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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[353]

No. 23.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)


Der Abend war gekommen. Reichardt hatte am Nachmittag seine Uebersiedelung bewerkstelligt und, als er Mathildens Zimmer verschlossen gefunden, einen Gang in die Stadt hinein gemacht, in der ihm eine neue Hoffnung zu einer gesicherten Existenz blühen sollte. Erst beim Abendessen war er mit seiner früheren Gefährtin wieder zusammengetroffen und hatte diese dann in Gesellschaft eines Theils der übrigen Sänger nach dem Theater begleitet. Mathilde hatte ihm, ehe sie in ihrer Garderobe verschwand, angedeutet, sich einen passenden Platz zwischen den Coulissen zu suchen, und er gewahrte bald neben einem großen Versatzstück ein Eckchen, aus welchem er Alles übersehen konnte, ohne doch bemerkt zu werden, und so trug er sich dorthin einen Stuhl, der Dinge harrend, die da kommen sollten. Nach kurzer Zeit schon erschien der Director, bereits fertig geschminkt und völlig costümirt, warf durch das kleine Loch im Vorhang einen Blick auf die sich versammelnde Menge, rieb sich die Hände und verschwand wieder in den Seiten-Coulissen. Reichardt hörte seine halblaute Stimme bald aus der einen, bald auf der andern Seite des Theaters; nach Kurzem aber erschien er mit zweien der männlichen Acteurs im vollen Costüm wieder und begann Stück für Stück ihres Anzuges zu mustern. „Bon! bon!“ sagte er, „es wird sich mit der Zeit machen; jetzt aber Sie, Monsieur, noch einmal den Mantelwurf beim Abgange, damit ich ruhig sein kann, und dann Sie, Monsieur, die Erhebung der Arme, damit wir nicht ein lebendiges Kreuz vor uns haben; der Geschmack, Messieurs, der Geschmack muß da sein; commençons!“ Die beiden gebotenen Bewegungen wurden durchgemacht, während Herr Meier, der Bariton, erschien und mit der Miene eines über alle Vorübungen erhabenen Künstlers sich auf sein Schwert stützte.

eh bien, Monsieur Meier, was ich bemerken wollte,“ wandte sich der Director an diesen, „Sie wissen, nicht zu viel Süßigkeit, lieber etwas mehr Kraft!“ Der Bariton nickte nur mit dem süßesten Lächeln, während der Erstere wieder zu dem Loche am Vorhang eilte.

Nach einer Viertelstunde erschienen endlich zwei der Damen, und während einzelne der Sänger in gravitätischem Schritte die Bühne maßen, an ihrem Costüm zupften oder summend eine Glanzstellung versuchten, entspann sich unter den Uebrigen ein halblautes Zwiegespräch. Aus dem Zuschauer-Raume klangen einzelne Piano-Accorde, und der Director überflog seine Streitkräfte. „Mademoiselle Heyer noch nicht sichtbar?“ fragte er, nach der Uhr blickend. Unruhig that er einige Schritte nach der Coulisse, blieb aber dann unentschlossen stehen und begab sich wieder nach seinem Loche zurück. Außerhalb begann das Publicum sich ungeduldig bemerkbar zu machen. „Madame Meier, würden Sie nicht einmal nach der Garderobe sehen –?“ wandte sich der Director wie im Kampfe zwischen Nothwendigkeit und Bedenken zurück; Mathildens Erscheinen in der Coulisse aber schnitt seine ferneren Worte ab, und Reichardt meinte sein Herz vor der wunderbaren Hoheit der Gestalt, welche sich ihm zeigte, erbeben zu fühlen. Reiche antike Gewänder fielen von der Schulter, den Arm völlig frei lassend, in künstlerischer Drapirung herab, und nur der glänzende Gürtel deutete die Feinheit der Formen an; ein blitzender Reif schien den lose aufgebundenen, tiefschwarzen Haarreichthum zu halten, unter welchem ein Gesicht, frei von Schminke, wie aus weißem Marmor gemeißelt, erschien. So ernst, als lebe sie bereits in dem Geiste ihrer Rolle, trat sie in die Mitte der Bühne und sagte einfach: „Wir können beginnen!“

Des Directors Blick hatte ihre Bewegung verfolgt, und eine Art Verzückung schien in seinem Gesichte aufzusteigen, ihn für einige Secunden alles Uebrige um sich her vergessen machend. „O,“ sagte er endlich mit einem tiefen Athemzuge, der ihn wieder in das gewöhnliche Leben zurückzubringen schien, „der Geschmack, ja der Geschmack muß da sein!“ und damit gab er durch leises Klatschen das Zeichen zur Gruppirung. Das erste Klingelzeichen erfolgte, und vom Piano erklang eine rauschende Einleitung, mit dem zweiten Zeichen flog der Vorhang auf, und ein Chor, so kräftig, als es nur die geringe Zahl der Darsteller erlaubte, begann.

Reichardt hörte italienische Musik, die er nicht kannte, und italienische Worte, die er nicht verstand – er war sein Lebtag kein Verehrer der leichten italienischen Richtung gewesen – aber sein Auge ruhte bewundernd auf dem Bilde, welches die Gruppe vor seinen Augen bot. Mathilde, hoch aufgerichtet, schien die Erfüllung eines ihrer Befehle zu erwarten; vor ihr, demüthig gebeugt, das Gesicht mit dem vollsten Ausdruck von Schmerz und Bitte zu ihr erhoben, stand der Bariton und begann seine Stimme mit der des umher gruppirten Chors zu mischen. Es war wirklich ein Künstler, dieser Meier, seine Töne, so süß und eindringlich, schienen die Klagen einer zurückgestoßenen Liebe zu sein, in seinen Mienen wie seinen Bewegungen lag eine Tiefe der Empfindung, wie sie die Natur selbst kaum wahrer hätte schaffen können; in Mathildens Gesichtsausdruck aber schien mit jeder seiner Noten nur ein größerer Widerwille hervorzutreten, und jetzt, mit einer majestätischen Handbewegung Alles um sich her zurückweisend, begann sie eine jener großen italienischen Cavatinen, deren Töne [354] bald in ihren weiten Intervallen wie Blitze einschlagen, bald in ihren weichen Melodien das ganze Leid einer Seele auszuströmen scheinen, bald in ihren Rouladen das Wallen des südlichen Blutes verrathen. Reichardt saß in seinem Versteck, seine Sinne nur in Auge und Ohr vereinigt; er hatte weder von dieser Macht ihrer Stimme, noch dieser geschulten Fertigkeit, noch dieser Fähigkeit des tragischen Ausdrucks eine Ahnung gehabt; sie war, wie sie hier stand, eine völlig Fremde für ihn, und fast mit einer Art Ängstlichkeit suchte er in ihrem Gesichte das auf, was ihn an die Mathilde außerhalb des Theaters erinnern konnte.

