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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 27.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der Holzgraf.

Eine oberbairische Geschichte.
Von Herman Schmid.[1]
1.

Der Frühling des Jahres 1811 hatte bald und vielverheißend begonnen; er schien zu wissen, welche Fülle von Frucht und Segen er auszustreuen habe für den reichen Sommer, der nach ihm kommen sollte. Selbst in dem sonst winterlichen Thale an der Ammer war er so anmuthig und mild eingezogen, als gälte es nicht, eine späte Kornsaat vorzubereiten, sondern selbst auf den unwirthlichen Felszacken des Kofelberges den Saft in edle Reben emporzutreiben und Kometenwein daraus zu brauen.

Der Abend vor dem Sonntag Exaudi ging besonders glänzend zu Ende, die Berge dem Kofel gegenüber standen im Wiederschein der Abendröthe, die sich über die Thalfläche gegen Unterammergau hin ausgebreitet hatte und in den Wellenkrümmungen der Ammer widerschien – darüber hinaus begann es schon zu dunkeln und die schwache Halbsichel des wachsenden Mondes hing im Blauen, als wär’ es eine riesige Laterne, an einem der Felsgiebel ausgesteckt, um den Arbeitern zu leuchten, deren wuchtige Axt und Hammerschläge noch weithin schallten durch das ruhende Thal. Zu den Häusern von Oberammergau war es die ganze Dorfgasse hinaus schon stille geworden, nur hie und da hörte man aus einer Stube betende Stimmen, hie und da sah man durch ein erleuchtetes Fenster noch einen Bildschnitzer an der Werkbank sitzen und an einem Figurchen basteln, das noch fertig werden sollte.

Das Geräusch der Arbeitenden kam aus der Nähe der Kirche. Neben derselben, auf dem sonst so friedlichen Bereiche des Gottesackers, starrte es von Balken und Holzwerk, mit ein mächtiges Gerüst ließ die Umrisse einer eigenthümlichen offenen Bühne mit davor errichteten Zuschauerbänken erkennen. Alles war aus derbem, nur leicht behauenem Werkholz gezimmert und ohne Schmuck; blos an der Bühne selbst waren Linien und Farben zu erkennen, so weit sie im Mondschein mit bei dem schwachen Lichte einzelner Laternen noch sichtbar werten konnten.

Es war die Bühne zu dem berühmten Passionsspiele von Oberammergau. weiche damals noch unmittelbar neben der Kirche auf dem Gottesacker erbaut wurde, und die späte Arbeitsthätigkeit war nicht zu verwundern, denn über acht Tage war ja schon Pfingsten, und wenn die Vorstellungen, dem alten Herkommen gemäß, am Pfingstmontage beginnen sollten, so gab es noch so viel vorzubereiten und fertig zu machen, daß nicht eine Secunde versäumt werten durfte. Darum waren Zimmerleute und Maler noch vollauf beschäftigt; man hatte sogar Gebetläuten überhört und machte sich kein Gewissen daraus; war es doch keine eitle weltliche Belustigung, der es galt, sondern ein frommes Werk, das in den Augen mit Herzen der Oberammergauer heilig ist, wie ein Gottesdienst.

In rein innern Raume der eigentlichen Bühne stand ein junger Mann vor einer großen aufgehangenen Leinwand und strich darauf mit mächtigem Pinsel keck hin und wieder. Es war ein hübscher Bursche, dem die graue Gebirgsjoppe mit grünem Stehkragen und das tyrolerartige grüne Hütel sehr gut liest, wenn auch das blonde Haar nicht ganz gut dazu paßte, das er in lang hin abfallenden Locken und hinter die Ohren zurück gescheitelt trug. Nach Malerart trat er eben ein wenig von der Leinwand zurück, um bei dem Scheine der zu beiden Seilen an Pfosten aufgehängten Laternen die Wirkung seiner Arbeit zu betrachten. Er war nicht unzufrieden damit, denn über das ungewöhnlich feine und blasse Gesicht flog ein munteres Lächeln, und er trat rasch vor die Leinwand hin, um mit kühner Hand einen hellen, weißen Flecken als Licht darauf zu setzen.

„Mache mir den Haifisch nur nicht gar zu gräulich,“ sagte eine freundliche Stimme hinter ihm, und ein alter Mann in der Tracht eines Weltgeistlichen trat hinzu. Es war eine nicht große, aber stattliche Gestalt, mit ehrwürdig mildem Gesicht und fast ganz kahlem Kopfe, um welchen nur ein schmaler Kranz von langen Silberlocken schimmerte. „Das Monstrum,“ fuhr er fort, indem er mit dem goldenen Knopfe seines hohen Rohrstocks an die Malerei klopfte, „das macht ja ein Paar Augen, daß sie Einem im Traum vorkommen könnten!“

Der Jüngling erröthete leicht, indem er dem Geistlichen entgegentrat, seine Hand ergriff und küßte, was dieser ohne Widerrede geschehen ließ. „Spotten Sie nur über mich, Hochwürden,“ sagte er, „ich kann’s doch nicht besser machen! Hab’ ich doch mein Lebtag

[418] keinen Haifisch gesehen, und wenn er den Propheten Jonas hat verschlingen und unversehrt wieder ausspeien können, muß er eben doch ein rechtes Ungeheuer gewesen sein, und da hab’ ich gemeint …“

„Und da hab’ ich, gemeint,“ unterbrach ihn der Pater, „ich bin ein hochmüthiger Mensch, der immer gleich oben aus ist und der sich einbildet, weil er ein leidliches Crucifix oder einen Gemsjäger schnitzeln kann, wär’ er schon ein Meister, wie weiland Andrea Pisano, der das wunderbare Gnadenbild gemeißelt hat drüben in Ettal! Wer sagt Dir denn, daß ich spotte? Was habe ich denn gesagt, was nicht auch ernsthaft gemeint sein kann? Was habe ich …“

Die rasch auffliegende Röthe des Jünglings war ebenso rasch desto tieferer Blässe gewichen; er war bei Seite getreten und hatte Pinsel und Farbentopf weggestellt. Jetzt trat er mit einer Gebehrde, welche unterwürfig war und doch nicht ohne Selbstgefühl zu sein schien, vor den Eifernden und rief: „Ist das Ihr Ernst, Hochwürden? Bin ich wirklich solch ein hochmüthiger, eingebildeter unnützer Bursch? Ach, es weist ja Niemand besser, als ich selber, daß ich nichts kann und nichts bin als ein elender Stümper!“

Seine Stimme zitterte hörbar; der Greis legte ihm die Hand auf die Schulter, hob ihm mit der andern das Gesicht leicht in die Höhe und blickte ihm väterlich gütig in die Augen. „Nein, Domini,“ sagte er beruhigend, „es ist nicht mein Ernst, und Du bist auch kein so elender Stümper, wie Du Dich selber machst! Wenn auch der Haifisch da ein Paar Augen hat, die selbst für ein Ungeheuer zu ungeheuerlich sind, so bist Du doch kein unnützer Bursch, sondern ein tüchtiger Bildschnitzer, und wenn Du fleißig bist wie bisher, wirst Du es noch weiter bringen und Oberammergau alle Ehre machen!“

„Das möcht’ ich freilich gern!“ rief der Bursche. „Ich will auch fleißig sein … aber ich werd’ es doch zu nichts bringen können! Ja, wenn ich auch so glücklich wäre wie Andere und hätte was lernen können – aber Hochwürden wissen es ja, wie blutarm meine Eltern waren, und wie sie mich nicht studiren lassen konnten. Die einzige Hoffnung für mich war das Kloster in Ettal; da hätten sie mich wohl aufgenommen, ich hätte studiren können, ich wäre nach München und weiß Gott wo sonst noch hingekommen, – da wäre ich ein tüchtiger Student und vielleicht auch ein Geistlicher wie Sie geworden, oder hätte einen tüchtigen rechten Lehrer in der Bildhauerei gefunden … aber das ist Alles vorbei! Vor neun Jahren, wie das Kloster ist aufgehoben worden, war ich noch, ein Bub’, der eben aus der ABCschule kam – das schöne Stift ist leer, die Herren, die meine Lehrer geworden wären, sind hinausgewandert nach allen vier Himmelsgegenden, und wenn Sie, Hochwürden, sich nicht unser Dorf zum Aufenthalt ausgesucht und sich um mich angenommen hätten, so wäre ich aufgewachsen wie der Baum im Wald – ich bin gewiß nicht viel, aber was ich bin, verdank’ ich nur dem guten, lieben Pater Ottmar …“

„Na, na,“ entgegnete dieser abwehrend, „es freut mich, wenn Du dankbar bist! Vielleicht läßt es sich doch noch machen, daß ich Dich nach München unterbringe, damit wir sehen, ob ein Bildhauer in Dir steckt … Es wird doch das Beste sein, denn was Du da vorhin von, Geistlich-Werden gesagt hast, sind doch nur Flausen!“

Der Jüngling sah ihn betroffen an und brachte ein verlegenes Warum? hervor.

„Warum?“ rief der Pater. „Weil Du mir gerade so aussiehst wie Einer, der den rechten Sinn für’s Klosterleben hat! Meinst Du, der alte Pater Ottmar hat die Augen umsonst im Kopfe und sieht nicht, daß die Schutzengel und die Magdalenen und die Muttergottesbilder, die Du schnitzelst, auf einmal alle miteinander dasselbe Gesicht haben? Meinst Du, daß ich nicht gemerkt habe, wem sie gleich sehen alle miteinander?“

Die Befangenheit des Burschen stieg mit jedem Worte, er wußte nicht, was er erwidern sollte; daß aber der kluge Pater recht gesehen, zeigte die Unsicherheit in Blick und Haltung des jungen Mannes.

Ein verworrener Lärm, wie von streitenden Männerstimmen wurde von der Straßenseite hörbar und gab ihm erwünschte Gelegenheit, den bedenklichen Fragen des Paters zu entgehen.

„Was ist das?“ rief er. „Hören Hochwürden das Geschrei? Am Ende giebt’s einen Zank vorn unter den Zimmerleuten! “ Damit wendete er sich und schritt rasch der Richtung zu, von welcher der kann herkam. Der Pater erwiderte nichts; er sah dem Burschen mit leichtem Kopfschütteln und gutmüthig spöttischem Lächeln nach und folgte ihm dann.

Er kam wirklich gerade recht, um Unheil zu verhüten.

An der innern Seite der Kirchhofmauer hatten sich alle Arbeiter versammelt, welche beim Aufbau des Passionsgerüstes beschäftigt waren. Sie waren von ihren Arbeiten weggelaufen und standen nun in einzelnen Gruppen beisammen, laut und heftig redend und mit den Händen agirend. Die Mehrzahl hatte sich an die Mauerbrüstung gedrängt und rief und zankte durcheinander auf die am äußern Fuße der Mauer vorbeiführende Straße hinab. Dort stand ein ländliches und doch städtisch vornehmes Fuhrwerk, mit zwei prächtigen Pferden bespannt und von einer Schaar Zimmerleute umgeben, welche hinabgeeilt waren und drohend und schreiend den Wagen am Weiterfahren hinderten.

In dem Wagen saß ein einzelner Mann, bäurisch gekleidet, aber die Stoffe der Kleider waren für diesen Stand zu fein und das schwere Uhrgehäng, das unter der Sammtweste hervorbaumelte, ließ erkennen, daß der Besitzer reich war und diesen Reichthum zu zeigen liebte. Es war ein großer, breitschultriger Mann mit einem nicht unschönen, aber hart geformten Gesicht, welchem der trotzige Mund und der übermüthige Blick der unruhigen Augen etwas Abstoßendes gaben. Nach dem dichten, etwas struppig aufstehenden und stark mit Grau gemischten Haare schien er schon in der letztern Hälfte des männlichen Alters zu stehen, allein die Art, wie er Zügel und Peitsche in den Händen hielt und wie er auf die ihn umdrängenden Arbeiter herabsah, zeugten von furchtlosem Kraftbewußtsein.

Jetzt hob er die Peitsche, zog die Zügel an, daß die Pferde einen Ruck machten und rief: „Jetzt gebt einmal Ruh’, Ihr Narren! Laßt meine Ross’ frei, oder ich fahr’ Euch nieder!“

Die Peitsche knallte, die Pferde setzten an, aber sie konnten nicht von der Stelle, so schnell und kräftig waren sie am Gebiß und an den Zügeln gepackt und niedergerissen. „Was?“ schrieen die Burschen, „Du willst uns erst schimpfen und noch mit dem Niederfahren drohen? Nun lassen wir Dich erst recht nicht vom Platz, bis Du andere Saiten aufspannst!“

„Reißt ihn herunter!“ rief einer der Zimmerleute von der Mauer herab. „Wenn er uns überfahren will, so reißt ihn zuvor herunter von seinem, Sitz und zeigt dem übermüthigen Holzgrafen, daß wir uns vor ihm so wenig als vor seinen Geldsäcken fürchten!“

Einige Burschen drängten gegen den Wagensitz vor; einige Arme streckten sich aus, um nach dem darauf sitzenden Manne zu greifen; dieser richtete sich nach seiner ganzen Größe auf, um den Angriff abzuwehren, und schnalzte zugleich mit der Zunge, um die Pferde zum Laufe anzutreiben.

Pater Ottmar war auf die Straße herabgeeilt und trat im entscheidenden Augenblick zu den Streitenden. „Gebt mir Ruh’, Ihr Leut’!“ rief er den Arbeitern zu. „Schämt Ihr Euch nicht? Ihr arbeitet an einem so frommen, gottgefälligen Werk und fangt Händel an, als wär’ es das allergeringste Banernwirthshäusel, was Ihr da baut! – Gebt mir Ruh’, sag’ ich, und der Erste, von dem ich noch ein ungutes Wort höre, hat auch den letzten Hobelstoß oder Hammerschlag zum Passion gethan!“

Schon beim Erscheinen des Paters waren die Leute ehrerbietig zurückgetreten; schweigend ließen sie Pferde und Zügel los, und der Wagen hätte ungehindert weiterfahren können, allein sein Besitzer setzte sich mit lautem, verächtlich klingendem Lachen nieder und schien abwarten zu wollen, was weiter geschehen sollte.

„Recht so,“ begann der Pater wieder, indem er mit wohlgefälligem Nicken den bereitwilligen Gehorsam der Umstehenden anerkannte. „Jetzt will ich aber auch wissen, was es gegeben und wer den Streit angefangen hat.“

„Wir sind ganz ruhig bei unsrer Arbeit gewesen,“ sagte einer der Zimmerleute vortretend, „und wie man halt gern zu der Arbeit singt, weil einem dann Alles leichter aus der Hand geht, und weil wir doch Alle beim Volk und beim Einzug Christi in Jerusalem dabei sind, haben wir den neuen Gesang vor uns hingesummt, den der Herr Lehrer Dedler so schön gesetzt hat. Wissen Sie, Hochwürden, den Gesang, der so anfängt „Heil Dir! Heil Dir, Du David’s Sohn!“ und wie wir da so in Gott vergnügt arbeiten und singen, da kommt der Holzgraf daher gefahren, daß man gemeint hat, die Räder müßten weg fliegen …“

„Ich wüßt’ nit,“ unterbrach der Mann aus dem Wagen den [419] Redenden, „daß wir Zwei schon Brüderschaft gemacht haben miteinander … und wenn ich mir auch nichts d’raus mach’, daß die Leut’ mir den Spitznamen aufgebracht haben, so bin ich doch für Dich der Korbinian Loder vom Durnerhof und nit der Holzgraf … verstanden? “

„Fehlt nichts,“ fuhr der Zimmergesell fort … „also sag’ ich, so kommt der Herr Korbinian Loder vom Durnerhof dahergesaust in einem Sturm – wie er aber in die Nähe von der Gottesackermauer gekommen ist, da hat er angehalten und ist auf einmal ganz langsam Schritt gefahren und hat uns zum Trutz ein Schnaderhüpfel gepfiffen in unsern heiligen Gesang …“

„Ich scher’ mich nit um Euren Gesang,“ unterbrach ihn der Durnerbauer wieder, „warum kümmert Ihr Euch um das, was ich pfeif“? Ich hab’ Euch nicht gesagt, daß Ihr still sein sollt mit Eurem langweiligen Geplärr’ – aber Ihr habt auf mich herunter geschrieen und habt mir das Pfeifen verbieten wollen.“

„Das haben wir gethan,“ war die Antwort Mehrerer, welche sich wieder gegen das Fuhrwerk vordrängten, „und wir haben das Recht dazu, denn Ihr habt uns zum Spott gepfiffen, und das leiden wir nicht!“

„Die Straßen ist weit und gehört mein so gut wie Euch; wenn Ihr daraus singen dürft, darf ein Andrer juchzen oder pfeifen – wer kann ihm was einreden?“

„Allerdings Niemand,“ mischte sich jetzt Pater Ottmar in’s Gespräch, „so lange es die Ruhe nicht stört und Niemand ein Aergerniß gegeben wird. Ein frommes Lied ist wie ein Gebet, und unter Christen ist es Brauch, das Gebet eines Andern zu achten und es nicht zu stören – wer das thut, zeigt ein hartes Herz und ein verstocktes Gemüth!“

