Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[433]

No. 28.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Reichardt fühlte nur allzugut, daß es trotz aller Gewissenhaftigkeit jetzt die härteste Aufgabe für ihn sein würde, noch drei Tage in seiner bisherigen Stellung zu verbleiben; indessen hoffte er in möglichster Kürze einen Ersatzmann durch Vermittelung des Kupferschmieds zu erhalten. Wenn er jetzt an das treue Gesicht des Letzteren und die Miene dachte, welche sich bei der Erzählung des Geschehenen darauf legen würde, stieg die ganze Empfindung des Glücks, welches ihm geworden, von Neuem in seiner Seele auf.

Gleichzeitig aber trat auch Margaret’s Bild in seine Gedanken, sie, welche den Haupteinfluß auf sein Schicksal geübt haben mußte – hatte doch John Frost eines fast stundenlangen Gesprächs, welches sie augenscheinlich in seinem Interesse mit ihrem Vater gehabt, erwähnt – Reichardt kannte nichts von den Beweggründen des Mädchens, aber er mochte jetzt auch nicht darüber grübeln und Gedanken in sich aufkommen lassen, die ihn später vielleicht nur zu einem getäuschten Narren machen konnten, selbst wenn der ganze unendliche Unterschied zwischen ihren Verhältnissen und den seinen nicht bestanden hätte.

Es mußten während seiner Abwesenheit Verpackungen stattgefunden haben, denn der ganze untere Raum des Geschäftshauses wie der äußere Seitenweg lagen voll Stroh- und Holzüberbleibsel. Reichardt, ohne sich seines versäumten Mittagsmahls zu erinnern, kleidete sich schnell um und griff dann nach dem Besen, erst wollte er die nächsten Arbeiten beseitigen, ehe er die nöthigen Schritte für seine Entlassung that. Er war eben in voller Beschäftigung, um den Seitenweg zu säubern, als William Johnson raschen Schrittes ankam, mit finsterm Blicke stehen blieb, als wolle er zu dem Deutschen reden, dann aber wie sich besinnend in’s Haus ging. Es währte nur kurze Zeit, so trat der Kupferschmied aus der Thür. „Was haben Sie denn um Gotteswillen ausgefressen?“ sagte er an den Arbeitenden herantretend, „der Aelteste von den Johnsons hat mich nach Ihnen geschickt, als habe er den Laufpaß für Sie schon in der Tasche, und wandelt jetzt in der Office herum, wie ein Bulldog an der Kette!“

„Müssen eben zusehen, was er will, Meißner,“ versetzte Reichardt, lächelnd in das ängstliche Gesicht des Andern sehend und seinen Besen bei Seite stellend, „ich denke, wir trinken heute Abend noch ein paar Flaschen Wein mit einander!“

„Na, wenn das Wein giebt –!“ erwiderte der Erstere kopfschüttelnd und folgte mit leisen Tritten dem rasch die Treppe hinauf eilenden Freunde.

William Johnson stand leicht an eines der Pulte gelehnt, als Reichardt in die Office trat, und sein Blick schien sich zwei Secunden lang in das unbefangene Auge des Deutschen einbohren zu wollen. „Wollen Sie mir gefälligst sagen, wer Sie sind, Sir?“ fragte er dann.

„Porter bei den Herren Johnson und Sohn, wie Sie vielleicht wissen, Sir!“ erwiderte Reichardt mit einem leichten Lächeln.

Der Amerikaner preßte einen Augenblick die Lippen zusammen. „Und wie kommen Sie dann heute Morgen in ein Zimmer des Astorhauses, das nicht für Jedermann da ist?“

„Ich hatte Urlaub von Mr. Black erhalten – das Uebrige aber ist wohl meine eigene Angelegenheit.“ „Very well, Sir!“ entgegnete Johnson mit einem häßlichen Lächeln, „Sie werden aber einsehen, daß ich nicht ferner in Gefahr kommen mag, mit meinen eigenen Porters an denselben Tisch zu gerathen – lohnen Sie den Mann ab, Mr. Black.“

„Ich begreife nicht, Sir,“ erwiderte Reichardt ruhig, obgleich sein Auge einen erhöhten Glanz anzunehmen begann, „warum Sie mir in dieser absichtlich verächtlichen Weise begegnen. Die augenblickliche Beschäftigung macht hoffentlich den Gentleman nicht, und ich verlange die gleiche Behandlung, welche ich Ihnen selbst angedeihen lasse.“

„Ich behandle meine Leute, wie es mir selbst gutdünkt.“

„Gut, Sir, ich gehöre aber seit den letzten Minuten nicht mehr zu Ihren Leuten und werde mir sonach die erforderliche Höflichkeit zu erzwingen wissen, wo sie mir versagt werden sollte. – Ich bedaure aufrichtig, Mr. Black,“ wandte sich der Sprechende an den Buchhalter, „daß ich meines Wortes gegen Sie auf diese Weise entbunden werde. Mr. Augustus Frost lachte zwar über meine Gewissenhaftigkeit, noch drei Tage die Straße fegen zu wollen, gab mir aber Recht, daß Worthalten das Erste für den Kaufmann ist – jetzt mag sich Mr. William Johnson fragen, ob er ebenso gewissenhaft eine Porterstelle ausfüllen könnte, als er leicht darüber zu verfügen versteht. Sollte irgend eine Auskunft von mir verlangt werden, so finden Sie mich in Mr. Frost’s Cassenzimmer.“

„Es ist noch etwas von Ihrer Bezahlung rückständig!“ ließ sich jetzt der Alte hören, der während der ganzen Verhandlung in sichtlichem Unmuthe seine Bücher auf- und zugeschlagen hatte.

„Ich weiß es, Sir, und ich werde mir das Geld, das ehrlich verdient ist, holen lassen!“ erwiderte Reichardt; dann machte er eine leichte, ernste Verbeugung gegen den jungen Geschäftsherrn, welcher den Kopf stolz zurückgeworfen, aber leichenbleich in seiner [434] früheren Stellung verharrt war, und verließ das Zimmer. Er hatte kaum den ersten Fuß auf die Treppe nach dem untern Raum gesetzt, als er zwei Arme seinen Hals umschlingen fühlte, „’s ist weiß Gott so, immer nur laufen lassen, was sich nicht halten läßt!“ hörte er des Kupferschmieds mühsam unterdrückte Stimme. „Sie werden noch ein großer Kerl, ich sag’s Ihnen, Reichardt, und ich muß jetzt eine Stunde mit Ihnen gehen, sollten sie mich auch Ihnen nach zum Teufel jagen!“


Vierzehn Tage waren vergangen, seit Reichardt das Ziel seiner nächsten Wünsche erreicht hatte; er war Clerk in einem großen Handlungshause und seine Zukunft lag sorgenfrei vor ihm; demohngeachtet hatte Alles, was er sich bei seinem ersten Eintritte in das Geschäft geträumt, ein gänzlich verändertes Ansehen gewonnen. Er war den Clerks in der vorderen Office, denen der junge Frost an seinem durch ein besonderes Gitter abgetrennten Pulte präsidirte, als neuer College vorgestellt worden, damit aber war auch seine Einführung völlig geschehen, und Niemand kümmerte sich weiter um ihn. Sein Arbeitsplatz befand sich in dem zweiten Raume neben dem Cassirer, und die gewöhnlichen Begrüßungen schienen die einzige Verbindung zwischen den Inhabern der beiden Zimmer zu bilden. Reichardt hatte anfänglich auf wenig mehr, als auf seine Arbeit geachtet; in der ersten Woche, die, nach der Art der ihm zugetheilten Arbeit, ihm wie eine gewährte Frist für seine Information erschienen war, hatte er sich mit allen Kräften in das noch fremde Feld geworfen, hatte hier indessen schneller, als er gehofft, die alten bekannten Wege, wenn auch theilweis unter veränderter Form, wiedergefunden und mit voller Lust sich einer Vervollständigung der ihm nothwendigen Kenntnisse hingegeben.

Doch mit dem Tage seines Eintritts waren auch die Persönlichkeiten des alten, wie des jungen Frost gänzlich andere geworden, als sie ihm zuerst erschienen. Kalt, einen Tag wie den andern, ging der alte Chef durch das Cassenzimmer, nur hie und da ein paar kurze Fragen an den Cassirer richtend, die eben so kurz von diesem beantwortet wurden, und nur ein einziges Mal, beim Anfange der zweiten Woche, war er an Reichardt’s Platze stehen geblieben und hatte mit einem Anfluge des früheren Wohlwollens gesagt, daß die Leistungen des jungen Mannes genügen würden, sobald er in seinem Eifer zu lernen wie bisher fortfahren werde. Der junge Frost aber schien nur durch ein zeitweiliges Kopfnicken, wenn er durch das Cassenzimmer ging, die mit Reichardt geschlossene Freundschaft anerkennen zu wollen; er kam später und ging früher als die Uebrigen, und so war der Deutsche nie wieder zum Austausch eines Wortes mit ihm gekommen. Nur einmal war Jener am Arme eines andern jungen Elegants ihm auf der Straße begegnet, hatte leicht seine Hand ergriffen und im Vorübergehen geäußert: „Halloh, Reichardt, wir sehen uns jetzt kaum mehr, warum kommen Sie nicht einmal nach unserm Hause?“ und manchen Tag danach hatten diese Worte noch in den Ohren des neuen Clerks geklungen, ohne daß er ihnen dennoch mehr Bedeutung beilegen mochte, als der einer absichtslos hingeworfenen Aeußerung. Er kannte ja wohl den amerikanischen Gebrauch, formlose kurze Besuche in dem „Parlor“ einer Familie abzustatten; dazu aber gehörte wenigstens, als Bekannter des Hauses angesehen zu werden, und welchen Grund hatte er, der jüngste Clerk im Geschäft, darauf Anspruch zu machen?

In irgend einer andern Stellung, die er durch Frost’s Vermittelung erlangt hätte, wäre ein freies Herantreten an die Familie in der Ordnung gewesen, und fast glaubte er jetzt den Sinn der Worte, mit welchen der alte Frost ihn zum Clerk angenommen: „Es thut mir leid, nicht mehr für Sie thun zu können!“ zu verstehen. Seine ganze Stellung hatte sich anders gestaltet, als sie ihm vorgeschwebt; hier in Amerika existirte nicht die Art von Familienband, welche in Deutschland meist die Mitglieder eines Geschäfts an den Prinzipal und seine Interessen knüpfen, hier war das einfache Contractverhältniß zwischen Arbeitendem und Zahlendem – Reichardt fühlte sich völlig allein, und oft, wenn er nach Dunkelwerden einen einsamen Spaziergang durch die Straßen machte, konnte ihn trotz des wohlthuenden Gefühls, eine sichere Stellung erlangt zu haben, eine wehmüthige Empfindung überschleichen, wenn aus einem öffentlichen Locale die Töne eines Pianos und einer Geige heraufklangen; er mußte sich bisweilen zwingen, an irgend einem obscuren Bierkeller vorüberzugehen und nicht hinabzusteigen, um Bekanntschaft mit einem gewesenen Collegen zu machen, dessen Spiel ein besseres Auditorium verdient gehabt.

Manchen Abend war Reichardt, nur um ein Ziel für seinen Gang zu haben, nach dem Boardinghause gewandert, in welchem er den Kupferschmied wußte. Genügte ihm dieser auch nicht, weder seiner Erziehung noch seiner ganzen Lebensanschauung nach, so war es doch eine so treue Seele, wie sie Reichardt in seinem jetzigen Alleinstehen nur bedurfte, und es that ihm zugleich wohl, die Genugthuung zu bemerken, mit welcher Jener ihn empfing, einen Stuhl für ihn abstäubte und sich dann entfernte, um zu dem gemeinschaftlichen Ausgange den Sonntagsrock anzuziehen. Saßen sie dann in irgend einem Locale besserer Art bei einander, so schien es Meißner für seine Pflicht zu halten, die Unterhaltung zu führen, und hatte aus seinem frühern Leben so viele der eigenthümlichsten Schnurren und Erinnerungen vorräthig, daß Jener kaum mehr zu thun brauchte, als sich den Eindrücken, welche dieses kräftige, praktische Gemüth auf ihn übte, hinzugeben.

Es war ein dunkler, stiller Abend. Von dem bedeckten Himmel fielen langsam große Schneeflocken nieder, als Reichardt von einem Gange nach der Wohnung des Kupferschmieds, den er nicht angetroffen, zurückkehrte. Er war Broadway hinabgegangen und überlegte eben, auf welche Weise er den Abend verbringen solle, als er plötzlich seinen Namen nennen hörte. Von den Stufen des Astorhauses kam ihm ein junger Mann entgegen. „Ausgezeichnet, daß ich Sie treffe, Sir; Sie müssen mir einen ganz speciellen Gefallen thun,“ hörte er die Stimme des jungen Frost, „ich kann nicht gut von der Gesellschaft weg, sonst würde ich Sie nicht plagen – kommen Sie herein, Sir!“

Reichardt folgte nach der Office des Hotels, wo der Vorausgeschrittene einige Worte auf ein Stück Papier warf und dann den jungen Deutschen bei Seite zog. „Sie wissen, wo Mr. Bell, unser Cassirer, wohnt?“ fragte er. Reichardt bejahte etwas verwundert. „Er geht Abends nie aus,“ fuhr der Erstere fort. „bringen Sie ihm diesen Zettel und bitten Sie ihn, mir sogleich durch Sie den vermerkten Betrag zugehen zu lassen und die besondere Mühe, die ihm der Gang nach unserer Office verursachen mag, zu entschuldigen. Dann kommen Sie mit dem Gelde hierher, nach dem kleinen Zimmer, in welchem wir schon einmal bei einander waren, und ich werde dadurch Gelegenheit erhalten, Sie endlich in die Gesellschaft unserer jungen Leute einzuführen.“ Mit einem vertraulichen Kopfnicken eilte er davon, und Reichardt ging, um den ihm gewordenen Auftrag auszuführen, wenn ihm auch die 500 Dollars, welche ihm bei einem Blicke auf das Papier entgegensahen, ein innerliches Kopfschütteln abnöthigten. Es war zum Zwecke eines abendlichen Vergnügens jedenfalls eine ziemlich starke Summe, selbst für einen reichen jungen Mann.

Nach Kurzem hatte er das Haus, in welchem der Cassirer seine Wohnung und Kost hatte, erreicht – es war eines der kleinen Privathäuser, wie sie sich noch aus ältern Zeiten in dem untern Theile der Stadt fanden, jetzt aber fast sämmtlich von den Geschäftslocalen verdrängt worden sind und nach Nennung seines Namens öffnete sich vor Reichardt rasch der Parlor, in welchem sich der Gesuchte steif von einem Stuhle neben dem Kaminfeuer erhob. An der andern Seite des Kamins aber saß eine ältliche, hagere Lady in Schwarz, und schien in ihrer ganzen Haltung nur ein Seitenstück zu dem Cassirer abgeben zu wollen. „Mrs. Reynolds, meine Wirthin!“ stellte dieser förmlich vor und griff sodann nach dem Zettel in Reichardt’s Hand. Dieser wiederholte die Entschuldigungsworte des jungen Frost, Jener aber schien die wenigen Zeilen zu drei, vier Malen bedächtig zu überlesen, bis er endlich die grauen Augen langsam hob und sie mit einem Ausdrucke von Mißfallen auf den jungen Deutschen heftete. „Sie kommen vom Astorhause, Sir?“ fragte er.

„So ist es, Mr. Bell!“ erwiderte der Befragte einfach, „ich passirte zufällig, als mich Mr. John Frost mit dem Auftrage betraute.“

„Zufällig! “ wiederholte der Andere, mit einem eigenthümlichen Lächeln die Augen wieder auf das Papier sinken lassend; „ich werde indessen sogleich bei Ihnen sein!“

Er verließ das Zimmer, und die Lady am Kamin sah wortlos mit sorgenvoll gerunzelter Stirn in’s Feuer, als sollten ihre Züge das ausdrücken, was der alte Gentleman sichtlich unausgesprochen gelassen – nach wenigen Minuten indessen erschien dieser, durch einen warmen Ueberwurf geschützt, wieder, und Reichardt [435] schritt an seiner Seite der Office zu, ohne daß auf dem Wege ein Wort zwischen Beiden gefallen wäre; Reichardt fühlte, daß irgend etwas in der Angelegenheit, die er übernommen, nicht ganz in Ordnung sein müsse; er indessen, welcher nichts als einen Botengang gethan, mochte nicht das erste Wort darin ergreifen.

Der Cassirer öffnete die verschiedenen Thüren und zündete dann im Cassenzimmer eine Gasflamme an, öffnete einen der in die Wand eingemauerten Geldschränke und zählte fünf Hundert Dollarsnoten vor Reichardt auf den Tisch, sorgfältig die erhaltene Anweisung an demselben Orte verwahrend. Reichardt barg das Geld in sein Portemonnaie und sagte dann aufsehend: „Ich denke, Mr. Bell, Sie haben mir noch irgend etwas zu sagen; ich bin ein abgesagter Feind von allen halben Andeutungen, besonders wenn ich nichts davon verstehe.“

Der Angeredete schloß langsam die äußere Thür des Geldschranks und wandte sich dann nach dem Sprechenden. „Sie sind zufällig beauftragt worden, das Geld zu holen, Sir?“ fragte er.

