landesherrn mit solchen Alfanzereien zu molestiren! Die Liesemargt magst meintwegen haben. In vier Wochen ist Hochzeit. Merk’s!“
Der Schulmeister freute sich des Erfolgs seines Gangs „vor die rechte Schmiede“; die Bauern aber waren nun alle mit dem Schulbau einverstanden. „Es hat’s uns Keiner so vorgestellt, wie unser Herzog Jörg!“ meinten sie; die Hetzpeitsche und der Strohhaufen wurden mit keiner Sylbe erwähnt. Die Geschichte aber ward dennoch weiter erzählt, und es lebt noch Mancher, der sie als Kind aus der Ferne mit angesehen hat.
Die Kunst, die Parteien unter einen Hut zu bringen, war freilich in der guten alten Zeit etwas ungeschlachter Natur; aber wer sie zum Guten anzuwenden wußte, dem sah man gern die rauhe Form nach, die freilich in unserem erleuchteten Zeitalter unendlich verfeinert worden ist. War auch die Ruthe manchmal scharf, die er zu kosten gab, so befand sich Land und Volk doch vortrefflich unter dem väterlichen Regimente des Herzog Jörg, und die Söhne und Enkel jener Männer von Herbedorf nennen noch mit Ehrfurcht seinen Namen.
Das deutsche Sängerfest in Nürnberg.
Schon um 5 Uhr am nächsten Morgen (Sonntag den 21.
Juli) durchzogen Musikchöre die Stadt nach allen Richtungen, um
mit ihrem Sängerruf die Festtheilnehmer zu ermuntern, denn schon
auf die siebente Stunde war die Probe zur ersten Aufführung angesetzt.
Während des Morgens strömten in unabsehbarer Menge
fremde Besucher von nah und fern der Stadt zu und füllten die
festlich geschmückten Plätze und Straßen, vertieft im Anschauen all
der Herrlichkeiten. Allein da gab es fürwahr auch wahrhaft Schönes
in Menge zu sehen, denn die Nürnberger hatten ihren Stolz darein
gesetzt, in diesen festlichen Tagen ihren Gästen auch einen Begriff
der früheren großen Bedeutung der Stadt zu geben. Wohl
nur wenige Städte können sich einer so bewegten und zugleich so
glänzenden Vergangenheit rühmen als Nürnberg, und wenige Stätte
haben wohl eben so viel bedeutende Männer in ihren Mauern
leben und wohnen gesehen. Alle die Häuser aber, welche durch
ihre Insassen oder durch besonders festliche Gelegenheiten so große
Berühmtheit erlangten, waren durch prachtvolle, sinnige Gemälde
verziert, die fast ohne Ausnahme echte Meisterwerke waren. Um die
Bilder wenigstens nur kurz anzudeuten, bemerke ich, daß natürlich
keiner der alten Nürnberger Kunstkoryphäen vergessen war. Albrecht
Dürer’s Geburtshaus und sein späteres Wohnhaus, die Häuser des
Hanns Sachs, Veit Stoß, Adam Krafft, des Volksdichters
Griebel zierten herrliche Bilder; an Peter Bischer’s Haus
war eine schöne Hautreliefarbeit angebracht. Unter allen Bildern
standen treffliche Sprüche, von denen ich hier nur als Probe denjenigen
anführen will, womit Professor Hoffmann das Bild des
Hanns Sachs zierte. Der biedere Meistersänger rief den Beschauern
zu:
Die ihr vor meinem Hause steht,
Laßt Euch, bevor ihr fürbaß geht,
Noch sagen einen guten Spruch:
Singen ist fein, doch nicht genug.
Müßt treulich, was die Meister sagen,
Auch heim in Stadt und Häuser tragen,
Daß Fried’ und Einigkeit erwachs’
Durch’s deutsche Land: Das wünscht Hanns Sachs.
Des gelehrten Behaim, der mit Columbus eng befreundet, so wie des mächtigen Pirkheimer, war an deren Häusern in großartigen Bildern gedacht. Die Katharinakirche, wo früher die Meistersänger ihre Singschulen hielten, zeigte das Bild eines solchen Volksdichters. Als Vertreterinnen kaiserlichen Glanzes strahlten die beiden alten Häuser der Patricierfamilien Rieter und Scheurl. In
[588][589] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [590] letzterem, auf der Burggasse, hatte Kaiser Maximilian I. wiederholt gewohnt, da es ihm dort besser gefallen, als droben auf der mächtigen Burg. Ein großes Bild verherrlichte des Kaisers Eintritt in dies Haus. Am Rieter’schen Hause auf dem Herrenmarkte war auf einem gewaltigen Fries ein hier gehaltenes Turnier unter Kaiser Friedrich III. dargestellt, ein lebendiges Bild des damaligen Patricierlebens. Ein herrliches Leben muß hier geherscht haben zur Zeit jener Turniere. Die Patricier haben freilich viel von ihrer Macht und Bedeutung verloren, das aber haben die Bürger gewonnen, und ich denke – zum Heile der Welt und des Geistes.