„Ah was,“ rief der Bauer mit rohem Lachen, „wie’s in mein’ Herz’ und mein’ Gemüth ausschaut, ist meine Sach’ – ich bin fünfzig Jahr alt ’worden und hab’ Niemand ’braucht zum Dareinreden, ich will’s nochmal fünfzig Jahr’ dabei lassen! Aber die Leut’ sagen Ihnen das Rechte gar nit, Hochwürden – sie sind nit wegen dem Bissel Pfeifen so wild auf mich, sondern weil ich ihnen die Wahrheit gesagt hab’ …“

„So?“ fragte der Pater, „die wäre …?“

„Ich habe ihnen gesagt, daß sie Narren sind, und wer die Wahrheit geigt, bekommt den Fidelbogen um’s Maul! Ich hab’ ihnen gesagt, sie sollen sich nit auslachen lassen und mit der Arbeit aufhören, weil sie ja doch umsonst und das Passionsspiel vom König verboten ist …“

„Ein solches Verbot ist allerdings ergangen,“ sagte der Pater, „aber wenn Ihr das wißt, Durnerbauer, dann wißt Ihr gewiß auch, daß das Dorf eine Deputation nach München geschickt hat, die dem König die Sache von der rechten Seite vorstellen und die Zurücknahme des Verbots erwirken soll …“

„Ja, daß sie das wollen, hab’ ich gehört,“ erwiderte der Bauer mit Lachen, „ich komm’ just von München und hab’ die ganze Deputation trübselig beisammen sitzen sehen im Ammerthalerhof – sie haben nichts ausgericht’, das Gespiel ist und bleibt verboten …“

Schweigend und betrübt standen die Leute und blickten auf den Pater, welcher ebenfalls betreten war von der unerwarteten Nachricht. „Wir wollen hoffen, daß es nicht so ist,“ sagte dieser nach secundenlanger Pause. „Noch können wir hoffen und dürfen es, bis uns die Nachricht aus einem anderen Munde zukommt – aus dem Eurigen klingt sie gar zu schadenfroh, als daß wir sie so geradhin glauben sollten. Gute Nacht, Durnerbauer!“

Damit wendete er sich kurz von dem Bauer ab und trat zu den Arbeitern, welche rasch einen Kreis um ihn schlossen und den Störenfried gar nicht mehr beachteten. Aergerlich darüber hieb dieser aus Leibeskräften auf die Pferde ein, fing scharf und gellend das Schnaderhüpfel zu pfeifen an, das vorher der Stein des Anstoßes geworden war, und verschwand in der Straßenbiegung.

„Laßt Euch nicht irre machen, Leuteln,“ sagte, ohne sich daran zu kehren, der Pater zu den Arbeitern, „und laßt Euch die Freude nicht verderben! Wir haben einen gar lieben und herzensguten König, und Herr Georg Lang, der Verleger, und die andern Männer von der Deputation haben Her; und Zunge auf dem rechten Fleck – wird aber unser Gehorsam wirklich auf eine so harte Prob’ gestellt, dann habt Ihr Euch freilich umsonst gefreut und umsonst gearbeitet. Dann müßt Ihr Euch mit mir und dem Lehrer Dedler trösten – dann reißt Ihr Euer Gerüst wieder ein, ich lege meinen Text und der Lehrer seine Musik in das Pult – dann muß der liebe Gott eben so gut sein und muß den Willen für’s Werk nehmen. – Und jetzt gute Nacht miteinander: macht Feierabend und seid wohlgetröst’ … es wird Alles werden, wies recht ist.“

Er ging; die Männer und Bursche zerstreuten sich rasch nach allen Richtungen. Nach einigen Schritten blieb Pater Ottmar stehen und sah sich flüchtig nach Dominik, dem jungen Bildschnitzer um, jedoch vergebens. Dieser hatte schon zu Anfang des Wortwechsels mit dem Holzgrafen sich erst behutsam an die Kirchhofmauer gedrückt und war schon lange durch ein Seitengäßchen davon geeilt.

Inzwischen waren am andern Ende des Dorfs in der Oberstube eines stattlichen Bauernhauses zwei Frauen beisammen gesessen und hatten den Abend ziemlich einförmig und einsylbig verbracht. Die Stube war geräumig, aber nicht hoch, und die auf dem Tische brennende Oellampe vermochte nur schwach deren Wände und die Decke von saubrem braunem Holzgetäfel zu beleuchten. Was sich demungeachtet erkennen ließ, zeigte bäuerliche Wohlhabenheit und Prachtliebe; besonders zierlich waren die gewundenen Säulen der in einer Ecke prangenden Himmelbettstatt. Das Bett war von reiner Weiße, aber es trug die Spuren des Gebrauchs, und aus dem nebenan stehenden Nachttischchen zeigten Arzneigläser und Schalen, daß es die zeitweilige Zuflucht einer Kranken war. Diese hatte sich eben in die Nähe des großen grünen Kachelofens geflüchtet, in welchem, obwohl es draußen mild und angenehm war, ein stattliches Feuer brannte, denn es fror sie fortwährend von innen heraus. Sie hatte ein paar Bettstücke mitgenommen und saß nun halblehnend auf der Ofenbank, in augenblicklich behaglicher Ruhe und mit müden schlummergeschlossenen Augen. Die Kranke war eine Bauersfrau, schlank und abgemagert, bleich und eingebrochen im Gesichte, das nicht unterscheiden ließ, ob diese Züge, welche einst schön gewesen sein konnten, vom Alter oder von der Krankheit so zerstört worden waren oder von Kummer und Gram.

Daß sie einst schön gewesen bewies das Antlitz der andern Bewohnerin des Zimmers, eines Mädchens, das in Gestalt und Zügen das getreue Abbild der Kranken war, wie eben Jugend und Gesundheit das Abbild von Alter und Siechthum zu sein vermögen. Sie war bereits daran, sich zum Schlafengehen vorzubereiten, und hatte die breiten Zöpfe aufgelöst, daß das braune Haar ihr reich und voll über den Nacken bis den halben Rücken hinunter wallte. Dennoch schien sie mit dem Tage noch nicht vollständig abgeschlossen zu haben, denn sie stand in dem dunkelsten Theile des Zimmers am Fenster und sah in die Nacht hinaus. Sie legte die Stirne an die kleinen bleigefaßten Rundscheiben, und schien deren Kühle mit Behagen zu empfinden; nur manchmal hob sie das Köpfchen und sah nach der Kranken hinüber.

Diese bewegte sich jetzt und murmelte etwas Unverständliches mit halbgeöffneten Lippen. Augenblicklich war das Mädchen mit unhörbaren Tritten zu ihr geeilt, ließ sich, da sie die Augen aufschlug, auf ein Knie vor ihr nieder und fragte zärtlich, indem sie beide Hände derselben erfaßte und ihr in’s Gesicht sah: „Wie ist Dir, Mutter? Hat Dir das bissel Schlaf gut gethan?“

„Der Schlaf und die Wärme,“ wisperte die Leidende mit schwacher Stimme … „aber ich bin doch recht elend, Vesi; wenn’s nicht bald warm wird und die Sonn’ mich curirt, dann curirt mich der Doctor von Ammergau so wenig, als es der Bader von Graswang zuwegen gebracht hat … das Frieren von inwendig heraus wird immer ärger …“

„Willst nicht in’s Bett, Mutter? Vielleicht könnt’st Du Dich dort erwärmen …“

Die Kranke machte eine schwache, abwehrende Bewegung. „Nein, hier ist’s besser,“ flüsterte sie; „aber Du leg’ Dich nieder, Vesi … Du brauchst Ruh’ … leg’ Dich nieder, ich ruf’ Dich schon, wenn ich ’was haben will … ich weiß darum doch, daß Du mich gern hast und meine gute Tochter bist …“

Die Ermüdung gewann wieder die Oberhand; die Stimme der Bäuerin sank; ihre Augen schlossen sich wieder, und wie zuvor sank sie an den warmen Ofen und in die Kissen zurück … „Wenn nur der Vater käm’ …“ murmelte sie halblaut im Entschlummern. „Ich hab’ ihm die Post thun lassen, wie Du’s verlangt hast,“ antwortete Vesi mit gedämpfter Stimme … „aber er muß nicht fortgekonnt haben, sonst wär’ er wohl schon da. Heut ist’s aber wohl schon zu spät, heut dürfen wir ihn nicht mehr erwarten …“

Die Kranke hörte das nicht mehr, sie lag im Zustande der Abspannung, und das Mädchen, ihre Hände haltend, blieb noch [420] einige Augenblicke vor ihr knie’n, als wollte sie nicht durch irgend eine rasche Bewegung die kurze Ruhe unterbrechen oder gefährden.

Mit einmal horchte sie hoch auf, und über das schwachbeleuchtete Gesicht flog rasche Röthe. Dann erhob sie sich sachte, liest behutsam die Hände der Mutter auf die Kissen gleiten und schlüpfte lautlos an das Fenster. Der Schlag eines Finken, wie er im Auswärts lockt, war durch die Nacht hörbar geworden – und trotz des tief hereingebrochenen Nachtdunkels liest sich an der Umzäunung des kleinen Vorgärtchens am Hause die Gestalt eines Mannes erkennen, der nach dem dämmernden Fenster empor sah.

Geräuschlos öffnete sich das Fenster; Vesi’s weiße Hand winkte dem Harrenden einen Gruß zu. „Seit wann ist denn das der Brauch,“ flüsterte sie hinunter, „daß die Finken bei der Nacht schlagen?“

„Der Fink singt, wie’s Tag wird,“ flüsterte es entgegen; „das Licht da droben muß ihn verführt haben!“

„Der arme Narr ist wohl blind,“ kicherte das Mädchen, „weil er den Tag und ein Nachtlicht nicht auseinander kennt?“

„Das ist nichts Seltsames bei den Finken,“ antwortete der Bursche, „Du weißt wohl, daß man sie blendet, damit sie nicht mehr wissen, wie sie im Jahr sind, und in einem fort singen …“

„Das hat wenigstens das Gute,“ sagte Vesi, „daß man nicht fürchten muß, daß es einem solchen unter der Hand einfällt, davon zu fliegen und sich ein anderes Quartier zu suchen.“

„Wenn er in dem rechten Quartier ist,“ lautete die Antwort, „so fliegt er nicht fort, und wenn Du ihm alle Thürl’n im Käfig offen stehen läßt …“

„Da müßt’ man sich halt,“ lachte Vesi, „um einen tüchtigen Bildschnitzer umschau’n, der einen recht schönen Käfig zusammenschnitzeln that … kannst Du mir vielleicht einen verrathen?“

„Ich wollt’ wohl,“ entgegnen der Bursche, „aber ich muß Dir vor Allem sagen, wegen was ich heut’ noch so spät hergekommen bin zu Dir …“

Der Bursche wollte eben zu erzählen anfangen, als ein schwerer Stein, mit aller Gewalt geschleudert, neben ihm niederfiel. „Himmelsacrament,“ schrie zugleich eine rauhe, zürnende Stimme, und ein Mann sprang von der nächsten Straßenecke gegen das Haus hinzu. „Wer untersteht sich da, an’s Kammerfenster zu gehen? Wer ist der Kerl, daß ich ihm das Genick brechen kann?“

Es war die Stimme des Holzgrafen. Wie er die Umzäunung und das Haus erreichte, traf er Niemand mehr; der Bursche hatte sich leicht und schnell über die Planke eines benachbarten Gartens geschwungen, und das Fenster schaute so trübselig herunter, als ob es sich nie zu so zärtlichem Geplauder geöffnet hätte.

Der Holzgraf stürmte die Stiege hinan; im nächsten Augenblicke wurde die Thüre der Oberstube aufgestoßen und schlug schmetternd an die Wand, daß die Bäuerin erschreckt und schreiend aus dem Schlummer auffuhr. „Heilige Mutter von Ettal!“ rief sie bebend, „was ist denn passirt…?“ Sie hatte sich aufgerafft und blickte mit geisterhaft aufgerissenen Augen in das zornglühende Angesicht des Bauers. „Du bist’s, Korby?“ stammelte sie dann, „Du kommst noch bei sinkender Nacht? “

Der Bauer erwiderte nicht sogleich; er ließ die rollenden Augen auf der Mutter und auf der Tochter hin und her gleiten, welche weiß wie ein Tuch, aber aufrecht ihm gegenüber stand und ihm fest in die Augen sah. „Ja, ich bin’s!“ schrie er dann. „Habt mich nit mehr erwartet heut? Bin ich Euch über den Hals gekommen wie der Spitzwürfel dem armen Sünder? Ich muß wohl bei sinkender Nacht kommen, damit ich die saubere Aufführung erfahre, die man hier führt!“

Die Bäuerin griff sich wie fragend an die schmerzende Stirn, schüttelte den Kopf und sagte: „Ich versteh’ Dich nit, Korby … was hast Du denn?“

„Wenn Du’s nit weißt,“ polterte der Mann, „dann schau’ die an, die vor Dir da steht wie das böse Gewissen selbst! Ich bin von der Stadt hereingekommen und hab’ gleich wieder eingespannt, wie mir Deine Post ist ausgericht’ worden, und ich bin gerad’ recht gekommen. Ich hab’ die Gäul’ nur schnell beim Wirth drüben eingestellt, und bin herüber zu Dir – wie ich an’s Haus herkomm’, hab’ ich gemeint, der Blitz müßt’ mich in den Erdboden hineinschlagen …“

Die Kranke hatte nicht mehr vermocht, sich aufrecht zu halten, und war wieder auf das Lager am Ofen zurückgesunken. Auch sie starrte jetzt fest und angstvoll auf das noch immer unbeweglich dastehende Mädchen. „Was war’s denn?“ flüsterte sie kaum hörbar.

„Was es war?“ rief der Bauer und seine Stimme milderte sich unwillkürlich … „O Vesi, Vesi – daß Du mir das anthun kannst … daß ich so was an Dir erleben muß, an der Einzigen, die meine Freud’ gewesen ist und meine Hoffnung. Ich hab’ sie am Fenster angetroffen, Weib, und drunten einen Burschen, mit dem sie schön gethan hat …“

Vesi schien jetzt wieder Leben zu bekommen. Sie trat zu der Mutter hin, strich ihr mit der Hand beruhigend über die Stirn und sagte mit zärtlichem Tone: „Mach’ Dir keine Sorg’ um mich, Mutter – es war nichts Unrechtes – es war der Domini – mit dem hab’ ich ein paar Wörteln aus dem Fenster geredt …“

„So? Das ist nichts Unrechtes?“ schrie der Bauer wieder auffahrend. „Und die Mutter findet wohl auch nichts Unrechtes darin, weil sie nichts sagt? Wer ist dann der Domini, mit dem Du so ungenirt bei eitler Nacht zum Fenster hinaus discurirst?“

Vesi ging zu ihrem Vater hin, faßte die eine Hand, die er ihr nicht lassen wollte, dann aber doch wie widerstrebend ließ: der Blick des Mädchens hatte eine eigene Macht über ihn. „Ich will Dir wohl sagen, Vater,“ begann sie, „wer der Domini ist. Ich hätt’ es Dir morgen gesagt, denn heut haben wir Dich nit mehr erwartet; ich hätt’ es Dir schon vor sechs Wochen gesagt, wenn Du zu uns gekommen wärst. Der Domini ist der Bursch, den ich so lieb hab’ wie mein Leben und den ich mir zum Mann ausgesucht hab … Der Bauer, dunkelrothen Zorn im Gesicht, hob die Faust über Vesi zum vernichtenden Schlage – dann schlug er sich selbst damit vor die Stirn und brach, sich in einen Stuhl werfend, in wildes erschreckendes Gelächter aus. „So,“ rief er, „hat sich das Töchterl einen Mann ausgesucht? Und die Mutter hat fein mitgeholfen und gekuppelt? Und der Vater erfährt’s, weil man ihm’s doch nicht mehr verschweigen kann, und soll fein auch geduldig Ja dazu sagen? Na ja – recht gern! Warum denn nicht? Aber zuerst möcht’ ich doch wissen, wer der Schwiegersohn ist, den Ihr mir ausgesucht habt …“

„Das versteht sich, Vater,“ sagte Vesi, so ruhig wie zuvor. „Es ist der bravste Bursch in ganz Oberammergau, der Sohn von dem braven Mann, der im vorigen Jahr im Hochwasser zu Grund gegangen ist, wie er die zwei Kinder aus der Ammer geholt hat, …“

Der Bauer brach wieder in sein wüstes Lachen aus. „Ist das die Möglichkeit?“ schrie er. „Der Tagwerkerbub, der Tafelschmierer, der Bettelmann soll mein Schwiegersohn werden? Thät’s ihm wohl, sich in das reiche warme Nest hineinzusetzen, das ich zusammen getragen hab’? Nein, da habt Ihr Euch verrechnet alle Zwei … die Leut’ heißen mich den Holzgrafen und meinen, sie thun mir einen Spott an damit – aber sie haben Recht, ohne daß sie’s wissen … ich bin so gut ein Graf, wie ein Andrer! Das Geld hab’ ich dazu und den Grafen-Sinn dazu hab’ ich auch, das sollt Ihr erfahren! In mein Haus kommt kein Andrer, meine Tochter kriegt mit meinem Willen kein Andrer – als den ich ausgesucht hab’, und der sich neben den Holzgrafen einstellen kann an Geld und Sinn – dabei bleibt’s, so gewiß als ich Korbinian Loder heiße, und eh’ ich davon abgeh’ und mich abspenstig machen lass’, eher jag’ ich Weib und Tochter aus dem Haus’ – eher will ich meinen Hof um ein Spottgeld verkaufen und den Ammergauern die Freude machen, daß sie den Holzgrafen in Taglohn arbeiten sehn!“

(Fortsetzung folgt.)