„Durchaus zufällig, Mr. Bell! Ich kam von der obern Stadt, als mich Mr. Frost anrief.“

„Und Sie wissen nicht, zu welchem Zwecke es verwandt werden soll?“

„Habe nicht die entfernte Idee davon, Sir!“

„Sie kennen auch nicht das so komfortable eingerichtete kleine Zimmer im Astorhause?“

„Ich habe es einmal gesehen, Sir, ehe ich hier in’s Geschäft trat, und dann nicht wieder.“

„Ah! – nun, Mr. Reichardt, ich glaube Ihnen, denn ich habe keinen Grund für das Gegentheil – glauben aber Sie auch mir eins!“ sagte der Cassirer, die Brauen dicht zusammenziehend. „In diesem kleinen Zimmer im Astorhause, in welchem der Teufel seine Hütte aufgeschlagen hat, sind mehr Seelen verloren gegangen, als Sie in Ihrer Unerfahrenheit ahnen mögen, und mehr vielversprechende junge Leute thun dort allabendlich die ersten Schritte auf dem breiten Pfade, von welchem die Bibel redet, auf dem Pfade zu ihrem Untergange, als es einer von ihnen selbst weiß. Ich habe trotz der kurzen Zeit Ihrer Anwesenheit im Geschäft Interesse an Ihnen genommen, Sir; Sie schienen mir nicht in die gewöhnliche Art der hiesigen jungen Leute einzuschlagen; ich habe sogar schon in Bezug auf Sie an die Zeit gedacht, so fern sie auch noch liegen mag, in welcher ich vielleicht meinen jetzigen Posten verlassen möchte – Alles dies, Sir, würde ein einziger Abend in jenem kleinen Zimmer, welcher Sie dort anwesend fände, ausstreichen können – Sie gehen heute einen schlüpfrigen Weg, denken Sie an mich, Sir, und Gott gebe, daß ich morgen früh dasselbe klare Auge bei Ihnen wiederfinde, wie heute Abend.“ Er winkte dem Deutschen, voranzugehen, und folgte ihm dann schweigend, das Licht löschend und jede einzelne Thür sorgfältig verschließend. Als Reichardt, kaum daß er den Fuß der Treppe erreicht, sich umsah, strich soeben der Cassirer steif an ihm vorüber, ohne ein weiteres Wort laut werden zu lassen.

Wenn der Alte durch Abschreckung auf das Herz des jungen Clerks hatte wirken wollen, so hatte er den entgegengesetzten Weg eingeschlagen – konnte sich dieser doch trotz aller Worte noch keine Vorstellung dessen machen, was in dem kleinen Zimmer Entsetzliches vorging, und so fest er auch in seinem Entschlusse war, sich keiner Handlung, die nicht streng mit seinen allgemeinen Grundsätzen übereinstimmte, hinzugeben, so konnte er doch auch eine Neugierde auf das, was er zu sehen bekommen werde, nicht von sich weisen. Als er das Astorhaus kaum erreicht, kam ihm schon aus den hintern Zimmern der junge Frost entgegen. „Gott sei Dank, daß Sie da sind; die schönsten Chancen habe ich bereits verpassen müssen,“ rief dieser und zählte flüchtig das ihm dargereichte Geld durch, „jetzt aber kommen Sie mit mir, wir gehen halbpart heute Abend, ich habe eine Idee, daß Sie Glück bringen müssen.“

„Einen Augenblick!“ erwiderte Reichardt, dem plötzlich ein volles Verständniß aufging, halblaut. „Sie spielen?“

„Gewiß! und Sie haben kaum jemals wieder so viel Gelegenheit, sich mit den jungen Leuten aus unserer Haute volée bekannt zu machen als heute Abend!“ war die Antwort.

„Ich gehe einige Minuten mit Ihnen, aber stellen Sie mich nirgends vor, noch verlangen Sie von mir, irgend einen Antheil am Spiele zu nehmen,“ entgegnete Reichardt, der sichtlichen Ungeduld des Andern nachgebend, „liegt Ihnen aber nichts Besonderes an mir, so ist es vielleicht besser, wenn ich ruhig nach Hause gehe.“

John Frost blieb plötzlich stehen und warf einen forschenden Blick in das Gesicht des Deutschen. „Ich will gehängt werden,“ sagte er unmuthig, „wenn Ihnen der alte Bell nicht eine Predigt gehalten und von dem breiten Pfade zu Hölle und Verdammniß gesprochen hat; – ich habe Sie lieb, Reichardt, und möchte nicht, daß Sie Ihre Abende Gott weiß wo verbringen, möchte, daß Sie in die Gesellschaft eingeführt werden, in die Sie gehören, und so stellen Sie sich zu mir, und kümmern Sie sich um nichts Weiteres!“

Der Sprechende hatte leicht Reichardt’s Arm erfaßt und führte ihn bei den letzten Worten nach den hintern Räumen. Dort öffnete sich nach einem eigenthümlichen Klopfen des Amerikaners eine Thür vor ihnen; zwei leere, halbdunkele Zimmer wurden durchschritten, und jetzt erst that sich auf erneutes Klopfen der kleine comfortable Raum auf, welchen Reichardt bereits kannte.

Das Zimmer war fast gänzlich von Gästen besetzt; demohngeachtet herrschte eine Stille unter diesen, welche die Eintretenden unwillkürlich ihren Schritt dämpfen ließ – nur zu Zeiten durch einzelne laute Worte unterbrochen, wie sie das Spiel an den verschiedenen Tischen hervorrief.

Der Thür gegenüber erhob sich eine Art Büffet mit halb gefüllten Flaschen, Gläsern und Cigarrenkisten regellos besetzt. Rechts von diesem hatte ein langer Tisch die Hauptzahl der Anwesenden um sich versammelt, während links kleinere Partien derselben um die übrigen Tische gruppirt saßen.

Nirgends hob sich beim Oeffnen der Thür auch nur ein Auge, und Frost wandte sich rasch nach dem Haupttische, wo eine Art „deutsches Faro“ gespielt zu werden schien, und gab seinem Gefährten einen Wink, ihm zu folgen. Reichardt ließ zuerst einen Blick über das sich ihm darbietende Bild laufen, und lehnte sich dann zur Seite des Divans, auf welchem der Andere Platz genommen hatte, gegen die Wand, von hier aus langsam die einzelnen Personen musternd. Es gab viel jugendliche Züge unter den Anwesenden, in denen sich noch unverhohlen die verschiedenen Empfindungen je nach dem Gange des Spieles aussprachen; aber es fehlte auch nicht an Gesichtern, denen man die Gewohnheit einer derartigen Unterhaltung ansah, die den Launen des Glücks entweder mit einer Art vornehmer Gleichgültigkeit folgten, oder ihre momentane Erregung nur durch ein kurzes Verziehen des Mundes andeuteten.

„Alles verkehrt heute! immer kommt meine Karte zu früh oder zu spät,“ murrte Frost, nachdem er sich durch einen raschen Aufblick von Reichardt’s Nähe überzeugt hatte. „Nehmen Sie ein paar Minuten meinen Platz, Sir,“ fuhr er sich erhebend fort, „vielleicht packen wir dann das rechte Ende.“

„Lassen Sie mich vom Spiele weg! “ erwiderte Reichardt, fast ängstlich bei Seite tretend – nach einigen Beobachtungen war es ihm, als hätte er selbst für einen hohen Preis jetzt keine Karte anrühren können, „es ist Grundsatz von mir, niemals zu spielen, und ich möchte diesem, selbst auf fremde Rechnung, nicht untreu werden.“

„Ob ihn der alte Bell nicht unter den Fingern gehabt hat!“ rief Frost mit unterdrückter Stimme, während ein launiger Zug mit dem Unmuthe in seinem Gesichte kämpfte; „ist Ihr Gewissen wirklich so zart, Reichardt?“

„Und er hat Recht, Frost!“ ließ sich jetzt eine dritte Stimme neben ihnen hören. „Junge Leute in seiner Stellung sollten sich noch nicht einmal nach einem Spiellocale umsehen –“ Reichardt’s rasch aufblickendes Auge traf auf ein hämisches Lächeln in William Johnson’s Gesicht – „ich werde einige Minuten für Sie pointiren, wenn Sie es wünschen.“

„Wäre es nicht äußerst passend, Sir, daß sich Jeder um seine eigenen Verhältnisse und das, was ihm fehlt, bekümmerte?“ gab der Deutsche, den Kopf mit aufleuchtenden Augen hebend, zurück.

„Bst, bei allen Glücks- und Unglücksgöttern! “ rief Frost mit unterdrückter Stimme, seine Hand auf Reichardt’s Mund legend, „jedes laute Streitwert hier ist Landesverrath und rächt sich unvermeidlich! – Aber er hat Recht, Will, und ich sehe nicht den entferntesten Grund für diese Herausforderung Ihrerseits –“

„Ich glaube wohl nur zu Ihnen gesprochen zu haben, John, da ich mit dem Gentleman hier wohl kaum in irgend einer gesellschaftlichen Beziehung stehen kann,“ erwiderte Johnson, sich zum Gehen wendend; „was ich aber sagte, drückte nur eine Billigung seines Verfahrens aus. Lassen wir das, und machen wir unser Spiel!“ Er schritt leicht davon; Frost aber drehte den erregten Deutschen mit einer kräftigen Armumschlingung nach der entgegengesetzten [436] Seite. „Ruhig, mein Junge, wenigstens jetzt, oder wir können nach den Statuten schnellstens in’s Freie expedirt werden!“ raunte er in Reichardt’s Ohr. „Hier ein Glas zur Abkühlung, und damit ist die Sache bis zu einer andern beliebigen Zeit abgemacht – ich mag im Grunde den aufgeblasenen Bengel selbst nicht, und Sie werden noch Gelegenheit genug finden, ihm den rechten Standpunkt zu zeigen.“

Er hatte seinen Gesellschafter nach dem Büffel geführt, drängte ihm hier eine Erfrischung auf, mischte sich selbst aus verschiedenen Flaschen ein Getränk und wandte sich dann nach seinem verlassenen Platze zurück, welchem gegenüber jetzt Johnson einen Stuhl gefunden hatte. Als Reichardt nach einer kurzen Zeit, die er zu seiner Beruhigung gebraucht, folgte, hatte sich zwischen den beiden jungen Amerikanern ein eigenthümliches Spiel entsponnen. Johnson, wie absichtslos, wartete stets, bis sein Gegenüber seinen Aussatz gemacht, und wählte dann die nächsthöchste Karte für sich; Frost hatte entschiedenes Unglück, während die meisten von Johnson’s Aussätzen gewannen. Trotz der scheinbaren Absichtslosigkeit aber hatte der Erstere schnell genug die eigenthümliche Verfahrungsart bemerkt. „Suchen Sie etwas unter der Weise, meinen Karten zu folgen, Sir?“ fragte er halblaut, ohne das Auge vom Tische zu heben.

„Nichts, als Ihrem heutigen Mißgeschick zuvorzukommen,“ erwiderte Johnson, mit einem leichten Lächeln aussehend, „Sie sprachen selbst von ihrem schlimmen Glücke, Sir!“

Frost erwiderte nichts und machte gelassen seine weiteren Aussätze; nur wer ihn genauer beobachtete, wie es Reichardt that, konnte, sobald den Spielenden ein neuer Verlust traf, dem fast immer ein Gewinn seines Gegenüber folgte, ein scharfes Zucken seiner Lippen bemerken. Nach einer Weile überblätterte er spielend den Rest des ihm gebliebenen Geldes und lehnte sich dann, den Gang des übrigen Spiels beobachtend, auf dem Divan zurück.

Johnson machte eine ähnliche Bewegung auf seinem Stuhle und pausirte gleichfalls.

„Halten Sie es für angenehm, Sir,“ begann Frost plötzlich, „sich als Fußgestell für das Spielglück eines Andern brauchen zu lassen, wie Sie es mit mir zu thun scheinen?“

Johnson’s Lippe kräuselte sich wie im leichten Spotte. „Regen Sie sich doch nicht unnöthig auf, John,“ sagte er gedämpft, „was thue ich denn? Ich mache gern einzelne Experimente beim Spiel, das ist Alles. Ist Ihnen aber meine Person wirklich so fürchterlich, so thue ich Ihnen gern den Gefallen und gehe.“

„Fürchterlich? glaube kaum, Sir!“ versetzte der Erstere mit einem halbverächtlichen Zucken um seine Mundwinkel, „aber lästig, Sir, unangenehm, wie es alles Aufdringliche wird.“

Der Andere wurde bleich und schien gegen eine aufsteigende Erregung zu kämpfen. „Ich hoffe, Sir, meine Aussätze machen zu können, wie es mir selbst gut dünkt?“ sagte er nach einer Weile langsam.

Frost antwortete nicht, begann aber mit einem Theile seiner Banknoten das Spiel von Neuem – nach zwei Abzügen war der Aussatz verloren; rasch, wie trotzig, ließ er den ganzen übrigen Rest folgen, und in kaum längerer Frist war auch dieser verschwunden. Mit einem halben Fluche zwischen den Lippen erhob er sich.

„Diesmal bin ich hoffentlich außer Verdacht,“ rief Johnson, sein halbspöttisches Lächeln wieder aufnehmend, „und jetzt thun Sie Ihre querköpfigen Gedanken bei Seite, disponiren Sie über meinen Baarvorrath und lassen Sie uns mit irgend Jemand ein vernünftiges Privatspiel machen!“

Frost gab einen unmuthigen Laut von sich, von dem man nicht wußte, war er ablehnend oder annehmend, und wandte sich nach dem Büffet. Reichardt sah ihn dort zweimal nach einander sein Glas leeren, und den Deutschen überkam es plötzlich wie eine unbestimmte Sorge um jenen. Er wußte nicht, bis zu welcher Höhe der Beträge Verlust oder Gewinn hier getrieben wurde und ob das, was Frost bereits verloren, als bedeutend galt; aber er hatte die beginnende Aufregung des Letzteren bemerkt und ahnte, wie weit diese ihn gerade an einem Unglückstage führen könne. Und daneben hatte Reichardt während des ganzen Abends das eigenthümlich ernste Gesicht des alten Cassirers, mit welchem dieser ihm das Geld eingehändigt, nicht auf den Gedanken bringen können; bei jeder neuen Anzahl Banknoten, welche verloren ging, war es vor ihn getreten, und jetzt meinte er es fast mit einem Ausdruck der Mahnung vor sich zu erblicken. Halb unwillkürlich war er dem jungen Manne gefolgt. „Werden Sie noch länger hier bleiben, Sir?“ fragte er, an das Büffet tretend.

„Ei, natürlich – glauben Sie, ich soll wie ein gerupftes Huhn weggehen?“ war die Antwort.

„Und doch wäre das besser, Sir, als sich noch hinterdrein die Haut abziehen zu lassen. Sie haben ausgemachtes Unglück heute Abend – lassen Sie die Karten. Mr. Frost, und kommen Sie weg mit mir!“

Frost hob plötzlich den Kopf und blickte dem Deutschen eine Secunde lang scharf in’s Auge. „Handeln Sie vielleicht nach einem Auftrage des alten Bell, Sir?“ fragte er. In Reichardt’s Gesicht schoß das Blut, er öffnete den Mund und schloß ihn wieder, als finde er nicht sogleich eine Erwiderung.

„Ein Schlag in’s Gesicht wäre mir lieber gewesen als das!“ sagte er endlich, sich wegdrehend; im gleichen Augenblicke aber fühlte er auch seinen Arm gefaßt.

„Bleiben Sie, Sir, es war nicht so schlimm gemeint!“ rief der Amerikaner mit halb unterdrückter Stimme, „ich bin ärgerlich, das ist Alles – sprechen Sie aber auch jetzt nicht vom Gehen, wo ich zum Wenigsten dem glatten Johnson noch einen Denkzettel anzuhängen habe.“

„Well, Sir,“ erwiderte Reichardt, sich langsam zurückwendend, „und gerade deshalb möchte ich Sie bitten, mit mir wegzugehen!“

„Aber beim –! welches Interesse haben Sie denn dabei?“

Reichardt faßte den Arm seines Gesellschafters und trat mit ihm noch einen Schritt weiter von den Spieltischen weg. „Sie haben mir einmal gesagt, Sir,“ begann er hier, den Blick voll in Frost’s Auge ruhen lassend, „ich solle Ihr Freund sein, und das ist es, was mich zu Ihnen reden läßt. Ich weiß nicht, wie weit Ihre gehabten Verluste Sie berühren, denn mir fehlt noch jeder Maßstab für die Verhältnisse; ich weiß aber, daß Sie schon jetzt nicht mehr kalt sind, daß jeder neue Verlust Sie nur immer hartnäckiger machen wird das Verlorene wieder beizubringen, ohne darin auf eine Grenzlinie zu achten; daß Sie bei Ihrem heutigen Unglück nur das Opfer für Andere abgeben müssen, und daß sich, wenn Sie morgen früh mit kaltem Kopfe überschlagen werden, ein Debet für Sie herausstellen kann, das, auf diese Weise entstanden, selbst einen John Frost zu erschrecken vermöchte. Sparen Sie, wenn einmal gespielt sein muß, Ihre Revanche auf bis zu einem glücklicheren Tage, Sir; und selbst wenn Sie mir jetzt nicht Recht geben möchten, so thun Sie es, um mir zu zeigen, daß die Freundschaft, die Sie mir angeboten, nicht nur allein in Ihren Worten bestanden hat.“

„Sie sind jedenfalls ein eigenthümlicher Mensch, Reichardt,“ erwiderte Frost, den jungen Deutschen mit einem lächelnden Blicke betrachtend, „und ich würde sagen, die ganze Sache ist gar nicht der vielen Worte werth, wenn sie mich nicht wieder ein Stückchen näher mit Ihnen bekannt gemacht hätte. Ich soll also heute als ein gerupftes Hühnchen fortgehen und mich nicht einmal nach den Federn umsehen – very well! Sie sollen Ihren Willen haben, und die ganze Gesellschaft mag heute in Gottes Namen zum – und so weiter. Für die Zukunft aber, wenn wir uns wieder hier treffen sollten, werde ich mit Ihnen einen ganz besonderen Contract machen. Kommen Sie also!“ – „Frost, was beim Donner, Sie gehen?“ sagte Johnson, dem Angerufenen in den Weg tretend.

„Müssen das mit meinem Freunde Reichardt hier ausmachen,“ erwiderte dieser lachend, ohne sich aufhalten zu lassen, „er will mich durchaus nicht in Ihren gefährlichen Händen wissen!“

Johnson war, die Stirn runzelnd, zurückgetreten; aber als die beiden Andern das Zimmer bereits verlassen, stand er noch den Blick auf die Thür geheftet und brummte zwischen den Zähnen: „Wer ist dieser Mensch eigentlich?“ –

(Fortsetzung folgt.)
[437]
Wild-, Wald- und Waidmannsbilder.
Von Guido Hammer.
Nr. 15.

Ein Hirschkampf.