Die kostbaren riesigen Bilder waren theils von einzelnen Nürnberger Künstlern, theils in der Kunstschule unter Leitung des Director Kreling entworfen und ausgeführt, und sie legten den Beweis dafür ab, daß Nürnbergs Kunst noch heute auf der altgewohnten hohen Stufe rüstig steht und schafft.
Die Sonne brannte gewaltig auf unsere Häupter, als wir einzeln oder in Gruppen am Nachmittag hinaus nach der Halle wanderten. Doch was kümmerte uns die Hitze? trugen wir doch große Erwartungen in der Brust; die Probe am Morgen hatte durch die Präcision, mit welcher auch die schwierigsten Tonstücke des Festprogramms vorgetragen wurden, alle Mitwirkenden und Hörer überrascht, deshalb durften wir wohl auch schon voll Vertrauen auf den Erfolg der Aufführung blicken.
Wie wunderbar strahlte uns aber jetzt im vollen Tageslichte die festliche Riesenhalle entgegen! Da drinnen erschien durch die transparenten Fenster Alles in zauberhaften, träumerischen Lichtern; man glaubte sich in der That in einen morgenländischen Feenpalast versetzt. Man konnte auf allen Mienen eine wohlthuende, freudige Erregung sehen, mit der die kommenden Dinge erwartet wurden. Der eigentlichen Aufführung ging eine kurze, aber würdige Feier voran: die Enthüllung der Festfahne, die als ein Denkmal bleibender Erinnerung an diese erhabenen Tage gestiftet worden war. Die hierauf bezügliche Festrede hielt in würdigster Weise der Vorstand des Festausschusses, Rechtsanwalt Dr. Lindner. Er feierte das Lied als Zeichen deutscher Einheit, aber er forderte auch auf zum männlichen Zusammenhalten in der That. Die sich enthüllende Fahne begrüßte er heute noch als ein Zeichen des Friedens, aber Alle forderte er auf, dieser Fahne auch für die Zeiten der Gefahr Treue zu geloben. Der Redner schloß hierauf mit den Worten:
- „Zum großen Baue der deutschen Einigkeit sei dieses Fest
- ein Stein, und deshalb stimmt Ihr Alle ein mit mir:
- Ein ganzes Deutschland, ein einig Deutschland
- lebe Hurrah Hoch!“
Einen ergreifenden Eindruck machte es, als die Schlußworte der Rede von allen den Tausenden von Sängern mit tiefbewegter Stimme nachgesprochen wurden, worauf erst der donnernde Zuruf der ganzen Versammlung erfolgte. Hierauf begrüßte der Bürgermeister von Wächter im Namen der Stadt herzlich die Sängergäste, und ein niederrheinischer Sänger dankte feurig dafür in Aller Namen. Daß der fern im Seebade weilende König von Baiern auch dort noch Nürnbergs und des Festes gedachte, bewies eine nach dem ersten Theile der Aufführung anlangende, vom Bürgermeister sofort vorgetragene Depesche, worin der treuen Stadt und ihren Gästen ein Gruß gesandt ward, der sofort die herzlichste Erwiderung auf telegraphischem Wege fand und zu einem freudigen Lebehoch auf den kunstsinnigen König als Beschützer dieses Festes Veranlassung gab.
Die Aufführung selbst übertraf in der That auch die kühnsten Erwartungen. Man hörte sofort, daß die Sänger daheim bereits fleißige Vorstudien gemacht hatten, und deshalb gewährte das Ganze auch einen in dieser Weise kaum für möglich gehaltenen Genuß. Der erste Theil des Concertes enthielt folgende Compositionen: Der 23. Psalm, von Jul. Otto; Festgesang, von A. Methfessel; All-Deutschland, von Fr. Abt, und An das Vaterland, von F. Hiller. Der zweite Theil brachte: Sturmesmythe, von Fr. Lachner; An die deutsche Tricolore, von Herzog Ernst zu Sachsen-Coburg; An die Deutschen, von Tschirch, und Des Sängers Herz, von G. Emmerling.