Deutsche Bilder.

Nr. 8. Der Salzburger Jammer.


Ueberblicken wir die historische Entwicklung der süddeutschen Zustände, so stoßen wir immer und immer wieder auf eine der traurigsten Erscheinungen. Pfäffische Verdummung des Volkes in Verbindung mit engherziger, egoistischer Politik der Höfe war es, was Jahrhunderte hindurch die biedersten, kernigsten, begabtesten deutschen Völkerstämme verhindert hat, den ihnen zukommenden

[421]

Der Schwur der Salzburger Protestanten in Schwarzach, am 5. August 1731.

[422] hohen Standpunkt in socialer, in religiöser und politischer Hinsicht zu erringen; jene Volks-Verdummung von Seiten eines egoistischen, herrschsüchtigen Klerus, religiöse Intoleranz und Fanatismus im Bunde mit antinationaler, perfider Politik ehrgeiziger und doch so schwacher Regenten und mit der unglückseligen Einmischung außerdeutscher Cabinete in die deutschen Verhältnisse, sie waren es, welche die heillose Verwüstung und Zerrüttung unseres Vaterlandes im siebzehnten Jahrhundert herbeiführten, sie waren es, die noch in der ersten Hälfte des vorigen, des achtzehnten Jahrhunderts in einem der schönsten Länder Süddeutschlands einen Act der Brutalität begingen, welcher in allen übrigen deutschen Gauen, ja auch im Auslande, in der ganzen civilisirten Welt einen Schrei des Entsetzens und das tiefste Mitleid hervorrief.

Ihr alle kennt es, das herrliche Land. Riesige Alpen erheben dort ihr Haupt, mit ewigem Schnee bedeckt, in die Wolken. Sie zeigen alle die großartigen Erscheinungen der Schweizeralpen, die hohen, im Sonnenlicht hell funkelnden und schimmernden Gletscher, die schaurigen, gähnenden Klüfte, die donnernden Schneelawinen; Waldströme brausen schäumend durch Felsen und stürzen sch endlich brüllend in die schwindelnde Tiefe nieder, daß es weithin donnert und das Echo es vielfach wiederhallt. Auf die trefflichen Almen der Berge treibt der Hirt die Heerde, deren harmonischem Geläute der ferne Wanderer mit Vergnügen lauscht. Es weht reine, frische Gebirgsluft. Die Thäler prangen mit üppig grünenden Wiesen und fruchtbarem Getreidelande. Klare Seeen dehnen sich aus, und fröhlicher Gesang schallt von den Kähnen. Wer kennt es nicht, das Land, welchem von Jahr zu Jahr mehr Fremde zum Vergnügen, zur Erholung von abspannenden Berufsgeschäften oder zur Ge­nesung von körperlichen und geistigen Leiden, alle zum frischen, freien, erquickenden Naturgenuß zuströmen, – das von der Natur mit tausend Reizen geschmückte Salzburg? Gegenwärtig zum größern Theile dem österreichischen Staate, zum kleinern dem König­reich Baiern angehörig, bildete es früher ein selbstständiges Erzbisthum und zwar nach dem westphälischen Frieden bis zum Jahre 1802, außer den drei geistlichen Kurfürstenthümern, das einzige Erzbisthum in Deutschland. Dort lebte zu Anfang das vorigen Jahrhunderts ein stilles, biederes, fleißiges Volk. Es bebaute die Felder und arbeitete in den Goldbergwerken, in den reichen Marmorbrüchen und in den weiten Salzwerken, in deren unterirdischen Kammern der Salzstein in so wundersamen Farben spielt. Doch bald genug sollte das größte Elend, das den Menschen überhaupt treffen kann, über diese friedlichen, braven Menschen hereinbrechen. Damals, als der geniale Mann von Wittenberg das Wort ausge­sprochen hatte, welches eine neue Gestaltung der kirchlichen Ver­hältnisse, ja eine ganze Welt von neuen Ideen hervorzurufen bestimmt war, damals war der Ruf von der neuen Lehre auch in die stillen Thäler Salzburgs (in welchen früher schon die Lehren der Hussteu Eingang gefunden hatten) gedrungen und hatte derselben zahlreiche geheime Anhänger gewonnen. Nicht ohne Einfluß war es, daß Luther's Gönner, der treffliche Generalvicar des Augustiner-Ordens, Johann von Staupitz, Hofprediger, dann Abt zu Salzburg wurde und durch ihn Briefe und Bücher des Reformators dahin kamen; bedeutender noch die Einwirkung seines Nachfolgers Paulus Speratus (von Spretten) und anderer lutherisch ge­sinnter Priester, die zum Theil als Märtyrer für ihre Ueberzeugung fielen. Die heimlichen und offenen Verfolgungen, welche die Lutherischen seit dem letzten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts dort zu erdulden hatten, waren nicht im Stande gewesen, den Prote­stantismus zu unterdrücken, im Gegentheil hatte sich derselbe, sogar in der Hauptstadt Salzburg, im Sitze des mächtigen Erzbischofs selbst, immer mehr ausgebreitet. Die Pfaffen ahnten es und san­nen auf Mittel, das Unkraut auszurotten. Sie griffen zu einer Art geistiger Tortur; von jedem Salzburger forderten sie im Jahr 1684 einen Eid, daß er zur alleinseligmachenden katholischen Kirche sich bekenne und die Andersglaubenden verfluche. Tausende schwuren den Eid, aber die Tefferegger, die fast sämmtlich sch der neuen Lehre ergeben hatten, erklärten, daß sie ihn nicht schwören würden, und wurden zum Auswandern gezwungen, wobei sie diejenigen ihrer Kinder, die unter vierzehn Jahren waren, zurücklassen mußten! Jetzt glaubten die Pfaffen das Land von allen Ketzern gereinigt, aber der Funke, den sie für erloschen hielten, glomm im Stillen fort und zündete mehr und mehr. Gleich den ersten, ursprünglichen Anhängern des Christenthums während der Verfolgungen desselben hielten die Protestanten ihre frommen Andachtsübungen in heimlichem Versteck; im finsteren Walde versammelten sie sich Nachts in Höhlen, ließen sich von demjenigen unter ihnen, der noch am besten lesen konnte – denn die Pfaffen hatten das Volk weislich in die­ser Unwissenheit gelassen – aus der heiligen Schrift vorlesen und sangen geistliche Lieder, mit ängstlicher Sorglichkeit verbargen sie dann die Bibel wieder in einen hohlen Baum oder unter die Erde und schlichen in ihre Häuser zurück. Aeußerlich aber bekannten sie sich vorsichtiger Weise noch zur katholischen Kirche, wohnten dem Gottesdienste bei und nahmen das Abendmahl unter Einer Gestalt. So kam es, daß man ihnen, obgleich ihr Treiben allmählich ruchbar geworden, doch lange nachsah und wenigstens nicht Gewaltmaßregeln in Anwendung brachte. Da gelangte im Jahr 1727 der Erzbischof Leopold Anton Elentherius von Firmian zur Regierung, ein Mann, geschickter, eine Messe zu lesen, als Land und Leute zu regieren, ein überdies geldgieriger, vergnügungssüchtiger, dem Trunke ergebener Mann und ein so heftiger Feind der Protestanten, daß er einst die Aeußerung that: „Ich will nun einmal die Ketzer aus meinem Lande haben, sollten auch Dornen und Disteln auf den Aeckern wachsen.“ Meist lebte er auf dem Jagdschloß Cleßheim in vertrautem Umgang mit der Gräfin Arco, bei Jagden, Spielen, Schmaußereien und soll nur selten nüchtern anzutreffen gewesen sein. Diese Sinnesart wußten seine Räthe, vor allem der gewissen­lose Hofkanzler von Räll gar wohl zu nutzen, sie betrogen den leichtgläubigen, schwachen Mann und regierten das Land. Als „Bußprediger“ kamen die schlauen Jesuiten herbei, verfluchten auf den Kanzeln den lutherischen Glauben und führten den von Papst Benedict XIII. gebotenen Gruß ein: „Gelobt sei Jesus Christus!“ Die Protestanten, die es für Sünde hielten, den Namen Christus immer im Munde zu führen, behielten ihren früheren herkömmlichen Gruß bei, und so hatten denn die Pfaffen das gewünschte Mittel gefunden, die Katholischen von den Lutherischen zu unterscheiden, und beobachteten die letzteren genau. Man durchsuchte ihre Woh­nungen, und wehe demjenigen, bei welchem man ein evangelisches Buch fand! Man stieß ihn in dunkle, abscheuliche Gefängnisse und quälte und marterte ihn mit Hunger und Durst. Ein dreiundachtzigjähriger, kranker Greis, bei dem man nichts weiter, als Arndt’s „Paradiesgärtlein“ gefunden hatte, wurde, an den Füßen gefesselt, in einen jener elenden Kerker geworfen und erst, als sein Tod jeden Augenblick zu erwarten war, gegen eine Strafe von 100 Gulden freigelassen. Andere wurden auch mit Stockstreichen gezüchtigt und ihres ganzen Vermögens beraubt. War doch letzteres ein geheimes Hauptmotiv für den geldgierigen Erzbischof und seine Creaturen!

Aber alle diese Mißhandlungen, diese Strafen, welche darauf berechnet waren, die Protestanten mit Gewalt zum Papstthum zurückzuführen, verfehlten ihren Zweck; die Protestanten hielten an ihrem Glauben fest und ließen geduldig jene Martern über sich ergehen. Als jedoch die Bedrückungen ärger und ärger wurden, als unter denen, die man für Ketzer hielt, keine Vermählung mehr stattfinden durfte, als sogar ihre Todten nicht mehr in geweihter Erde begraben werden sollten: da erhoben sich endlich im Jahre 1731 die gemißhandelten Leute, schickten Boten an den Kaiser Karl VI. nach Wien und an das Corpus Evangelicorum nach Regensburg und baten um Gestattung freier Religionsübung oder doch ungehinderter Auswanderung. Die Armen! Als Rebellen wurden ihre Boten in Linz angehalten und in Fesseln dem Erz­bischof zurückgeschickt – was war auch anders von Karl VI. zu erwarten, dem Schwächling an Leib und Seele? – und ehe die schwerfällige, plumpe Maschine des Reichstages in Bewegung zu bringen war, verstrichen Wochen und Monate, und als nun endlich das Corpus Evangelicorum sich aufraffte und mit Vorstellungen an den Kaiser und an den Erzbischof wandte, konnte es weder bei dem Einen noch bei dem Andern etwas ausrichten. Das waren die Zustände im „heiligen römischen Reich deutscher Nation“!

Darauf ließ der Erzbischof durch Beamte nach der Zahl der Evangelischen forschen, und zwanzigtausend bekannten sich öffentlich zu Luther's Lehre. Sie verließen, als man diesen Glauben von den Kanzeln herab mit den ärgsten Verwünschungen verfluchte, die Kirchen und betraten sie, trotz den Drohungen der Obrigkeit, nie wieder. In ihren Häusern hielten sie Andachtsübungen und blieben, obgleich ihnen die Jesuiten mit den grellsten Farben die gräß­lichen weltlichen Strafen, den schrecklichen Zorn des Papstes und das fürchterliche Fegefeuer als gewisse Folgen ihrer Ketzerei vor­stellten, bei ihrem Glauben fest. Da aber alle Verständigen unter [423] ihnen einsahen, daß eine gemeinsame Berathung über ihre gegenwärtige Lage und Zukunft und gemeinsames Handeln nöthig sei, schrieb zu diesem Zwecke eine Gemeinde der andern und lud nach Schwarzach ein, das zum Versammlungsorte gewählt wurde. Am 5. August 1731 kamen dort über hundert erfahrene Männer, die Aeltesten der Gemeinden, zusammen.

Es war eine ernste, feierliche Stunde. Auf einem Tische, der noch heutiges Tages den Reisenden gezeigt wird, stand ein Salzfaß. Sie traten um den Tisch, nahmen etwas vom Salze mit benetztem Finger, verschluckten es und schwuren, eher Leib und Leben zu lassen, als von ihrem Glauben zu weichen. Zugleich verkannten sie nicht, daß ihnen daraus die Nothwendigkeit entstehen könne, Haus und Hof zu verlassen, und sandten daher einige aus ihrer Mitte fort, bei den protestantischen Mächten nachzufragen, wieviel diese wohl von ihnen bei sich aufnehmen möchten. – Da erhoben die Pfaffen über diese Vorgänge wüthendes Geschrei. Aufruhr, Rebellion war es in ihren Augen, und kein Mittel durfte unversucht bleiben, diese Widersetzlichkeit gegen alle geistliche und weltliche Auctorität zu ahnden. Waren nicht die Evangelischen jene „verfluchten Ketzer“, zu deren Bekehrung jedes Mittel, auch das verruchteste, anzuwenden erlaubt war? Sollte man nicht durch Verfolgung jener Ruchlosen, welche dem heiligen Vater ungehorsam zu sein wagten, dereinst die ewige Seligkeit um so gewisser erlangen? Kaiserliche Truppen rückten in Salzburg ein, mit Gräuel begannen, welche den Scheußlichkeiten der bourbonischen Wirthschaft in Neapel nicht nachstehen. Man schlug viele der Evangelischen, selbst ehrwürdige Greise, in schwere Fesseln und warf sie in die häßlichen, feuchten Gefängnisse, aus denen manche nach monatelanger Qual als Krüppel hervorgingen. Die Soldaten hausten in rasendem Fanatismus und viehischer Rohheit auf das Fürchterlichste. Wie beim Plündern einer Stadt zur Zeit der dreißigjährigen Verwüstung Deutschlands hieben sie, schossen und stachen unter die Unglücklichen und raubten manchen die ganze, mit sauerem Schweiß erworbene Habe. Sie brachen Nachts in die Häuser, rissen die Evangelischen aus den Betten und schleppten sie halbnackt mit gefesselten Händen und verbundenen Augen in’s Gefängniß, in welchem sie viele Monate lagen und vor Kälte, Hunger und Durst fast umkamen; – ja ein Mann, welcher nichts verbrochen, als Andere belehrt, ihre Kinder getauft und das Abendmahl unter beiderlei Gestalt ausgetheilt hatte, soll (nach der Versicherung Salzburger Emigranten) lebendig eingemauert worden sein.

Die Soldaten, welche in die Häuser der Evangelischen gelegt worden waren, um die letztern auf alle Weise zu quälen, kämen dieser Instruction getreulich nach und begingen namentlich auch gegen Frauen und Mädchen die gröbsten Brutalitäten. Am Schüppelhofe kroch eine reiche Bäuerin, welche man auch auf diese Weise bekehren wollte, in ihrer Angst in den brennenden Backofen und wurde zwar daraus gerettet, doch nur um in Folge der Brandwunden zwei Tage darauf ihren Geist aufzugeben. Vierleitner, ein Greis, wurde an den Füßen so hart gefesselt, daß der eine ganz unbrauchbar wurde, sein Sohn wurde an ihn geschlossen und so beide in eines der sogenannten Gefängnisse, d. h. in ein feuchtes, ungesundes, finsteres Loch, drei Mann tief unter der Erde geworfen, daß sie nicht neben, sondern über einander liegen mußten. Andere peitschte man mit dicken Ochsenziemern, daß das Blut den Rücken herabströmte, man steckte ihre Hände und Füße in den Stock und fesselte sie mit Ketten so fest, daß sie gekrümmt und gebogen liegen mußten, man ließ sie in Hunger und Gestank fast verschmachten, und wenn sie um Gotteswillen baten, daß man ihnen nur soviel zukommen lassen möge, als man den Hunden zu geben pflege, antwortete man ihnen nur mit Schmähungen. Wozu auch Mitleid? sprach es doch ein Jesuit offen aus, daß alle die lutherischen Ketzer auf den Scheiterhaufen gehörten! –

Indem man Andere auf das Entsetzlichste prügelte, frug man sie zugleich höhnisch, ob die ketzerischen Protestanten, die Brandenburger, die Schweizer, der Schwede, der Engländer, der Däne und die Holländer nicht bald kommen und sie aus ihren Händen erretten würden. Die Beamten suchten die Evangelischen durch Drohungen, die Pfaffen suchten sie durch Ueberredung zu bekehren, man schreckte sie endlich durch seltsame Scheinexecutionen. Dreihundert Personen führte man eines Tages in einen Saal, der mit schwarzem Tuch behangen und dessen Boden mit Blut besprengt war. An einem Tisch befand sich der Scharfrichter mit dem Schwert und nicht weit davon ein katholischer Geistlicher, letzterer drohte ihnen, daß ihnen der Kopf solle abgeschlagen werden, wenn sie sich nicht sofort zum katholischen Glauben wieder bekennen wollten, hier sähen sie das Blut derjenigen, welche sich halsstarrig gezeigt halten; doch konnte er damit von allen dreihundert mehr nicht als – fünf zum Rücktritt bewegen. Man flocht auch ein ausgestopftes Menschenbild auf ein Rad und stellte es auf einem Berg oder einer Höhe so auf, daß evangelische Gefangene es aus ihrem Gefängniß sehen konnten. Dabei gingen die Gefangenwärter hin und wieder und flüsterten sich recht vernehmlich zu: „Ei seht, wie die sich martert, quält und nicht sterben kann, da sie sich doch noch zuvor bekehrt hat! Wie wird es erst diesen gehen, wenn sie daran kommen werden?“ Dann ging auch der Tortengräber sehr früh vor den Gefängnissen hin und her mit Schaufel mit Spaten, ein Stück rohes Fleisch (von geschlachtetem Vieh) auf dem Rücken, und äußerte sich gegen die Wache, als wenn er ihrer schon vorher mehrere begraben, auch noch mehrere würde einscharren müssen.