Es war Oktober und schon Dämmerung geworden, als ich auf einer meiner Streifereien von Tyrol nach dem bairischen Hochgebirge ein einsam liegendes Forsthaus erreichte, in dem ich ein Obdach für die Nacht suchte und die gastlichste Aufnahme fand. Dabei wurde mir die Freude, Augenzeuge echt gebirgischer Fröhlichkeit zu werden. Im Hausflur hatten sich nämlich die am Tage im Forste beschäftigten Holzknechte und die im försterlichen Anwesen arbeitenden kernfesten „Dirndeln“ zur Löhnung eingefunden und tanzten nun hinterher jauchzend nach dem klingenden Spiel einer Cither, die einer von den anwesenden Männern mit ungemeiner [438] Fertigkeit schlug. Auch schmucke Jägerbuben, die zum Forsthause gehörten, widerstanden nicht der lockenden Musik und den teil kecken Mädeln; ja selbst der alte, aber noch rüstige Oberförster führte sein dralles Ehegespons zum Reigen. Da herrschte keine vornehme Abgeschlossenheit zwischen Vorgesetzten und Untergebenen. Alle waren von unbefangener Lust und rein menschlichem Gemeinsinn beseelt. Mit harmlosestem Frohsinn nahm die Frau Oberförsterin den Tanz vom Jägerburschen und von dem dickbeschuhten, ja wohl gar barfüßigen Holzknechte an, während sich der Oberförster mit einem schmucken Sennermädel drehte. Ich, der ich nicht tanzen kann, beschränkte mich auf das Zusehen, noch mehr aber auf’s Zuhören; denn Citherklang ist schon an und für sich, noch dazu aber mit so frischer Ursprünglichkeit und in so passender Umgebung von Menschen und Natur vorgetragen, für mich das Non plus ultra von Musik, und gern will ich mich für ein solches Bekenntniß ob meines kindlichen Standpunktes auf diesem Gebiete belächeln lassen. Habe ich doch ein Recht, meinen Genuß eben so hoch anzuschlagen, als die in höhern Sphären Schwelgenden.

Als das improvisirte Tanzvergnügen sein Ende genommen, ging ich mit der Försterfamilie auf deren freundliche Einladung in die hirschgeweihgeschmückte Unterstube, um dort in ihrem Kreise den Abendimbiß einzunehmen. Suppe, geräuchertes Wildpret und Schmarren, dazu ein Maß frisches Bier, mundeten köstlich nach dem weiten Marsch. Außerdem wurde das Mahl durch manche interessante Jagdgeschichte gewürzt, denn da man mich als so ein zur „grünen Farbe“ gehöriges Stückchen zu nehmen anfing, wurde selbst der eine Bursche, ein schon ziemlich bejahrter, finsterer, aber kernfester, wettergebräunter Jäger, gesprächiger, als er sonst wohl sein mochte. Eh er aufthaute, hatte er mich wenigstens mit fast mürrischem Blicke, dem jedoch bei näherer Betrachtung eine gewisse Gutmüthigkeit nicht fehlte, betrachtet. Es war spät geworden, denn die Uhr im großen, dunkeln Nußbaumgehäuse hob schnarrend aus und verkündete durch zehnmaligen Kuckuksruf die vorgerückte Stunde. Durch die kleinen Fenster schien hell der Mond herein, und Nebel durchzogen die vor dem Hause liegenden Thalschluchten. Auf einmal hörte man den fernen Schrei eines Hirsches. Hoch horchte ich auf, und selbst auf die daran gewöhnten Jäger verfehlte der markige Ton nicht seinen anziehenden Zauber auszuüben. Alle wurden ruhig und lauschten dem geliebten Klänge. Ich öffnete das Fenster, durch welches der frische Waldeshauch einströmte, um den Ruf des fern stehenden Brünstigen deutlicher vernehmen zu können. „’s ist der Vierzehner, der oben auf der steilen Eck unter der Geiswand steht,“ sagte jetzt Seph, so hieß der alte Bursche, der so zu sagen ein Inventar in der Försterei geworden war; denn seit vierzig Jahren hat er schon drei Herren in demselben Forsthause gedient. „’s bleibt doch der schönste Brunftplatz dort oben, den wir hier in der Gegend haben; da könnst halt,“ fuhr er zu mir sich wendend fort, „was schauen, wenn Du länger da bliebst und mit aufstiegst. Ja, was war das halt für ’n Anblick, als ich vor acht Jahren von dem obern Pürschhaus aus den mörderischen Kampf der beiden Hirsche mit ansah, wovon die über der Thüre hängenden Geweih’ herrühren.“ Da mir diese schon beim Eintritt aufgefallen, da sie augenscheinlich im Kampfe unzertrennlich in einander verwirrt worden waren, wie das je zuweilen vorkommt, so waren mir diese Andeutungen eines Augenzeugen des geschehenen Kampfes von höchstem Interesse, und ich wendete daher meine ganze Beredsamkeit auf, den Veteran der Jägerei zu einer umständlichen Erzählung zu bewegen. Es gelang mir leichter, als ich vermuthet hatte. Nachdem ich das Fenster wieder geschlossen hatte, denn es war draußen empfindlich kalt, und die Flamme im Kamin frisch angeschürt worden war, setzten wir uns wieder an den großen achteckigen, geschnitzten Ahorntisch, und Seph fing an zu erzählen. Mit vollster Spannung hörte ich zu, während sich die Andern, die diese Geschichte allerdings nicht das erste Mal vernehmen mochten, einem sanften Schläfchen überließen.

Es war, wie gesagt, vor acht Jahren gewesen, als unser Seph vom Pürschgang nach einem alten Gemsbock erfolglos abgestanden und beim Niedersteigen das sogenannte hohe Pürschhaus erreicht hatte. Dort hatte er, ermüdet von der Jagd, sich auf die Matte gelegt und dem sinkenden Tag in’s umschleierte Auge geblickt. Wer da gesehen hat, wie wunderbar erhaben ein anbrechender Abend in den Alpen wirkt, wenn die scheidende Sonne die silberbemoosten Tannen, die saftigen Almen, so wie die starren, zerklüfteten Felsenwände mit ihren schneebedeckten Häuptern überglüht, während über das Drunterliegende bereits der dämmernde Schatten seinen Schleier zieht, unter dem die aufsteigenden Nebel wogen, der wird es selbst von einem dort lebenden Gebirgsjäger begreiflich finden, daß er sich zuweilen gern in solche Anschauungen versenkt. Die Sonne war bereits hinter den zackigen Gebirgsriesen verschwunden gewesen, und schon hatte sich unser Waidmann zum weiteren Niedersteigen gerüstet, als ihn der Schrei eines Hirsches wiederum gefesselt. Der Schall war von der gegenüberliegenden sogenannten steilen Eck, einem freien, nur mit wenigen alten Tannen bestandenen suhlenreichen Platze, herübergekommen. Dieser ist nach drei Seiten von steilen Felsenwänden und wäldigen Schluchten – das Ganze hieß die „Geiswand“ – umschlossen, während die vierte, offene Seite als eine Klippe ein mächtiges Thal hoch überragt, welches tief unten in seinem Bette einen rauschenden Gebirgsbach führt.

Der Hirschschrei ließ unsern Seph sofort das Auge dorthin wenden und, da es ziemlich weit hinüber war, das Fernglas, das in dortiger Gegend meist jeder Jäger bei sich führt, zur Hand nehmen. So konnte er einen starken Zwölfender beobachten, der eben aus der Suhle getreten war und nun das mit sich geführte Wild zusammengetrieben hatte. Dann, gleichsam als Herrn des Platzes sich zeigend, war er hingetreten, um doppelt mächtig seinen gewaltigen Ruf ertönen zu lassen, der grollend die abendliche Ruhe durchtönt hatte. Nachdem dem rollenden Echo wieder die tiefe Gebirgsstille gefolgt war, die nur durch das Rauschen fallender Sturzbäche oder bisweilen durch das Rollen eines vom Tritt des Wildes sich losbröckelnden und hüpfend der Tiefe zueilenden Steines unterbrochen wird, war der Schrei eines andern, aber ebenfalls drüben stehenden Hirsches und zwar aus den Schlüften unmittelbar an der Geiswand erschollen. Gleich wie ein elektrischer Schlag hatte es da den platzbeherrschenden Hirsch herumgerissen, und mit schnaubender Wuth hatte er dem nahen Nebenbuhler geantwortet. Jetzt war der andere auf freier Stätte erschienen und hatte mit kecker Stirn und Stimme den Gegner abermals gefordert. Wüthend hatte dieser das zackige Geweih zur Erde gesenkt und mit demselben die auf der Erde liegenden, faulenden Stämme zerfetzt, so daß die Stücke in der Luft umherflogen. Dann war er schnaubend und gurgelnd dem Eindringenden entgegengestürzt, der, nicht minder kampfbegierig, wiederum jenem zugestürmt, so daß sie sich etwa in der Mitte des Platzes getroffen hatten. Prasselnd waren sie mit den Geweihen zusammengeflogen, und indem der unberechtigte Buhler dabei auf die Vorderläufte niedergestürzt, wäre er beinahe verloren gewesen. Doch rasch sich aufraffend, war er flüchtig geworden, und zwar nach der offenen Seite hin. Verfolgt, hatte er, jedenfalls um dem gefährlichen Terrain am Abhange auszuweichen, sich wieder gestellt, so daß abermals der Zwölfer mit wüthender Kraft klirrend in die Stangen des andern Hirsches gerannt war, ohne aber diesmal den Widersacher zu stürzen. Dennoch war dieser augenscheinlich schwächer gewesen, denn im Drängen war er rückwärts gewichen, ohne daß beide mit den Köpfen auseinander gekommen. So hatten sie sich Kopf an Kopf gedrängt, und selbst wenn einer oder der andere zu Fall gekommen, waren dennoch die Geweihe, wie mit eisernen Zangen gehalten, aneinander gefesselt geblieben.

Lange hatten sie so mitsammen den Kampfplatz behauptet, obgleich sie immer weiter dem abschüssigen Hange der überragenden Klippe nahe gekommen. Keiner war gewichen, keiner Sieger geblieben. Endlich war der Schwächere gestrauchelt und zum Unterliegen gekommen. Durch die Anstrengung, sich wieder emporzuraffen, und durch den unausgesetzten Druck des nunmehrigen Siegers, der wohl jetzt gern von ihm gelassen hätte, wäre er nicht so fest angeschmiedet gewesen, war der Niedergekämpfte in's Rutschen gekommen, dem sich der Sieger vergeblich entgegenstemmte. Erst langsam, dann schneller, hatten die beiden Hirsche immermehr dem abschüssigen Hange sich genähert, bis der Liegende an einem Latschengebüsche momentan Halt gefunden. Hier hatte er mit seinen letzten Kräften versucht, sich nochmals aufzurichten, war aber dadurch von seinem letzten schwankenden Hort, dem zähen Geäste, losgelassen geworden und beim abermaligen Weitergleiten, das jetzt in erschreckender Geschwindigkeit begonnen, hatte er seinen Ueberwinder mit zu Boden gerissen. Aller Gegenwirkung unfähig, waren nun die beiden mächtigen Thiere in rasender Schnelle der letzten Klippe entgegengerollt. Gleich einer gewaltigen Lawine hatten sie Aeste, Geröll und lose liegende Felsblöcke mit sich fortgerissen, die in weiten Sprüngen polternd und prasselnd in die schon nächtig [439] werdende Tiefe gestürzt, daß es dröhnend herauf geschallt, wenn die Trümmer, durch die Tannenwipfel brechend, auf das im Thale lagernde Gestein aufgeschlagen. Aber wie ein bloßer Schauer, der einem rauschenden Gewitterstrom vorangeht, war dieser Steinregen dem unvermeidlichen Sturze der dem Tote verfallenen Hochgeweihten vorausgegangen. Das Rollen der verkämpften Recken war zu einem Ueberschlagen geworden; wie ein gewaltigen Rad, dessen Achse die beiden engverknüpften Köpfe bildeten, hatten sie in gewaltigen Kreisen den letzten festen Standpunkt unter sich gefühlt, wobei der zuerst über dem Abgrund schwebende Hirsch noch die äußerste ohnmächtige Anstrengung gemacht, sich mit den Vorderläuften zu erhalten, der über ihn wegschlagende Kampfgenosse aber weit hinaus in die schwarzblaue Tiefe geschleudert worden und so, engverkettet mit seinem Feinde, in dem endlos scheinenden Abgrund verschwunden war.

Dem Auge entzogen, hatte man nur noch das aufdröhnende Rauschen, Knacken und Krachen gehört, als die beiden massigen Körper durch die alten Tannen gebrochen, so wie den donnerähnlichen Schall, als die gekrönten Leiber tief unten das nackte Gestein berührt hatten; dann hatte nur das Weiterpollern der immer noch tiefer Fallenden Kunde gegeben von dem erschütternden Vorfall.

Ruhe, tiefe Grabesruhe war darauf eingetreten, das; es – wie der Erzähler hinzufügte – ordentlich peinlich gewesen, und er, der feste Jäger, erschreckt worden sei, als minutenlang nachher noch gelockertes Gestein in die schauerliche Tiefe gerollt.

Während der letzten Scene war der Mond über das zackige Gebirge aufgestiegen und hatte den einsamen, tannenumrauschten Gebirgspfad beleuchtet, den unser Seph hinabgeschritten zum trauten Försterhause.

Am andern Tage war der Bursche mit Holzknechten in’s Thal gegangen, um die Zerschmetterten aufzusuchen. Ganz zerfetzt hatten sie auf einem alten Pürschpfad zwischen mächtigen, üppigbemoosten Felsblöcken gelegen, noch im Tode mit ihrem zackigen Hauptschmuck vereint. Hoch über ihnen hatte, angelockt von der willkommenen Beute, ein Adlerpaar gekreist. Bald waren sie hereingeschafft gewesen, und das Wildpret hatte man unter die armen Bewohner des Thales vertheilt. Die Geweihe aber, einen Zehner und einen Zwölfer, hatte sich Seph zur Erinnerung vorbehalten.

So lautete die Erzählung des urwüchsigen Burschen, aus dessen Munde sie freilich doppelten Reiz empfing; denn wo auf der Welt giebt es eine treuherzigere Sprache, als unter dem getreuen Volke in den Hochgebirgen von Baiern und Tyrol? Für mich ist ein solcher stämmiger, gerader, wettergepeitschter, sonnverbrannter, schöngestalteter Gebirgsjäger, wenn er Einem mit seinem herzigen „Grüß’ Di’ Gott!“ die Hand reicht, ein wahres Ideal. Und ist ein frischer Naturmensch, selbst in seiner Unwissenheit, die ja vielfach durch gesunden Geist und biedere Gesinnungen ersetzt wird, nicht fast beneidenswerth?





Das dritte meiner liebsten Hausheilmittel.

Aeußere große Wärme.


Große Wärme, entweder trockene oder feuchte, äußerlich angewendet, ist in sehr vielen Krankheitsfällen ein ganz vorzügliches Heil- oder Linderungsmittel und das dritte im Bunde mit frischem ausgelassenen Rindstalge (s. Gartenl. 1858, Nr. 44), sowie mit warmem Wassertranke (s. Gartenl. 1861, Nr. 11). – Aber diese Wärme muß viel höher sein als die des menschlichen Körpers selbst (also über 30° R.), überhaupt so hoch als sie nur vertragen werden kann. Auch darf sie da, wo sie gut thut, nicht blos manchmal, von Zeit zu Zeit und auf kurze Zeit angewendet werden, sondern sie ist dann mit Energie und Ausdauer zu gebrauchen. Flanell, Watte, Katzen- und andere Felle, Wolle, Werg, Prießnitz’sche Ueberschläge etc. können die Wärme, von welcher hier gesprochen werden soll, niemals ersetzen, denn alle diese Wärmemittel, wenn sie nicht vorher künstlich bedeutend erwärmt wurden, führen unserm Körper keine höhere Wärme zu, als er selbst besitzt.

Von den Heilkünstlern wird unsere hohe Wärme trotz ihrer großen Heilkraft doch gemißachtet, ja sie wird recht hinterlistiger Weise dadurch um ihre großen Verdienste gebracht, daß die Aerzte in der Regel irgend einem mit der Wärme verbundenen ganz nichtsnutzigen Etwas den Erfolg zuschreiben, welcher doch der Wärme allein zukommt. Humpelte ein Rückenmärker im Hahnentritte nach Gastein und kehrte flott auf den Beinen wieder, so hat natürlich nicht die Wärme, sondern der eigenthümliche Salzgehalt des Gasteiner Badewassers dieses Wunder gethan. Bei Heilungen von Rheumatismen durch die Bäder von Teplitz wird natürlich ebenfalls nicht der Wärme, wohl aber den Salzen dieser Bäder die Hülfe zugeschrieben. Weichen Schmerzen und Lähmungen beim Gebrauche von warmen Moorbädern, dann ist das Mineralische im Moore Schuld daran. Wird’s bei Unterleibsentzündungen nach Ansetzen von Blutegeln und warmen Ueberschlägen immer besser und endlich gut, so sind sicherlich die Blutegel die Retter gewesen. Und so wird in unzähligen Fällen, wo die Wärme half, diese Helferin schmählich ignorirt.

Sprechen wir zunächst über die Wirkung der örtlich angewendeten hohen Wärme auf unsern Körper im Allgemeinen. Es versteht sich aber wohl von selbst, daß hier nicht ein solcher Wärmegrad gemeint ist, welcher Verbrennung (brennende Schmerzen und Brandblasen) veranlaßt, sondern nur ein Gefühl von großer Hitze. Diese Wärme erzeugt nun, wie deutlich zu sehen und zu fühlen ist, eine Schwellung, Röthung und Erhöhung der Temperatur des erwärmten Theiles; es vermehrt sich die Blutmenge in demselben, und die festen wie flüssigen Materien desselben dehnen sich aus, erstere werden auch weicher und schlaffer, so daß sogar feste Entzündungsproducte dadurch zur Schmelzung (Eiterung) gebracht werden können. In Folge der Erweiterung der Blutgefäße und der dadurch gesteigerten Blutzufuhr (die eben den erwärmten Theil röthet) findet im erwärmten Theile eine gesteigerte Ernährung, Absonderung und Wärmeentwickelung statt; die Erweiterung der aufsaugenden Gefäße fördert auch die Aufsaugung. Im Nervensysteme wirkt die Wärme ebenso als ein Erregungsmittel der Nerventhätigkeit, wie auch beruhigend und insofern schmerz- und krampfstillend. Kurz, die Wirkung einer hohen, örtlich angewendeten Wärme ist so vielseitig, daß sie bei einer Menge der verschiedensten Krankheitszustände Anwendung finden kann.