Ein völliger Sturm des Applauses brach nach dem ersten Satze in dem gefüllten Hause los; sie schien aber kaum darauf zu achten und nur in der Handlung der Scene zu leben; der Bariton hatte sich ihr genähert und seine Bitten von Neuem begonnen; wieder zurückgewiesen begann er dringender und leidenschaftlicher zu werden, und jetzt entspann sich ein Duett, in welchem Reichardt bald nicht mehr wußte, was er mehr bewundern sollte, den Gesang oder die Wahrheit des Spiels; Meier’s Gesichtsausdruck schien eigens für derartige Scenen geschaffen zu sein, immer drängender und süßer flehend wurden seine Töne, immer schmerzlicher seine Züge, bis endlich große Thränen, helle, wirkliche Thränen über die geschminkten Backen rollten. Reichardt meinte, das Schluchzen werde ihm jetzt gleich die Stimme abschneiden, aber jetzt schien der Mann erst in die ihm zusagende Höhe der Empfindung gelangt zu sein. Daß die so Angeflehte erweicht werden mußte, ließ sich kaum anders erwarten; sie neigte sich nach einem langen innern Kampfe zu ihm, und mit dem jubelnd einfallenden Chore, von dem wüthenden Applaus der Zuhörermenge begleitet, führte er die Gewonnene ab.

Beide waren in Reichardt’s unmittelbarer Nähe in die Coulisse getreten, und kaum hier angelangt wollte Mathilde sich von ihrem Begleiter wegwenden, als dieser, wie in Ekstase, sich ihrer beiden Hände bemächtigte und wie halberstickt von seiner Empfindung in demselben schmerzlichen Tone, der seinen Gesang bezeichnet, ausrief: „Mathilde, Mathilde, fühlst Du denn noch immer nichts?“

Sie wollte sich mit einer kurzen Bewegung frei machen, aber er hielt sie fest und fiel vor ihr auf die Kniee. In ihr bleiches Gesicht stieg das Roth des Zorns. „Sie schämen sich also wirklich nicht, Sie, ein verheirateter Mann, ein schutzloses Mädchen zu verfolgen?“ rief sie mit dem Ausdrucke der bittersten Verachtung.

„O Mathilde, sieh meine Thränen!“

„Sie haben wieder getrunken, Herr, das ist Alles!“

Reichardt, von Ueberraschung gefesselt, wußte nicht sogleich was zu thun; da sah er den Bariton aufspringen und seine Arme ausbreiten, hörte: „O Mathilde, ich kann Dich nicht lassen!“ und wollte hinzueilen, als eine kräftige, klatschende Ohrfeige auf des Liebeerregten Gesicht fiel, die diesen einen Schritt zurücktaumeln machte; im gleichen Augenblicke war auch das Mädchen verschwunden.

Auf der Bühne gingen eben die letzten Töne des Schlußchors in dem neuausbrechenden Beifallssturme unter.

Reichardt fand es jetzt nicht für gerathen, seine Anwesenheit kund zu thun; er wartete, bis der abgewiesene Liebhaber, der sich rasch zu fassen schien, als er den Actschluß inne wurde, davon ging, und verließ dann seinen Versteck.

Auf seine Frage, wo er wohl die Schwester finden könne, wurde er nach einem der Garderobezimmer gewiesen und nicht ohne eine Art von Befangenheit klopfte er hier an. Er hielt es für seine Pflicht, dem Mädchen zu sagen, daß er die eben stattgefundene Scene belauscht, daß sie sich als unter seinem Schutze betrachten möge, und daß er beabsichtige, dem Menschen eine gebührende Lection zu geben; demohngeachtet fühlte er sich auf so völlig fremdem Boden, kannte so wenig die möglichen Beziehungen und den herrschenden Ton in derartigen Kreisen, daß er nicht wußte, ob es nicht vielleicht discreter sei, nichts gesehen zu haben.

Sein Pochen blieb ohne Antwort, und erst als er den Mund an die Thür legte und halblaut sagte: „Max ist es, Mathilde!“ schob sich der innere Riegel zurück. Mitten unter den reichen Gewändern und Schmuckgegenständen, welche überall in dem kleinen Raume ausgebreitet lagen, blickte ihm Mathilde, in ein leichtes Tuch gehüllt, mit einem Gesichte entgegen, das sich zu lächeln bemühte und es doch nicht vermochte, mit Augen, von welchen eben die Thränen gewischt zu sein schienen und die dennoch im hellen Wasser schwammen – und Reichardt dachte nicht mehr an die Indiskretion, die er sich gefürchtet hatte zu begehen. „Thue Dir keinen Zwang an, Mathilde,“ sagte er, ihr die Hand entgegenstreckend, „ich bin willenlos Zeuge des letzten Auftrittes hinter der Coulisse gewesen; sage mir nur, ob ich als Dein Bruder handeln darf, und ich denke, der Mensch soll Dich nicht mehr belästigen!“