Man bemühte sich ferner, die Evangelischen von der Auswanderung dadurch abzuhalten, vielmehr zur katholischen Lehre dadurch zurückzuführen, daß man ihnen von ihren Glaubensbrüdern in der Ferne das abscheulichste Bild entwarf. Die Lutheraner, sagte man ihnen, seien Menschenfresser, sie würden vor ihren Thüren liegen müssen wie die Hunde, man würde ihnen die Köpfe abschlagen oder sie sonst auf grausame Art erwürgen. – Besonders war es der König von Preußen, vor welchem man ihnen Furcht einzuflößen suchte; von ihm logen die Einen, er locke sie nur zu ihrem Verderben heraus, verkaufe die Männer für je 200 Gulden und lasse die Weiber ersäufen. Andere, z. B. Geistliche und Beamte zu Hallein mit Glanneg, sagten später zu Evangelischen, die ihren ausgewanderten Brüdern zu folgen entschlossen waren: „sie sollten nur reisen, der Brandenburger habe schon Galgen gebaut, sie daran hängen zu lassen, die Vorigen wären alle schon gehängt.“ Andrerseits suchte man sie durch Versprechungen zu gewinnen; sie sollten künftig weniger Steuern geben und ihre bisherigen Schulten ihnen erlassen sein, ja man wollte ihnen aufzuhelfen suchen, soweit es nur möglich sei, und dafür sollten sie nicht gezwungen sein, die Religion öffentlich abzuschwören, sondern sich nur äußerlich nicht mehr dazu bekennen. Doch Alles umsonst.

Der Commandant der Festung Salzburg ließ einige Maschinen anfertigen und in männliche und weibliche Kleidung stecken. Dann rief er dem Scharfrichter zu: „er solle sich bereit halten, heute einem von den ketzerischen Hunden den Kopf abzuhauen mit ihn hernach zu vertheilen, morgen aber und in den folgenden Tagen würde eine noch schärfere Execution vor sich gehen und an einer großen Anzahl Ketzer vollzogen werten.“ Eine Weile später schrie er aus seinem Fenster so laut, daß die Gefangenen es hören konnten, dem Scharfrichter zu: „Wie ist die Execution abgelaufen?“ und erhielt die Antwort zugerufen: „Ihro Excellenz, alles sehr wohl.“ Dann ließ man die Maschine, nun ohne Kopf und in vier Theile zertheilt, an einem Stricke herunter, und zwar am Gefängnißloche vorbei, daß die Gefangenen es sehen konnten. Einige Zeit darauf stellte sich bei letzteren der Kerkermeister ein, erzählte den evangelischen Arrestanten, was für eine harte Execution geschehen sei, und meldete ihnen im Vertrauen, daß es ihnen nicht besser ergehen würde, wofern sie nicht ungesäumt von ihrem ketzerischen Glauben abständen, denn man hätte sich fest entschlossen, alle, die nicht zur katholischen Kirche zurückkehren wollten, auf gleiche Weise hinzurichten. Andere führte man einzeln auf blutbespritzte Plätze und sagte ihnen, daß dies hier das Blut ihrer Brüder sei, und daß sie dasselbe erfahren würden, wenn sie nicht zur römischen Kirche zurückkehrten. Doch nur Wenige fielen wieder ab, die Allermeisten erklärten mit edler Charakterstärke: wie ihre Mitbrüder gestorben seien, wollten auch sie sterben. Mit unerschütterlichem Muthe erwarteten die Evangelischen ihr Schicksal und wurden durch gewisse einzelne Vorfälle, die vielleicht mehr im frommen Aberglauben des Volkes, als in der Wirklichkeit begründet waren, in ihrer Festigkeit und Zuversicht noch mehr bestärkt. So pflegten die Pfaffen und Soldaten die weggenommenen Bibeln haufenweise zu verbrennen. Eine halbverbrannte Bibel der Art, welche ein Salzburger Emigrant von einem katholischen Bauer um eine Flinte eingetauscht hatte, kam später in den Besitz des Königs von Preußen, der sie zum Andenken in Berlin zurückbehielt.

Nun soll bei einem solchen Bibel-Brande ein Blatt aus dem Feuer geflogen und, wieder in das Feuer geworfen, nochmals unversehrt [424] herausgeflogen sein, bis es endlich zerrissen und mit Füßen getreten worden; auf dem Blatte aber – so erzählten die Auswanderer – hätten die Worte gestanden: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.

Den Vorschlag des Reichstags, eine Vocalcommission nach Salzburg zu schicken, verwarf der Kaiser, dagegen versprach der König von Preußen Friedrich Wilhelm I. den Salzburgischen Protestanten, von ihnen, wenn sie auswandern wollten, einige Tausend in sein Land aufzunehmen. Wie gern wären die Unglücklichen in ihrer Heimath, in ihren lieben Thälern und Bergen und in der gewohnten Häuslichkeit und Lebensweise geblieben, wenn man nur Religionsfreiheit gewährt hätte! aber wo hätte der blinde Fanatismus jemals das Wort, den Begriff Religionsfreiheit gekannt und verstanden? Am letzten October 1731 erließ der Erzbischof an alle Evangelische den Befehl, sein Land zu verlassen, und zwar die ganz Unbemittelten schon binnen acht Tagen, die Angesessenen binnen eines Monats, die mehr Bemittelten binnen zwei und drei Monaten. Wohl war im westphälischen Frieden die Zeit, welche den Emigranten zu gewähren sei, auf drei Jahre bestimmt, der Winter war vor der Thüre, schon herrschte grimmige Kälte, und so meinten die Protestanten, man werde sie doch nicht jetzt fortjagen, sondern wenigstens den Frühling erwarten; aber was kümmerten den Erzbischof und seine Räthe die Reichsgesetze? was der westphälische Religionsfriede, dessen Garantien im Laufe von fast hundert Jahren lange schon in Vergessenheit gerathen waren und von der plumpen, langsamen und mehr und mehr versallenren Reichsverwaltung nimmermehr thätig geschützt wurden? was kümmerte ihn, der in den Armen der Gräfin Arco bei Spiel und Trunk schwelgte, das Elend der Unglücklichen? waren es doch „verfluchte Ketzer“, die jedes Mitleides unwürdig waren! So wurden denn viele Evangelische plötzlich von Dragonern überfallen, vom Felde, aus dem Walde oder wo sie sich sonst befanden, unter Schmähungen fortgejagt und von ihren Weibern gerissen, von ihren Kindern, welche zum Theil nachher den Jesuiten zum Unterricht übergeben wurden. Man hörte nichts, als das Commando-Wort: „fort, fort, fort!“ Niemandem wurde vergönnt, etwas aus seinem Hause zu holen; nur was ein jeder eben am Leibe trug und bei sich hatte, durfte er mit nehmen. Die Männer wußten nicht, wo ihre Weiber geblieben waren, und diese nicht, wo sie jene aufsuchen sollten. So schleppte man sie fort nach Stadt Salzburg, dort sollten sie ihre Pässe empfangen und dann ungesäumt das Land verlassen. Mit Recht rügten daher die evangelischen Reichstags-Abgeordneten zu Regensburg und die dänische Regierung in Schreiben an den Salzburger Erzbischof, wie man „die Familien von einander separirt, die Hausväter und die Hausmütter ihrer nothdürftigen Ehehalten beraubt, schwache und der Eltern Obsicht und Vorsorge noch benöthigte, etwa 12 bis 13jährige Kinder von den Eltern in die weite Welt zum Lande hinausgejagt, andere fast wie das Vieh fortgetrieben, ihnen nicht einmal nach Hause zu gehen und ihre Kleider abzuholen gestattet, sie vielmehr bei der rauhesten, härtesten Winterzeit nackt und bloß aus dem Lande gejagt, den freiwillig zu emigriren Entschlossenen aber die Pässe versperrt und immerfort noch mehre in die härtesten Gefängnisse geworfen habe.“

Aber ebensowenig, wie die Erzählungen der Pfaffen von der Grausamkeit und Unbarmberzigkeit aller Lutheraner, waren jene Qualen und Mißbandlungen und die Beraubungen des größten Theils ihres Vermögens im Stande, die Salzburger in ihrem Glauben, ihrem Muthe wankend zu machen. Standhaft verließen die ersten Züge, Kind und Greis, Mann und Weib, von Weihnachten an das Land. Noch einmal blickten sie nach den lieben heimathlichen Bergen, wo sie ihre Kindheit und Tugend verlebt, wo sie Freud und Leid erfahren hatten, riefen ihnen weinend das letzte Lebewohl zu und wanderten, bei der unerbittlichen Strenge eines harten Winters, hinaus in eine ungewisse, unbekannte Ferne.

(Schluß folgt.)




Aus dem Leben Ludwig Devrient’s.
I.

Was den Leipzigern Auerbachs Keller, das war den Berlinern vor einem Menschenalter die Weinstube von Lutter und Wegner; hatte der größte der deutschen Dichter in jenem eine burschikose Trinkscene spielen lassen, so verbrachte der größte Schauspieler der damaligen Zeit in dieser ein heiteres Zecherleben, welches für viele Jahre zum Mittelpunkte für seine Freunde und zum Anziehungspunkte für alle Neugierigen wurde, die den berühmten Mimen nicht nur „auf den Brätern“, wie der Exintendant von Küstner sagen würde, sondern auch beim Glase Wein kennen lernen wollten.

Ludwig Devrient – denn so heißt jener eminente Schauspieler und Trinker, von dem wir reden – hatte im Jahre 1827 bereits den Gipfel seines Ruhmes erstiegen. Zwar spielte er immer noch meisterhaft, zwar brachte er noch einen der großartigsten Charaktere Shakespeares, Richard III., in vollendeter Zeichnung zur Aufführung; aber seine Kraft war gebrochen, sein Lebensmark zerstört. Die folgenden Zeilen, in denen wir dem Leser eine Episode aus Devrient’s Leben vorführen, sollen dazu dienen, eine Charakterzeichnung vervollständigen zu helfen, welche Ludwig Rellstab und Heinrich Smidt bereits angebahnt haben.




„Und ich sage Ihnen, Herr Kammergerichtsrath,“ sprach Devrient mit lallender Zunge in einem Kreise von Männern, welche sich absichtslos in obengenannter Weinstube zusammengefunden hatten, „der Hoffmann[2] war doch ein tüchtiger Mensch! Freilich hatte er sonderbare Schrullen; aber wie der König von Thule keinen süßeren Trost hatte als seinen Becher, so habe ich keinen treueren Freund und Genossen gehabt als meinen lieben Amadeus.“

„Das mag schon wahr sein,“ erwiderte der Kammergerichtsrath; „aber da ich erst nach seinem Tode hier verkehre, so kenne ich Ihren Amadeus leider nicht von dieser vortheilhaften Seite; als College war er uns stets eine verwunderliche Erscheinung.“

„Ja, ja,“ fügte ein bejahrter Arzt hinzu, der trotz seines schneeweißen Hauptes der größte Spaßvogel war, „Hoffmann war unter den Juristen der größte Musiker und unter den Musikern der größte Jurist, der, wenn er in seine musikalische Begeisterung hineingerieth, dem ruhigen Beobachter fast wie ein Wahnsinniger erschien, dem aller sehnsüchtige Schmerz der Liebe, alles Entzücken süßer Träume durch die Seele wogte.“

„Freund, Ihr habt ihn als Hausarzt erst in seinem letzten Lebensjahre kennen gelernt,“ sagte Devrient. „Mir aber hat er vor Eurer Bekanntschaft mit ihm oft gegenübergesessen, gerade an der Stelle, an welcher Ihr jetzt sitzt, und es ist mir oft unheimlich zu Muthe gewesen, wenn in ihm seine fixe Idee aufstieg, daß der Wahnsinn wie ein nach Beute lechzendes Raubthier auf ihn lauere, um ihn plötzlich zu zerfleischen.“

„Es ist unbegreiflich, daß ein Mann, der sich in Königsberg durch seinen gesunden Humor einen Namen gemacht hatte, zu solchem Spleen kommen konnte,“ versetzte der Rath.

„Der rechte Humor fehlte ihm stets, so lange ich ihn kannte,“ bemerkte Devrient; „er nannte denselben auch nie anders als einen Wechselbalg grillenhafter Phantasie.“

„Die Tonkunst dagegen,“ sagte der Arzt, „war ihm ein Engel des Nichts, welcher allein über den bösen Dämon in seiner Brust Gewalt habe, und welcher ihn in seiner Hauskreuzkomödie, die er als Junggesell allein zu spielen hatte, alle Schmerzen irdischer Bedrängniß vergessen mache. Seine Nerven waren oft in einer fürchterlichen Aufregung; er sah Gespenster am hellen Tage, und wenn er um Mitternacht allein nach Haus gehen mußte, hatte er stets Furcht vor Doppelgängern und allerlei bedrohlichem Zeuge, das ihm in den Weg kommen könne. A propos, Devrient, erzählt uns noch einmal die Schnurre, wie Ihr einmal seinen leibhaftigen Doppelgänger gemacht habt; Ihr seid uns schon lange die Erzählung schuldig.“

Devrient blickte im Kreise umher, und da er nur alte bekannte Gesichter sah, fand sein Zartgefühl kein Bedenken, die verlangte Geschichte vorzutragen.

[425] „Daß Hoffmann,“ hub er an, „ab und zu an Liebesparoxysmen gelitten hat, wird Allen bekannt sein; weniger bekannt möchte es sein, daß er in dieser Hinsicht allen Warnungen seiner Freunde zum Trotz in einer Weise ausschweifte, welche mehr noch als alle am Arbeitstische und am Piano, so wie hier in dieser Weinkneipe durchwachten Nächte seine Gesundheit untergrub; wenigstens weiß ich aus Erfahrung, daß die Fieberträume seines kranken Gehirns zu solcher Zeit immer am tollsten waren. Auch im Sommer des Jahres 1820, zwei Jahre vor seinem Tode, hatte er wieder einen solchen Raptus. Es war ein schöner Sommertag. Die Probe war beendet, und ich stand eben im Begriff, Rebenstein nach Haus zu bringen –“

„Ist das auch die richtige Lebensart, Devrient?“ sprach lachend Wegner, der Mitinhaber der Weinstube und ein flotter Trinker.

„Du meinst, Rebenstein habe mich hierherbegleitet? Das bestreite ich, denn Rebenstein trinkt nur im Stillen. He, Louis, habe ich Recht?“

Louis, der Oberkellner, stand bei Devrient in besonderer Gunst, denn er kannte des großen Mimen Zunge auf’s Haar und brachte den Rothwein nie zu warm, den Sect nie zu kalt auf den Tisch; darum genoß er auch das Vorrecht, in nächster Nähe Devrient’s verweilen zu dürfen, ein Vorrecht, das er nie mißbrauchte.

„Es ist so, wie Sie sagen, Herr Devrient,“ sprach Louis. „Früh am Morgen, wenn ich das Fenster meiner Dachkammer öffne, schaut Herr Rebenstein schon von drüben herüber und winkt mir, ihm ein Quart als Morgentrunk hinüberzubringen.“

Alle lachten. Devrient aber fuhr fort:

„Eben, als wir uns von Lemm getrennt hatten, tritt eine Jungfer zu mir heran und fragt mich, ob ich Herr Devrient sei.