Auf die Form, in welcher hohe Wärme örtlich anzuwenden ist, kommt in den meisten Fällen nicht sehr viel an. Ganz unnütz, ja bisweilen nachtheilig ist es, wenn man wegen eines einfachen örtlichen Uebels den ganzen Körper mit großer Wärme (besonders durch Bäder) incommodirt. Sicherlich würden die meisten Badecuren gegen örtliche Leiden noch einen weit bessern Erfolg haben, wenn nur die leidende Stelle, aber recht oft und recht lange, dem heißen Bade ausgesetzt würde. Deshalb ist es ebensowohl bei schmerzhaften, sogenannten rheumatischen Uebeln und Nervenschmerzen, wie auch bei ausgebreiteten Lähmungszuständen von ganz enormem Vortheile, so lange als möglich im heißen Bade zuzubringen und, um die unangenehme Wirkung des heißen Wasserdampfes auf den Kopf zu verhüten, die Badewanne so zu bedecken, daß nur der Kopf oder, wenn das Leiden an der untern Körperhälfte, auch noch der Oberkörper heraussieht, zugleich aber auch durch das geöffnete Fenster frische Luft in das Badezimmer zu schaffen. Bei solchen örtlichen Leiden jedoch, die nur auf eine kleinere Stelle (ein Glied, Gelenk etc.) beschränkt sind, ist es gerathener von Vollbädern ganz abzusehen und nur ganz örtlich die Wärme zu appliciren. Zu diesem Zwecke können alle möglichen stark erwärmten Dinge verwendet werden, wie: Sand, Lehm, Kleie, Mehl, Brod- oder Semmelkrume, Kartoffel- oder Möhrenbrei, Kräuterpulver, Schlamm, Steine, Metall, Wärmflaschen, Dampf, Wollenes, Pelz, Seide u. s. f., u. s. f. Von Hafergrütze oder Leinsamen macht man darum am häufigsten und liebsten warme Ueberschläge, weil diese des Oelgehaltes der genannten Stoffe wegen am längsten warm bleiben und deshalb nicht so oft gewechselt zu werden brauchen. Uebrigens ist schon in den ältesten Zeiten der heiße Nilschlamm gegen mancherlei Leiden benutzt worden, und in Frankreich wird heißer Dünger nicht selten gegen Rheumatismus angewendet; Schwalbennester in kochendem Wasser zerrührt und über den Hals geschlagen sind ein Volksmittel gegen Croup. Alte Weiber [440] schreiben natürlich dem eigenthümlichen erwärmten Stoffe und nicht der Wärme die heilsame Wirkung warmer Ueberschläge zu; bei ihnen wirkt das Fell einer schwarzen oder wilden Katze anders als das einer grauen und zahmen, und eine rothe Bauchbinde thut bessere Dienste als eine weiße etc.

Die Prießnitz'schen kalten Einwickelungen, auf welche viele Aerzte und Laien ganz versessen sind, können unsere Wärme, wie schon gesagt wurde, durchaus nicht ersetzen, da sie immer nur einen solchen Wärmegrad zu entwickeln im Stande sind, welcher dem unserer Körperwärme gleich ist, abgesehen noch davon, daß sie durch ihre Kälte recht leicht auch schaden können. Man stellt dieselben nämlich so an, daß ein in kaltes Wasser ge­tauchtes, wenig ausgerungenes Tuch um den leidenden Theil ge­schlungen und dann mit einem luft- und wasserdichten Zeuche (Wachstuch) umwickelt wird. Das kalte, nasse, die Haut berührende Tuch nimmt bald die Temperatur der Haut an, allein die dabei gebildeten Wasserdämpfe können weder entweichen, noch sich abküh­len, und es bleibt daher der kranke Theil so lange dem Einflusse der feuchten Wärme ausgesetzt, bis wegen des unvollkommenen Abschlusses der Dämpfe die Tücher allmählich zu trocknen beginnen.

Gehen wir nun auf die einzelnen Krankheitszustände über, bei denen die Wärme ein vortreffliches Heil- oder doch Linderungsmittel ist, so sind zuerst diejenigen Leiden zu erwähnen, welche durch heftige Schmerzen beschwerlich fallen, jedoch mit Ausnahme aller frischen Verletzungen, bei denen gerade die Kälte (kaltes Wasser, Schnee, Eis), auch ohne die nichtsnutzige Arnica (s. Gartenl. 1856; Nr. 51), den besten Nutzen schafft. Sodann wirkt hohe Wärme da sehr vortheilhaft, wo aus dem Blute an unrechten Stellen ausgetretene, feste oder flüssige Stoffe weggeschafft werden sollen. Auch gegen lähmungsartige Schwäche thut diese Wärme in vielen Fällen recht gute Dienste, doch darf man hierbei nicht zu viel Vertrauen auf ihre Heilkraft setzen. Weit wirksamer ist sie bei Krampfzuständen, zumal wenn diese nur einzelne Muskeln oder Muskelgruppen befallen haben, und überhaupt da, wo gegen Hartes, Starres, Sprödes, Gespanntes verfahren werden muß (bei Verengungen, Einklemmungen, Auftreibungen).

Als beruhigendes, schmerzstillendes Mittel kann zu örtlichem Gebrauche die hohe Wärme (in trockner und feuchter Form) ebensowohl bei sogenannten rheumatischen, wie auch bei ent­zündlichen und sogenannten nervösen Schmerzen empfohlen werden. - Am Kopfe werden z. B. sogenannte nervöse, in den äußern Theilen sitzende, oft halbseitige oder nur auf kleinere Stellen be­schränkte Kopfschmerzen durch große Wärme merklich gelindert oder ganz vertrieben. - Der oft bis zum Verzweifeln heftige Gesichtsschmerz weicht in sehr vielen Fällen der energischen Anwendung hoher Wärmegrade. - Zahnschmerzen schwinden in der Regel durch heißes Wasser, was im Munde einige Zeit lang den kranken Zahn umspült und natürlich dann, wenn es nicht mehr heiß gefühlt wird, erneuert werden muß. - Bruststechen läßt sich durch warme Ueberschläge fast stets lindern, selbst dann wenn dasselbe nicht blos rheumatischer Natur ist und seinen Sitz in den äußern Brusttheilen hat, sondern im Innern der Brust und durch Brustfell- oder Herzbeutelentzündung entsteht. - Bei Leibschmerzen der allerverschiedensten Art, wie bei Koliken, Magen- und Blasenkrampf, Bauchfellentzündung, Ruhr, Steinbeschwerden, sogenannten Blutkrämpfen des Weibes etc., giebt es gar kein besseres Linderungsmittel als große Wärme. - Kreuz- und Hüftschmerzen (Hexenschüsse, Lenden- und Hüftweh) sind am schnellsten durch die Wärme zu verjagen, nur muß sie an­haltend und so hoch als möglich angewendet werden. - Gelenkschmerzen, wenn sie nur nicht eben erst durch eine Verstauchung oder Verrenkung, durch Quetschung oder Stoß erzeugt wurden, be­dürfen durchaus der Wärme zu ihrer Linderung. - Ob nun bei den genannten Schmerzübeln die Wärme besser als feuchter (breiiger) Umschlag oder in trocknet Gestalt anzuwenden ist, das muß der Patient selbst durch Probiren zu ergründen suchen, da dem Einen die trockene, dem Andern die feuchte Wärme besser thut, was der Arzt im Voraus nicht wissen kann.

Gegen Geschwollenes, wenn es nicht erst seit Kurzem durch Blutaustritt bei Verletzungen entstanden ist, wirkt die Wärme insofern heilsam, als sie Festes zur Schmelzung bringt und das dadurch entstandene oder auch von Haus aus Flüssige (Eiter) durch Entleerung nach außen und durch Wegsaugung mittels Bethätigung der Saugadernthätigkeit entfernt. Deshalb ist diese Wärme von vorzüglichem Nutzen bei Drüsengeschwülsten, die dadurch entweder zum Eitern und Aufgehen oder zum allmählichen Schwinden in Folge von gesteiger­ter Aufsaugung gebracht werden. - Alle Gelenkanschwellungen, mit Ausnahme derjenigen durch frische Verletzungen, können durch Nichts so gut gehoben werden, als durch große Wärme. - Blutschwäre, sowie böse Finger und Zehen (der Finger­wurm) brauchen zu ihrer Heilung (durch Eiterung und Aufgehen) lange Zeit, wenn sie nicht mit warmen Umschlägen behandelt wer­den. - Ein in Folge eines Zahn- oder Zahnfleischleidens ge­schwollenes Gesicht, wird durch Warmes innerhalb und außer­halb des Mundes am schnellsten wieder in seine Facon gebracht. - Frostballen und entzündeten Hühneraugen sagen warme Ueberschläge am meisten zu.

Krampfstillend wirkt große Wärme besonders dann, wenn die Krämpfe schmerzhaft und andauernd (sogenannte Starrkrämpfe, Klamm), nicht Zuckungen sind und einzelne Muskeln oder kleinere Muskelgruppen und zwar in dem Muskelsysteme, welches unserem Willen entzogen ist, befallen haben. Deshalb sind vorzugsweise Krampfzustände im Verdauungs-, Harn- und Genitalapparate durch Wärme zu heben.

Bei Lähmungen und lähmungsartiger Schwäche beweglicher Theile, besonders der Beine, sowie bei Empfindungs­losigkeit dieser oder jener Hautstelle thut große Wärme manch­mal, freilich nicht immer, recht gute Dienste, nur muß sie hier ebenfalls mit gehöriger Ausdauer angewendet werden. Gegen Rückenmarksschwäche (die sich nicht im Rücken, sondern gleichzeitig in den Beinen, im Harn-, Darm- und Genitalapparate zu erken­nen giebt) wirkt diese Wärme, wenn sie anhaltend auf die untere Hälfte des Rückens applicirt wird, in der Regel weit besser, als das berühmte Bad von Gastein.

Aus dieser kurzen Uebersicht der Leiden, bei denen, wie die Erfahrung lehrt, große Wärme als ein ganz vortreffliches Heil­- oder Linderungsmittel wirkt, läßt sich ersehen, wie hoch die­selbe zu halten ist. Doch muß sie, wie schon gesagt wurde, nicht blos auf den Husch applicirt werden und übrigens stets auch in einem solchen Grade, daß großes Hitzegefühl (nicht Verbrennung) dadurch veranlaßt wird. - Und nun, Leser, bitte ich Dich, bringe meine lieben Hausmittel nicht durch falschen Gebrauch, d. h. durch Anwendung derselben bei solchen Uebeln, bei denen sie nicht passen, in Verruf; trinke nicht gegen alle nur möglichen innern Beschwer­den heißes Wasser, bestreiche nicht alle äußern Leiden mit Rinds­talg und lege nicht überall Wärme auf. Wolle doch meine Auf­sätze über diese Hausheilmittel mit etwas mehr Aufmerksamkeit als die Novellen lesen, zumal wenn darnach curirt werden soll. Und mache ferner auch nicht, wie dies so oft geschieht, kindische Ansprüche an diese Hausheilmittel, und verlange nicht bei jahrelangen, ver­wahrlosten oder verquacksalberten Leiden durch dieselben Heilung über Nacht.
Bock.




Deutsche Bilder.

Nr. 8. Der Salzburger Jammer.
(Schluß.)

Der elende Zustand der ersten Züge der evangelischen Salzburger, die ja fast nur aus Unbemittelten bestanden, wird durch gleichzeitige Berichte aus Weilheim und Ulm, wohin sie sich wandten, in das klarste Licht gestellt. Von Weilheim schrieb man unter'm 26. December: „Gestern ist unser Landrichter nebst noch einigen andern hierzu Verordneten den emigrirenden Salzburgern auf hohe Verordnung entgegengeritten, um selbige weiter zu convoyiren. Es bestehen diese Leute aus 800 Personen, so aber in einem erbarmungs­würdigen Zustand, indem solche bei dieser miserablen Winterszeit vieles Ungemach, bald von Frost, bald von Regen und Schnee aus­zustehen haben. Ueber das alles so druckt selbige die Armuth so hart, daß, da sie in ihrem vorgestrigen Nachtquartier gelegen, deren [441] 17 nicht mehr als 16 Kreuzer verzehrt haben,“ und von Ulm unter dem 17. Januar: „Hierbei melde in größter Wehmut, daß dieser Tage 260 arme, vertriebene Salzburger, worunter etliche 20 Weibspersonen waren, allhier ankamen, sehr elend bekleidet. Sie konnten ohne Mitleiden nicht angesehen werden. Man hat viel junge Leute, auch schwangere Frauen, ingleichen Krumme und Lahme, wie nicht weniger verschiedene angesessene Leute, die jedoch nicht viel Vermögen besessen, mit Gewalt, Schlägen und Stößen aus ihrer Arbeit und von ihren Verrichtungen weggerissen und wie das unvernünftige Vieh fortgetrieben, ohne daß ihnen erlaubt gewesen, etwas Kleider zur nöthigen Bedeckung des halbnackten Leibes mitzunehmen, oder nur eine wenige Zehrung. Bei 800 dergleichen arme Protestanten haben also ohne Verzug aus dem Lande gehen müssen, sind anbei von den Soldaten, welche auf selbige gehauen, gestochen und geschossen, auch Granaten unter sie geworfen, erbärmlich tractiret, dennoch auf den Grenzen wiederum angehalten und in Scheunen und Ställe eingesperrt worden, in welchen sie noch bei 16 Tagen aushalten und fast erkranken müssen. Ich kann mit Worten nicht beschreiben, mit was vor Mitleiden diese armen dürftigen Leute hier aufgenommen worden.“

Aber schmerzlicher noch, als Regen und Schnee, als Frost und Kälte, welche ihren Leib erstarren ließ, war so manchem Familienvater der Gedanke an die daheimgebliebenen Kinder. Waren auch manche Kinder beim Auswanderungszuge, so hatte man doch, wie bemerkt, in unmenschlicher Rücksichtslosigkeit manchem Vater das unmündige Kind vorenthalten, manche Eltern zum Lande hinausgetrieben, die Kinder dagegen in Klöster gesteckt und den Eltern nicht einmal erlaubt, von ihnen Abschied zu nehmen. Als z. B. Hans Hofer seine Curandin Anna Wolcher, ein Mädchen von vierzehn Jahren, mitnehmen wollte und sie schon auf seinem Wagen hatte, riß sie der Gerichtsdiener vom Wagen herunter und brachte sie zum Stadtrichter, und als zu diesem Hofer’s Sohn kam, um das Mädchen abzuholen, war ein Hieb mit dem spanischen Rohr in das Gesicht die ganze Antwort. Glücklicher waren die Eltern Balthasar Brandstädter’s in Goldegg, welcher eine gewisse Art Berühmtheit erlangte. Als der Vater für sich, für sein Weib und den zehnjährigen Balthasar einen Paß zur Auswanderung begehrte, riß man das Kind mit Gewalt vom Vater weg und sperrte es in eine drei Stock hoch gelegene Kammer. Vater und Mutter baten unter Thränen, daß man ihnen doch ihren Sohn verabfolgen lassen möge, wurden aber mit unbarmherzigen Schlägen fortgetrieben, und dem Knaben trotz seines Weinens, seines Schreiens die Kammer nicht geöffnet. Da sprang er aus dem hohen Kammerfenster herab auf die Straße, kam wohlbehalten unten an und eilte den Eltern nach, wanderte jedoch aus Vorsicht auf Umwegen allein aus Salzburg fort und allein durch Baiern, bis er sich mit seinen Eltern wieder vereinigen konnte. Ebenso flüchteten manche andere zurückgehaltene Kinder ihren Eltern nach. Noch auf dem Wege mussten sie von den Soldaten rohe Mißhandlungen erdulden und wurden von fanatischen Katholiken verspottet und geschmäht. Dagegen wurden sie von den Evangelischen mit offnen Armen empfangen.

In einigen baierischen Städten übertheuerte man ihnen nicht blos Fuhren und nothdürftige Kost und gab ihnen kaum gegen doppelte Zahlung ein elendes Nachtquartier, man suchte ihnen auch ihre Kinder des Nachts heimlich wegzunehmen, indem man ungescheut sagte, man müsse die unschuldigen Kinder zu retten suchen, wenn auch die Alten zum Teufel führen. In Augsburg ließ der katholische Rath vor den Salzburgern die Stadtthore schließen, in Donanwörth rief unter großem Lärm und Geschrei der Pöbel den Unglücklichen nach: „Die lutherischen Hunde wären werth, daß man sie auf dem Schellenberge verbrenne und an den Galgen hänge.“ Die Pfaffen in Erfurt predigten fleißig von „lutherischen Hunden“; der Pfaffe in Kleinnörtlingen ging noch weiter, er verbot seinen Zuhörern, diesen Leuten einen Trunk Wasser zu reichen, noch ihnen das geringste Gute zu erzeigen, da sie nur Ketzer und Hunde seien, und fand so gehorsame Pfarrkinder, daß sie – ähnlich wie im polnischen Städtchen Behrend, wo die Einwohner den Salzburgern keinen Bissen Brod geben wollten und sogar die Eimer von den Brunnen nahmen – den armen Vertriebenen nicht einmal für Geld einen Schluck Wasser verabreichten, bis sich die Juden ihrer erbarmten, sie zu ihren Brunnen führten, ihnen Gefäße reichten, um für sich und ihre Pferde Wasser zu schöpfen, und sie mit Brod, Bier und Geld beschenkten. Ja, als ein Haufen Salzburger Auswanderer zu Würzburg auf dem Main unter der großen steinernen Brücke wegfuhr, hatte sich auf letzterer ein fanatischer Volkshaufe versammelt und ließ mit den Schimpfworten: „Ihr ketzerischen Hunde, ihr verdammten Leute, Geschlecht des Lucifer!“ eine Menge Steine auf sie herunterfallen, von denen jedoch zum Glück Niemand weiter als ein Knabe verletzt wurde. Und wie die Geistlichen in Salzburg den Evangelischen nicht zugelassen hatten, ihre Todten auf den Kirchhöfen zu bestatten, wie dort beim Tode eines jungen Bauers der Pfaffe die empörende Erklärung abgegeben hatte: „man solle den Todten nur in den Mist hinein schmeißen, daß ihn die Schweine fräßen; eines besseren Begräbnisses sei er nicht würdig, denn er sei schon mit Leib und Seele zum Teufel in die Hölle gefahren und habe den Andern die Hölle aufgesperrt, daß sie ihm nachfolgen könnten;“ und wie sich daher die Evangelischen genöthigt gesehen hatten, ihre Todten in den Gärten zu begraben: so verweigerte auch während der Auswanderung der Fanatismus an einigen katholischen Orten den Salzburgern ihre unterwegs verschiedenen Brüter auf eine christliche Weise zu bestatten, und nöthigte sie, dieselben auf dem Wege einzuscharren.