Sämmtliche Compositionen waren mit Instrumentalbegleitung, und die Direction hatte mit Ausnahme der beiden Tonschöpfungen vom Herzog Ernst und von A. Methfessel stets die Componisten übernommen, die auch immer mit verdientem Beifall empfangen wurden. Unendlich aber wurde bedauert, daß der hochherzige, kunstgeübte deutsche Fürst, dem alle Herzen hier mit Liebe entgegen schlugen, und der alte, fast erblindete Nestor des deutschen Männergesanges, Methfessel, nicht auch erschienen waren.
Den Preis des Tages errang nach dem allgemeinen Urtheile die herrliche Composition „Sturmesmythe“ von Fr. Lachner. Da war alles Gesuchte und Geschraubte vermieden, und das Erhaben- Natürliche erlangte den wohlverdienten Sieg. Das schöne Werk mußte auf allgemeines Verlangen und zum Danke aller wahren Kunstfreunde wiederholt werden; ebenso verlangte man auch das Lied des kunstliebenden Fürsten zur Wiederholung, und an dieselbe schloß sich ein begeistertes Hoch auf den fürstlichen deutschen Tondichter.
Der Totaleindruck dieser Aufführung war ein für alle Theile im höchsten Grade zufriedenstellender, und die deutsche Kunst konnte sich mit vollem Rechte eines neuen Sieges rühmen. Jetzt, nach beendigtem Concerte, zog Alles hinaus zur Erholung und Erfrischung unter den köstlichen Abendhimmel. Rings um die große Festhalle und in der ganzen Ausdehnung des Maxfeldes waren eine Menge Schankstätten unter dem Schutze prächtiger Bäume errichtet, dem Verschmachteten ein herrliches Asyl. Das Gewühl in den Etablissements, die wegen der Güte des dort verzapften Stoffes den meisten Zuspruch hatten, ist gar nicht zu beschreiben; um einen oberflächlichen Begriff zu erhalten, müßte man ein Verzeichnis der Hunderttausende von absichtslosen Rippenstößen und getretenen Hühneraugen anfertigen. Wer aber endlich so glücklich war, Platz erlangt und den gefüllten Bierkrug vor sich zu haben, der sah sich das Gewühl mit absonderlichem Wohlgefallen an. An munterer Nachbarschaft fehlte es nirgends, und Bekanntschaften waren rasch angeknüpft. Obgleich die Sänger wohl nach Tausenden zählten, so waren sie in dieser Volksmenge dennoch bei weitem die Minderheit, allein fürwahr eine glückliche, bevorzugte Minorität. War eine Bank auch noch so voll, für einen Sänger wurde immer noch Platz, und dem Unbekannten begegnete man sofort mit gewinnender Herzlichkeit. Ob Tenor oder Baß, Solist oder Chorbrummer, danach ward nicht gefragt. Ganze Vereine, welche gern beisammen bleiben wollten, suchten sich wohl auch ein schattiges Plätzchen mitten auf der Wiese, lagerten sich und ließen ihre Humpen füllen und dann immer wieder frische Lieder ertönen, wo sich auch gewiß bald, angezogen von bekannten Tönen, fremde Sänger einfanden und einstimmten in die Lieder und in die Herzlichkeit. Gezecht wurde freilich tapfer in diesen heißen Tagen der Freude, sowohl drinnen in der Stadt, als am Maxfelde draußen. Krüge, Trinkhörner und Pokale gingen fleißig von Munde zu Munde, aber ein Ausarten selbst der lautesten Fröhlichkeit war nirgends zu sehen. Die Würde des ganzen Festes hielt unwillkürlich Jeden in der rechten Bahn.
Am Sonntag Abend wurden in der Festhalle von neun Uhr an die Einzelvorträge fortgesetzt, mit wahrhaft Schönes gab es da zu hören. Den meisten Beifall ernteten wohlverdient die Wiener und Innsbrucker Sänger; die letzteren wurden von allen Seiten so lange bestürmt, bis sie noch eines ihrer Nationallieder anstimmten. Wirklich vollendet war der Vortrag der Wiener Sänger, und von allen Seiten hörte man sicher äußern, wie schwer es sei, nach solchen Leistungen noch um den Ehrenpreis in die Schranken zu treten. Trotzdem gab es jedoch noch muthige Sänger genug, die ihre Lorbeeren zu erkämpfen suchten. Schriftliche und telegraphische Grüße wurden wieder in den Pausen in Menge aus allen Weltgegenden gemeldet. Deutsche Sänger aus Newyork, Paris, Aarau, Hermannstadt, Rostock, Judenburg und hundert andern Orten wollten wenigstens auf diese Weise ihre Theilnahme an dem großen nationalen Feste zu erkennen geben.