„Der bin ich,“ lautete meine Antwort; „was steht dem hübschen Kinde zu Diensten?“

„Ich soll eine schöne Empfehlung von meiner Madam bestellen,“ spricht sie und macht einen Knix, „und Herr Devrient möchte doch die Güte haben, sie zu besuchen, aber gleich auf der Stelle.“

Während mich Rebenstein ganz verwundert ansieht, frage ich ebenso verwundert: „Ja, liebes Kind, wenn ich nur wüßte, wie Deine Madam heißt?“

„Habe ich Ihnen das noch nicht gesagt? Es ist Frau von –“

In diesem Augenblicke wurde die Thür der Weinstube heftig aufgerissen, und der Theaterdiener Zäger stürmte mit den Worten herein:

„Aber, bester Herr Devrient, es ist sechs Uhr; Sie sollen uftreten un lassen sich nich sehen! Logen un Parquet, allens in Aufruhr; im Parterre trommeln de Beene un uf de Gallerie pfeift allens nach Noten!“

Devrient, dem ein solches Vergessen schon öfters begegnet war, sah nach der Uhr und versetzte harmlos: „Wahrhaftig, fünf Minuten über sechs Uhr. Es ist hohe Zeit, Zäger! Auf Wiedersehen, meine Herren, nach dem Theater!“

Bei diesen Worten erhob er sich schwerfällig vom Stuhle; er konnte ohne Hülfe nicht stehen und gehen. Zäger aber wußte Bescheid; er stülpte ihm den Hut auf, faßte ihn kräftig unter den Arm und schleppte ihn mehr, als er ging, nach dem Theater.

Kaum war Devrient aus der Thür, so sprach der Kammergerichtsrath: „Den Spaß, meine Herren, müssen wir mit ansehen! Ich bin neugierig, wie sich Devrient herausbeißen wird.“

Damit eilte die Gesellschaft nach dem Theater, dessen letzte Plätze sie erhielt. Man gab Shakespeares Richard III. Eben waren jene eingetreten, als der Vorhang in die Höhe ging und Devrient aus den Coulissen auf das Theater schwankte. Noch war seine Zunge keines Wortes mächtig, noch vernahm sein bereits geschwächtes Gehör kein Wort des sich umsonst abmühenden Souffleurs; aber mit wunderbarer Gabe beherrschte er seinen Körper, und die Zuschauer studirten den tückischen Charakter Gloster’s aus dem Mienenspiel Devrient’s, an dem jeder Zoll ein Richard war. Jetzt dämmerte es in seinem Gedächtnisse und mit heiserer Stimme declamirte er die ersten Verse. Das Publicum lauschte. Mit jedem Worte kräftigte sich die Stimme des Schauspielers, bis ihm plötzlich wie mit Blitzesschnelle die Geister des Weines aus der Brust entflohen. Als er die Worte:

Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht,
Noch um zu buhlen mit verliebten Spiegeln;
Ich, roh geprägt, entblößt von Liebes-Majestät
Vor leicht sich dreh’nden Nymphen mich zu brüsten;
Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt,
Von der Natur um Bildung falsch betrogen,
Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt
In diese Welt des Athmens, halb kaum fertig
Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
Daß Hunde bellen, hink’ ich wo vorbei;
Ich nun, in dieser schlaffen Friedenszeit,
Weiß keine Lust die Zeit mir zu vertreiben.
Als meinen Schatten in der Sonne spähn
Und meine eig’ne Mißgestalt erörtern;
Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter
Kann kürzen diese fein beredten Tage,
Bin ich gewillt ein Bösewicht zu werden –

mit unnachahmlicher Bosheit vortrug, hätte man in der herrschenden Todtenstille ein Blatt fallen hören können. Von Scene zu Scene, von Act zu Act stieg der Beifall, bis die letzten Worte des fluchbeladnen Königs:

Ein Pferd! ein Pferd! mein Königreich für’n Pferd!

mark- und beinerschütternd in die Ohren schlugen.

Noch tobte der Beifallssturm, noch rief die Bewunderung Aller Devrient heraus, als schon die Lutterschen Gäste das Theater verlassen hatten, um in der Weinstube, als wäre nichts vorgefallen, die alten Plätze wieder einzunehmen. Bald nachher trat Devrient in großer Aufregung ein; doch erst gegen Mitternacht konnte er zur Fortsetzung der unterbrochenen Erzählung bewogen werden.

„Die Dame,“ fuhr Devrient fort, „welche mich zu sich hatte bescheiden lassen, war Frau von Z., sie war jung, schön, lebhaften Temperaments, eine große Musikliebhaberin und seit Kurzem an einen Hauptmann im … Regiment verheirathet. Hoffmann hatte sie auf einer musikalischen Soirée beim Grafen R. kennen gelernt und sich sterblich in sie verliebt; doch hatte er sich diesmal gewaltig verrechnet, denn das Wort, welches er im Munde zu führen pflegte: „Liebe schwärmt auf allen Wegen“ hatte wohl in Bezug auf ihn selber seine Richtigkeit; aber der Gegenstrophe: „Liebe kommt uns rasch entgegen“ fehlte von Seiten der Frau von Z. alle und jede Wahrheit. Die Dame befand sich in der peinlichsten Lage; ihr Mann, auf einige Zeit nach Breslau commandirt, stand mit Hoffmann in freundschaftlichem Verhältnisse. Sie kannte das exaltirte Wesen des Dichters der „Phantasiestücke“ und wollte ihn nicht ohne Noth bloßstellen. In ihrer Rathlosigkeit und Verzweiflung hatte sie den Beschluß gefaßt, sich an Hoffmann’s Freunde zu wenden, und da weder Fouqué, noch Hitzig, noch Chamisso in Berlin anwesend waren, so hatte sie mich zum Retter in der Noth ausersehen. Aber was zu thun? Guter Rath war theuer. Wir sannen hin und her, fanden aber keinen Ausweg in diesem Labyrinthe. Endlich empfahl ich mich der Dame mit der Bitte, mich sofort zu benachrichtigen, wenn Hoffmann bei ihr zum Besuche erscheinen würde. Mir war bereits ein Plan durch den Kopf gegangen, welchen ich nur der Dame vorher nicht hatte verrathen wollen, um jede Plauderei und jedes Mißlingen unmöglich zu machen. Ich beschloß nämlich, die Furcht Hoffmann’s vor einem Doppelgänger zu benutzen und ihn durch sein zweites Ich von einem erzdummen Streiche abzuhalten. Die Maske war die einzige Schwierigkeit, welche ich zu überwinden hatte, denn Stimme, Gang, Gebehrden etc. brauchte ich nicht erst zu studiren. Hier in dieser Stube überdahkte ich den Plan genau und war kaum damit zu Ende gekommen, als Hoffmann eintrat. Wir blieben kaum ein halbes Stündchen zusammen und plauderten; er hatte keine Ruhe.

„Sehen wir uns heute Abend?“ fragte ich ihn, als er fortstürmen wollte. „Du weißt, es ist heute der 19. Juli, der Sterbetag der Königin Louise, und darum kein Theater. Das ganze Theaterpersonal macht Landpartieen; wie wär’s, wenn wir hier einen lustigen Abend verlebten! Wir könnten nichts Besseres thun!“

„Altes Weinfaß,“ fuhr er mich an. „Du hast den versoffenen Falstaff so oft gespielt, daß Dir seine Schlemmernatur ganz und gar zu eigen geworden ist. Kennst Du denn nichts Höheres mehr als das Trinken?“

„Hat Dich einmal wieder Gott Amor mit nie fehlendem Pfeile verletzt?“ fragte ich lachend.

„Ludwig! Ludwig!“ antwortete er pathetisch. „Ich glaube, keine sterbliche Frau kann sich rühmen, Dein Herz je gerührt zu haben; nur den Himmlischen, den Musen opferst Du Weihrauch.“

„Doch, doch, Amadeus! Eine habe ich geliebt mit aller Gluth jugendlicher Leidenschaft.“

[426] „Und diese Eine?“

„Hat mich verrathen und betrogen!“

„Schändlich! teuflisch! Und dennoch bist Du ein Thor, wenn Du darum der holden Minne gänzlich entsagt hast!“

„Nicht doch, Amadeus! Du weißt, Dortchen Lakenreißer ist mir an’s Herz gewachsen!“

„Pfui, Ludwig! Wie kannst Du das heiligste Gefühl in der Menschenbrust so verspotten!“

„Still, Du girrender, liebeskranker Schäfer; ich könnte Dir Namen nennen, die Dich erblassen machen würden! Also Du kommst heut Abend nicht?“

„Nein, nicht zu Dir! Aber zu ihr werde ich eilen, zu der göttlichen Frau, die mich in ihren wunderbaren Kreis gebannt hat, deren Athem mich wie Wohlgeruch aus tausend Blumenkelchen anweht, deren Stimme himmlische Sphärenmusik, deren Gang schwebender Götterschritt ist.“

Damit stürzte er hinaus; ich folgte ihm unbemerkt. Als ich ihn über den Gensd’armenmarkt eilen sah und ihn bald darauf, wilde Phantasiestücke auf dem Flügel spielen hörte, war ich für den Augenblick beruhigt und kehrte zurück. Der Tag neigte sich zu Ende; die Sonne färbte die Kuppeln der Gensd’armenthürme mit ihrem scheidenden Strahle. Ich begab mich in meiner Verkleidung zu Frau von Z., welche eins der schönsten Quartiere im Reimerschen Hause in der Wilhelmsstraße bewohnte.

„Ist Frau von Z. zu Hause?“ fragte ich den Portier.

„Ja wohl, Herr Kammergerichtsrath!“ lautete die Antwort. „Bemühen Sie sich gefälligst in den Garten.“

Ganz schlecht ist Deine Verkleidung also nicht, wenigstens den Alten hast Du getäuscht! sprach ich zu mir und trat in den Garten. Ich fand die Dame auf einer Bank sitzen, sie war in tiefen Gedanken; eine feierliche Stille herrschte unter den hohen Bäumen, deren Wipfel noch im Abendroth glühten, während der Mond schon die Schatten der schlanken Stämme auf den Rasen warf. Als ich mich näherte, weckte der verrätherische Kies die Dame aus ihren Gedanken.

„Verzeihung, tausendmal Verzeihung, gnädige Frau, wenn ich Sie in dieser süßen, trauten Stille störe! Hier, dies ungestüm pochende Herz treibt mich rastlos umher, treibt mich gegen Ihren Willen hierher; es sucht Sie und nur Sie, wär’s auch nur, um Ihnen guten Abend zu sagen und um Ihren holden Augen süßen Schlummer für die herrliche, duftige Sommernacht zu wünschen!“

„Ich danke Ihnen, Herr Kammergerichtsrath! Mein Herz nimmt nicht so hohen Flug; es acceptirt Ihre Wünsche bestens und erwidert sie höchst prosaisch mit „angenehme Ruh’, mein Herr!““

„O wie hart, wie grausam klingt dieser Wunsch aus Ihrem Munde! Meine Augen schließen sich, seit sie die Perle der Frauen Berlins gesehen haben, nicht mehr zu erquickendem Schlummer. Gestatten Sie mir, gnädige Frau, wenigstens während einer flüchtigen Abendstunde mein Elend zu vergessen.“

„Wenn Sie mir versprechen, kein Wort mehr von Liebesschmerzen und schmachtendem Herzen, von strahlender Sonne und himmlischer Wonne in den Mund zu nehmen, will ich Ihnen die Erlaubniß geben, eine Tasse Thee bei mir einzunehmen.“

„Ich verspreche Alles, süßeste der Frauen! O, Ihre Nähe macht ja schon glücklich.“

„Sie sündigen gegen Ihr Versprechen, indem Sie es ablegen,“ sprach lächelnd Frau von Z. Dann fuhr sie fort: „Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Herr Rath; ich habe vergessen, dem Diener einen nöthigen Befehl zu geben.“

„Verzeihen Sie, gnädige Frau, wenn ich so unbescheiden bin zu fragen, zu wem Sie den Diener schicken wollen. Ich vermuthe, Sie wollen ihn zu mir schicken, und möchte Ihnen gern den Weg ersparen.“

Bei diesen Worten nahm ich die Perrücke ab. Frau v. Z., vor Erstaunen außer sich, rief aus: „Wie? täuschen mich meine Augen? Sie sind nicht der Kammergerichtsrath, sondern Herr Devrient?“

„Habe ich meine Rolle gut gespielt, gnädige Frau?“

„Ausgezeichnet! Aber Sie haben mich entsetzlich geängstigt! So toll hat’s ja der Kammergerichtsrath kaum gemacht!“

„Sie werden mich entschuldigen, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie nur auf diese Weise von der Ihnen lästigen Zudringlichkeit meines Freundes befreien kann; denn ein Dämon kann nur durch den anderen ausgetrieben werden.“

„Herrlich,“ sagte Frau von Z., „das wird einen königlichen Spaß geben! Aber werden Sie dem armen Kammergerichtsrath nicht einen Todesschrecken einjagen?“

„Der Schreck wird ihn hoffentlich curiren. Wenn Sie jedoch meinen, daß ich dem armen Kammergerichtsrath zu hart mitspiele, so haben Sie nur zu befehlen, und ich gehe.“

„Bitte, bitte, Herr Devrient; bleiben Sie! Ich weiß keinen anderen Weg, um aus der peinlichen Situation zu kommen.“

In diesem Augenblicke war der wirkliche Hoffmann heftig und verstört über das Quarré des Hofes geeilt und die Treppe hinaufgestolpert; wir hörten ihn den Portier fragen: „Ist Frau von Z. zu Hause?“

„Na nu,“ antwortete dieser verwundert, „habe ich Ihnen, Herr Kammergerichtsrath, denn nicht bereits vor einer Viertelstunde gesagt, daß die gnädige Frau im Garten sei?“

„Er ist ein Narr!“ Mit diesen Worten fuhr Hoffmann auf den alten Mann los und stürmte an ihm vorüber in den Garten.

Ich hatte mich verabredeter Maßen etwas zurückgezogen, um Hoffmann, dessen Aufmerksamkeit durch jene unvorsichtige Aeußerung des Portiers möglicher Weise geweckt sein konnte, jeden Argwohn zu benehmen. Dies gelang. Frau von Z. ließ ihn gewähren, und Hoffmann entfaltete vor ihr den bunten, prahlenden Pfauenschweif seiner Galanterie. Seine Exaltation stieg mit jeder Minute; eben war er im Begriff, sich seiner Angebeteten zu Füßen zu werfen, als ich hinter einem Baume hervortrat. Das Geräusch meiner Schritte hatte ihn gestört. Ich hatte Sorge getragen, daß das volle Licht des Mondes mich beleuchtete, sodaß Hoffmann, als er mich erblickte, wie angewurzelt stehen blieb.

„Was ist das?“ fragte er entsetzt, und die Haare stiegen ihm zu Berge. „Bist Du ein Teufelsspuk, der mich necken will?“ rief er mit stammelnder Zunge mir zu.

„Mit wem reden Sie, Herr Kammergerichtsrath?“ fragte Frau von Z., indem sie sich gleichgültig nach allen Seiten umsah.

„O gnädigste Frau, sehen Sie denn nicht dort den Doppelgänger meines eignen Ich’s?“

„Sie scherzen, Verehrtester! Ich sehe nichts als den Mondschein auf dem Rasen.“

„Ich beschwöre Sie, sehen Sie noch einmal und genau hin! Sehen Sie nicht das Phantom dort, wie es jede meiner Bewegungen nachmacht?“

„Herr Rath, Sie treiben den Scherz zu weit!“

„Gnädige Frau, ich scherze nicht in dieser Stunde und vielleicht niemals mehr; es ist fürchterlicher Ernst.“

„Nein, das ertrage ich nicht länger, Herr Kammergerichtsrath! Erst langweilen Sie mich mit tollen Liebeserklärungen, die, wenn mein Gemahl sie gehört hätte, eine schreckliche Scene hervorrufen würden; und nun quälen Sie mich gar mit noch tolleren Phantasien.“

„Gnädige Frau,“ sprach bleich und bebend Hoffmann, „ich werde Sie nie wieder mit tollen Liebeserklärungen heimsuchen, nur bannen Sie das Gespenst dort, über das Sie allein Gewalt haben können, bannen Sie meinen Doppelgänger in ewige Nacht zurück. Träfe ich ihn noch einmal, so wär’s mein Tod!“

Damit stürzte er in wilder Eile aus dem Garten; oben auf der Terrasse blickte er sich scheu um, ob ihm sein Doppelgänger nicht nachfolge. Keines Wortes mächtig ließ er den Portier, welcher ihn erwartete und fragte, ob er Frau von Z. gesprochen habe, verblüfft über die eilige Flucht stehen, und erreichte athemlos und verstört seine Wohnung. Erst nach einigen Tagen sah ich ihn wieder. Niemals hat er von diesem Abenteuer gesprochen; niemals ist er wieder Frau von Z. lästig gefallen.“

„Die Geschichte ist erst nach seinem Tode ruchbar geworden,“ sagte der Arzt, „und zwar durch Frau von Z.“

„Sie hatte mir das feste Versprechen gegeben,“ fügte Devrient hinzu, „bei Lebzeiten Hoffmann’s das tiefste Schweigen über den Vorfall zu beobachten.“

„Sie hat Wort gehalten! Aber wie gelang es Ihnen, den Portier zu täuschen?“ fragte der Arzt.

„Frau von Z. gab dem alten Manne einen Auftrag, der ihn auf einige Augenblicke aus seiner Loge entfernte. Diesen Moment benutzte ich, um mich unbemerkt zu entfernen.“

„Und damit genug für heute!“ sagte der Kammergerichtsrath.