Ein tiefes Roth war bei seinen ersten Worten in ihr Gesicht gestiegen, das nur langsam sich wieder verlor. „Du warst Zeuge?“ erwiderte sie, sichtlich ihre Erregtheit niederkämpfend, „gut, so habe ich Dir von Begegnissen dieser Art nicht erst zu erzählen. Laß es aber nur,“ fuhr sie, seine Hand drückend, fort, während trotz ihres Ringens nach Fassung ihre Augen immer wieder überquollen, „ich werde allen Quälereien dieser haltlosen Stellung ein Ende machen und mir den nöthigen Schutz verschaffen – morgen schon. Heute Abend aber sprechen wir noch ein Weiteres mit einander, ich habe in der zweiten Abtheilung nur einmal, gleich zu Anfange, zu singen. Hole mich hier ab, sobald ich durch bin, damil wir allein nach Hause kommen – und nun geh, damit ich mich nicht mehr aufrege, als jetzt für meine Stimme gut ist!“ Sie drückte ihm von Neuem die Hand, und er ging, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Auf der Bühne hatte bereits eine neue Production begonnen; er stieg die kurze Treppe nach einer der Theaterlogen hinauf und setzte sich im Hintergrunde derselben nieder; aber er hörte wenig von der Scene. Seine Gedanken waren bei dem Mädchen, welches das Ungeeignete ihrer Stellung so tief empfand und dennoch sich an dem eigenen Muthe und dem Vertrauen auf die innere Kraft immer wieder aufrichtete. Eine warme Theilnahme an ihrer Lage begann sich seiner zu bemächtigen, er grübelte, woher ihr wohl der Schutz, den sie sich so schnell zu verschaffen gedachte, kommen solle, ob sie wohl daran denke, ihren jetzigen Beruf zu verlassen, und unwillkürlich trat das Bild einer musikalischen Wirksamkeit an ihrer Seite vor seine Seele. Er Musiklehrer, während sie sich schnell zu seiner Unterstützung heranbilden würde; sie Kirchensängerin und er vielleicht später am gleichen Orte Organist, beide in den besten Familien eingeführt, überall geehrt und geachtet – es lag eine Stille und behagliche Ruhe in dem Bilde, die ihm nach der Unsicherheit und Rastlosigkeit seines bisherigen amerikanischen Lebens eigenthümlich wohl that. Die Scene war zu Ende, eine neue hatte begonnen, aber kaum riß ihn der lärmende Beifall des Auditoriums für Augenblicke aus seinen Träumereien, und erst als Malhildens silberklare, mächtige Stimme an sein Ohr schlug, raffte er sich wieder zur Wirklichkeit empor.

Als er kurze Zeit nach ihrem Abtreten sich an ihrer Garderobe meldete, fand er sie bereits zu seiner Begleitung fertig. An seinen Arm gehangen schritt sie, ohne die fragenden Blicke der übrigen Sänger zu beachten, nach dem Ausgange; nur als sie hier auf den Director traf, welcher mit einer tiefen Verneigung zur Seite trat, blieb sie stehen und sagte: „Ich gehe, Monsieur Fonfride, da ich doch heute nicht weiter nöthig bin; ich möchte Sie aber bitten, mir morgen früh eine halbe Stunde in meinem Zimmer zu gönnen.“

Reichardt sah, wie es in dem Gesichte des Mannes aufleuchtete, ähnlich dem Ausdrucke, welchen Jener bei Mathildens erstem Auftreten in seinen Zügen beobachtet hatte. Das Mädchen aber neigte nur leicht den Kopf und zog ihren Begleiter nach der matt erleuchteten Treppe. Wortlos schritten Beide neben einander hinab, bis sie die Straße erreicht hatten.

An der vorderen Ecke des Theatergebäudes stand ein Mann mit weißem Sommerhute, der langsam aus ihrem Wege trat, als sie die Stelle passirten. Fast war es Reichardt, als hänge sich das Mädchen beim Anblick des Wartenden fester an seinen Arm.

„Ich glaube, der Mensch folgt uns,“ sagte sie nach einer Weile halblaut, „laß uns schärfer gehen!“

„Und was liegt daran, wenn er uns folgt?“ fragte er mit einem neuen Anfluge von Befremdung.

„Daß er im Stande ist, uns anzureden und an unserer Seite zu bleiben,“ erwiderte sie, ihren Begleiter zu schärferem Schritte drängend; „ich möchte aber jetzt weder eine Sylbe von ihm hören, noch Dich in einem Wortwechsel mit ihm sehen!“

Reichardt gab schweigend ihrem Drängen nach; als er aber beim Umbiegen der nächsten Ecke zurückblickte, sah er wirklich in geringer Entfernung den Agenten ihrem Wege folgen.

[355] Eine Viertelstunde später saßen Beide in Mathildens kleinem Zimmer im Hotel. Das Mädchen hatte sich, ihrer Umhüllungen entledigt, wie erschöpft in die Polster des Divans fallen lassen und die Hand vor die Augen gedrückt, während Reichardt einen Stuhl herangezogen und sich mit dem unverhüllten Ausdrucke von Theilnahme und stiller Spannung ihr gegenüber niedergelassen hatte.

„Sieh, Max,“ begann sie endlich, ihre Hand sinken lassend und das Auge, in dem sich Innigkeit mit einem Ausdruck von Trübsinn seltsam mischte, zu ihm aufschlagend, „Du bist der Einzige auf meinem ganzen Lebenswege, der mir eine Theilnahme gezeigt hat, die nicht zumeist nur der eigenen Selbstsucht diente, und darum will ich gegen Dich so wahr sein, als ich es nur gegen mich selbst sein könnte. Was mich herüber in die neue Welt gebracht,“ fuhr sie nach einem kurzen Athemzuge fort, „ist eine einfache Geschichte, wenn sie auch nicht zu den gewöhnlichen gehört. Ich war kein Mädchen wie andere; ich mochte nicht still sitzen, nicht nähen und nicht kochen, wollte nichts als leichtfertige Dinge treiben, Schauspiele lesen, singen, musiciren und declamiren, und meine Jugend war durch die Zwangsmaßregeln, die mich zu einem „ordentlichen Frauenzimmer“ machen sollten, so trübe, als sie nur sein konnte. Den einzigen Richtpunkt darin bildete meiner Mutter Bruder, ein alter Junggeselle und leidenschaftlicher Musiker, der Einzige, der mit mir in meinen Neigungen sympathisirte. Er brachte mir die Anfangsgründe der Musik bei, begann trotz meiner Jugend mit mir einen regelrechten Cursus im Singen und ließ mich zwischen seinen vier Wänden meinen Leidenschaften nach Herzenslust nachhängen. Aber er ging, noch ehe ich erwachsen war, zur Verbesserung seiner Lage nach New-York – er war es, den ich dort zu finden gehofft und der mir auch durch einzelne Andeutungen den ersten Gedanken eingegeben, mich aus der beengenden Welt, wie sie mich drüben umgab, hierher zu retten, wo für jedes Talent und jedes redliche Streben sich freier Raum findet. Und ich führte den Gedanken aus, als mein Vater gestorben war, als meine Mutter jeden Augenblick freier Zeit zur nothwendig gewordenen Erwerbung des Lebensunterhaltes forderte. Ich hatte bis dahin, trotz des Widerstrebens meiner Eltern, meine Gesangstudien fortgesetzt, hatte jeden von meinem Toilettengelde ersparten Groschen für Lectionen ausgegeben und daneben mir die nothwendige Kenntniß der italienischen und französischen Sprache verschafft. Ich hoffte sicher, wenn auch nicht als Künstlerin, so doch als Lehrerin meinen Unterhalt zu verdienen, und glaubte daneben Kraft genug zu haben, um auch im schlimmsten Falle selbständig für mich bestehen zu können. Aber ich habe lernen müssen, daß es das größte Verbrechen einer Frau ist, nicht nur Frau, sondern Mensch im Allgemeinen sein zu wollen, zu dessen Bestrafung sich Jeder, Mann wie Frau, gleich berufen fühlt.