Das riesige Parterre der Festhalle hatte für die Abendstunden eine höchst praktische Veränderung erfahren, indem man durch Indiehöheschrauben immer der dritten Bank Tische bildete, wo man sich bei der durch die Tausende der Anwesenden leicht erklärlichen Hitze mit einem kühlen Trunk erlaben konnte, für den die großen Büffets unter dem Sänger-Podium reichlich sorgten. An jene rasch entstandenen Tische wurden die Städte und Vereins-Schilder befestigt, und dabei nahmen nun die Zugehörigen Platz. Auf diese Weise konnte man hier die Sangesgenossen der verschiedenen Städte vereint antreffen, und bald entspann sich der herzlichste Verkehr zwischen den deutschen Landsleuten aus Nord und Süd, aus Ost und West. Da sprachen oft vier Freunde, die sich rasch gefunden hatten, jeder das Idiom seiner Heimath, und dennoch verstanden sie sich alle rasch, [591] denn es lag ja die Sprache des Herzens bei Allen zu Grunde. Das war eine prächtige Völkerwanderung an jenen Abenden in der Festhalle, und Keiner wird diese begeisternden Stunden vergessen, so lange noch ein Herzschlag in ihm wohnt.
Lange nach Mitternacht brachen wir auf, allem der prachtvolle, tageshelle Mondschein ließ noch Keinen an die Nacht glauben, und überall bildeten sich wieder neue Gruppen von Sängern oder Zechern, die sich erst trennten, als die Morgendämmerung das Mondlicht verscheucht hatte. Kein Wunder also, daß dem am Montage (den 22. Juli) 6 Uhr Morgens ertönenden Sängerrufe nicht so rasch, Folge geleistet ward. Der Schlaf forderte seine Rechte, und da die Probe in der Festhalle heute überdies erst um 8 Uhr begann, so konnte sich der Müde wohl noch ein Stündchen süßen Schlafes gönnen. Zur Mittagsstunde aber durchwogte ein Leben die Stadt, wie noch an keinem Tage zuvor. Mit ihren Fahnen, Emblemen und Schildern strömten die Sänger dem Kornmarkte zu, um sich hier zu dem großen Festzuge aufzustellen. Ich war einige Zeit zweifelhaft, welche Partei ich ergreifen sollte. Um meiner Referentenpflicht recht zu genügen, hätte ich mir einen Platz an irgend einem Fenster sichern müssen, um den ganzen Zug dort vorübergehen zu sehen: allein die Sängerpflicht, selbst mit im Zuge zu erscheinen, gewann endlich die Oberhand, und ich hätte es bitter bereut, wenn ich der letzteren nicht treu geblieben wäre, denn der Eindruck, den ich so von allen durchzogenen Straßen empfing, wird mir ewig unvergeßlich bleiben.
Die fröhlichen Sängermienen wurden anfangs etwas bedenklich, als sich am Himmel einige schwere Gewitterwolken aufthürmten, allein nach einem ganz kurzen, wohlthätigen Regenschauer heiterte sich der Himmel und mit ihm die Blicke Aller wieder auf, und prachtvoll, wenn auch um einige Grade zu heiß, strahlte bald auf’s Neue die Julisonne über uns. Die Ordnung des Zuges war so getroffen, daß die Vereine genau nach alphabetischer Reihe ihrer Heimathstädte auf einander folgten. Festlich geschmückte Bürger begleiteten jede einzelne Abtheilung und stellten im Verein mit den Turnern aus Nürnberg und dessen Umgegend jede erforderliche Ordnung leicht her. Dem Zuge voran ward das gestern enthüllte Festbanner Nürnbergs getragen, welches aus der einen Seite die Germania, auf der andern den bekannten Festspruch in kostbarer Stickerei zeigte. Sechs starke Musikchöre waren im Zuge vertheilt, doch waren bei der Länge des letzteren kaum zwei zu gleicher Zeit zu hören. Die Schilder, welche mit den Fahnen jeder Abtheilung vorausgetragen wurden, ließen die Heimath der vorbeiziehenden Sänger sofort erkennen. Ueber 260 Vereine mit mehr als 6000 Sängern waren in dem Zuge, der 240 meist herrliche Fahnen aufzuweisen hatte.