Die Gesellschaft brach auf; Devrient wurde nach Haus gebracht. [427] Unter den lebhaftesten Vorwürfen seiner zweiten Frau, denen er eine stoische Ruhe entgegensetzte, ging er zu Bett, betete sein Vaterunser, wie er es seit seinen Kinderjahren gewohnt war, und schlief ein.

II.

Am andern Morgen – die Weinstube von Lutter und Wegner war eben gereinigt und gelüftet – fand in derselben eine ernste Berathung zwischen den Besitzern derselben statt.

„Du magst sagen, was Du willst,“ sprach Lutter, „wir können es nicht länger so mit ansehen; wir müssen Devrient an seine Schuld mahnen.“

„Aber, Bester,“ lautete die Antwort, „habe doch Geduld. Ist denn nicht erst im October vorigen Jahres durch die Gnade des Königs Alles bezahlt worden?“

„Gott segne Se. Majestät dafür!“ sagte Lutter, „aber das geschieht nicht alle Tage.“

„Herzensfreund, machen wir denn nicht ein ganz gutes Geschäft, auch wenn Devrient gar nichts bezahlt?“ fragte Wegner seinen Compagnon. „Ist er’s nicht, der Abends unsre Weinstube füllt?“

„Man hört es Deinen Worten an, daß Du selbst ein arger Trinker bist, der sich den Kuckuk um das Gedeihen der Wirthschaft kümmert. Denk’ nur an Hamburg und an das schöne Geld, welches Du von dort mitbringen solltest, als Devrient Gastrolle auf Gastrolle vor stets überfülltem Hause gab! Was war das Ende vom Liede? Statt Geld zu erhalten, mußte ich, nachdem Ihr etliche tausend Mark losgeschlagen hattet, noch zweihundert Thaler nachschicken, um Euch auszulösen!“

„Ja, ja,“ lachte Wegner, „wir haben ein fideles Leben am Alsterbassin geführt, und die Hamburger haben noch lange von uns zu erzählen gewußt! Und doch sind wir nicht bankerott geworden! Wie viel beträgt denn gegenwärtig der Bettel?“

„Da haben wir’s! Vierzehnhundert Thaler nennt mein liebenswürdiger Socius einen Bettel!“

„Wahrhaftig, schon wieder 1400 Thaler? Bruderherz, das kann Devrient von seiner knappen Gage nicht zahlen!“

„Knappe Gage? erhält er nicht jährlich 2800 Thaler?“

„Ein Lumpengeld für solchen Mann! Ein Minister für 10,000 Thaler findet sich alle Tage; aber sie werden lange suchen müssen, ehe sie einen Ludwig Devrient wieder finden! Sei gescheidt, Lutter, und nimm meinen Vorschlag an: machen wir einen großen Strich durch Devrient’s Rechnung.“

„Ein köstlicher Vorschlag das!“ eiferte Lutter, „da möchte man ja gleich aus der Haut fahren.“

In dieser Weise wurde das Gespräch fortgeführt, bis endlich, wie sehr sich auch Lutter’s vertrocknete Geschäftsseele dagegen sträubte, nach langer Debatte festgesetzt wurde, von Devrient’s Rechnung die Hälfte der Summe, im Betrage von 700 Thalern, zu streichen.

Unmittelbar nachher schickte Lutter den Oberkellner zu Devrient, um ihm obigen Entschluß mitzutheilen, und ihn an die Zahlung der noch bleibenden 700 Thaler zu erinnern. Louis richtete seinen Auftrag in schonender Weise aus. Devrient hörte ihn schweigend an, schnitt, nachdem jener aufgehört hatte, ein höchst ergötzliches Gesicht und sagte endlich mit seinem unverwüstlichem Humor: „So? Dein Herr, der Pfennigfuchser, hat die außerordentliche Gnade gehabt, die Hälfte der Weinschuld zu streichen? Das ist Wegner’s Geschoß! Nun, ich nehm’s dankbar von Freundeshand an. Aber jetzt, Louis, gieb Acht und melde Deinem Herrn Lutter, daß, wenn er die eine Hälfte gestrichen hat, ich hiermit die andere streiche.“

Damit riß er die Rechnung mitten durch, stand auf, holte aus der Ofenröhre, denn diese vertrat Devrient’s Geldspinde, ein gutes Trinkgeld, drückte es dem ganz verdutzten Kellner in die Hand und sprach: „So, nun geh’, Louis, empfiehl mich Deinem Herrn. Ich werde gleich nachkommen.“

Wer Devrient wenige Minuten nachher in die Weinstube hätte eintreten sehen, würde in der gebrechlichen Gestalt, zu welcher er in der frühen Morgenstunde zusammengeschrumpft war, nimmermehr den lebenslustigen, liebenswürdigen Zechgenossen vom gestrigen Abend erkannt haben.

„Louis, einen Gift!“ rief Devrient.

Unter diesem Namen pflegte er einen überaus starken Liqueur zu fordern, um seine ermatteten Lebensgeister anzuregen. Mit zitternden Händen griff er nach dem Glase und stürzte dessen Inhalt mit einem Male hinunter: dann schüttelte er sich und rief:

„Louis, einen Lafitte!“

Mit jedem Glase, das er von diesem edlen Gewächs hinunterstürzte, streckte sich die wie zu einem Fiedelbogen zusammengezogene Gestalt des großen Histrionen, bis er bei der zweiten Flasche völlig aufthaute. Nun kam Leben in die frostige Gestalt; hoch aufgerichtet saß er da; aus seinen Augen leuchtete jugendliches Feuer, auf seinen Mienen lag unendliches Wohlbehagen, und er war wieder der alte liebenswürdige, von Witz und Heiterkeit sprudelnde, von Allen verehrte, von Niemand beneidete oder gehaßte Künstler.

Noch war Niemand außer ihm in der Weinstube, in welche die Morgensonne durch die Jalousien neugierig hineinlugte. Nach etwa einer Stunde trat ein zweiter Gast ein, dem man an seinem ganzen Habitus den heruntergekommenen Schauspieler ansah. An der übergroßen Höflichkeit, mit welcher er bei Louis nach Herrn Devrient fragte, erkannte des Kellners geübtes Auge einen Hülfesuchenden; er hatte nicht übel Lust, ihn abzuweisen, doch wagte er es nicht, da Devrient schon aufmerksam geworden war.

„Dieser Herr wünscht Sie zu sprechen!“ Mit diesen Worten führte Louis den Fremden zu Devrient.

Ohne nach dem Namen des Angekommenen zu fragen, bat Devrient den Fremden, Platz zu nehmen, und bald saßen Beide in tiefem Gespräche beisammen. Der Fremde zeigte sich als wohlunterrichtet. Der dritten Flasche folgte die vierte, aber während jener, ein ächter Dionysosjünger, in langen Zügen schlürfte, nippte dieser nur von dem Rothwein; es saß ihm etwas auf dem Herzen, was nicht recht herunter wollte. Endlich faßte er Muth und sagte:

„Herr Devrient, ich habe gehört, daß Sie vielfach von unseren Kunstgenossen in Anspruch genommen werden; verzeihen Sie deshalb, wenn schon wieder ein Unglücklicher es wagt, Sie um eine Unterstützung zu bitten.“

„Herr College,“ antwortete Devrient, „kommen Sie endlich mit der Sprache heraus! Ich mag das lange Drucksen nicht leiden! Was ist’s mit Ihnen?“

„Ach, es ist eine klägliche Geschichte,“ lautete die Antwort. „Vor vierzehn Tagen habe ich ein ganz gutes Engagement in Posen erhalten.“

„Nun, und das nennen Sie kläglich?“

„Ich habe mich wohl in meiner Befangenheit undeutlich ausgedrückt. Ich wollte sagen, daß ich in einer gar traurigen Lage bin, weil ich nicht nach Posen kommen kann.“

„Was hindert Sie an der Reise?“

„Meine Geldmittel sind mir ausgegangen. Als ich vor mehr denn acht Tagen hier ankam, wurde mir das eine meiner Kinder so schwer krank, daß ich im Gasthofe liegen bleiben mußte. Arzt, Apotheke und Hotelrechnung haben jetzt meine letzte Baarschaft aufgezehrt; seit gestern habe ich und meine Familie nichts genossen.“

„Louis, ein Beefsteak für den Herrn!“ rief Devrient. „Soweit,“ setzte er hinzu, „reicht mein Credit schon noch, um Sie satt zu machen; aber damit ist’s auch zu Ende, Herr College!“

„O sagen Sie das nicht, bester Herr! denn auf Sie habe ich meine letzte Hoffnung gesetzt. Ich beschwöre Sie im Namen der Kunst, der Sie huldigen, im Namen alles Heiligen, für das Ihr edles Herz schlägt, mir zu helfen!“

„Herr College! Wenn ich in der That Ihre letzte Hoffnung bin, so sieht es schlimm mit Ihnen aus. Meine Gage reicht selten über die erste Hälfte des Monats hinaus, und heute ist, wie Sie wissen werden, bereits der 24. April.“

„Sie haben Credit, Herr Devrient! Der größte Schauspieler Deutschlands wird doch in seiner Vaterstadt 20 oder 30 Thaler auftreiben können, um eine unglückliche Familie zu retten!“

(Schluß folgt.)



[428]

Spaziergänge durch das heutige Rom und durch die Campagna.

III.

Ich schlenderte umher in den Straßen der „ewigen Stadt“, ohne bestimmtes Ziel und ohne bestimmten Zweck, wie ich es so gern thue, die Physiognomien der Häuser und der Menschen betrachtend. Ich befand mich im schönsten Theile Roms, in der Nähe des spanischen Platzes, aber auch hier blickten mich die Häuser oft mit dunkeln, abgeschlagenen Fensteraugen an, in denen schmutzige halbgewaschene Wäsche zum Trocknen aufgehängt war, die Atmosphäre war voll üblen Geruchs, alle zehn Schritte streckte mir ein zerlumpter Bettler die schmutzigen Hände entgegen, und eine todte Katze verweste mitten auf dem Platze, wo die Säule steht, welche der Papst als Erinnerung an das von ihm eingeführte Dogma der unbefleckten Empfängnis, der heiligen Jungfrau Maria hat aufrichten lassen. Auf allen Plätzen Roms stehen dergleichen Säulen und Obelisken. Sie waren ehemals mit den Statuen römischer Helden und Imperatoren gekrönt. Die Regierungen der Päpste haben die Statuen der Helden und Imperatoren abnehmen und sie durch Heilige und unbekannte Märtyrer ersetzen lassen, welche gesenkten Hauptes, die Köpfe mit vergoldeten Reifen und Strahlenkränzen geschmückt, auf „das Rom der Päpste“ hinabblicken. Die todte Katze verpestete ringsumher die Luft. „Wenn doch die Regierung des Papstes sich statt dessen mit Einführung einer guten Straßenpolizei beschäftigte!“ dachte ich unwillkürlich. Aber davon ist keine Rede. Ich würde Niemandem rathen, Abends allein vor den Thoren spazieren zu gehen. In den Ruinen des alten Roms ist die Unsicherheit so groß, daß die französische Commandantur an den Eingängen des Coliseums Schildwachen aufgestellt hat, und man diese grandiosen Reste des Alterthums bei Mondschein nur gegen einen besondern Erlaubnißschein betreten kann. Ermordungen mitten auf der Straße kommen sogar zuweilen bei Tage vor. Es sind das ja bekannte römische Zustände.

Der öffentliche Schreiber.
Nach der Natur gezeichnet von Zwahlen und Zielcke

Mit diesen Gedanken ging ich mitten über den Platz und betrat eine der auf denselben mündenden Seitenstraßen, um nach dem Corso zu gehen. An der Ecke der Straße vor dem verfallenen Thore eines Palastes saß an einem alten, wackligen Tische unter einem Baldachin von Segeltuch ein Mann in etwas schäbigem Anzuge, einen ebenso schäbigen Hut auf dem grau gewordenen Kopfe, eine Hornbrille auf der Nase, und schrieb eifrig. Neben ihm stand ein hochgewachsenes, schönes junges Mädchen in der Tracht einer römischen Bäuerin aus der Campagna. Sie schien ihm häufig das zu dictiren, was er zu Papier brachte. Wahrscheinlich war es ein Liebesbrief. Ich trat hinzu und horchte. Richtig, es war ein Liebesbrief an ihren Verlobten, und der Liebesbrief handelte vom Heirathen. Ich hatte einen „öffentlichen Schreiber“ vor mir, eine jener charakteristischen Figuren, wie man sie in Mittelitalien und Sütitalien auf allen öffentlichen Plätzen in größern und kleinern Städten findet. Die Kunst des Lesens und Schreibens ist bei dem geringern Theile sowohl der städtischen als der ländlichen Bevölkerung in den römischen Staaten noch nicht sehr zu Hause, und die öffentlichen Schreiber sind Vertrauenspersonen, denen Jedermann seine Geheimnisse ungenirt anvertraut, damit sie sie zu Papier und so an ihren Mann bringen.

Stets ist der öffentliche Schreiber ein Mann von gesetzten Jahren, Ende der Vierzig oder Mitte der Fünfzig, die Brille scheint bei allen eine unvermeidliche Zuthat, ihr Aeußeres hat immer etwas Würdiges und Wichtiges, wenn es auch oft etwas schäbig ist. So saß auch der öffentliche Schreiber hier vor mir mit würdiger und wichtiger Miene auf seinem Stuhl, und schrieb ungestört von dem schreienden Kinde, welches ein halberwachsenes Mädchen neben ihm auf seinem Schooße hielt, von dem „Ahoi!“ des Eseltreibers, der gerade vorüberzog, und von dem ganzen rauschenden [429] Straßenlärm. Der Brief war zu Ende. „Rita“ hieß das schöne Mädchen mit Vornamen, wie ich im Vorübergehen hörte.

Ganze Züge von Priestern kamen mir entgegen, in Kutten von allen Farben. Sie gingen zu zehn, zu zwanzig und zu dreißig, immer paarweise, schwarze Priester, rothe Priester, grüne, graue und violettfarbene. Alle denselben häßlichen schwarzen Hut mit den umgebogenen Krempen, welche durch Schnüre gehalten werden, auf den tonsurirten Köpfen. Tausende von Priestern sind aus Umbrien und den Marken, aus der Romagna und aus Süditalien in den letzten Monaten nach Rom gekommen. Wenn das so weiter geht, wird die Regierung die Armee aus Priestern rekrutiren können. In Süditalien und in Sicilien haben die Priester tapfer gefochten, für und gegen die Revolution. Ich passirte den Corso. Der Corso sah heute recht unsauber aus. Das schmale Trottoir war von einer Menge Detailverkäufer besetzt, welche den Vorübergehenden ihre Schwefelhölzer, Fleckseife, Stiefelwichse und dergleichen Quark zum Verkauf anboten. Dazwischen schrieen umherziehende Männer und Weiber mit kreischender Stimme Fische und sonstige Nahrungsmittel aus. Eine Buchhandlung gab es auf dem ganzen Corso nicht, dagegen Buchbinderläden und Papierhandlungen in Menge. Vor den Fenstern standen zahlreiche Gebetbücher, grobgemalte Heiligenbilder und schlechte Copien guter Gemälde. Die Kaffeehäuser waren überfüllt von Gästen, welche dicht aneinander gedrängt auf den schmalen Divans saßen. Drinnen war eine unheimliche Stille; ich hörte nichts als die Stimme des Cameriere, der die Bestellungen der Gäste dem Büffet zurief; und es wehte da drinnen eine Luft – wie die Atmosphäre einer Wachtstube. Ueber mir lachte der blaue italienische Himmel im goldnen Sonnenschein; warum gingen die Leute, welche in diesen räuchrigen Conversationshöhlen saßen, denn nicht lieber „in’s Freie“? Man kann in Rom nicht in’s Freie geben, draußen vor den Thoren ist nichts als eine sandige, baumlose Wüste, und in der Stadt giebt es keinen Spaziergang, als immer und immer wieder der Monte Pincio.

Es war schmutzig und langweilig auf dem Corso; ich bog wieder in die Via Condotti ein, welche unter verschiedenen Namen vom spanischen Platz mitten durch die ganze Stadt an der Tiber entlang bis zum Ponte San Angelo zur Peterskirche führt. Je weiter ich mich vom Corso entfernte, desto schmutziger und unreinlicher wurde die Straße und desto ärmlicher und miserabler wurden die Häuser. Vor dem Hause eines Schlächters saß eine abschreckend aussehende Megäre, umtobt von einem halben Dutzend zerlumpter Kinder. Dann mündete die schmale Straße auf einen kleinen Platz. Vor einer höchst unsaubern Garküche hatte ein öffentlicher „Bartkünstler und Haarschneider“

Der Bartkünstler und Haarschneider.
Nach der Natur gezeichnet von Zwahlen und Zielcke

sein Atelier im Freien aufgeschlagen. In jeder römischen Stadt, in größeren und in kleineren Orten kann man auf den öffentlichen Plätzen dergleichen Bartkünstler sehen. Das beste Geschäft machen sie am Montag Morgen, wo die ländliche Bevölkerung in die Stadt kommt und sich rasiren oder auch das Haar zustutzen läßt. In Rom ist an jedem Sonntag die Piazza Montanara dieser allgemeine Haarschneide- und Rasirplatz für die Bewohner der Campagna, welche zur Stadt kommen. Auch hier, in der Via della Fontanella, ging die Bartoperation ganz ungenirt vor sich. Ein Bauer saß, die Hände gefaltet, auf einem Stuhl, seine Frau hockte, den unvermeidlichen Regenschirm von grüner, lackirter Leinwand in der Hand, daneben, auf einem Stein. Der Patient war bereits eingeseift, und die Operation, welche einen halben oder ganzen Bajocco kostet, nahm ihren Anfang.