Doch – zur Ehre jener Zeit und des deutschen Volkes sei es gesagt – jene Ausgeburten fanatischen Glaubenseifers waren nur vereinzelte Ausnahmen, zahlreiche Katholiken zeigten dagegen theilnehmendes, menschliches Mitgefühl. Die schlichte Einfalt, die Biederkeit und Glaubensfestigkeit der unglücklichen Vertriebenen mußten imponiren, wie ein damaliger Bericht aus Augsburg meldet: „Der ungemeine Eifer, Begierde und Liebe dieser Leute zu den evangelischen Wahrheiten ist nicht zu beschreiben. Und ohngeachtet die wenigsten unter ihnen weder lesen noch schreiben können, so ist billig zu verwundern, daß sie dennoch einen völligen Begriff von der evangelischen Religion besitzen. In weltlichen Dingen scheinen sie ganz einfältig, sind mehrentheils lediges Standes und der harten Bauerarbeit gewohnt. Alles das Ihrige haben sie gutwillig verlassen, vertrauen ganz ungemein der göttlichen Vorsorge, und ist ihre größte Lust singen, beten und arbeiten. Sie leben ohne Bekümmerniß, sind gutes Muths und voller Freudigkeit, und lassen sich leiten wie die Lämmer.“

So erbarmten sich ihrer auch unter den Katholiken menschlich fühlende Herzen, und selbst arme Soldaten katholischen Glaubens schenkten ihnen in tiefem Mitleid und in lauter Entrüstung über den Salzburger Tyrannen den ganzen empfangenen Sold. Die Juden und namentlich die Judenfrauen, eingedenk der schon von Moses gebotenen Pflichten gegen Fremde und Wanderer, blieben in edler Mildthätigkeit nicht zurück. Und von den Evangelischen wurden die armen Salzburger Glaubensgenossen mit offenen Armen empfangen. Wer wollte sie alle verzeichnen, die Beweise der Menschlichkeit und Liebe, welche die Vertriebenen überall erhielten?! In den süddeutschen Städten, in den thüringischen und sächsischen Städten, in Halberstadt, von dem unter den Emigranten ein alter Mann mit den naiven Worten Abschied nahm: „Ich werde nun bald sterben, will mich aber allemal freuen, so oft ich im Himmel einen Halberstädter antreffe,“ – in Potsdam, wo der preußische König ihnen zurief: „Ihr sollt es gut haben, Kinder! Ihr sollt es gut bei mir haben,“ – in Berlin, in Königsberg und andern nördlichen Orten, überall dieselbe warme Sympathie, derselbe mildthätige Eifer für die Salzburger Auswanderer; den Preis von allen aber trug Leipzig davon, wo man sich um die Emigranten und deren Verpflegung förmlich riß, wo man von den höchsten bis zu den niedersten Ständen, ja selbst Knecht und Magd, Handwerksbursche und Soldat, Tagelöhner und Bettler sich beeiferten, die Unglücklichen zu beschenken, ja sogar arme Tagelöhner etliche Groschen borgten, nur um sie den Salzburgern geben zu können, und wo ihnen auf diese Weise an Kleidern, Waaren und baarer Unterstützung mehr als 20,000 Thaler zugeflossen sein sollen.

Wenn man sie kommen sah in ihren ärmlichen Kleidern, die Bibeln und die kleinen Kinder tragend, hinter dem langen Zuge her das Gepäck auf 70 und mehr Wagen, worauf zugleich Alte, Kranke, Blinde, Lahme, Krüppel, hochschwangere Weiber, Kindbetterinnen und Kinder lagen, wurde man bewegt, ja zu Thränen gerührt, – waren es doch Glaubensgenossen, die um ihres Glaubens willen alles erduldet, alles verlassen hatten. Man küßte die Kinder, die in ihrer unschuldigen Unbefangenheit die Größe ihres Unglücks nicht verstanden, und führte die Greise und Schwachen bei der Hand. Man geleitete sie in feierlichem Zuge unter Glockengeläute und Absingung jener frommen Lieder in die Stadt, von denen sie schon in Salzburg bei ihren heimlichen Andachtsübungen [442] erquickt worden waren. Am meisten pflegten die Auswanderer ein von einem ehemaligen Salzburger Bergmann, dem schon 1686 seines Glaubens wegen aus Salzburg verjagten, durch seinen „evangelischen Sendbrief“ und andere Schriften bekannt gewordenen Joseph Schaitberger, gedichtetes Lied zu singen, das daher hier Platz finden mag:

Ich bin bin armer Exulant,
Also muß ich mich schreiben.
Man thut mich aus dem Vaterland
Um Gottes Wort vertreiben.

Doch weiß ich wohl, Herr Jesu mein,
Es ist Dir auch so gangen,
Jetzt soll ich Dein Nachfolger sein.
Mach’s, Herr, nach Dein’m Verlangen.

Ein Pilgrim bin ich auch nunmehr,
Muß reisen fremde Straßen;
Drum bitt’ ich Dich, mein Gott und Herr!
Du wollst mich nicht verlassen.

Ach steh mir bei, Du starker Gott!
Dir hab ich mich ergeben;
Verlaß mich nicht in meiner Noth,
Wenn’s kosten soll mein Leben.

Den Glauben hab ich frei bekannt,
Deß darf ich mich nicht schämen,
Ob man mich einen Ketzer nennt
Und thut mir’s Leben nehmen.

Ketten und Band war mir ein Ehr,
Um Jesu will’n zu dulden:
Denn dieses macht die Glaubenslehr,
Und nicht mein bös Verschulden.

Ob mir der Satan und die Welt
All mein Vermögen rauben,
Wenn ich nur diesen Schatz behalt,
Gott und den rechten Glauben.

Herr, wie Du willst, ich geb mich drein,
Bei Dir will ich verbleiben,
Ich will mich gern dem Willen Dein
Geduldig unterschreiben.

Muß ich gleich in das Elend fort,
So will ich mich nicht wehren,
Ich hoffe doch, Gott wird mir dort
Auch gute Freund’ bescheren.

Nun will ich fort in Gottes Nam’,
Alles ist mir genommen,
Doch weiß ich schon, die Himmelskron’
Werd ich einmal bekommen.

So geh ich heut von meinem Haus,
Die Kinder muß ich lassen,
Mein Gott, das treibt mir Thränen aus,
Zu wandern fremde Straßen.

Ach führ mich, Gott, in eine Stadt,
Wo ich Dein Wort kann haben,
Damit will ich mich früh und spat
In meinem Herzen laben.

Soll ich in diesem Jammerthal
Noch lang in Armuth leben,
Gott wird mir dort im Himmels-Saal
Ein besser Wohnung geben.

Wer dieses Liedlein hat gemacht,
Der wird hier nicht genennet,
Des Papstes Lehr hat er veracht
Und Christum frei bekennet.

Man hielt mit ihnen in den Kirchen freien evangelischen Gottesdienst und theilte ihnen das Abendmahl unter beider Gestalt aus. Man bewirthete sie freundlich, beschenkte sie reichlich, begleitete sie wieder feierlich beim Abschied, und die Emigranten weinten Thränen der Dankbarkeit. Man schlug Münzen zum ewigen Gedächtniß der Begebenheit, man veranstaltete für die Unglücklichen Collecten, die ganz ansehnliche Summen ergaben. Nach einer Notiz aus jener Zeit brachte unter andern Dresden nicht weniger als 9676, Leipzig 2605, Frankfurt a. M. gegen 5000, Nürnberg über 6000, Wien 6000, Hamburg sogar über 24000 Thaler, Lübeck 12,134 Mark zusammen, aus Venedig kamen 311, sogar aus Smyrna 26 Gulden. Es flossen diese Gelder nach Regensburg in eine Casse zur Unterstützung der vertriebenen Salzburger, welche bis auf 888,381 Gulden anwuchs; die kursächsische Collecte freilich soll nicht hierzu, sondern – zum Ausbau der Frauenkirche in Dresden mit verwandt worden sein!

Allgemein und groß war das Aufsehen, das die Grausamkeit, mit welcher der geistliche Tyrann in Salzburg gegen seine evangelischen Unterthanen verfuhr, in Deutschland und über die deutschen Grenzen hinaus machte. Der Reichstag that Vorstellungen, aber sie wurden nicht beachtet. England, Holland, Preußen, Dänemark und Schweden verwendeten sich für die Evangelischen – – Alles umsonst, die Unterhandlungen zogen sich hin, und unterdessen fuhr der gewissenlose Erzbischof fort, die noch zurückgebliebenen Protestanten zu quälen. Die genannten Staaten drohten mit Repressalien, drohten, gegen die Katholiken, die sich in ihrem Bereiche befänden, ebenso zu verfahren, sie zu vertreiben und ihr Hab und Gut einzuziehen, aber auch diese Drohungen waren erfolglos, – auch die Bemittelten mußten Salzburg verlassen, manche in schamloser Weise gemißhandelt und geschmäht. Ja, der Erzbischof brachte die geistige Tortur, welche die Tesseregger einst zum Auswandern genöthigt hatte, wieder in Anwendung: um sein Land von all dem verruchten Unkraut zu säubern, forderte er von allen seinen Unterthanen den Eid, daß der evangelische Glaube ein ketzerischer und verfluchter, dagegen der römisch-katholische der alleinseligmachende sei, da bekannten sich noch Viele öffentlich zur lutherischen Lehre und zogen aus ihrem Vaterhause, aus ihrer alten, lieben Heimath ihren Brüdern in die Ferne nach. Auch sie fanden bei ihren Glaubensgenossen dieselbe freundliche Aufnahme, und wie sich gewöhnlich erst im Unglück der Charakter wirklich edler Menschen in seiner wahren, edeln Größe zeigt, so hat uns auch die Geschichte jener Tage eine nicht geringe Zahl edler Charakterzüge aufbewahrt.

Es gehört dahin auch jener Vorfall, der sich im Oettingen-Wallerstein’schen ereignet haben soll und der schönsten Dichtung unsers größten Dichters Veranlassung und Stoff gegeben hat. Dort in Altmühl (so berichteten die Emigranten, während freilich ein Ort dieses Namens vergeblich zu suchen ist) lebte ein „feiner und vermögender Bürger“ mit seinem Sohne. Oftmals schon hatte er den letztern zur Heirath ermahnt, doch umsonst. Als aber nun ein Zug Salzburger Auswanderer das Städtchen passirte, erblickte der Sohn unter ihnen ein Mädchen, das den tiefsten Eindruck auf ihn machte. Die von ihm eingezogenen Erkundigungen ergaben, daß sie von redlichen Eltern geboren, sich allezeit „wohl erhalten“ und nur des Glaubens willen dieselben verlasse habe. Da ging er hin zu seinem Vater, offenbarte ihm seine Neigung zu der Salzburgerin und bat um seine Einwilligung, mit der Drohung, daß er andernfalls sich niemals verehelichen werde. Erschrocken suchte der Vater, der wohl auf eine bemittelte, wohlhäbige Schwiegertochter gehofft hatte, ihm sein Vorhaben auszureden und ließ einen Prediger und andere Freunde rufen, um den Sohn auf andere Gedanken zu bringen. Als aber der Sohn entschieden bei seinem Entschlusse blieb und auch der Geistliche eine Fügung der Vorsehung darin zu erblicken glaubte, gaben denn alle zuletzt ihre Zustimmung. Der Sohn suchte das Mädchen auf und frug sie, wie es ihr hier im Lande gefalle, und als sie erwidert hatte: „Herr, ganz wohl!“ frug er sie weiter, ob sie wohl bei seinem Vater dienen wolle. Gern erklärte sie sich dazu bereit und theilte ihm mit, wie sie das Vieh füttern, die Kühe melken, das Feld bestellen und andere Hausarbeit verrichten könne. Da nahm er sie mit sich und stellte sie seinem Vater vor. Der Vater, der von jenem zum Schein geschlossenen Dienstverhältniß nichts wußte, frug die Salzburgerin, ob ihr denn sein Sohn gefalle und sie ihn heirathen wolle. Betroffen erwiderte sie: man solle sie nur nicht foppen, der Sohn habe für seinen Vater eine Magd verlangt, und wenn er sie haben wolle, werde sie ihm treu dienen. Als aber nun der Sohn ihr seine Neigung, sein Verlangen gestand, erklärte sie, daß, wenn es denn Ernst sein solle, sie es gar wohl zufrieden sei und ihn halten wolle wie ihr Auge im Kopfe, und nachdem ihr der Sohn ein Ehepfand gereicht, griff sie mit den Worten: „Sie müsse ihm doch wohl auch einen Mahlschatz geben,“ in den Busen und überreichte ihm ein Beutelchen mit 200 Dukaten. –

Wer erkennt nicht sofort in dieser einfach rührenden Geschichte den Stoff jenes herrlichen Gedichts, das mit seinem Erscheinen im Jahre 1798 durch seine schlichte Einfachheit, seine reine Wahrheit, seine Wärme und Tiefe der Empfindung die Lieblingsdichtung des deutschen Volkes geworden und bis zum [443] heutigen Tage geblieben ist? Mit dem Takte des Genies erkannte Goethe in jenem alten einfachen Stoffe die poetischen Motive, und indem er dieselben dichterisch gestaltete und verarbeitete, neue poetische Momente hinzutrug, das Ganze mit den edelsten und doch naturwahrsten Gestalten aus dem schlichten, tüchtigen deutschen Bürgerleben belebte, und statt der Salzburger Emigrationsgeschichte die großartigen, welterschütternden Begebenheiten der französischen Revolution mit ihrem ethischen Aufschwung, aber auch ihrem furchtbaren Elend zum Hintergrund wählte, schuf er ein episches Gedicht, das ein Wilhelm von Humboldt für das die Schönheit der antiken Dichtungen mit den Vorzügen der modernen Poesie verbindende Dichtwerk, das ein Schiller für den Gipfel der neuern Dichtung, das der Engländer Lewes für das vollendetste unter allen Goetheschen Producten erklärt und hinsichtlich der Charakterzeichnung sogar den Shakespeare’schen Dramen zur Seite gestellt hat – sein unsterbliches Gedicht Hermann und Dorothea.

Die Emigranten, zusammen über 22,000 an Zahl, gingen theils nach Hannover oder Holland, theils nach Nord-Amerika, die meisten aber nach Preußen. Friedrich Wilhelm I. nahm über 20,000 in sein Land zuvorkommend auf, er that es als Schirmherr des Protestantismus, er wußte aber auch, was er an ihnen gewann, und es lag ihm daran, die durch den nordischen Krieg und durch Pest verödeten Gegenden Ostpreußens wieder zu bevölkern. Einige Zeit über ließ er jedem Mann vier, jeder Frau und jedem Mädchen drei, jedem Kinde zwei Groschen als Beitrag zu den Auswanderungs- und Reisekosten zahlen, indem er bemerkte: „Ich gebe es gern, Gott hat es mir ja gegeben, daß ich den armen Leuten Gutes thun soll.“ Er wies ihnen in Preußisch-Litthauen einen Landstrich an, wo sie beisammen leben sollten, und erleichterte ihnen die Ansiedelung. Noch unter dem 1. Septbr. 1732 schrieb er an den Grafen von Seckendorf: „Wenn noch 30,000 Salzburger kommen, ich Platz habe; und die Depense, unter uns gesagt, ist nit groß, und peuplire mein wüst Land.“ Die „Depense“ ihrer Aufnahme betrug mehr als zehn Tonnen Goldes, was war dies aber im Vergleich zu den glücklichen Folgen? Hatten sie noch Anfangs mit Schwierigkeiten aller Art zu kämpfen, hatten sie auch zu klagen, wie sich die Soldaten unterständen, die längsten Kerle unter ihnen zu werben und mit Gewalt zu Soldaten zu machen (die Potsdamer Leibgarde bedurfte ja Rekruten!), so lebten sie sich doch bald in die neue Heimath ein und brachten dem Lande als braves, biederes Volk durch ihren Fleiß reichen Segen. Hundert Jahre später, 1832, feierten ihre Nachkommen ein Fest dankbarer Erinnerung und setzten zu Gumbinnen dem König Friedrich Wilhelm I. ein Denkmal. Und in Salzburg? Was Schiller seinen Posa zu König Philipp sagen läßt:

      Schon flohen Tausende
Aus Ihren Ländern froh und arm. Der Bürger,
Den Sie verloren für den Glauben, war
Ihr edelster. Mit offnen Mutterarmen
Empfängt die Fliehenden Elisabeth,
Und furchtbar blüht durch Künste unsers Landes
Britannien. Verlassen von dem Fleiß
Der neuen Christen liegt Granada öde,
Und jauchzend sieht Europa seinen Feind
An selbstgeschlagnen Wunden sich verbluten –

man hätte es analog auch dem Erzbischof Eleutherius zurufen können. Nach glaubwürdigen Nachrichten sank die Einwohnerzahl, welche in ältern Zeiten sich wohl aus 250,000 belaufen, seit der Auswanderung der Protestanten auf 190,000 herab. Ein Reisender, der damals das Land besuchte, berichtete, es sähe dort aus, als wenn die Pest zwei Jahre daselbst gewüthet hätte.