Wo aber wäre Jemand im Stande, den brausenden Jubel zu schildern, der in allen Straßen, auf allen Plätzen den Zug empfing und begleitete! Wir wandelten förmlich unter einem fortwährenden Regen von Blumen und Sträußen, welche aus allen Fenstern und von der Straße von zarten Händen uns zugeworfen wurden. Sängergrüße, Fahnenschwenken und Lebehochs als Entgegnung fanden ebenfalls kein Ende, und feuriger Dank wurde besonders den nur allzuoft wahrhaft schönen Blumenspenderinnen zugejubelt. Bei ihrer großen Freigebigkeit und bei der Länge des Zuges geriethen hier und da bald einige der Damen in Verlegenheit, da ihr Blumenvorrath erschöpft war; allein ein begeistertes Frauenherz weiß rascher Hülfe zu schaffen als der bedächtigere Mann. Waren die Sträuße zu Ende, so wurden unbarmherzig die Zierpflanzen in den Töpfen am Fenster geplündert, deren eine enorme Anzahl an jenem Tage auch ihr letztes Blatt noch hergeben mußten; dann ergriff man die Kränze und Guirlanden, die als Festschmuck das Fenster zierten und warf sie auf die Sänger herab, die jauchzend die Hände danach emporstreckten. Ich habe mehrere Damen bemerkt, welche zuletzt, als aller Vorrath erschöpft war, noch die künstlichen Blumen ihres Haarschmuckes oder ihrer Hüte opferten, um nur nicht mit leeren Händen für die dargebrachten Vivats zu danken.
Unwillkürlich drängte sich wohl Jedem die Frage auf, wodurch wir zum Gegenstand so vieler Güte und Aufmerksamkeit werden mochten. Egoistisch wäre es gewesen, hätten wir unsere Gesangesleistungen als Ursache all dieser Huldigungen ansehen wollen. Aber nein, der mächtigen Triebfeder des Ganzen, dem nationalen Gedanken, der hier angestrebten mit gelungenen Vereinigung aller deutschen Volksstämme galt der Jubel und die großartige Begeisterung, die sich bei jenem Zuge überall kund gab und welche manchem Auge Thränen der Rührung und Freude entlockte. Die Einheitsidee war endlich hier einmal keine Theorie mehr, und das Herz quoll über voll Seligkeit und Hoffnung, wenn man auf alle die Tausende sah, die sich dieser Einheit und ihrer Segnungen wahrhaft bewußt waren. Nach allen Theilen des Vaterlandes hin haben sich jene Eindrücke hoffentlich schon übersiedelt, denn da war kein deutscher Gau, der nicht in dem Zuge vertreten gewesen wäre. Allen aber wurde mit gleicher Liebe begegnet, und das eben gab dem Feste die unaussprechliche Weihe. Solch einen Zug hat wohl noch keine Zeit und keine Stadt gesehen, denn sein größter Glanz war die gleichmäßige Begeisterung der Theilnehmer und des Publikums.
Gegen zwei Stunden nahm dieser Zug in Anspruch, doch waren uns dieselben im unaufhörlichen Strudel der Freude und Rührung wie Minuten erschienen. Erst als wir die Festhalle wieder betraten, vermochten wir uns einigermaßen zu erholen und zu sammeln. Um 4 Uhr begann die zweite Hauptaufführung, in welcher zum Vortrag kamen: Hymnus, von B. E. Becker'; Unser Hort, von J. Grobe; Frühlingsgruß an das Vaterland, von B. Lachner; der deutsche Landsturm, von Kücken; Hymnus, von H. Neeb; Schlachtgebet von Möhring; Ermanne Dich, Deutschland! von A. M. Storch, und zum Schluß: Danklied, von Kalliwoda. Auch diese Aufführung ging trefflich von Statten. Nach Schluß derselben ließ sich freilich eine ziemliche Abspannung der Stimmen bemerken. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wie viel seit Sonnabend gesungen worden war. Die Einzelvorträge wurden auch an diesem Abend wieder in der Festhalle fortgesetzt, allein für Viele war die Hitze nach den heutigen Anstrengungen doch in der überfüllten Halle unerträglich, und diese suchten Erquickung in der durch einen kurzen Regenschauer wunderbar erfrischten Natur. Der Gipfelpunkt des Festes war jetzt erreicht. Der Theil des Gesammtgesanges konnte eigentlich mit heute als abgeschlossen angesehen werden, denn nur eine ländliche Nachfeier stand uns noch bevor.