„Als ich in New-York einsah, daß unser Beider Weg nicht zusammen gehen könne,“ fuhr sie, einen Moment das Auge senkend, fort, „nahm ich den Vorschlag an, einer sogenannten italienischen Operngesellschaft, welche sich zu einer Tour nach dem Süden rüstete, beizutreten. Derselbe Agent, den Du hast kennen lernen, war es, der mich in unserm Boardinghause hatte singen hören und mich zu dem Director geleitete. Ich sang vor diesem – Arien, die ich längst während meiner Studien durchgeübt, und ward angenommen; das erste Concert fand statt, ich erlangte mit einigen gut einstudirten Piècen einen größern Erfolg, als ihn wahrscheinlich die Gesellschaft bis dahin gehabt, und von diesem Augenblicke an beginnen meine Erfahrungen. Ich hatte es verschmäht, mich unter den Schutz der einzigen verheirateten Frau in unserer Truppe zu begeben, lebte und studirte für mich, und jeder meiner Schritte ward von dem weiblichen Personale mit Achselzucken und halblauten Bemerkungen begleitet. Das verachtete ich und ging mit tauben Ohren meinen Weg weiter. Bald aber begann sich eine eigenthümliche Aenderung in dem Wesen der Männer zu zeigen. Der Director hatte schon nach den ersten Abenden seiner höflichen Amtsmiene eine wunderliche Süßigkeit beigemischt; er schien sich über ein Costüm meiner Wahl begeistern zu können, und bei nöthigen Bemerkungen kaum den Ton rücksichtsvoll genug treffen zu können; ich hatte indessen schon am ersten Tage des Mannes aufrichtige Begeisterung für die Kunst kennen lernen – sie ist eine Art Steckenpferd für ihn, dem er wohl selbst einen Theil des Vermögens, das er besitzt, opfern würde, und schrieb sein Benehmen ebenso dieser Eigenthümlichkeit wie seiner wohl etwas altfranzösischen Erziehung zu. Daneben schien der Agent – der mit uns immer etwas von oben herab verkehrte, wie der Geldmann, an welchem das ganze Heil von uns armen Vagabonden hing – mich plötzlich mit besonderen Augen zu betrachten. Seine anfängliche Protector-Miene wich einer leichten Umgangsweise, welcher sich indessen bald eine Art Vertrautheit in seinem Tone beigesellte, zu welcher ich ihm am wenigsten ein Recht gegeben, die aber auch keinen rechten Halt für eine Zurückweisung bot. Ich regelte mein Benehmen ihm gegenüber noch strenger als bisher, ohne dadurch indessen eine andere Wirkung zu erzielen, als daß er sich eines Tags lächelnd nach mir bog und halblaut sagte: „Sie spielen die Spröde, Miß, und es steht Ihnen allerdings entzückend; ich denke indessen, wir werden uns bald besser verstehen!“ Ich hatte diesmal ein passendes Wort für ihn auf der Zunge, aber er hatte sich weggewandt, ohne meine Entgegnung abzuwarten.

„Das veränderte Benehmen beider Männer gegen mich war schnell genug in dem übrigen Kreise bemerkt worden, und ich konnte in den Mienen und der Begegnungsweise meiner Umgebung nur zu gut wahrnehmen, welche Art von Betrachtungen darüber angestellt wurden; fast schien es mir aber, als sei erst dadurch unser Bariton ermuthigt worden, mir Aufmerksamkeiten zu widmen, die in seiner gebundenen Stellung schon an sich Beleidigungen waren, und trotz der entschiedensten Zurückweisung mich auf Tritt und Schritt mit seiner süßschmachtenden Miene zu verfolgen. Heute aber erst, wo er sich, dem Dufte nach, einmal wieder durch eine Quantität Grog auf die gehörige Gefühlshöhe für die Vorstellung gebracht, ist er soweit gegangen, wie Du es gesehen – mag er indessen jetzt bei Seite bleiben, ich habe noch der beiden Vorigen zu erwähnen. – Es war vorgestern, und wir befanden uns auf der Fahrt von Louisville hierher. Außer den Damen unserer Gesellschaft, welche immer zeitig ihr Bett suchten, war fast kein weiblicher Passagier auf dem Dampfboote, und ich saß Abends noch allein im Damensalon, allerhand Träumereien hingegeben. Da kam der Director an und bat, noch ein Viertelstündchen mit mir plaudern zu dürfen; ich mochte es nicht abschlagen, so gewiß ich auch war, dadurch einen neuen Stoff zu heimlichen Klatschereien zu geben, und mit einem förmlichen, fast ehrerbietigen Wesen trug er sich einen Stuhl in meine Nähe. Es war nichts mehr und nichts weniger als ein Heirathsantrag, welchen er mir machte. Er zog Papiere aus der Tasche, um mir nachzuweisen, daß er nicht an unser jetziges Unternehmen gebunden sei, sondern ein Vermögen besitze, das ihm genug zum Unterhalt abwerfe; setzte aber hinzu, daß er sehnlichst wünsche, an meiner Seite der Kunst dienen zu dürfen, bis ich selbst den Geschmack an ihrer Ausübung verlieren würde. Seine ganze Rede war so würdig und gehalten, jedes Wort athmete so viel Achtung gegen mich, daß ich mich nicht nur nicht beleidigt fühlen konnte, sondern daß ich ihm nicht einmal, obgleich mein Auge auf sein ergrautes Haar fiel, durch eine schroffe Abweisung wehe thun mochte. Ich sagte ihm, daß ich noch nie an einen Schritt, wie er ihn mir vorgeschlagen, gedacht habe, daß er selbst wohl auch besser thue, mich erst längere Zeit kennen zu lernen, und daß wir Beide für die nächste Zeil sein Wort lieber als noch nicht gesprochen ansehen wollten. Er reichte mir, ohne durch eine Miene seine Täuschung zu verrathen, mit einer Verbeugung die Hand. „Mein Wort ist gesprochen, Mademoiselle,“ sagte er, „und es wartet Ihrer Entscheidung, mögen Sie diese nun jetzt oder erst zu späterer Zeit geben!“