Zu manchen Gegenden stand Dorf an Dorf leer und öde, kein Hirt trieb eine harmonisch läutende Heerde auf die Alm, kein Gesang fröhlicher, rüstiger Schnitter schallte von den Feldern, Alles leer, Alles wüst, Alles traurig. Der Wille des Erzbischofs, wie er ihn einst in roher Heftigkeit ausgesprochen hatte, war erfüllt; ja, er hatte nun keinen Ketzer in Salzburg mehr und empfing mit kindischer Eitelkeit zum Dank für die verdienstvolle That vom Papste den Titel „Hoheit“, aber das Land hatte seine besten, treuesten, fleißigsten Bewohner verloren, und auf den Aeckern wuchsen Dornen und Disteln!

Man schrieb damals 1731. Wohl haben wir seitdem keinen Act von solchem Fanatismus, von solcher Brutalität in Deutschland wieder erlebt; ja es hat sich in diesen Tagen die österreichische Regierung endlich genöthigt gesehen, für die Protestanten der deutsch-slavischen Kronländer einschließlich Tyrol die frühern Beschränkungen in Rücksicht auf Errichtung von Kirchen mit Thürmen, Glocken, Begehung von religiösen Feierlichkeiten, des Bezugs von Büchern und Schriften aufzuheben, ihnen die selbstständige Ordnung, Verwaltung und Leitung der kirchlichen Angelegenheiten zu gewähren und ihnen die vollste Freiheit des Glaubensbekenntnisses und den Vollgenuß der bürgerlichen Rechte zuzusichern. Aber man werfe einen Blick auf die jetzigen Zustände der Juden in dem größten Theile Deutschlands, auf die Herrschaft einer „Staats-Religion“, auf die heillosen, nur Unfrieden säenden, die Gemüther knechtenden, freiheitsfeindlichen Concordate, auf die Verhältnisse der Deutschkatholiken und der freien Gemeinden, auf die Bevormundung der protestantischen wie der katholischen Kirchen-Gemeinden und selbst der Volksschule durch den Klerus, auf das Verkennen der von dem großen Criminalisten Feuerbach so treffend ausgesprochenen welthistorischen Wahrheit: „Die Wissenschaften gleichen den Seeen. Wenn sie stagnirend stille stehen und nicht ewige Fluth sie bewegt, dann verpesten sie die Luft und werden zum Aufenthalt des Ungeziefers, das im Moraste sich gefällt,“ auf die ebenso anmaßliche, als unverständige Forderung einer Umkehr der Wissenschaft, auf die neuesten Versuche, sogar die Philosophie unter die Controle kirchlicher Oberconsistorien zu stellen, auf den intoleranten Eifer lichtfeindlicher katholischer Kleriker und jener bekannten heuchlerischen, katholisirend-protestantischen Partei, und man wird zugeben müssen, daß wir bis zu einer wahren durchgreifenden Volksaufklärung in religiösen Dingen, bis zum wahren Verständniß, zur wahren Verwirklichung des Grundgedankens der erhabenen Religion der Liebe, bis zur vollkommenen Glaubensfreiheit und vollständigen Gleichstellung der Confessionen auch jetzt, in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, noch einen weiten Weg zurückzulegen haben und bis dahin leider noch „gar Vieles faul ist im Staate Dänemark“.

Rob. Keil.

Aus dem Leben Ludwig Devrient’s
(Schluß.)

„Credit?“ sagte Devrient nicht ohne einen Anflug von Bitterkeit zu dem Schauspieler. „Ich werde Ihnen beweisen, wie sehr Sie sich geirrt haben, Louis!“ rief er. „Kannst und willst Du mir 30 Thaler leihen?“

„Thut mir leid, Herr Devrient,“ lautete die höfliche Antwort; „ich bin nicht im Besitze einer solchen Summe.“

„Gut, so geh’ und bitte Deinen Herrn darum. Ich brauch’s nicht meinetwegen, sondern um ein gutes Werk zu thun.“

Der Kellner ging und brachte nach kurzer Zeit eine abschlägige Antwort.

„Da haben Sie’s!“ lachte Devrient. „Jetzt werden Sie überzeugt sein, daß es an meinem guten Willen nicht liegt, wenn ich Ihnen nicht helfen kann.“

„Das ist hart,“ sagte der Fremde; „ich habe Brod und gute Versorgung für mich und meine Familie in der Tasche, und kann nicht fort von hier! Die unglückliche Anna,“ fuhr er halb im Selbstgespräche, halb laut fort, „es wird ihr Tod sein!“

Der Name Anna hatte auf Devrient wie mit elektrischer Kraft gewirkt; er fragte: „Heißt Ihre Frau Anna?“

„Ja! Anna R., geborne H.,“ lautete die Antwort. „Kennen Sie dieselbe vielleicht?“

Devrient biß sich aus die Lippe, aber antwortete nicht. Anna H. war seine erste und einzige Liebe gewesen.

Indessen hatte der Kellner das befohlene Essen servirt. Während sich R. mit wahrem Heißhunger darüber hermachte, das saftige Beefsteak zu verzehren, ließ Devrient, das Haupt auf die [444] Hand gestützt, einige Bilder aus seiner Vergangenheit vor seinem Geiste vorüberziehen. Er sah sich in fröhlicher Gesellschaft in Dessau. Man bestieg einen Wagen und rollte zum Thore hinaus nach dem Wörlitzer Garten. Ihm gegenüber saß Anna H., damals ein blühendes, lebhaftes Mädchen, für welches Devrient mit aller Gluth der Leidenschaft, aber als ein echter deutscher Jüngling im Stillen schwärmte. Wenn Anna in ihrer Lebhaftigkeit sich umkehrte und Devrient’s Knie berührte, zuckte es ihm durch alle Glieder und über seine Wange jagte eine flüchtige Röthe. Der Wagen hielt endlich. Man stieg aus und begab sich nach den zierlichen Gartenanlagen, für welche ein Satiriker die bekannte Inschrift erfunden hat:

Von hoher Obrigkeit wird gebeten,
Man möge hier nicht die Berge zertreten.
Hunde dürfen hier auch nicht laufen,
Damit sie nicht die Bassins aussaufen;
Höchst strafbar aber würd’ es sein,
Steckte Jemand einen Felsen ein!

Devrient faßte sich an dem schönen Frühlingstage ein Herz und bot der Dame seines Herzens den Arm. Ohne es zu wollen, wandelte das Paar einsame Gänge, und in einem blühenden Fliedergebüsche wechselten sie unter dem Flöten der Nachtigall heilige Gelübde und Liebesschwüre. Doch die Seligkeit sollte nicht von Dauer sein. Devrient verließ Dessau, um sich in Breslau eine Stätte seines Ruhmes zu gründen. Der Abschied hatte ihn schmerzlich bewegt; wie schlug sein Herz, wenn er in weiter Ferne mit banger Ahnung an die theure Braut dachte! ihr gehörte sein ganzes Denken und Thun, ihr weihte er seines Ruhmes Kränze, dessen Bedeutung bald in ganz Deutschland erkannt wurde. Ach! bald fiel ein giftiger Thau auf die zarte Blüthe seines Herzens. Seine Braut verrieth ihn. Ein kalter Absagebrief erstickte mit seinem Winterfroste die frischen Lebensquellen des aufstrebenden Mannes.

Heut zum ersten Male sah Devrient den Glücklichen vor sich, der ihm seine erste und einzige Liebe geraubt und seinem Herzen unsägliches Weh bereitet hatte. Ein Gefühl des Stolzes und der Befriedigung kam über ihn, und eine Stimme in seinem Herzen flüsterte: „Du bist gerächt!“ Aber nur einen Moment überkam ihn dies Gefühl; er bemeisterte mit gewaltiger Anstrengung seine Schwäche, und mit wohlwollender Theilnahme erwog er bei sich die Mittel zur Rettung derjenigen, die ihn einst verraten hatte.

Der Hunger des Fremden war gestillt. Mit unverstellter Rührung sagte R. dem freundlichen Geber herzlichen Dank und fügte hinzu: „So will ich mich denn meinem harten Geschicke mit Würde und Gleichmuth der Seele unterwerfen! Meiner Frau aber werde ich sagen, was für einen edlen Mann ich in Ihnen gefunden habe.“

„Weiß sie um diesen Weg zu mir?“ fragte Devrient.

„Kein Wort!“ erwiderte R., „denn bisher habe ich nicht den Muth gehabt, ihr unsere trostlose Lage zu entdecken.“

„So hören Sie! Wenn Sie mir versprechen, jedem, selbst Ihrer Frau, meinen Namen zu verschweigen, bin ich bereit, Ihnen aus der Noth zu helfen.“

„Wie? wär’s möglich? So hätten Sie doch noch einen Ausweg und Hülfe gefunden?“

„Still!“ sagte Devrient, „Sie reden zu laut und machen jene Herren, welche eben eingetreten sind, auf uns aufmerksam. Hier, nehmen Sie diese Uhr und machen Sie dieselbe zu Geld! Sie ist mir zwar ein theures Angedenken, aber ich glaube sie im Sinne des Gebers zu verwenden, wenn ich sie Ihnen übergebe.“

Bei diesen Worten zog Devrient seine goldene Uhr aus der Tasche, häkelte die schwere goldene Kette los und übergab beides, Uhr und Kette, seinem unglücklichen Collegen.

Dieser war außer sich; halb betäubt saß er da, jeder seiner Gesichtsmuskeln zuckte, in seinen Augen standen helle Thränen; endlich sagte er mit fast erstickter Stimme: „O, Sie bester unter den Menschen! Ich kann und darf Ihr edelmüthiges Geschenk nicht ausschlagen; aber Sie haben es keinem Undankbaren gegeben und sollen von mir hören! Einstweilen leben Sie wohl und getrösten Sie sich des erhebenden Gedankens, eine Familie vom Untergange errettet zu haben.“

Damit stand er auf, drückte fest und treu Devrient’s Hand, indem eine Thräne aus seinem Auge auf dieselbe rollte, und eilte fort. Devrient aber saß da und beschaute still und sinnend die Thräne auf seiner Hand; sein Herz war ihm zum Zerspringen voll, und unwillkürlich brach er in die Schmerzensworte König Lear’s aus:

Auf solche Opfer, o Cordelia, streun
Die Götter selbst den Weihrauch. Hab’ ich dich?
Wer uns will trennen, muß mit Himmelsbränden
Uns scheuchen, wie die Füchse. Weine nicht! –

Das war einer der glücklichsten Tage aus Devrient’s Leben.




III.

Woche auf Woche war seit jenem Tage verflossen; der fremde Schauspieler hatte nichts von sich hören lassen. Devrient hätte in der täglichen Aufregung den erwähnten Vorfall längst vergessen gehabt, wenn seine Frau nicht tagtäglich dafür gesorgt hätte, ihn daran zu erinnern. Längst schon hatte sie Verdacht geschöpft, daß ihres Mannes Aussage, er habe die Uhr dem Uhrmacher zur Reparatur übergeben, eine Erfindung sei, um sie zu täuschen; endlich hielt sie es nicht länger aus und eilte zum Uhrmacher.

„Herr Steinmann,“ sprach sie, als sie in den Laden trat, „ist meines Mannes Uhr, welche er Ihnen zur Reparatur übergeben hat, noch nicht ausgebessert?“

„Das muß wohl ein Irrthum sein, Madam Devrient,“ lautete die Antwort; „mir hat Ihr lieber Mann keine Uhr zur Reparatur übergeben.“

„O ich unglückliche Frau,“ jammerte jene. „Alles, was Geld heißt und Geldeswerth hat, jagt der Säufer durch seine Kehle; aber an seinen Hausstand und an seine Hausfrau denkt er nicht.“

Der Uhrmacher zuckte die Achseln; er kannte Devrient’s Haustyrannin zu gut, als daß er Lust verspürt hätte, das Gespräch mit ihr fortzusetzen.

Mit den Worten: „Na warte, den Streich werde ich Dir gedenken!“ stürzte sie aus dem Laden und begab sich in die Lutter’sche Weinstube, in der sie niemand als den Oberkellner vorfand. Sie interpellirte denselben lebhaft und war nicht wenig erfreut, als er ihr nach einigem Besinnen den wahrscheinlichen Verbleib der Uhr angeben konnte. Vergeblich aber forschte sie nach dem Namen des „Bettlers und Beutelschneiders“, wie sie ihn nannte, und schließlich blieb ihr nichts übrig, als unverrichteter Dinge nach Haus zu gehen.

Devrient stand, um einen vulgären Ausdruck zu gebrauchen, stark unter dem Pantoffel. Er ließ auch jetzt das Ungewitter geduldig über sich ergehen, ohne sich zu verantworten oder zu entschuldigen. Indessen grade dies hartnäckige Schweigen gereichte seiner zungenfertigen Frau zum größten Aergerniß und fachte besonders heute ihre Wuth stets neu an. Aber wie jeder Sturm aufbraust, so nahm auch diese Philippica ihr Ende. Als das Wetter ausgetobt hatte, nahm Devrient Hut und Stock und sagte beim Fortgeben zu seiner Frau:

„Es ist mir nur lieb, daß ich durch Dich erfahren habe, wo meine Uhr geblieben ist; ich hatte die Geschichte längst vergessen.“

Diese mit einem unnachahmlichen Phlegma gesprochenen Worte reizten die Frau zu einem neuen Zornesausbruche, dem Devrient aber dadurch entging, daß er die Thür hinter sich in’s Schloß warf; er steuerte seiner geliebten Weinstube zu. Es war im Juni, der Tag unerträglich heiß; jeder hatte das Freie gesucht, nur drei treue Genossen saßen da und erwarteten Devrient’s Ankunft. Es war der Kammergerichtsrath und der Doctor, welche uns schon aus dem ersten Capitel bekannt sind, und ein alter Jugendfreund Devrient’s, Namens Schulze.

Nachdem Devrient Platz genommen und wie die Anderen Rock und Halsbinde abgelegt hatte, sprach er: „Wie wär’s, Freunde, wenn wir bei der heutigen afrikanischen Hitze unseren Sect draußen unter freiem Himmel tränken?“

„Angenommen! einverstanden!“ lautete die Antwort.

„He, Louis!“ sagte Devrient, „in einem Stündchen, wenn’s draußen dunkel geworden sein wird, bringst Du unsern Tisch, vier Stühle und eine Flasche Sect drüben nach dem Gensd’armenmarkt.“

„Weiß schon!“ erwiderte der Kellner. „Soll ich auch die „Obrigkeit“ bestellen, Herr Devrient?“

„Wird nicht schaden,“ sprach Devrient lachend; „bestelle sie nur in Gottes Namen. Doch jetzt bring’ uns eine frische Flasche Sect!“

[445] Als Louis diesem Befehle nachgekommen war, stellte er neben den Eiskübel ein Kistchen auf den Tisch.

„Was soll das?“ fragte Devrient.

„Der Postbote hat das Kistchen bei uns abgegeben,“ antwortete der Kellner. „Sehen Sie, hier ist die Adresse: Herrn Devrient, königlichem Hofschauspieler in Berlin. Abzugeben in der Weinhandlung von Lutter und Wegner, Charlottenstraße.“

„Gieb Acht, Devrient,“ sprach Schulze, „das wird eine Ueberraschung geben!“

„Wenn’s nur kein Geheimniß ist!“ fügte der Doctor lachend hinzu. „Werden wir auch bei der Eröffnung zugegen sein dürfen?“

„Von Herzen gern,“ antwortete Devrient; „ick habe vor Euch keine Geheimnisse. Louis, bring’ Hammer und Zange her!“

Während Devrient das Kistchen öffnete, schauten Alle neugierig zu; keiner aber war neugieriger als der Empfänger selbst.

Jetzt nahm er den Deckel ab – und vor seinen Augen lag, sorgfältig in Watte verpackt, die uns bekannte Uhr und Kette.

„Das ist brav!“ sprach Devrient. „Ich hab’s auch nicht anders erwartet.“

„Was hast Du nicht anders erwartet? Erzähle, erzähle!“ rief der Chorus der Zecher, und Devrient mußte wohl oder übel den Hergang erzählen.

Bei dieser Erzählung traten Schulze, der wie Devrient eine weiche Natur war, die Thränen in die Augen. Als Devrient geendet hatte, drückte jener ihm herzlich die Hand, während der Kammergerichtsrath in dem Kistchen umherstöberte.

„Halt,“ rief der Letztere plötzlich, „da liegt ein Brief auf dem Boden des Kistchens; hier ist er!“ Er hielt ihn hoch in die Höhe.

„Vorlesen, vorlesen!“ hallte es wieder im Chorus.

Devrient kam dem Verlangen nach und las:

„Verehrter Herr!

Als Sie vor zwei Monaten auf so liebenswürdige, ja wahrhaft rührende Weise das Einzige hergaben, was Sie besaßen, um mich und meine Familie vom Untergange zu erretten, haben Sie sich ein Denkmal in unseren Herzen errichtet, welches dauernder sein wird als Erz und Marmor. Wir gedenken Ihrer täglich, und meine Frau schickt mit den Kindern allabendlich für den unbekannten Geber und Wohlthäter Bitten und Gebet zu Gottes Thron empor. O, warum untersagten Sie es mir, je Ihren Namen den Meinigen zu nennen! Kaum habe ich es vermocht, den stürmischen Bitten und Fragen derselben zu widerstehen; nur der Gedanke, undankbar zu erscheinen, hat mir die nöthige Kraft gegeben zu schweigen.

Mein Herz ist voll des Dankes, und wenn ich dennoch meinen Gefühlen nur einen schwachen Ausdruck zu geben vermag, so werden Sie, theurer Mann, der in die tiesften Tiefen der menschlichen Brust geblickt hat, den Mangel der Worte mit der Tiefe der Empfindung entschuldigen; die höchsten Affecte der Seele machen ja den Menschen verstummen. Es wird und muß für Sie ein erhebendes Bewußtsein sein, uns von Sorgen befreit und in glücklicher Lage zu wissen; ist doch das Alles Ihr Werk. Gottes Segen für Zeit und Ewigkeit auf Sie herabflehend bin ich      Ihr stets ergebener

R…“     

Nachdem Devrient geendet hatte, fuhr er mit der Hand über die Augen und sprach: „Freunde, Ihr seid Alle weich geworden und schmelzt dahin wie Butter an der Sonne. Nehmt die Gläser zur Hand und trinkt herzhaft eins! Kommt Euch aber einmal Jemand in den Weg, der unglücklich ist und Eurer Hülfe bedarf, so thut mir’s nach; und könnt Ihr dabei feurige Kohlen auf das Haupt eines Unwürdigen sammeln, um so besser!“

Das Gespräch wurde heiter, Devrient würzte es mit manchem Scherzworte, und schnell war eine Stunde vergangen.