Am Morgen des Dienstag (23. Juli) ging die Sängerwallfahrt, zumeist in Begleitung ihrer lieben Wirthsleute, hinaus nach dem etwa 3/4 Stunde entlegenen Walde am Duzendteiche, einem Lieblingsorte der Nürnberger, der diesen Vorzug seiner reizenden Lage wegen auch vollkommen verdient. Hier waren Tische und Bänke errichtet und die zurechtweisenden Tafeln wieder dabei aufgepflanzt; allein ein schattiges Lager auf weichem Moos im Walde hatte hier für die Meisten noch mehr Anziehungskraft, und so entstanden Hunderte solcher Niederlassungen. Da wurde in der herrlichen Natur noch manche herzliche Verbrüderung geschlossen, und gerade diejenigen Sänger, deren Heimath weite Länderstrecken trennten, fühlten sich hier am mächtigsten zu einander gezogen.
Je näher aber die Nachmittagsstunde rückte, desto stiller wurden die fröhlichen Kreise, denn Jedermann fühlte, wie das herrliche Beisammensein immer mehr zur Neige gehe. Auf dem Rathhaussaale war am Nachmittage noch eine Versammlung der sämmtlichen Vereinsvorstände, wobei neben andern Angelegenheiten auch die Feier des nächsten großen deutschen Gesangfestes besprochen wurde. Man hielt es für erforderlich, eine Pause von fünf Jahren bis dahin eintreten zu lassen, um dann wieder etwas wahrhaft Großartiges schaffen zu können. Frankfurt am Main ward vorläufig als nächster Festplatz bestimmt und diese Wahl mit allgemeinem Beifall begrüßt. Nach den in Nürnberg verlebten Sängertagen hat gewiß jede andere Stadt einen sehr schweren Stand, doch darf man überzeugt sein, daß Frankfurt seine schöne Aufgabe würdig lösen wird. Die Herren in der Eschenheimer Gasse werden sich hoffentlich bis dahin wohl auch an die in Nürnberg so sehr gefeierten deutschen Nationalfarben gewöhnt haben.
Unsere Reihen hatten sich schon bedeutend gelichtet, als wir am Dienstag Abend zum letzten Male die Festhalle betraten. Ein wehmüthiges Gefühl beschlich Jeden, wenn er bedachte, wie er nun so bald von diesen herrlichen Räumen Abschied nehmen sollte. Noch einige allgemeine Lieder wurden angestimmt, und hierauf dankte der Vorstandsausschuß durch Dr. Gerster den aus allen Gauen herbeigeeilten Sängern für die rege Theilnahme am Feste, welches aus einem Sängerfest eigentlich ein Volksbundestag geworden sei. Höchst bezeichnend war es, als hierauf zugleich zwei Sänger, einer aus Innsbruck und der andere aus Berlin, die Tribüne bestiegen und so gemeinschaftlich den herzlichen Dank des Südens und [592] des Nordens für die liebevolle Aufnahme darbrachten. Nachher sprach ein Schweizer kräftige Worte für die Freundschaft zwischen Deutschland und der Schweiz, und hieran knüpften sich wieder einige Einzelvorträge. Der Bürgermeister Seiler trat alsdann mit der Meldung auf, daß der Richterspruch sämmtlicher Vereinsvorstände den von Bern als Preis gesandten Pokal den Wiener Sängern zuerkenne, daß aber, wäre noch ein zweiter Preis zu vergeben gewesen, diesen entschieden die Innsbrucker würden erhalten haben. Die Versammlung gab durch donnernden Beifall die Uebereinstimmung mit dem ausgesprochenen Urtheile zu erkennen. Eine dumpfe Stille lagerte sich aber bald über Alle, als Bürgermeister Seiler im Namen des Ausschusses und der Stadt den Sängern das Lebewohl darbrachte. Er wußte jedoch die trübe Stimmung bald zu besiegen, als er von der Bedeutung des Festes sprach:
„Unser Fest ist in der Geschichte Deutschlands ein Ereigniß. Hier im Herzen Deutschlands, in der alten Noris, da hat deutsches Herz deutschem Herzen sich erschlossen, und die Macht des deutschen Liedes war es, die solches ermöglichte.“
Und hierauf brachte der Redner dem ganzen großen Deutschland ein Hoch! Es war das letzte Hoch, was in der Festhalle angestimmt wurde, aber gewiß auch das begeistertste, und es schien, als sollte das Hüteschwenken und Rufen kein Ende finden. Aber das Schicksal blieb unerbittlich – es mußte geschieden sein. Als allgemeines Schlußlied war Mendelssohns „Abschied vom Walde“ erwählt, und bei dem darin vorkommenden „Lebewohl“ war wohl kein Sänger, der nicht ein Beben der Wehmuth im Tone und im Auge gefühlt hätte. Bewegt und schweigend drückten wir uns noch die Hände; die Stimme versagte den Meisten unter uns die Worte des Abschieds, und so mußte der herzliche Händedruck sie ersetzen. Noch einen letzten Blick warf ich zurück in die zauberische Festhalle, aber sie erschien mir jetzt trotz aller Gasflammen düster und traurig, denn die Freunde und Genossen schieden ja aus ihr.