„Am nächsten Abend erreichten wir St. Louis, der vorausgegangene Agent erwartete uns, und ich konnte es nicht hindern, daß er die Uebrigen den Auswärtern im Hotel überließ, mit mir aber selbst ging, um mir mein Zimmer zu bezeichnen. „Ich muß einige Worte von Wichtigkeit zu Ihnen reden, Miß, ehe ich wieder abreise, lassen Sie mich fünf Minuten bei Ihnen eintreten,“ sagte er, als wir die Thür erreichten; ehe ich jedoch einen Entschluß fassen konnte, war er bereits im Zimmer und zündete, wie um meine Besorgnisse zu beseitigen, eine helle Gasflamme an. Ich war ihm nothgedrungen gefolgt, er zog, als sei ich bei ihm zum Besuch, und er nicht bei mir, einen Stuhl für mich herbei, und als ich, mit dem festen Entschlusse keine Art von Ungebührlichkeit zu ertragen, mich gesetzt hatte, begann er: „Ich denke, Miß Heyer, daß wir Beide in dem einen Punkte gleicher Meinung sein werden, bei unserer jetzigen Reise den möglichst besten Gewinn herauszuschlagen. Vielleicht wissen Sie aber, daß Mr. Fonsride in Allem, was über den Geschmack hinausgeht, ein pures Kind ist, und daß ich es bin, der das ganze Geschäft macht, während Sie [356] in Ihrer Person allein die künstlerische Anziehungskraft bilden. Jetzt frage ich Sie, warum wir Beide uns für den Nutzen Anderer quälen sollen? Nehmen Sie Ihr Talent und meine Geschäftsroutine von der Truppe, und es bleibt nichts. Ich schlage Ihnen ein Compagnieqeschäft zwischen uns vor, am liebsten für das ganze Leben als Mann und Frau, was Ihnen auch zugleich die sicherste Garantie für meine Ehrlichkeit bietet; in acht Tagen will ich bessere Kräfte als die jetzigen bei einander haben, und in zwei Jahren sollen Sie eine reiche Frau sein. Was sagen Sie zu der Idee, die Ihnen vielleicht unerwartet kommt, die Sie aber jeder Abhängigkeit entreißt und Ihnen den vollen Ertrag Ihrer Begabung zusichert, Miß?“

„Ich sage, daß ich meinen eingegangenen Contract halten werde,“ erwiderte ich ihm kalt. „Im Uebrigen habe ich meinen jetzigen Beruf mehr der Befriedigung, welche mir die Kunst gewährt, als eines hohen Gewinnes wegen ergriffen.“

„Genau, was ich als erste Antwort von Ihnen erwartete,“ lachte er, „indessen, meine theure Miß,“ setzte er ernster hinzu, „wissen Sie nun, warum ich Ihnen näher trat, und ich denke viel zu hoch von Ihrem Verstande, als daß ich nicht die nähere Erwägung meines Vorschlags von Ihnen erwarten sollte. Selbst wenn man nicht nur dem Gewinne allein nachgeht, wird der Kluge nicht seine besten Kräfte opfern, nur um andern Leuten die Taschen zu füllen – namentlich wenn er es in der Hand hat, sich eine eigene sorgenfreie Zukunft zu gründen. In einigen Tagen sehen wir uns wieder,“ setzte er, seinen Platz verlassend, hinzu, „und dann wollen wir den Gegenstand noch einmal aufnehmen.“

„So –“ schloß Mathilde mit einem tiefen Athemzuge ihre Erzählung, „so ist jetzt meine augenblickliche Stellung in dieser Truppe. Die Conflicte, die sich daraus entwickeln müssen, scheinen mir schon heute Abend mit der handgreiflichen Zurückweisung Meier’s begonnen zu haben, und will ich den nachfolgenden aus dem Wege gehen, will ich die Unannehmlichkeiten meiner haltlosen Lage nicht bis zum Boden durchkosten, so muß ich einen raschen, bestimmten Entschluß fassen – und nun, Max, nachdem Du Alles gehört hast,“ fuhr sie fort, ihre Hand auf die seine legend, „sprich Deine Gedanken gegen mich aus – offen, so offen als ich mich Dir gegeben!“

Reichardt nahm des Mädchens Finger leicht zwischen seine beiden Hände, und in seinem Gesichte begann es wie ein klarer, beglückender Entschluß aufzuleuchten. „Als Du in New-York nicht wußtest, wohin allein in der großen Stadt,“ begann er lächelnd, ihr in das große, tiefe Auge blickend, „da führten wir das Geschwister-Verhältniß zwischen uns ein, Mathilde. Wir hätten das, trotz aller obwaltenden Verhältnisse, wohl nicht gethan, wenn unsere Seelen nicht etwas Verwandtes gehabt hätten, das uns zu einander zog. Das Geschwister-Verhältniß erwies sich nicht ganz stichhaltig,“ fuhr er mit einem neuen Lächeln fort, vor welchem sich ihre Wangen leicht färbten, „und heute, wo Du Dich fragst, wohin allein in der weiten Welt, sitzen wir wieder berathend bei einander. Warum ergreifen wir nun nicht ein Auskunftsmittel, das so nahe liegt, Mathilde? Mir sind die besten Hoffnungen auf einen reichen Erwerb durch Unterricht hier gemacht, um Dich wird sich Alles reißen, was nur einer Sängerin bedarf – wirf das wandernde Leben von Dir, gieb mir die Hand, und wir gehen morgen früh zum nächsten Friedensrichter, um uns durch keine Lage dieses Lebens wieder von einander trennen zu lassen!“

Es war ein Ton der vollsten Innigkeit, mit welchem die letzten Worte gesprochen waren, und des jungen Mannes Auge glänzte wie in der vollsten Genugthuung seines Herzens. In Mathildens Gesicht war eine glühende Röthe eingetreten; aber sie schlug den Blick nicht nieder, ihre Hand umfaßte warm die seinige, und plötzlich brachen wie zwei helle Bäche die Thränen aus ihren Augen.

„Mathilde, warum denn weinen?“ rief Reichardt, als überkomme ihn selbst eine plötzliche Rührung; das Mädchen aber erhob sich rasch und neigte sich über ihn, zwei, drei rasche, heiße Küsse brannten auf seinen Lippen, dann, in ausbrechendem Schluchzen, wandte sie sich nach dem andern Ende des Zimmers.

Der junge Mann war aufgesprungen. „Gott, was ist es denn, Mathilde? habe ich denn mehr gesagt, als nur völlig natürlich ist?“ rief er; sie aber wandte ihm das Gesicht langsam wieder zu. „Laß nur, es ist schon vorüber,“ sagte sie, während in ihren Zügen ein Lächeln mit ihrer Erregung zu kämpfen schien.