„Jetzt möchte es an der Zeit sein, uns in’s Freie zu begeben,“ sagte der Rath. „Die „Obrigkeit“ ist von ihrer ersten Wanderung zurück und gewiß gern bereit, auf die „Devrient’s-Wache“ zu ziehen.“

Gesagt, gethan. Tisch und Stühle, Flaschen und Gläser wurden auf den Gensd’armenmarkt gebracht, woselbst die nächtlichen Zecher im Halbcostüm ihre gemüthliche Kneiperei fortsetzten. Geschirmt wurden sie von der „Obrigkeit“, d. h. von den in der Nähe angestellten Nachtwächtern, von welchen jeder mit einem Quart Wein beschenkt wurde. War’s nun der Haut-Sauternes, welcher das obrigkeitliche Gewissen und den Verstand der Nachtwächter schärfte, oder war’s angeborenes Talent, genug, die Devrient’s-Wache wußte nicht nur jede Störung der vier Zecher zu verhüten, sondern auch ihrer anderweitigen Verpflichtung nachzukommen.

Voll Witz und Laune wußte Devrient die warme Sommernacht hindurch seine Zechgenossen in heiterer Stimmung zu erhalten; er erzählte von seiner Lehrzeit, wie er in Potsdam Seide gehaspelt, Knöpfe besponnen, Fransen und Troddeln kunstgerecht gearbeitet habe, und begleitete seine Erzählung mit so treffender Pantomime, daß sich seine Zuhörer vor Lachen ausschütten wollten. Am glücklichsten war er immer, wenn er, wie heute, den „Herrn Meester un de Frau Meesterin“ auftreten ließ; er zeichnete Beide, den brummigen Posamentier und seine keifende Ehehälfte, mit einer Treue und Wahrheit, und sein unerschöpflicher Humor wußte ihrem Familienleben so viel komische Seiten abzugewinnen, daß keine seiner Glanzrollen auf dem Theater diese Leistung einer improvisirten nächtlichen Posse übertroffen hat.

Sich selbst persiflirte er dabei als „dämligen Lehrjungen“, mit welchem Lieblingstitel ihn die „Meesterin“ einst zu beehren pflegte, auf höchst drastische Weise, und ein homerisches Gelächter begleitete den Schluß seiner Mittheilungen, als er die Worte citirte, welche seine Meisterin bei ihrem letzten Zornesausbruche, ehe er aus der Lehre gelaufen, wie eine wahrsagende Sibylle an ihn gerichtet hatte, „er werde nicht nur ein großer Theaterheld, sondern ein noch größerer Pantoffelheld werden.“

Indessen war die Nacht vergangen, der Tag graute, und das letzte Glas ging auf die Neige. War der Geist der Zecher auch noch willig, war das Fleisch doch schwach geworden. Mit lallender Zunge rief man nach der „Obrigkeit“, welche ihrer Instruction gemäß die Nachtschwärmer nach Haus brachte.

Devrient aber schlief diesmal ein, ohne von Seiten seiner Frau eine donnernde Philippica zu hören. Dies seltene Glück verdankte er der verloren geglaubten Uhr, deren Schläge – Devrient ließ, ein guter Feldherr, dieselbe repetiren – den bösen Dämon bannten.




Der Holzgraf.

Eine oberbairische Geschichte.
Von Herman Schmid.
(Fortsetzung.)

Vesi war von den strengen Worten des Vaters ergriffen, aber sie zeigte es durch nichts Anderes, als daß sie die Unterlippe zwischen die Zähne klemmte. Die Bäuerin hatte das Angesicht in eines der Kissen verborgen und schluchzte bitterlich. „O versündige Dich nit noch mehr in Deinem Hochmuth, Korby,“ rief sie, die schwache Stimme anstrengend. „Wir sind den Leuten ohnehin schon genug verhaßt! Wenn ich’s doch vor meinem End’ erbitten könnt’ von Gott, daß er Dein hartes Herz erweicht, aber Du hast Dich ganz von ihm abgewend’t … Du hast das Beten verlernt, und seit Du den unglücklichen Holzhandel angefangen hast, ist der Hochmuth völlig Herr geworden über Deine arme Seel…“

„Sei still davon, Betschwestcr,“ schrie sie der Bauer an. „Was hab’ ich von der Frömmigkeit, wenn sie die Mutter dazu bringt, daß sie der Tochter bei ihren Liebschaften hilft! Wenn die leichtsinnige Dirn sich dem Bettelbuben an den Hals wirft, glaubst Du, daß ich’s wegbeten kann?“

„O Korby, schänd’ Dich nit selbst, wenn Du mich und Dein eignes Fleisch und Blut so verleumdest! Ich bin nit entgegen gewesen, weil der Domini wirklich der bravste Bursch ist im ganzen Dorf, weil sie sich alle zwei in Ehren lieb haben von Herzensgrund, und weil ich glaub’, daß sie gut auskommen und einmal glücklich sind mit einander. Wie hoch willst mit dem Mädel hinaus? [446] Den Hof kannst ihr doch nit geben, den mußt Du dem Martin aufheben, der ja wohl mit der Gottes Gnad’ wieder heim kommen wird aus’m Feld – warum willst der Vesi nit erlauben, daß sie den bekommt, den sie einmal ins Herz geschlossen hat?“

„Weil ich mich auf solche Schwachheiten nit einlaß und weil ich den Verstand haben muß für alle Drei,“ entgegnete der Bauer grob… „aber ganz Unrecht hast Du doch nicht. Noch ist ja dem Faß der Boden nicht aus … ich kann’s noch einmal im Guten probiren. Komm her zu mir, Vesi…“

Das Mädchen trat vor den Stuhl, auf dem er saß. Er sah ihr fest ins Gesicht und sagte um vieles milder: „Thu mir das nicht an, Vesi. Du weißt es am besten, ich hab’ Dich alleweil lieb gehabt, weil Du ein festes entschlossenes Gemüth hast, wie ich selber – wend’s nit gegen mich, gegen Dein’ Vater! Laß den Burschen laufen: es ist nichts an ihm, glaub’ mir’s, und wenn’s Dich jetzt hart ankommt, thu’s mir zu lieb… Du wirst es bald überbeizt haben… Ich nehm’ Dich mit in die Stadt nach München, Du darfst Dir kaufen, was nur Deinen Augen gefallt – aber nit wahr, Du gibst den Burschen auf? Du willst ihn nit mehr sehn, nit mehr mit ihm reden, willst ihn vergessen – nit wahr, Du versprichst mir das, Vesi?“

Einen Augenblick trat Stille ein; Beider Augen ruhten in einander; Jedes hielt den gespannten Blick des Andern aus.

„Nein, Vater,“ sagte Vesi dann halblaut und mit bebender Stimme. „Das mußt Du nit von mir verlangen, das kann ich Dir nit versprechen…“

„Vesi …“ sagte der Bauer, und auch seine Stimme bebte in Zorn und Erregung… „Vesi, sag’ nicht so, wenn Dein Vater Dich bitt’…“

„Ich kann nit,“ erwiderte sie, indem sie vor dem finster blickenden Manne wie unwillkührlich auf die Kniee sank … „Wenn Du mich gern hast, so verlang’ Alles von Deiner Vesi, Vater – nur das Einzige nit, daß ich den Domini lassen und vergessen soll! Es wär’ eine Lüg’, wenn ich’s thät, denn ich weiß doch voraus, daß ich’s nit halten könnt’ – und eine Sünd’ wär’s auch, denn ich hab’ es dem Domini schon zuvor versprochen, daß ich ihn gern haben und keinen Andern nehmen will, als ihn…“

„Also Du willst nit?“ rief der Bauer, indem er aufzustehn versuchte. Als das Mädchen schwieg und regungslos in der knieenden Stellung blieb, sprang er ungestüm vollends auf und stieß sie mit dem Fuße vor die Brust, daß sie rücklings zu Boden fiel und das gelöste Haar weit auseinander rollte. Sie gab keinen Laut von sich, auch als der Wüthende über sie herfiel, sie bei den Haaren faßte und in blindem Zorn am Boden hinzuschleppen begann.

Die Mutter schrie laut und kreischend auf, sie wollte hinzu, wollte dem mißhandelten Mädchen zu Hülfe kommen aber sie vermochte es nicht, die zitternden Kniee versagten ihr den Dienst… „Laß sie los, Korby,“ schrie sie außer sich … „Thu’ ihr nichts zu Leid … es ist mein Kind! … Heilige Mutter von Ettal – denk, was Du mir versprochen hast, Korby – denk’ an den Andreastag!“

Als ob dies Wort ein Blitz gewesen, der seinen Arm gelähmt hätte, ließ der Bauer das Mädchen los, das sich schweigend vom Boden erhob, schweigend das zerrüttete Haar in Ordnung brachte und sich dann in einen Winkel setzte, die thränenlosen Augen in den aufgelegten Armen verbergend. Auch der Bauer sprach nichts; er ging mit mächtigen Schritten in der Stube auf und ab, und focht mit den Händen vor sich hin. Die Kranke lehnte an ihren Kissen, und ihre eingefallnen Wangen brannten fieberisch roth.

Nach einer Weile blieb der Bauer vor ihr stehn. „Wie ist Dir, Margareth?“ fragte er mit erzwungener Gelassenheit.

„Ach, nit gut, Korby,“ antwortete sie, „Du brauchst nimmer lang Geduld zu haben mit mir…“

„Davon ist nicht die Red’,“ murrte er. „Bist Du stark genug, daß Du reisen kannst?“

„Wenn’s Dir ein Gefallen ist, will ich mich zusammennehmen, daß ich’s kann…“

„So richte Dich zusammen. Sag’ es auch – Deiner Tochter, daß sie sich fertig macht. Nehmt nur das Nöthigste mit, alles Andre kann nachkommen. Wir fahren in einer halben Stunde weg…“

„…Ohne daß Du mir sagst, wohin?“

„Wohin! Nach Haus! Auf den Durnerhof! Ich will der Hacken einen Stiel machen, und für Dich ists in der warmen Jahreszeit auf dem Hof auch gesünder, als in dem kalten Nest…“

„Nach Haus also? Gern, Korby – ich hab mir’s schon lang gewünscht… ich mein’ ich könnt’ viel ruhiger sterben dort … aber warum heute Nacht noch? Hat’s nicht bis morgen Zeit?“

„Nein,“ rief der Bauer mit wieder durchblitzender Heftigkeit, „heut Nacht noch muß es sein! Ich will nit, daß es bis morgen im ganzen Dorf herum ist, und daß wir hinausfahren, als wenn wir Spießruthen liefen…“

„Dann soll es sein, wie Du’s haben willst, Korby.“

Nach einer Stunde rollte das Fuhrwerk des Holzgrafen wieder in der Nacht durch die Ammergauer Dorfgasse dahin. Vesi saß auf einem eigens bereiteten Sitz neben der in Tücher und Betten eingehüllten Mutter, der Vater auf dem Vordersitz und kutschirte.

Niemand begegnete ihnen, bis sie um die Ecke bogen, wo ihnen die hellbeleuchteten Erkerfenster des Sternwirths entgegen schimmerten. Auf der Straße standen Leute, dicht gedrängt; eine wichtige Nachricht hatte sie noch so spät aus Häusern und Betten gerufen. Der Holzgraf war wider Willen genöthigt, langsamer zu fahren, und konnte sich dem Gespräche der Umstehenden nicht verschließen.

„Also ist es wirklich wahr, Nachbar Zwink?“ fragte ein neu Herzueilender. „Sie sind da und haben gute Nachrichten?“

„Ja,“ rief der Angeredete, „es ist Alles wahr! Sie sind da, Sie haben mit dem König selber geredet – er hat’s erlaubt, der Passion darf gespielt werden! Hört Ihr? Da droben sind sie alle beisammen – da kann man nicht mehr zweifeln…“

Aus den Fenstern des Sternwirthshauses erscholl jetzt Gläsergeklirr, und ein dreimaliges Hoch für Maximilian Joseph, den König „mit dem besten Herzen!“

Mit einem halblauten Fluche hieb der Holzgraf auf seine Pferde ein und sauste davon.



2.

Wenige Wochen später lag ein heller, warmer Vormittag auf dem engen und in seinem Wiesenreichthum höchst anmuthig grünen Graswanger-Thal. Der Himmel ruhte über den waldigen und felskahlen Bergrücken wie ein blaues Glasgewölbe und schloß mit denselben das Thal zu einer Insel auf festem Lande ab, als wenn darin das Glück so recht daheim sein und nirgends einen Weg finden sollte zu entfliehn. Wer damals auf dem schmalen Sträßchen an den Berghängen hinwanderte und den stattlichen Bauernhof von der Anhöhe herunter winken sah, der hätte sich gewiß ein solches Besitzthum gewünscht und hätte gemeint, es könne nicht fehlen, da droben müßten frohe und zufriedene Menschen hausen!

Der Durnerhof lag auch so wunderschön und freundlich, daß man glauben konnte, bei der Erbauung müsse nicht sowohl ein Bauer den Grundriß gemacht haben, sondern ein Landschaftsmaler oder sonst Einer, der den Naturschönheiten nachkriecht oder nachsteigt in den Bergen. Das ansehnliche Gebäude mit weißgetünchtem gemauertem Erdgeschoß, mit dem wetterbraunen Holzgebälke der obern Räume und dem breiten steinbeschwerten Dache lag an sanft ansteigender Anhöhe auf einer kleinen grasigen Hochebene, nach Morgen und Mittag der Sonne geöffnet, gegen den rauhen Norden und den kalten Westen aber durch einen hohen waldigen Berg gedeckt, der das liebliche Asyl in seinen Schutz genommen zu haben schien, wie ein Vater das zu ihm geflüchtete Kind auf seinem Schooß und zwischen seinen Knieen verbirgt. Der grüne, mit Bäumen bewachsene Abhang senkte sich nach drei Seiten allmählich und angenehm gegen den Thalgrund herab, an der vierten, der Straße zugewendeten Seite stürzte er plötzlich in eine senkrechte thurmhohe Felswand ab, an deren Fuß Gebüsch und Trümmer erkennen ließen, daß hier einmal ein Steinbruch betrieben worden war. Dadurch ward der Anblick des Hofes noch eigenthümlicher; was aber den angenehmen Eindruck desselben vollendete, war ein mächtiger alter Thurm, mit einer Mauerkrone auf seiner Rundung, der über der Felswand und so unter Bäumen verdeckt stand, daß er zum Gehöfte selbst zu gehören schien. Dadurch gewann dasselbe das Ansehn einer Burg, wie denn auch Mancher wissen wollte, daß da einmal ein Ritterschloß gestanden und der Durnerhof dann in die Trümmer hineingebaut worden sei. Wieder Andre meinten aber, der runde Thurm mit seinen ungeheuren Quadern [447] müsse noch viel älter sein und aus der Zeit herstammen, in welcher die Römer überall in deutschen Landen ihre Wartburgen und Castelle hingestellt hatten.

Auch beim nähern Hinzutreten erfüllte der Durnerhof, was sein Anblick von der Ferne versprochen hatte, denn überall waren die Spuren jener Ordnung und jener reichen Bequemlichkeit sichtbar, welche die Folge und Begleitung der Wohlhabenden sind. Alle Bäume waren an schöne Pfähle zierlich aufgebunden, alle Wege zum Gehöfte und um dasselbe herum waren sauber und reinlich, nirgends wurde Unrath oder am ungehörigen Orte ein Stück Werkzeug sichtbar. Das Haus selbst stimmte damit vollkommen überein; Alles darin spiegelte und glänzte, und die von den bäuerlichen Gewohnheiten der Umgebung äußerlich in nichts abweichende Einrichtung unterschied sich doch dadurch, daß Alles aus feinern Holzarten gefertigt und mit bessern Stoffen bekleidet war. Der meiste und überraschendste Aufwand hatte stattgefunden, um den alten Thurm wieder herzustellen und ein paar Gelasse desselben wohnlich zu machen. Die Gemächer darin waren natürlich nur eng, aber sie boten in ihrer ungesuchten und darum mit dem alterthümlichen Wesen des Gebäudes übereinstimmenden Einrichtung und Ausschmückung einen Aufenthalt, wie ihn die Einbildungskraft eines Künstlers oder Dichters nur ersinnen konnte, als stillen Zufluchtsort für die stillen Stunden ihrer Schöpferzeit. Es sprach aus Allem ein entschiedener Sinn, ein bestimmter Wille des Ungewöhnlichen und Bessern, nicht ohne unverkennbare Zeichen des Bestrebens, mit Beidem zu prunken. Der letztere Umstand und die ungewöhnliche Stille und Einsamkeit des Ganzen mochte Ursache sein, daß sich bei längerem Verweilen zuletzt das Gefühl eines erkünstelten Zustandes und damit das Unbehagen einstellte, welches unvermeidlich ist, wo eine wenn auch an sich tüchtige Kraft bestrebt ist, über das hinauszugehn, was sie sein soll und sein kann. Ueber aller Fülle des Besitzes und allem Schmuck lagerte daher etwas, was die wahre innere Freudigkeit nicht aufkommen ließ: man konnte die Bewohner beneiden, aber man fühlte zugleich, daß in dem steten hastigen Schaffen und Bessern das Pflänzchen nicht zu wurzeln vermocht hatte, das vor Allem eine stille, möglichst unveränderte Scholle bedarf – die Zufriedenheit.

Wer daran noch gezweifelt hätte, mußte sich überzeugen, wenn er an diesem Morgen in die große Wohnstube des Erdgeschosses getreten wäre und die abgehärmte Miene beobachtet hätte, mit welcher die Bäuerin an dem glänzend gescheuerten großen Ecktisch saß. Der Aufenthalt in der frischen, würzigen Gebirgsluft hatte ihr unverkennbar gut gethan, aber dennoch zeigte ihr Aussehn, daß es den Keim des Uebels in ihr nicht zu zerstören, sondern höchstens seine zerstörende Entwicklung um einige Pulsschläge aufzuhalten vermocht hätte. Ihr Gesicht und die magern Hände waren mit jener leuchtenden Blässe bedeckt, womit die Auszehrung ihre Opfer zu schmücken pflegt. Das Lämpchen brannte noch, selbst heller als zuvor, aber es zehrte an den letzten Tropfen der Lebenskraft, und ein rascher Luftzug schien genügend, es plötzlich zu erlöschen.