Schweigsam und in Gedanken versunken wanderten wir der alten, lieben Stadt zu, die wir ja morgen auch verlassen sollten. Wie lebendig traten noch einmal gerade jetzt, wo es zum Scheiden ging, alle die glänzenden Bilder der froh durchlebten Tage vor meine Augen! Mit welcher Freude gedachte ich des Beisammenseins mit den biedern, fröhlichen Sängern aus den verschiedenen österreichischen Hochlanden! Diese treuherzigen Männer waren rasch die Lieblinge Aller geworden, und wurde bekannt, daß eine oder die andere ihrer Corporationen sich zu einer bestimmten Stunde an irgend einem der öffentlichen Vergnügungsorte versammeln wollte, da fanden sich gewiß Hunderte der übrigen Sänger mit ein, die nicht müde werden konnten, sich an den herrlichen Leistungen der Bergessöhne zu erfreuen. Dann wurden oft diese lieben Sänger so lange gebeten und gequält, bis sie einige ihrer in der von ihnen vorgetragenen Weise ganz unbeschreiblich lieblichen Alpenlieder zum Besten gaben. Und hatten sie uns einmal durch ein schwermüthiges Lied selbst traurig gestimmt, dann erschallte plötzlich wieder so ein unnachahmlicher Bergjauchzer, und damit waren sie wieder mitten in ihrer unverwüstlichen Fröhlichkeit, die Alles mit sich fortriß. – Welche herrliche Erinnerung gewährte mir der Nachmittag, wo die Wiener und Münchner Sänger in den alten Kreuzgängen des germanischen Museums gemeinschaftlich und fürwahr in höchster Vollendung ihre Lieder ertönen ließen! – Wie heiter waren wieder die Bilder, wenn bei der mächtigen Tafelrunde die abenteuerlichen Humpen kreisten, wie z. B. der riesenhafte kleine Finger der Bavaria, den die Münchener, oder das Schweppermannsei, das die Augsburger mit sich führten!
Wie viel Märlein erzählte man sich nicht von dem geheimnißvollen Sänger, der Nachts bald dort, bald hier auf den Straßen angetroffen worden war, wie er mit seelenvoller schöner Stimme Lieder zur Guitarre gesungen. Ich stellte dem Fabelhaften lange nach, bis ich endlich erfuhr, daß er in später Nachtstunde schon mehrere Male vor demselben Hause in einer der ältesten Gassen Nürnbergs gehört worden sei. Ich ging mit einigen Freunden dorthin, und – richtig, da trafen wir ihn, wie er eben ein Lied von glühender Liebe in die mondhelle Nacht hinauf ertönen ließ. Als er geendet hatte, trat ich zu ihm heran und sagte, daß der Gegenstand, dem ein so feuriges Lied geweiht würde, gewiß das wunderlieblichste Mädchen in ganz Nürnberg sein müßte. Da aber lachte der Minnesänger hell auf und meinte, er sei blos Natur- und Architekturschwärmer, und wo er zum Beispiel ein so köstliches altes Haus sähe, wie just das dort vor uns, da stimme er gern die schönsten seiner Lieder an und seine Phantasie bevölkere alsdann die Söller, Fenster und Erker des Hauses mit jungen Edeldamen aus der Ritterzeit, denen sein Sang geweiht sei. – Hierauf wanderten wir mit einander fürbaß, und der Minnesänger, ein lieber, treuherziger Oesterreicher, erzählte uns noch viel von seinem abenteuerlichen Wanderleben, wobei er, gleichsam wie Bilder, seine Lieder einflocht, heitere und ernste, die er mit unvergleichlicher Seelenwärme vortrug. Die Nacht war bereits zu Ende, als wir uns trennten, und wir haben uns später noch öfter getroffen, wo sich Alles an seinen Gesängen erfreute.