„Ich danke Dir, Max,“ fuhr sie herantretend und ihre Hand ihm entgegenstreckend, fort. „ich danke Dir aus der Tiefe meines Herzens, denn Du hast mich so glücklich gemacht, wie Du es selbst nicht weißt – aber, Max, es kann ja nun- und nimmermehr sein, was Du aussprachst!“

(Fortsetzung folgt)




Erinnerungen an Ernst Rietschel.

Von Berthold Auerbach.
III.

Ich habe eines Festes erwähnt und muß dies mit einem andern nachtragen. Es war einer jener wunderbaren Momente, daß auch Lessing, der erste Kämpfer für deutsches Wesen gegen die Allmacht des Franzosenthums, seinen Triumpheinzug in Paris gehalten hat. Rietschel’s Lessingstatue wurde auf der großen Kunstausstellung in Paris als eines der bedeutendsten Werke moderner Plastik mit dem großen Preise gekrönt. Rietschel erhielt den großen Orden und drei- oder viertausend Francs als Ehrensold dazu. Die Kunstgenossen und die Freunde Rietschel’s brachten ihm hierauf einen Fackelzug. Ich war bei Rietschel mit andern Freunden, als die Musik erscholl, die Fackeln leuchteten und das Hoch ertönte und er die Anrede der Begrüßenden erwiderte. Er ließ uns lange nicht fort, als Musik und Fackellicht längst verklungen und verschwunden war.

Nach der Ausstellung der Schiller-Goethegruppe fühlte sich die ganze Dresdner Künstlerschaft gedrungen, dem Meister ein Zeichen der Huldigung und der Liebe zu geben. Im „Deutschen Haus“ wurde am 14. Februar 1857 das Fest zu Ehren Rietschels gehalten, mit allerlei Trinksprüchen und Gesängen. Ich hatte die Freude, daß ich den Trinkspruch auf die Schüler und zugleich auf den Meister Rietschel’s, auf Rauch, auszubringen hatte, dessen Büste – ein unvergleichliches Meisterwerk, wie nicht leicht eins zu finden – Rietschel gefertigt hatte und die nun im Festsaale aufgestellt war. Ich führe hier die früher genannten Verse an, die an sich keinen Werth haben, die aber dadurch einen Werth gewinnen mögen, daß sie dem Meister und Freunde so herzliche Freude bereiteten:

(Melodie: Prinz Eugen der edle Ritter etc.)
 
Gotthold Lessing, der edle Ritter,
Kam herauf, wie ein Gewitter,
Das die Lüfte frisch durchkreist
Er thät schlagen die Parucken,
Daß sie mußten niederducken,
Und erneut ward Deutschlands Geist.

Und als die Parucken waren geschlagen,
That er nun den Deutschen sagen,
Was das wahre Leben sei:
Laßt uns frei die Herzen schlagen,
Künden, was sie in sich tragen,
Trotz Professoren und Klerisei.

Und als die Hand des Dramaturgen
Eingestürzt die alten Burgen,
Drin der Ungeschmack genist’t,
Zeigt er auch im schönen Muster,
Daß nicht blos zu stürzen wußt’ er,
Auch zu bau’n was ewig ist.

Und mit der Eisenfaust von Götzen
Thät dann Goethe scharf auswetzen
Jede Schart’ der Fremdelei’n
Stieg hinan die höchsten Höhen,
Von wannen je der Geist gesehen
Zum Himmel hinauf und zur Erde hinein.

Und mit freiem Götterfluge
Schiller folgt dem reinen Zuge,
Ledig wesenlosen Scheins.
Solche Männer im Freundschaftsbunde –
Deutschland schlug die höchste Stunde,
Die zwei größten Herzen in eins.

Doch auch die Größten müssen sterben
Und den Leib der Erd’ vererben,
Der sie lieh’n die höchste Pracht.
Soll’n wir nimmer sie wieder sehen?
Nimmer ihnen vor Augen stehen?
Nein, seid wieder an’s Licht gebracht!

Und Ernst Rietschel ward erlesen,
Neu zu schaffen, die gewesen
Und erreicht unsterblich Sein.
Auf Du Trias deutscher Geister!
Dich erweckt ein neuer Meister,
Ewig rag’ ins Leben hinein!

Seht in Erz das Bild der Besten:
Lessing’s sichern, Goethe’s festen
Gang und Schiller’s Sonnenflug;
Alles hat er neu gestaltet,
Daß es nun und nie veraltet,
Jeden treulich Zug für Zug.

Auf, ihr Geigen und Trompeten,
Ihr Clarinetten und ihr Flöten,
Stimmt in uns’re Worte ein:
Hoch! Der edle tapfre Meister,
Der die Trias deutscher Geister
Uns wiedergab so groß und rein!

[357]

Rauch und Rietschel im Rietschel’schen Atelier.
Original-Zeichnung von Paul Thumann.

[358] Ich muß hier leider noch ein Stück aus der Schmach unsers deutschen Daseins verzeichnen. In jedes Deutschen Leben wirft die Zerfahrenheit und Rechtlosigkeit unserer vaterländischen Zustände einen dunkeln Schatten. Abgesehen davon, daß der äußere Ertrag auch der Schiller-Goethe-Gruppe ein sehr geringer war, wurde dem Meister auch noch das künstlerische und materielle Recht seiner Arbeit verkümmert. Rietschel hatte bald die Gruppe zum Zimmerschmuck in verkleinertem Maßstab ausgearbeitet. Nun aber wurde in Dresden selbst eine Nachbildung derselben gemacht und zugleich in vielen andern Orten, wo man sie in gebrannter Erde und nipptischfähig mit Goldrändern, goldenem Lorbeerkranz und all dergleichen Unzier ausstattete. Gerade die Rietschel’sche Ausdrucksweise – und das ist von allgemeiner Bedeutung für die ganze Kunst – steht auf jener feinen Grenzlinie, wo sich Wirklichkeit und künstlerische Wahrheit eint; irgend ein Zug anders gemacht, vergröbert das Ganze und drückt es in die Trivialität hinunter. Rietschel war in seiner innersten künstlerischen Intention beleidigt durch den verunstaltenden und rechtswidrigen Diebstahl, und wie nun einmal die Begriffe von geistigem Eigenthum noch so verworren sind in Deutschland, es gab sogar Manche, die, auf nationales Besitzthum hinweisend, die Abwehr für unangemessen hielten.