Zwei Kinder gafften die wichtige Handlung an, der Knabe mit dem unverkennbaren Gesichtsausdrucke, als wenn er an die Zeit dächte, wo auch er vor dieser Garküche säße und eingeseift und barbiert würde. Hinter dem Stuhle stand ein bereits abgefertigter Patient in Hemdsärmeln, und wischte sich die Seife mit einer sehr unsauberen Serviette ab. Die Staffage war, wie immer, verfallen aussehende Häuser, Wäsche zum Trocknen in den Fensterlöchern und der unvermeidliche Bettelmönch in der braunen Kutte mit dem Korb am Arm, langsam vorüberschlendernd.

Es ist das heutige Rom, welches ich schildere, das moderne Rom, und es ist so, wenn man es nicht durch die falsche Brille eines schwärmenden Kunstenthusiasten anschaut. Es giebt ja auch Menschen, deren Gehirn für die öde, heiße Wüste der Campagna schwärmt. An jedem andern Fleck der Erde würden sie diese Wüste [430] verabscheuen, aber hier dorrt dieser Sand und dieser magere, grüngelbe Rasenboden ja im zweimeiligen Belagerungskreise der ewigen Stadt.

Wiederum kam mir eine ganze Heerde von Priestern in violettfarbenen Röcken entgegen, da stand ich an der gelben Tiber, vor der Brücke, welche zur Engelsburg führt. Drüben stieg die imposante Masse des Grabmals des Trajan in die Höhe, wie ein ungeheurer Riese, dem der Kopf fehlt, und auf der Mauer saßen französische Soldaten, und die rothen Beine baumelten in der Luft. Da kam ein Wagen über die Brücke gefahren, der Wagen kam vom Vatican; es war eine glänzende, rothe Carosse, über und über vergoldet, mit vier schwarzen Pferden bespannt, welche rothes Zaumzeug hatten. Voran ritten zwei Stallmeister, auch auf schönen, schwarzen Pferden, neben und hinter der vergoldeten Carosse päpstliche Nobelgardisten in ihren glänzenden Uniformen, den blinkenden Helm auf dem Haupte. In dem Wagen saß der Papst, Pio Nono, allein im Fond, ihm gegenüber zwei Priester in violettfarbenen, seidenen Gewändern; der Papst trug ein weißes, goldgesticktes Gewand, auf dem Haupte ein kleines goldgesticktes Käppchen. Der Wagen fuhr ganz nahe an mir vorüber. Pio Nono sah blaß, alt und bekümmert aus. Sein Gesicht erschien dick und aufgedunsen.

Armer, alter Pio Nono! Er dachte wohl an jene Zeit, wo sein Name zum Stigma der italienischen Nationalitäts- und Freiheitsbestrebungen geworden war, wo der Jubel von Tausenden fröhlicher Herzen ihn umbrauste, wenn er ausfuhr, wo „Evviva Pio Nono!“ und „Evviva l’Italia!“ dasselbe war. Und heute? Gleichgültig sahen ihn die Bewohner der Via Fontanella vorüber fahren. Niemand grüßte ihn, kein „Evviva!“ erschallte, nur hie und da kniete ein zerlumpter Bettler auf dem schmalen Trottoir in den Staub.




Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Der alte Kaufmann sah, als verfolge er einen Gedanken, prüfend in das Auge des vor ihm sitzenden Reichardt. „Die kaufmännische Laufbahn ist für einen jungen Menschen ohne Vermögen vielleicht die undankbarste, welche ihm unser Land bietet,“ sagte er nach einer Weile langsam, „und unter Hunderten, die als junge, hoffnungsreiche Clerks begonnen, werden siebenundneunzig alt und grau am Pulte, wenn sie es nicht vorziehen, irgend ein Kleingeschäft auf dem Lande zu beginnen und zu verbauern, während kaum drei durch Glück oder besondere Befähigung sich den Weg in die große Geschäftswelt bahnen. Jeder andere Beruf giebt mehr Aussicht zur Erlangung einer Selbstständigkeit, zur spätern Gründung einer Häuslichkeit als der des unvermögenden Clerks im Bank- oder Großhandelshause. Ihnen aber muß schon der Anfang doppelte Schwierigkeiten bieten – Sie kennen noch nichts von den Eigenthümlichkeiten des amerikanischen Geschäfts, Sie werden, trotz Ihrer guten Hand und Ihres geläufigen Englisch, von denen mir irgendwo eine Probe unter die Augen gekommen, ganz neu zu lernen haben, während eine andere Branche, wie die Musik, Ihnen sogleich Erfolg und bestimmte Aussichten eröffnen würde.“

Reichardt saß einige Secunden wortlos. Der reiche Handelsherr vor ihm, den keine Beziehung an den armen, unbekannten Deutschen knüpfen konnte, hatte schon einmal von Gründen geredet, die ihn wünschen ließen, Reichardt nützlich zu sein. Jetzt wollte er wieder eine schriftliche Probe von dessen Englisch unter den Augen gehabt haben – die Begegnung mit Margaret’s Bruder und dessen eigenthümliche Erkundigungsweise nach seiner Stellung trat daneben vor die Seele des jungen Mannes. Aber nur wie im Fluge berührten die Gedanken sein Gehirn, und kaum wurde er sich der selbstgestellten Frage, was dem Alles zu Grunde liegen könne, bewußt.

„Ich habe mich in den letzten zwei Monaten jeden Abend ernstlich mit der amerikanischen Buchführung und der kaufmännischen Correspondenz beschäftigt,“ erwiderte er jetzt, seine Erregung beherrschend, „und wenn ich auch vielleicht noch nicht im Stande bin, alle Schwierigkeiten, welche sich mir entgegenstellen werden, recht zu würdigen oder meine Zukunft in ihrem wahren Lichte zu erkennen, so weiß ich dennoch, daß Alles, was in mir lebt, auf meine alte Branche hinweist, daß ich die Kraft fühle, mich durch jede Schwierigkeit hindurchzuarbeiten, und daß in dieser Ueberwindung meine einzige, wahrste Befriedigung liegen würde. Ich habe die Musik zur Verschönerung müßiger Stunden geliebt und gepflegt. Seit ich sie aber habe zum Broderwerb in’s Joch spannen müssen, ist es mir völlig klar geworden, daß ich am wenigsten zum wirklichen Musiker geschaffen bin. Kaufmann könnte und würde ich ganz und mit allen meinen Seelenkräften sein – Musiker immer nur wie ein Mensch, der aus seiner Heimath getrieben in einem fremden Lande irrt.“

Frost senkte wie nachdenkend den Kopf. „Well, Sir,“ begann er endlich, „ich habe gesagt, daß ich Ihnen nützlich zu sein wünsche, und ich werde sehen, was sich thun läßt, wenn ich auch auf die Art Ihrer Wünsche nicht ganz vorbereitet war.“

In diesem Augenblicke sprang die Thür auf, und mit raschem, elastischem Schritte trat der junge Frost ein, einen Blick leichter Ueberraschung auf den jungen Deutschen werfend.

„Hier ist Dein Mann, John!“ rief ihm der Alte entgegen, „es ist aber nicht viel mit ihm zu machen, er will als Kaufmann leben und sterben.“

„Vorläufig doch nur leben!“ lachte der Eingetretene, dem sich erhebenden Reichardt die Hand bietend. „Nun?“ wandte er sich dann an seinen Vater. Eine Frage und eine Antwort schien in den Blicken Beider gewechselt zu werden. – Jedenfalls handelt es sich erst um die Zustimmung!“ sagte der Letztere und drehte den Kopf wieder nach dem Deutschen. „Mein Sohn ist der Ansicht, daß wir selbst noch eine Arbeitskraft gebrauchen könnten,“ fuhr er fort. „Ich habe es für meine Pflicht gehalten, Ihnen die volle Wahl in ihren Entschließungen zu lassen, und wünschte, Sie hätten nur mehr Gelegenheit gegeben, etwas für Sie zu thun. Wollen Sie eine Stellung in unserem Geschäfte, die sich eben nur nach Ihren Leistungen richten kann, annehmen, so treten Sie in die Reihe der übrigen Clerks, und Sie haben sich Ihre Zukunft selbst zu schaffen –“

Reichardt that einen Schritt gegen den Sprechenden und faßte im Drange seiner Gefühle dessen Hand, während er den Thränen nicht wehren konnte, die hell in seine Augen traten. „Mr. Frost, Sie machen einen so glücklichen Menschen, wie Sie es vielleicht selbst nicht ahnen,“ sagte er, „ich weiß nicht, wodurch ich mich Ihrer Güte würdig gemacht haben könnte, aber ich weiß, daß ich Ihr Vertrauen rechtfertigen werde –“

All right, Sir! ein einfaches Engagement ist keine so große Sache,“ erwiderte Jener, des jungen Mannes Hand schüttelnd. „Bringen Sie heute Ihre Angelegenheiten in Ordnung und treten Sie morgen ein. Sollten Sie aber etwas Geld brauchen, so sagen Sie es dreist, und es steht Ihnen ein Vorschuß zu Diensten.“

„Ich danke Ihnen für die neue Freundlichkeit, Mr. Frost, aber ich habe nur eine Bitte,“ gab Reichardt zurück. „Ich habe unserm Buchhalter, Mr. Black, eine dreitägige Kündigung zugesagt, und wenn er mich auch jetzt nicht halten könnte, so möchte ich doch den alten Mann für sein Vertrauen nicht zuletzt noch eine Täuschung erleben lassen –“

„Und da wollen Sie noch drei Tage die Straße fegen?“ rief der alte Kaufmann lachend, aber mit großen verwunderten Augen den Deutschen anblickend. „Ich sehe, Sie sind in mehrfacher Beziehung eine Ausnahme von unsern jetzigen jungen Leuten, und ich will Niemand hindern, sein Wort halten –“

„Es handelt sich nur darum, einen ordentlichen Menschen in meinen Platz zu schaffen,“ fiel Reichardt, dem das Blut in die Backen gestiegen war, dem Redenden in’s Wort.

All right, Sir!“ winkte Frost, noch immer lachend, „machen Sie die Angelegenheit mit meinem Sohne ab, der Sie in Ihre neuen Pflichten einführen wird, sobald Sie frei sind!“ Er wandte sich dem Fenster zu, und John, welcher mit sichtlichem Interesse der letzten Verhandlung gefolgt war, winkte dem jungen Manne mit [431] dem Kopfe. „Jetzt kommen Sie eine halbe Stunde mit mir,“ sagte er mit halbgedämpfter Stimme, „und dann wird sich das Uebrige finden.“ Er faßte leicht Reichardt’s Arm und führte ihn nach dem zweiten Zimmer. „Hier will ich Sie gleich dem Mr. Bell, unserm allgeachteten Cassirer vorstellen, unter dessen Leitung Sie wahrscheinlich arbeiten werden,“ fuhr er fort. „Mr. Bell, dies ist Mr. Reichardt, der erste junge Mann, dem der alte Black bei Johnson’s ein rühmliches Zeugniß ausgestellt hat, den er nicht aus seinen Händen lassen will, der sich indessen zu Ihrer Disposition stellen wird.“

Der Angeredete legte langsam und sorgfältig die Feder aus der Hand, hob ein graues, scharfes Auge und ließ einen langen, prüfenden Blick über die ganze Erscheinung des Vorgestellten laufen. Dann erst neigte er grüßend den Kopf. „Soll mich freuen, Sir,“ sagte er, „wenn wir uns recht verstehen lernen!“

„Ich hoffe das, Mr. Bell,“ erwiderte Reichardt, freimüthig seinem Blicke begegnend, „wenigstens soll mein Eifer das Gegentheil nicht verschulden!“ Der Cassirer antwortete nur durch ein neues Kopfneigen und nahm, wie zum Zeichen der Entlassung, seine Feder wieder auf.

„Kommen Sie weiter!“ sagte Reichardt’s Begleiter und schritt diesem voran durch das Vorzimmer nach dem Ausgange. „Jetzt kennen Sie Ihren nächsten Vorgesetzten, wenn ich so sagen darf,“ fuhr er fort, als Beide neben einander die Treppe hinabstiegen, „und ich hoffe, Ihren früheren Worten nach, daß Ihnen die nöthige Grundlage für die vorkommenden Arbeiten nicht fehlen wird. Der Mann hat Eigenthümlichkeiten, die Sie schnell entdecken werden, ist aber noch lange kein Black. Mit dem übrigen Personale mache ich Sie später bekannt, und nun,“ schloß er, den leichten Ton wieder anschlagend, den Reichardt zuerst an ihm kennen gelernt, „lassen Sie uns eine Flasche Wein mit einander trinken und von einigen andern Dingen reden!“ Er nahm einen rascheren Schritt an, und schweigend gingen die beiden jungen Männer neben einander dem Broadway zu.

In Reichardt’s Herzen sang und klang es wie Jubelstimmen, und doch war es ihm, als dürfe er seinem neuen Glücke noch kaum trauen, als müsse Alles zuletzt auf einen Irrthum hinauslaufen. Konnte er sich doch nicht den entferntesten Grund für die Freundlichkeit, welche ihm geworden, denken; denn daß man ihn in Saratoga zum Tanze hatte fiedeln sehen, gab sicher die wenigste Ursache dafür, und die zeitweisen Andeutungen des alten Handelsherrn, welche auf eine nähere Bekanntschaft mit Reichardt’s Thun und Können hinwiesen, machten ihm die ganze Angelegenheit nur noch räthselhafter.

„Kommen Sie hierher!“ rief jetzt der junge Frost, die Stufen zu dem Eingange des „Astorhauses“ hinaufspringend. Er schien hier völlig bekannt zu sein und schritt seinem Begleiter durch eine Reihe von Zimmern voran, bis ihnen ein schwarzer Aufwärter entgegentrat, welcher indessen beim Erkennen des Voranschreitenden eine Seitenthür aufriß. „Eine Flasche Wein und Cigarren, Dick!“ rief der letztere, und kaum hatten sich Beide in dem nur mittelgroßen, mit bequemen Divans, gepolsterten Lehnsesseln und kleinen marmornen Tischen elegant ausgestatteten Raume niedergelassen, als auch schon der Schwarze den Tisch mit zwei Gläsern besetzte, die Champagnerflasche mit einer Schnelle entkorkte, welche seine häufige Uebung verrieth, und eine Spiritusflamme für die Cigarren entzündete. „Der Amerikaner scheint kaum einen anderen Wein zu kennen als Champagner – ich weiß, daß er in Deutschland für den Morgen nicht gebräuchlich ist!“ sagte der junge Frost wie entschuldigend, als er die Gläser füllte, „indessen ist er jedenfalls besser, als der Essig, den man selbst in unsern bessern Hotels noch immer als Rheinwein vorgesetzt erhält, und nun brennen Sie eine Cigarre an, trinken Sie auf eine glücklichere Zukunft, und dann beantworten Sie mir einige Fragen so ausführlich als Sie können. Ich habe genug von Ihnen gehört, um Sie als einen ganz vorzüglichen jungen Mann zu achten, dessen Freundschaft ich mir gern erwerben möchte. Demohngeachtet ist mir Einzelnes in dem Interesse, was mein Vater und speciell meine Schwester an Ihnen nehmen, noch dunkel, und dennoch scheint mir gerade dies mein eigenes Interesse am lebhaftesten zu berühren. Aber trinken Sie!“

Die Gläser klangen zusammen, und schweigend, aber mit sichtlicher Spannung sah dann Reichardt einer weitern Aeußerung seines Gesellschafters entgegen, zu welcher dieser soeben den rechten Anfang zu suchen schien.