Alle diese Erinnerungen wurden jetzt nur um so lebhafter, und doch waren sie gleichzeitig auch wieder mit Wehmuth gemischt, wenn man daran dachte, wie bald man sich von dem lieben Schauplatze aller der herrlichen Bilder trennen mußte. Als ich heute noch einmal die Stadt umwanderte, um von den wunderbaren alten Mauerthürmen und von den Thoren mit ihren so bezeichnenden Festsprüchen Abschied zu nehmen, da gewahrte ich drüben am Bahnhofe schon die Tafel, welche den Abschiedsgruß für die abziehenden Sänger in folgendem Verse enthielt:
Lebt wohl! Das ist das letzte Wort,
Wenn uns des Festes Freude schwindet.
Doch bleibt die Hoffnung unser Hort,
Daß uns ein Vaterland verbindet.
Wenn Alles flieht und Alles schwand,
Ein Vaterland – das deutsche Land!
Und als es nun am andern Morgen auch bei uns zur Trennung kam, da gab es wahrlich einen schweren Abschied, denn in den wenigen Tagen hatte man sich mit den lieben Nürnbergern so innig verlebt, als ob man schon seit Jahren zu einander gehört habe. Wie sie uns nun aber hinausgeleiteten zum Bahnhofe, wo die brausende Locomotive schon harrte, um uns wieder gen Norden zu führen, da wurde so manches Auge der Scheidenden feucht, und diese Thränen werden Euch, Ihr herzigen Nürnberger, gewiß deutlicher gesagt haben, als Worte es je vermochten, wie wohl und glücklich wir uns bei Euch, fühlten.
Mit innigem Danke sind wir von dem schönen Nürnberg geschieden und zugleich voll Bewunderung für diese Stadt, wo bürgerlicher Gemeinsinn so Großes und so Schönes zu schaffen gewußt hat.
Werfen wir nun einen kurzen Rückblick auf den Zweck und auf die Erfolge des Festes, so muß man vor Allem eingestehen, wie dasselbe die davon zum Voraus gehegten und hoch gespannten Erwartungen nicht blos erfüllt, sondern auch weit übertroffen hat. Die musikalische Bedeutung des Festes ist unbestritten eine sehr große, indem auf’s Neue dadurch dargelegt wird, wie keinem andern Volke die Befähigung und das Verständniß der Musik so eigen sei, als dem deutschen. Ein unschätzbarer Vorzug, den das Fest anstrebte und erreichte, ist jedoch die Vereinigung von Sängern aus allen deutschen Ländern zu einer wahrhaft erhebenden nationalen Feier. Nord und Süd sollten sich im Herzen Deutschlands einmal die Hand reichen und einander klar in’s Auge schauen, und so würde die brüderliche Zuneigung, die wir schon nach kurzem Beisammensein einander entgegentrugen, rasch zum lebendigen Bewußtsein, daß die Einheit Aller auch zugleich die Freiheit und das Glück Aller sei. Die Begeisterung jener Tage war zu edel, als daß sie nach kurzer Zeit spurlos verschwinden könnte wie ein Traum; sie hält sicher die Herzen noch warm, wenn auch düstere Tage der Noth erscheinen sollten.
Und Euch, Ihr lieben Sangesbrüder drunten im Süden, die Ihr den nordischen Genossen durch Euer biederes, herzinniges Wesen so rasch zu lieben Freunden wurdet, Euch reiche ich nochmals aus der Heimath im Geiste die Bruderhand. Wir haben treulich mit einander gesungen, und es hat einen herrlichen Einklang gegeben, als sich Nord und Süd so innig verband. Jedes Lied aber, was wir mit Euch vereint gesungen, soll uns zum Markstein deutscher Einheit werden. Wo wäre wohl einer der Festtheilnehmer, der hinfort unseres Arndt’s Vaterlandslied singen könnte, ohne dabei im Geiste all die lieben Nürnberger Genossen um sich zu sehen!
Das ganze Deutschland soll es sein! Und das ganze Deutschland muß es werden, sei es nun ersungen oder – errungen. Mein Lebewohl aber sage ich Euch mit dem herrlichen Passauer Festspruch:
„Lied wird That,
Früh oder spat!“
- ↑ Joh. Matthäus Bechstein, der bekannte Ornitholog, Onkel des Dichters Ludwig Bechstein.