Rietschel klagte bei Gericht und hatte viel Scheererei von dieser Sache, denn im processualischen Formalismus stehen wir den Engländern nicht nach, bei denen aber ein Künstler, der ein solches Werk geschaffen, für Lebenszeit ein sorgenfreies Dasein führen könnte. Rietschel mußte ein Zeugniß beibringen, daß er der Bildner der Schiller-Goethe-Gruppe sei. Der Nachbildner wurde dann allerdings verurtheilt, aber noch oft, wenn wir über die Straße gingen, sahen wir in den Schaufenstern fremde verunstaltete Nachbildungen. Sollte der Künstler gegen jedes Einzelne Klage erheben? Er ließ die Sache auf sich beruhen, und Tausende kauften die fratzenhaften Nachbildungen, und Niemand dachte daran, daß man den Künstler verunehren und bestehlen helfe. Künftige Zeiten werden es hoffentlich kaum mehr für möglich halten, daß man so mit einem Meister und einem Werke verfuhr, die die Ehre des deutschen Namens verkörperten.

Rietschel stand so hoch als Meister, und wahrhaft andachterweckend war es, wie er sein Verhältniß zu seinem Meister Rauch festhielt. Es ist ein beneidenswerthes Geschick, das dem bildenden Künstler gegeben ist, einen lebendigen, unmittelbaren Meister zu ehren und ihm nachzueifern. Es war ein herzerhebender Anblick, Rietschel und Rauch nebeneinander hergehen zu sehen; die beiden großen Gestalten, anzuschauen, als ob sie sich selbst aufgebaut hätten. Rauch in mehr selbstbewußter, getragener Haltung, majestätisch und straff, Rietschel von gleicher Größe, aber in Haltung und Ausdruck sich mehr in sich zusammennehmend. Ich brachte den letzten Abend, den Rauch noch in Gesellschaft verlebte, mit ihm bei Rietschel zu. Der Blick, mit dem Meister und Schüler – der nun selbst ein so hoher Meister geworden – einander ansahen, die Art, wie sie einander zuhörten, zunickten, es steht in der Erinnerung als classisches, rein schönes Bild der Männerfreundschaft. An jenem Abend war Rauch zum letzten Male in Gesellschaft und trank das letzte Glas Wein. Der andere Tag fand ihn auf dem Krankenlager, von dem er sich nicht mehr erhob. Es läßt sich denken, wie nahe Rietschel der Tod des Meisters ging, und er fand eine besondere Beruhigung darin, daß er die Büste des Meisters noch geschaffen hatte, die er alsbald, wenn ich mich recht erinnere, für Antwerpen in Marmor ausführte.

Mit vielem Humor erzählte Rietschel oft, wie es ihm in seiner ersten Dresdner Zeit ergangen war, als er in die Lehre zum Bildhauer Pettrich kam, der ihm wenig lehren konnte. Rietschel unternahm es auf eigene Faust einen Auftrag auszuführen und zum ersten Male ein kolossales Werk, eine Neptunstatue für Nordhausen, zu modelliren. Er hatte sie vollständig aufgebaut, da merkte er zu seinem Schreck, daß sich die Thongestalt beugte, bald da, bald dort; er brachte Stützen von außen an, aber eines Tages fiel das ganze Modell zusammen. Er hatte nicht gewußt, daß man das Modell um eine schwere, feste Eisenstange herum aufbauen muß. Oft erzählte er auch, wie es ihm erging, da er im Atelier Rauchs das erste Relief machte. Es war zu sehr ausgeladen, und der Meister ging oft still an ihm vorüber und betrachtete die Arbeit; dann blieb er einmal stehen, nahm dem Schüler die Spachtel aus der Hand, als wollte er corrigiren, schnitt aber das ganze Relief vom Bret ab, so daß es sich langsam vorn überbeugte und zur Erde fiel. Zu seiner und seiner Freunde größter Erheiterung ahmte er oft nach, wie es war, als das Relief eine so schöne Verbeugung machte und endlich vornüber fiel. Das Verhältniß zu Rauch war ein innig beglücktes. Rietschel erzählte gern davon, wie er den Meister nach München begleitet, ihm bei der Arbeit und namentlich auch in allen Schreibgeschäften und Rechnungen half. Auch davon erzählte er gern, wie er mit dem Meister bei Goethe war, um dessen Büste zu fertigen. „Als mich Goethe zuerst ansah, da war’s, als ob dessen ganzes Gesicht lauter Auge wäre, solch ein Auge sieht man nicht mehr auf der Welt.“ Als ich Rietschel einmal sagte, wie es zu den traurigsten Verlusten durch den Tod gehört, daß es kein Mittel giebt, um die Stimme, die Tonlage eines Abgeschiedenen zu vergegenwärtigen, und so auch ein ewiger Verlust bleibe, daß wir nicht wissen, in welchem Tone Goethe sprach – da versuchte Rietschel den vollen Brustton Goethe’s nachzuahmen und er behauptete, daß er das gut verstehe. Rietschel hatte, bevor seine Krankheit ihn hinderte, selbst einen schönen klangreichen Brustton und er liebte die Musik, besonders aber den Gesang.