Die Bäuerin war vollständig in tiefes Schwarz gekleidet; sie hätte nur die Augen zu schließen gebraucht, um für eine Todte zu gelten. Vor ihr lag ein großes Buch, – es mochte wohl Pater Kochem’s goldner Himmelsschlüssel sein; die Frau sah vor sich hin, und es war zweifelhaft, ob sie las oder den Worten des neben ihr sitzenden Mannes zuhörte.

Es war dies eine große Gestalt, deren Haltung mit dem mächtigen, wohlgepflegten Schnurr- und Knebelbart den alten Soldaten verrieth, auch wenn das rothe Band im Knopfloch ihn nicht als solchen bezeichnet hätte.

Der Mann erhob sich jetzt. „Und so müßt Ihr Euch in Gottes Namen mit dem Gedanken trösten, Frau Loderin,“ sagte er, „daß Euer Martin dem Rufe unseres Königs getreu auf dem Felde der Ehre als ein braver Soldat und tüchtiger Chevauxleger gefallen ist. Ich hab’ gewußt, daß Ihr nicht hinunter könnt in die Kirche, wo heute die Seelenmessen für ihn gelesen werden, und da dab’ ich’s für meine Schuldigkeit gehalten, zu Euch herauf zu gehen und Euch ein tröstliches Wort zu sagen, als sein alter Wachtmeister und Kriegscamerad …“

„Das ist ein trauriger Trost für ein Mutterherz,“ erwiderte die Frau tief aufseufzend.

„Ich kann mir das wohl vorstellen,“ sagte der Wachtmeister, „und doch ist’s ein Trost, Frau Loderin, wenn man Eins von den Seinigen hat verlieren müssen und ihm nachsagen kann, daß es brav gewesen ist bis an sein Ende. Und brav ist der Martin gewesen, das muß ihm sein Feind nachsagen – ich hab’ ihn wohl gesehen, wie wir Anno Fünfe im Mährischen bei Iglau unter Wrede gegen die österreichischen Batterien ansprengten und das Kartätschenfeuer gar manchen Sattel fegte, als wenn nie ein Reiter darauf gesessen wäre … da ist der Martin nicht gewichen und gewankt von meiner Seite und hätte das rothe Bändl, das ich dafür bekommen habe von Napoleon, so gut verdient wie ich! Ich habe mir dort den Rest geholt und muß nun als Invalid abwarten, bis zum letzten Abmarsch geblasen wird – der Martin hat noch mitgemacht, bis ihn Anno Neune eine Tyrolerkugel getroffen hat, bei Schwaz! Man hat’s nicht sicher gewußt seither, was mit ihm geschehen ist – er war eben verschwunden, und es hat nicht an bösen Zungen gefehlt, die gesagt haben, er habe die Verwirrung benützt und sei desertirt. … Ich aber hab’ ihn bei der Attaque von Iglau gesehen und hab’ es immer gesagt: das kann nicht sein, und ich hab’ Recht behalten! Jetzt nach zwei Jahren ist’s heraus, daß ihn die Tyroler verschleppt und vergraben hatten, und darum ist’s doch ein Trost, Loderin, daß er nicht schimpflich vor dem Feind desertirt, sondern als ein ehrlicher Soldat geblieben ist …“

Ueber die hohlen Wangen der Bäuerin kugelten ein paar große Thränen. „Ja, das hab’ ich auch gewußt,“ sagte sie, „daß mein Martin brav bleiben wird sein Lebtag – aber um so härter ist’s, daß ich ihn verloren hab’, und es hätte nicht sein müssen! Er hätt’ nit hinaus gemußt in den leidigen Krieg – aber der Unfrieden im Haus hat ihn auch hinaus getrieben! Er ist das erste Opfer gewesen, und so wird’s fortgehen, bis wir Alle zu Grunde gegangen sind!“

Der Wachtmeister sah die Bäuerin mit bedenklichen Blicken an. „Weil Ihr es selber sagt, Durnerbäurin,“ bemerkte er, „muß es wohl so sein! Es ist also wirklich wahr, was man erzählt, daß Vater und Sohn sich nicht haben vertragen können und daß der Sohn die Hand aufgehoben hat gegen den Vater …“

Die Bäuerin machte eine rasche abwehrende Bewegung.

„Gut, gut, ich versteh,“ rief der Wachtmeister, „es läßt sich denken, daß man von so etwas nicht gerne spricht. Ich wollt’ Euch wünschen, daß Ihr es zu Stande brächtet, den Stolz und Uebermuth Eures Mannes zu brechen … es kann kein gutes Ende nehmen, wenn es so fort geht! Wißt Ihr denn gar nicht, was ihn so verstockt und so bitterbös gemacht hat? … die Leut’ sagen, er soll einmal ganz anders gewesen sein in seiner Jugend.“

Die Bäuerin antwortete mit sichtbarem Widerstreben. „Ich weiß es nur allzugut – aber ich hab es meinem Mann versprechen müssen, daß es niemals über meine Lippen kommen soll! … Es ist ja doch möglich, daß er sich ändert, … er ist ja doch heute nach Ammergau hinein zu dem Seelgottesdienst von unserm Martin!“

„Hoffen wir also!“ sagte der Wachtmeister. „Solltet Ihr aber einmal auf einen Freund anstehen, so vergeßt den Chevauxlegers-Wachtmeister Georg Luipold nicht! Und damit Gott befohlen, und noch einmal – tröstet Euch! Wer weiß, ob Euch nicht noch Schlimmeres bevorgestanden, wenn der Martin länger gelebt hätte. Es kommt mir vor, als hätte der Frieden schon wieder die längste Zeit gedauert und als würde das Jahr 1812 in gar manches Haus viel größeres Leidwesen bringen, als Ihr erlebt habt! Ich habe jetzt freie Zeit genug, um zu sinniren und zu beobachten und die Grabschrift auszustudiren, die man mir einmal auf meinen Leichenstein setzen soll … Da kommt es mir in meinen Betrachtungen oft vor, als sollt’ es von der Franzosenherrschaft auch bald heißen, daß der Krug so lange zum Brunnen geht, bis er bricht, und als wäre die Zeit nicht mehr fern, wo die Deutschen, statt auf einander loszuschlagen, miteinander auf die Franzosen losdreschen … aber das wird Blut kosten, viel Blut, und da werden noch viele tausend Mütter zu weinen bekommen, wie Ihr weint!“

(Fortsetzung folgt.)



[448]
Blätter und Blüthen.

Die Spielbäder. Im October des Jahres 1848 trat im deutschen Parlament der Reichsminister der Justiz, Robert von Mohl, plötzlich mit dem Antrage auf die Tribüne: „Die Hazardspiele haben aufzuhören mit dem 1. Mai des künftigen Jahres.“ Und so tief war man von der Gerechtigkeit dieses Schrittes überzeugt, daß der Antrag ohne lange Discussion angenommen, ja mit fast einstimmiger Acclamation sogleich angenommen wurde. Damals, wo man das Ungeheuer todt wähnte, wunderte man sich nur noch, wie das Ungethüm so lange existiren, sein verfluchtes Leben so lange fristen konnte. Das Mitleid regte sich aber doch gegen die armen, nun ruinirten Bankiers, und zu dem gerade zu der Zeit in einem Hotel zu Frankfurt a. M. dinirenden Monsieur Blanc, Spielpächter in Homburg, trat einer der Gäste und gab ihm die Versicherung seines herzlichsten Beileides. Der Bankhalter, ganz ergriffen von der Theilnahme, gab schmerzerfüllt in lauter Trostlosigkeit keine andere Antwort als: „Wenn das deutsche Parlament so lange existirt als meine Bank, kann es froh sein.“ Leider hatte der Franzose Recht. Das Parlament ging auseinander, aber die Spielbank nicht. Der nachherige Reichsminister Detmold wollte den zum Gesetz erhobenen Beschluß des Parlaments zur Ausführung bringen und schickte nach Homburg ein Detachement Soldaten. Ein altes Sprüchwort bewährt aber immer seine alte Kraft; dieses Sprüchwort heißt: inter arma silent leges: zu deutsch: unter den Waffen schweigen die Gesetze – das Militair spielte selbst mit. Das ganze Resultat des Parlamentsbeschlusses war, daß das öffentliche Spiel sich in einen Saal zurückzog, der die Aufschrift trug: Privat-Cirkel.

Mit dem Jahre 1850 aber wurde wieder ganz öffentlich gespielt, und man ging jetzt sogar so weit, daß man dem Palament einen Vorwurf daraus machte, bestehende Verträge einseitig aufzuheben, und namentlich dem Justizminister das Recht absprach, verbriefte Rechte so wenig anzuerkennen.

Mit dem Parlament aber hätten die Spielbanken sich von selbst zur Ruhe begeben müssen, denn mit dem Parlamente war Deutschland kein Staatenbund mehr, sondern ein Bundesstaat, und die ängstliche Fürsorge, die die betreffende Regierung ihrem eigenen Lande durch das Verbot des Spieles zu Theil werden ließ, diese Wohlthat mußte sich auf alle Länder erstrecken, deren Vertreter im Parlament saßen, weil unter solchen Verhältnissen es keinen deutschen Ausländer mehr gab.

Die öffentliche Meinung, die wiederholt in der Presse gegen das wiedererstandene Uebel Lärm machte, wollte man mit der hergebrachten Gewohnheit beschwichtigen und brachte als Rechtfertigung, daß nur solche Bäder in der Blüthe sich befänden, wo auch Spielbanken wären, weil nur diese die Mittel hätten, den Badegästen sonstige Vergnügungen zu bieten. Man hat schon zu viel darüber geklagt, daß vorzugsweise nur in den Bädern gespielt wird, um nur noch ein Wort darüber zu verlieren. Ist es aber nicht höchst traurig, daß die Heilörter nur von dem Unheile leben können? Denn daß die Spiele des Unheils sicher mehr gebracht als die Quellen der Heilörter vielleicht jemals Heilung, darüber besteht gar kein Zweifel. Die Gleichgültigkeit, mit der man die Sache geschehen ließ, stammt vielleicht noch aus der Zeit des durch erschwerte Verkehrsmittel sehr theuren Reisens, wo die Bäder entweder nur von wirklichen Kranken aus Noth oder von Reichen aus Uebermuth besucht wurden. Solche Leute konnten viel Geld verlieren, und um sie und um ihre Verluste brauchte man sich nicht zu kümmern. Jetzt aber ist das Uebel viel verderblicher und gefährlicher geworden, denn seit den Eisenbahnen kommen Badegäste aus allen Schichten der Gesellschaft, und diese armen Leute kommen um so argloser, weil die Spieler ihre Plätze ganz harmlos als den Sitz der edelsten Vergnügen empfehlen, wodurch sowohl der Gast als die Kunst corrumpirt wird. Ja, daß die Bäder gerade durch ihr vermeintliches Gute am meisten schaden, davon hoffen wir unsere Leser in einem längeren Artikel zu überzeugen.




Die Fahnenparade des deutschen Jäger-Regiments in New-York. Eines der schönsten Regimenter der nordamerikanischen Armee, das unter den Auspicien des aus den Revolutionskämpfen von 49 bekannten Herrn Blenker in New-York sich gebildet hat und von der Ver. Staaten-Regierung bereits acceptirt wurde, ist das unter der Nummer 8 in das Kriegsheer eingereihte deutsche Jäger-Regiment. Dasselbe nahm am 20. Mai, nachdem es sich auf dem herrlichen Platze vor der City-Hall New-Yorks aufgestellt hatte, drei schöne Banner entgegen. Das erste ward ihm durch die Frau des durch große Gemeinnützigkeit bekannten Herrn Belmont dargebracht; das zweite überreichte Mr. Daily den muthigen Kriegern im Namen der Abkömmlinge der ersten deutschen Ansiedler von New York; das dritte, die schwarz-roth-goldene Fahne, übergab Frau Amalie Struve dem Regiment als Geschenk der deutschen Frauen. Frau Struve sprach dabei einige begeisternde Worte, die der edlen Patriotin aus dem Herzen quollen, und die Jäger begrüßten das Banner ihrer Heimath mit dem lautesten Enthusiasmus. Während der Fahnenweihe wurden von den Herrn Belmont, Daily, Oberst Blenker, Oberstlieutenant Stahel, General Sandford und Gustav Struve kurze Reden gehalten. Letzterer trat als Krieger in die Reihen des Regiments, welches den Schriftsteller und Historiker dadurch zu ehren wußte, daß es ihn als „Ehren-Capitain“ aufnahm. Das Jäger-Regiment zählt etwa 1000 Mann, ist aus schönen, meistentheils militairisch gebildeten Leuten zusammengesetzt und zeichnet sich in seinem Aeußeren durch eine exakte Haltung sowohl, wie durch eine einfache, aber außerordentlich geschmackvolle Uniform aus. Seine Officiere haben fast alle in Baden oder Schleswig-Holstein gefochten. Das Aufsehen, welches das Jägerregiment besonders unter den Amerikanern erregt hat, ist groß. Alle englischen Blätter sind voll seinen Lobes. Am 27., nach empfangener Marschordre, ging es in’s große Heerlager nach Washington ab; die Krieger zogen alle fröhlichen Muthes ihren ernsten Kriegspfad dahin und bildeten mit ihren heitern Mienen einen Contrast gegen die zugleich mit ihnen hinwegziehenden Amerikaner des zweiten Regiments, die alle ernst und schweigend die Bahn betraten. Hunderte von den deutschen Bürgern New-Yorks gaben dem Jäger-Regiment das Geleite. Viele Gesangvereine marschirten an der Spitze des Zugs voran und trennten sich erst am Bahnhof von den Kämpfern für’s neue Vaterland. M. F. 




Eiserne Vogelnester. In einer kürzlich stattgehabten Sitzung der literarisch-philosophischen Gesellschaft zu Sheffield wurde ein interessantes Factum mitgetheilt. Ueber dem Ende einer Schmiede befindet sich ein roher Verschlag mit Kasten, in welchem eine Anzahl Tauben ihre Wohnung aufgeschlagen haben. Aus ihren Nestern nahm man eine große Menge Hufeisennägel, welche die Tauben aus Säcken und Kasten, in denen sie, alt und neu, krumm und gerade, aufbewahrt sind, genommen hatten. Die Nägel waren mit einer gewissen Kunst arrangirt und die Spitzen nach unten gelegt, aber nichts Weicheres oder Wärmeres war hineingemischt. Das ist um so seltsamer, als Material wie Stroh, Heu, Hobelspäne etc. genug umherlag. Auf dieses eiserne Bett hatten die Tauben ihre Eier gelegt, die gerade zum Ausbrüten bereit waren, als die Entdeckunq gemacht wurde. Die aus den Nestern genommenen Nägel füllten ein zwei Gallonen haltendes Gefäß, und die aus einem Nest wogen mehr als einen Stein. Die Eier zerbrachen. Die Tauben sind die gewöhnlichen, doch einige von ihnen sind mit Brieftauben gekreuzt.




Lebenskraft der Pferde. Man hat kürzlich in Frankreich einige Versuche angestellt, zu erfahren, wie lange Pferde unter besonderen Umständen, z. B. in belagerten Festungen, ohne Futter würden leben können. Man hat dadurch folgende Resultate erlangt: Ein Pferd kann fünfundzwanzig Tage ohne feste Nahrung leben, wenn es nichts als Wasser trinkt. Es kann nur fünf Tage leben, wenn es feste Nahrung, aber nichts zu trinken hat. Hat es zehn Tage lang festes Futter, aber ungenügend Wasser erhalten, so ist der Magen abgenutzt. Diese Facta zeigen die Wichtigkeit des Wassers in der Erhaltung der Pferde und wie dieselben danach verlangen müssen. Ein Pferd, dem man drei Tage kein Wasser gegeben hatte, trank elf Gallonen (gegen neunzig Schoppen) in drei Minuten.





 An ?

Du bist so tief, so unergründlich
Und wie ein Räthsel deutungsvoll,
Bald weich und mild, bald unempfindlich.
Bewegt von Liebe oder Groll.

Du bist so schön, wenn Du begehrend
Im Auge Liebesflammen trägst,
Und schöner noch, wenn Du gewährend
Die seid’ne Wimper niederschlägst.

Du bist so wild in Deinem Feuer,
So stürmisch, sonder Rast und Ruh’,
Und doch ist Keine, Keine treuer,
Und Keine züchtiger wie Du.

Du bist so hold, so sanft und innig,
Wenn Du zum Kuß herab mich ziehst,
Und doch so kalt, so eigensinnig,
Wenn zürnend Du von hinnen fliehst.

Du bist so still, von Leid getroffen,
So düster und so marmorbleich,
Doch in der Freude warm und offen,
Der aufgeblühten Rose gleich.

Du bist so fromm wie eine Taube
Und doch dabei so schlangenklug,
Das schönste Räthsel, wie ich glaube,
Das je die dunkle Erde trug.

Und weil Du just so unverständlich
Und doch so offen bist und klar,
Ist meine Liebe so unendlich,
So tief, so heilig und so wahr.

 Hermann Flachsland.



Für die Abgebrannten in Glarus

gingen im Laufe der letzten 14 Tage wieder bei mir ein: Gensel in Grimma 1 Thlr. – H. K. in Celle 1 Thlr. – Von dem französischen Handschuhmacher in Arnstadt 3 Thlr. – Z. aus Langensalza 1 Thlr. – F. W. G. sen. 2 Thlr. – O. E. F. in Glauchau 2 Thlr. – G. T. in Cöslin 1 Thlr. – Ein Mitarbeiter der Gartenlaube 3 Thlr. – A. H. in S. 2 Thlr. – G. B. Kühn in Nohra 1 Thlr. – Amalia R. in Berlin 1 Thlr. – Erlös einer Sendung Bücher aus Harzgerode 2 Thlr.

 Leipzig, den 28. Juni 1861. Ernst Keil. 


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.