„Sie haben, so viel ich weiß, Miß Harriet Burton kennen lernen,“ begann endlich der junge Frost, die Champagner-Perlen in seinem Glase verfolgend und nur dann und wann einen kurzen Blick in Reichardt’s Gesicht werfend, „und um gleich offen Farbe zu zeigen, sage ich Ihnen, daß ich dem Mädchen mehr zugethan bin, als alle den fashionablen Puppen, wie sie hier unsere Gesellschaft bilden. Harriet ist mit meiner Schwester Margaret erzogen worden, und mein Umgang mit jener war ein völlig zwangloser und vertraulicher; aber erst als ich erfuhr, daß sie mit irgend einem mir unbekannten Menschen verheirathet werden solle, wurde ich mir bewußt, wie sehr ich an diesem frischen, kecken Charakter hing, von dem wohl in mir selbst mehr Verwandtes leben mag, als sich für meine Stellung recht eignen will. Indessen ließ sich damals, wo noch nicht einmal eine entfernte Andeutung wärmerer Gefühle meinerseits gefallen war, nichts thun, als mit möglichst bester Miene zu resigniren, und ich hatte mich schon gefaßt gemacht, bei Harriet’s nächstem Wiedererscheinen in unserm Hause den unglücklichen „Beau“ einer Mrs. Soundso vorzustellen, als mir Margaret mittheilt, daß die projectirte Verbindung sich wieder zerschlagen habe, dann von Ihnen und Ihrer Mitwirkung bei dem Bruche, wie von Ihrer gezwungenen Abreise von dort zu reden beginnt, die ganze Angelegenheit aber in einer Weise behandelt, daß ich wohl neue Hoffnungen schöpfen durfte, aber in den verschiedenen Lücken und Unklarheiten auch allerhand Märchengeheimnisse ahnen mußte, in die sich nicht wohl eindringen ließ. Daß Sie nur dabei eine ziemlich interessante Persönlichkeit wurden, ist wohl nur natürlich, und ich gestehe Ihnen eben so offen, daß Ihre Entfernung aus Harriet’s Heimath mich mit einer gewissen Befriedigung erfüllte, da mir Ihre Verhältnisse zu dem Mädchen durchaus unklar geblieben waren. So traf ich Sie mit meiner Schwester zwei Monate später vor Johnson’n Hause, die Straße fegend; Margaret’s Theilnahme, Sie in einer solchen Lage zu sehen, war mir völlig erklärlich, und mein eigenes Interesse trieb mich an, Erkundigungen über Ihre Stellung einzuziehen – befremdend aber war es mir, als ich am nächsten Tage meinen Papa, der sich sonst nicht von schnellen Eindrücken hinreißen läßt, Ihrer erwähnen höre – meine Schwester hatte vorher ein Gespräch von einer vollen Stunde in seinem Cabinet mit ihm gehabt – als ich den Auftrag erhalte, unter der Hand Nachricht über den Grad Ihrer allgemeinen Zuverlässigkeit einzuziehen, und daneben einzelne Worte fallen, die auf eine ganz bestimmte Kenntniß Ihres Wesens und auf die Art hindeuten, wie Sie sich im Süden gestellt oder zu Harriet gestanden haben – was weiß ich? Ich bin kein Mensch, der sich die Kenntniß dessen, was ihm anscheinend vorenthalten werden soll, erzwingen mag. Eins nur wußte ich, daß Ihre ganze Erscheinung und die Weise, in welcher Sie mir begegnet, einen Eindruck auf mich hervorgebracht hatten, der mich ohne Weiteres zu Ihrem Freunde gemacht; und so beschloß ich, das Nöthige in Ihrem Interesse zu thun, in Bezug auf meine eigenen Angelegenheiten aber mich an die directe Quelle, an Sie selbst, zu wenden. – So,“ fuhr er fort, die Gläser neu füllend, „und nun sprechen Sie sich so offen aus, als ich es selbst gethan, kehren Sie sich auch nicht daran, daß mir irgend eine Eröffnung weh thun könnte – ich will nur klar sehen; besonders aber möchte ich wissen, wie weit Ihre eigene Aufrichtigkeit gegen mich geht.“

Reichardt hatte den Blick unverwandt auf dem Gesichte seines Gesellschafters ruhen lassen, und diesen traf beim Aufsehen ein Auge voll so warmer Empfindung, daß er wie unwillkürlich die Hand nach dem jungen Deutschen ausstreckte. „Well, Sir, werden Sie ohne Rücksicht gegen mich reden?“ fragte er.

„Lassen Sie mich Ihnen einfach sagen,“ erwiderte Reichardt, die gebotene Hand fassend, „daß kein Gefühl gegen Miß Burton, das Ihnen nur die leiseste Unruhe machen könnte, in mir lebt oder jemals gelebt hat; daß nur die Sorge für meine Selbsterhaltung und der jungen Lady Musikliebe mich in ihre Nähe brachte, und daß bei allem Uebrigen, was durch mich in Bezug auf ihre Verhältnisse geschah, ich fast nur als ein Werkzeug des Zufalls wirkte. Verlangen Sie die Einzelnheiten, so will ich sie Ihnen geben, so weit meine Kenntniß reicht; zugleich aber nehmen Sie mein Wort als ehrlicher Mann, daß das Räthselhafte, was Ihnen das Interesse von Mr. und Miß Frost für einen unbedeutenden Menschen, wie ich bin, bieten mag, für mich in demselben Maße besteht und daß ich noch bis zu diesem Augenblicke fürchte, meine [432] neugeborenen Hoffnungen wie eine Seifenblase zerspringen zu sehen.“

Der junge Frost schien den Sinn jedes fallenden Wortes mit seinen Augen durchdringen zu wollen. „Und glauben Sie,“ fragte er nach einer kurzen Pause langsam, „daß auch die junge Lady keine anderen Empfindungen für sie in Ihrem Herzen vermuthet?“

Reichardt’s Wangen färbten sich leicht. „Wenn ein vollkommen klares, bestimmtes Aussprechen eine Meinung schaffen kann,“ erwiderte er in derselben nachdrücklichen Weise, in welcher die Frage gestellt war, „so muß sie wissen, daß ich keines wärmeren Gefühls als das eines freundlichen Dankes gegen sie fähig war.“

„Und diese Aussprache hat stattgefunden?“

„Sogar schriftlich, Mr. Frost, da ich nicht persönlich mich bei ihr verabschieden konnte.“

Der junge Amerikaner sah einige Secunden lang in das offene Auge des Deutschen. „Ich glaube Ihnen, Sir,“ sagte er dann des letzteren Hand drückend, „und selbst wenn Sie mir etwas verschwiegen hätten, so weiß ich, daß es nichts sein kann, was meiner Ehre auch für künftige Fälle im Geringsten zu nahe treten könnte – und so bitte ich Sie, lassen Sie uns Freunde sein. Ich weiß, ihr Deutschen nehmt das Wort tiefer und bedeutsamer, als es gewöhnlich der Amerikaner thut, und es muß das deutsche Blut von meinem Vater sein, was mich oft nach einem Freunde in diesem bessern Sinne hat verlangen lassen –“

„Wenn ich Ihnen genüge, Sir,“ unterbrach ihn Reichardt angeregt, „so sollen Sie haben, was Ihnen fehlt, und von ganzer Seele sei es Ihnen gegeben –“

„Gut, Sir, ich werde Sie an Ihr jetziges Wort mahnen,“ erwiderte Frost, des Deutschen Hand fester drückend, „und so lassen Sie uns jetzt die Gläser darauf leeren!“

Die Linke beider junger Männer führte eben den Champagner zum Munde, als die Thür aufsprang und lachend eine kleine Anzahl neuer Gäste erschien. „Halloh, hier ist auch Jemand, der Trauer anlegen wird; was, Frost?“ rief einer der Eintretenden. „Wir sprachen eben von dem Manne mit dem Deficit und seinen köstlichen Soirées, die nun verschwinden werden, ebenso wie die beiden armen Mädchen –“

Reichardt hatte aufgesehen und neben dem Sprechenden William Johnson’s Gesicht erblickt, das wie in starrer Befremdung die Stellung der beiden Dasitzenden wahrgenommen, sich dann aber rasch abgekehrt hatte.

„Laßt doch die Mädchen, die wahrlich keine von den schlimmsten waren!“ rief Frost, sich mit einem Lachen, das eine aufsteigende Mißstimmung zu verdecken schien, erhebend; „ich denke, sie werden jetzt so viel Noth mit sich selbst haben, daß wir sie nicht noch zwischen uns herumziehen sollten.“

„Ganz Frost, ganz Frost!“ klang die Antwort zurück, „aber hierher, Gentlemen, im Sitzen läßt sich das Thema viel besser erörtern!“

„Lassen Sie uns bei ihnen Platz nehmen,“ raunte der Erstere dem jungen Deutschen zu, als die Angekommenen sich um einen der Tische gruppirten, „ich werde dadurch zugleich Gelegenheit haben, Sie mit einem bestimmten Typus aus der New-Yorker Gesellschaft bekannt zu machen.“

„Warten Sie damit, bis ich in meiner neuen Stellung bin,“ gab Reichardt halblaut zurück, „ich habe jetzt nicht einmal das Recht, über meine Zeit zu disponiren, bin augenblicklich noch Porter und mag mich als solcher nicht mit meinem fashionablen Principal zu derselben Gesellschaft setzen.“

Ein Zug von Humor glitt über das Gesicht des Andern. „Well, gehen Sie und machen Sie sich baldigst los,“ sagte er; „das ganze Verhältniß könnte wahrlich Stoff zu dem besten Spaße geben!“ Er begleitete seinen Gesellschafter, die Hand vertraulich auf dessen Schulter gelegt, bis nach der Thür, und Reichardt beeilte sich, den Heimweg zu nehmen.

(Fortsetzung folgt.)




Blätter und Blüthen.

Die Radblumen.[3] Geht man an einem staubigen Tage, wo die Straße nicht gerade vom Regen naß, über einen wohlgepflegten Heerweg, so hat man nicht blos Blumen rechts und links auf den Aeckern und Wiesen zu betrachten, man kann deren sogar gerade vor sich, mitten auf dem Wege und zwar in den Fahrgleisen wahrnehmen, welche sich der Straße eingedrückt haben.

Radblume

Es sind dieses Gebilde von Staub, welche sich in ihrer Entstehung zwar himmelweit von denen unterscheiden, welche der Frost an die Scheiben der Fenster zu hauchen pflegt, welche aber an Gestalt denselben nicht ganz unähnlich scheinen. Da sich diese Blumen beinahe auf jeder Straße finden, so ist es auffallend, daß sie so wenig bekannt geworden. Ich entsinne mich wenigstens nicht, daß ich je einen Gelehrten über sie reden gehört, daß ich sie irgend in einer Schrift erwähnt gesehen. Wahrscheinlich erscheinen dieselben erst seit der Einführung der breiten Räder, welche die tiefen Fahrgleise von den Straßen verwischten, eine ebenere Bahn ermöglichten. Dieses ist aber auch schon geraume Zeit her, so daß sie wohl hätten beobachtet werden können, wenn die Menschen leicht das sähen, was gerade vor ihren Füßen liegt. Bei ruhigem Wetter, wenn der Wind nicht mit Gewalt die Straße überfegt, findet man nämlich in den Spuren der breiteren Wagenräder, die von der Last des Wagens hüsch fest und glatt geworden, mitten innen immerhin noch losen, nicht fest gedrückten Staub, der dadurch, daß er lose aufgeschichtet ist, sich in der Farbe dunkler von dem glattgedrückten abhebt.

Wo der Boden felsig oder moorig ist, wird sich der Staub nicht wohl bilden können, auf anderem Grunde sind aber Steine und Erde bald in Mitten der Straße durch die Räder so zermalmt, daß der feinste Staub zu den genannten Gebilden selten ermangelt. Mitten in der Radspur ist ein von diesem losen Staube gebildeter erhabener Strich bemerkbar, welcher, wenn man ihn genau in’s Auge faßt, nie ganz gerade die Mitte hält, sondern sich stets in Schlangenwindung, wenn auch nur wenig Linien wechselnd, bald nach der einen, bald nach der anderen Seite zieht. Von diesem erhabenen Striche laufen beiderseits mit großer Regelmäßigkeit längere und kürzere Staubstriche in sanften Schwingungen aus und bilden so die Blume oder die Verzierung, die, wie gesagt, den Eisblumen der Fensterscheiben oder einigen Algen (Meerpflanzen), in ihren Schwingungen gleich kommen. Vorstehende Tafel dürfte sie dem Leser, welcher noch nicht auf sie aufmerksam gewesen, zur Anschauung bringen. – Zu bemerken ist noch, daß in dieser Zeichnung die Striche und Aeste der Pflanze stets so fallen, als ob sie vom Rade aus rückwärts gewachsen seien. Aus ihnen kann daher ein Beobachter die Spur ermitteln und mit Zuversicht sagen, welchen Weg der bereits aus dem Auge verschwundene Wagen, der sie gebildet, eingeschlagen hat, selbst wenn die Hufspur unkenntlich geworden wäre.

Die Entstehungsursache der schönen Zeichnung dürfte nicht schwer zu finden sein. Von dem Winde und dem Luftdrucke kann sie nicht herrühren, weil sie bei jeder Richtung des Windes stets dieselbe bleibt, stets in gewöhnlicher Gestalt, mit oder gegen die Zugluft in dem Gleise anschießt. Es bleibt demnächst keine andere Ursache übrig, als die Erschütterung der Straße durch die Räder. Daß diese wirklich stattfindet, wird Niemand leugnen, welcher je an einer befahrenen Straße gewohnt hat. Wie schwer aber nun auch der Weg unter der Last gedrückt wird, das ganze Geleise kommt dadurch nicht in Schwingung, sondern nur einzelne Theile desselben, und diese schwingenden Theile werfen den losen Staub den ruhenden Theilen zu, bilden somit die Klangfigur. In tonkundiger Weise dürfen wir zwar hier nicht von Klängen sprechen, die Erschütterung bleibt aber immerhin dem Tone entsprechend, nur daß sie dem menschlichen Ohr nicht mehr die erforderlichen Bedingungen bietet, nicht mehr musikalischer Ton genannt zu werden pflegt. Die Mitte des Gleises, welche den schwersten Druck zu tragen hat, ist daher auch vor allen anderen Theilen ruhend. Wenn der Wagen durch eine stetige Kraft in gerader Richtung fortbewegt würde, müßte diese Linie und mithin der Strich der Mitte gerade ausfallen, da aber das Pferd oder die Pferde, wie gerade sie gehen mögen, in verschiedenen Augenblicken ziehen, unter dem Ziehen sich schreitend bewegen, so erhält der Wagen und mit demselben das Rad einen, wenn auch noch so gelinden Druck abwechselnd nach der einen, dann nach der andern Seite dergestalt, daß der Druck und mithin die ruhende Stelle immer, wenn auch nur in dem Spielraume weniger Linien, wechselt.

Wir haben oben gesagt, daß diese Gebilde bei trocknem, staubigem Wetter entstehen. Wie leicht begreiflich ist, darf bei diesem trocknen Wetter der Wind nicht zu arg spielen, weil derselbe sonst zu rasch die Zeichnungen des erderschülternden Rades verwischen würde. Sobald der Staub aber durch Regen genetzt wird, die Straße dadurch ein schlammiges Ansehen gewinnt, ist die Bildung äußerst erschwert. Ganz unmöglich ist sie aber doch nicht. Ich glaube wenigstens im Schlamme bemerkt zu haben, daß dieser sich hin und wieder in derselben Weise in der Mitte des Fahrgleises, wenn auch weniger zierlich, ansetzte. Da er aber zu diesem Ende einen bestimmten Grad von Flüssigkeit haben muß, um den Erschütterungen folgen zu können, und wieder so zähe sein muß, daß er die einmal angenommene Form, wenn sie gegeben ist, beibehält, so bleibt diese Art von Gebilden schwerer zu beobachten. Die trockenen Klangfiguren des Heerweges werden dagegen an schönen Sommertagen den Lesern dieser Blätter wohl erreichbar sein, sie bei der Langeweile einer staubigen Straße einigermaßen beschäftigen können. Durch diese Erscheinung gewinnen sie die Ueberzeugung, daß die Kräfte der Natur aus dem kleinsten Staube in jedem Augenblicke Zier- und Schönheit entwickeln können.
W. v. W. 



  1. Unsere Leser kennen den Verfasser des „Holzgrafen“ bereits aus frühern Beiträgen. worunter namentlich die „Huberbäuerin“ – Anfang vorigen Jahres – allgemeinen Beifall fand. Herman Schmid, der sich indeß auch als Dramatiker hervorgethan, ließ vor kurzem unter dem Titel: „Alte und neue Geschichten“ eine Sammlung seiner Erzählungen erscheinen, deren Stoffe er meist dem bairischen Gebirgsleben entnommen hat. Wir empfehlen diese Erzählungen allen unsern Lesern auf das Angelegentlichste. Wenn Frische und Kernigkeit der Darstellung, glänzende Detailmalerei, interessante Sujets und eine sehr wohlthuende Gesundheit der Anschauung einen guten Novellisten machen, so dürften wir H. Schmid unbedingt zu den hervorragendsten zählen. Erzählungen wir der „Mohrenfrenzel“, die „Huberbäuerin“, „Eigener Herd“ und „Unverhofft“ gehören zu den besten Leistungen der Neuzeit auf dem Gebiete der deutschen Novellistik.
    D. Redact.
  2. Der bekannte originelle Verfasser der „Phantasiestücke“, „Serapionsbrüder“, „Lebensansichten des Kater Murr“, „Fräulein Scudery“ etc. etc
  3. Wir erlauben uns hier das Wort in dem Sinne zu brauchen, wie man auch von Eisblumen spricht. Blume ist hier nicht gleichbedeutend mit Blüthe, sondern soll nur die entfernt pflanzenähnliche Bildung andeuten.