Wieder, als Rietschel den Auftrag zum Lutherdenkmal erhielt, war er krank. Er las viele historische Schriften aus der Reformationszeit. Er machte sich vertraut mit dem Wesen der darzustellenden Charaktere und der ganzen Zeit-Atmosphäre. Eines Abends war ich mit Bendemann bei Rietschel, und das oft behandelte Thema kam wieder zur heißen Diskussion. Rietschel wollte historisch getreu, aber auch weil es sich künstlerisch bester ausnimmt, Luther im Mönchsgewande darstellen, zumal da ja auch Luther damals, als er das welthistorische Wort: „Hier steh’ ich, ich kann nicht anders“ – sprach, es in der That im Augustinergewande aussprach. Der Chorrock mit den Orgelpfeifen, wie Rietschel die langen Falten nannte, waren ihm zuwider; er gäbe kein Leben. Wir hielten ihm natürlich entgegen, daß Luther nun einmal so dargestellt werden müsse, wie er geschichtlich in der Vorstellung der Menschen steht, wenn er auch den Chorrock erst später anlegte; daß es sich beim Monumente, das die ganze Persönlichkeit zusammenfaßt, nicht um deren momentane Erscheinung handle, daß nicht nur der protestirende Luther, sondern der protestantische zu geben sei, nicht nur der höchste Moment der bewegenden Opposition, sondern auch die zur Ruhe gekommene geschichtliche That in der neuen Position. – Allem diesem wußte Rietschel scharfe Gründe mit tiefer Beweisführung entgegenzustellen. Ueberhaupt war er bei aller Milde und Zartheit seines Wesens doch auch zu heftigem Gegenkampfe geneigt. Er liebte und verwarf entschieden; er hatte nichts von der schwächlichen Vermittlungssucht, die es mit nichts und mit Niemand verderben und es Allen recht machen will, und ich glaube, daß dies durchaus nicht im Widerspruch steht mit der Milde und innigen Güte des Wesens. Wer wahrhaft liebt, voll und ganz, den muß naturnothwendig das Widersprechende abstoßen. Wer die Gesundheit und die Geradheit will, muß alle noch so schön aufgeputzte Corruption und alle noch so gefälligen Beschönigungen streng und ganz verwerfen. Wer den Eifer hat, etwas, was in ihm steht, ins Werk zu setzen und zur Geltung im Leben zu bringen, kann nicht auch das Entgegenstehende gelten lassen. Das schließt natürlich die Menschenfreundlichkeit gegen die Träger der Gegensätze nicht aus; aber die Wahrung der eigenen Persönlichkeit und ihrer unerschütterlichen Überzeugungskraft ist ebenso Recht als Pflicht. Es giebt ein Letztes in der künstlerischen und ethischen Persönlichkeit, das nicht mehr zur Discussion gestellt, nicht mehr mit Beweisführung gestützt werden mag. Hier stehe ich, ich kann nicht anders – so ruft jede überzeugungsfeste Persönlichkeit zuletzt auf einem gewissen äußersten Punkte.

Die geballte Faust, die Luther in zusammengedrängter Kraft auf die Bibel stemmt und damit jenes Urwort plastisch sichtbar ausspricht, das ist, nicht nur im Geiste Luthers, sondern auch im eingeborenen Geiste des Künstlers ebenmäßig nothwendig. Weichlichere, fügsamere Naturen möchten wohl hier die aufgelöste Hand wünschen, ein sanftmüthiges Hinweisen mit dem Zeigefinger auf die Bibel – aber Rietschel faßte geschichtlich und naturnothwendig die ganze Gestalt, als die aus innerster Glaubenszuversicht kämpfende und siegesgewisse; das Hin und Wider ist vorbei, es gilt nunmehr den ganzen kriegerisch geschlossenen Einsatz der Persönlichkeit, der der letzte und höchste Beweis innerer, unbeugsamer Ueberzeugung ist.

Rietschel war überaus glücklich, als er endlich eine Wohnung in dem Abendroth’schen Hause auf der Brühlschen Terrasse fand. [359] Er konnte den größten Theil des Weges nach seinem Atelier geschützt vor dem Luftzuge am Wasser zurücklegen. Wir hatten den letzten Winter von 1858 auf 59 eine feste, wöchentliche, abendliche Familien-Zusammenkunft mit Rietschel und einer andern uns beiderseits nahebefreundeten Familie. Rietschel war glücklich, wenn er bewirthen konnte, nur war er empfindlich, wenn man ihn mit der Billigkeit seiner Cigarren neckte, und er ließ sich endlich dazu herbei, für die Freunde eine bessere Sorte anzuschaffen.

Rietschel hatte es doch nicht unterlassen können, Luther im Mönchsgewande zu skizziren und daneben im Chorrock. Er stellte die Skizzen einigen wenigen Freunden vor. Er hatte es aber auch vermocht, der Gestalt im Chorrock derart Bewegung und künstlerischen Fluß zu geben, daß sich Alles für die Fassung entschied, in der wir jetzt das Werk sehen, das unstreitig zu dem Größten gehört, was die deutsche Kunst geschaffen.

Eines Umstandes muß ich erwähnen, weil er ein Beitrag zur Charakteristik unserer allgemeinen und besondern Verhältnisse in Deutschland ist. Rietschel hatte vom Luther-Comité in Worms den Auftrag zum Denkmal erhalten. Nun aber klagte ein eingeborener Künstler aus dem engern hessendarmstädtischen Vaterlande, daß es unrecht wäre, Rietschel die Arbeit zu übertragen; es müsse eine Concurrenz ausgeschrieben werden. Ich darf hier anfügen, daß ich, hiedurch veranlaßt, einen Aufsatz „Thesen zur Frage der Concurrenz in Dingen der bildenden Kunst“ in die Allgemeine Zeitung schrieb. Ich brachte Rietschel den gedruckten Aufsatz nach seinem Atelier, wo eben seine Frau ihn abholte. Wir gingen miteinander – es war Abend – nach einer Bierwirthschaft am Ufer der Elbe; dort las Rietschel den Aufsatz, schalt, wie immer, daß ich zu viel aus ihm mache, neckte mich, daß ich da sehr ketzerische aristokratische Ansichten bekunde, und hoffte doch auch Gutes davon.

Die hessendarmstädtische Regierung hatte sich vorbehalten, erst nach Ansicht des Rietschel’schen Entwurfs ihre Bestätigung zu geben. Rietschel mußte nach Darmstadt reisen. Es bangte ihm davor. Sollte es noch möglich sein, daß er, der sich so ganz in die Sache versenkt, abgewiesen würde? Oder gar, daß man ihm von außen her allerlei private Liebhabereien aufnöthigen wollte? Der alte Staatsrath I., der, wie ich glaube, damals Consistorialpräsident in Darmstadt war, gehörte zu den entscheidendsten und einflußreichsten Persönlichkeiten in dieser Frage. Rietschel wurde nun in Darmstadt trotz alles Widerstrebens veranlaßt, als er I. besuchte, seine sämmtlichen Orden anzulegen. Und nun – es war zum höchsten Ergötzen, wie das Rietschel erzählte – von einer Frage, ob er die Ausführung des Denkmals erhalten werde, war durchaus keine Rede mehr, der alte I. war äußerst zuvorkommend, begleitete Rietschel bis auf die Straße, machte sogar den Kutschenschlag auf und hob ihn hinein.

Ein großer Kampf war Rietschel noch beschieden, während er am Luther arbeitete. Er erhielt den Ruf als Director der Akademie nach Berlin. Wir verhandelten mit einander darüber sehr viel, und als er sich endlich entscheiden sollte, schrieb er mir – der Brief wird sich noch finden, ich war damals den Sommer über in Schandau – und ich antwortete ihm, daß es etwas gebe, das ihn unbedingt nöthige, den Ruf anzunehmen: das Lutherdenkmal rufe ihn nach Berlin. Noch war nur eine geringe Summe dafür zusammengebracht, und der Staat und die Hauptstadt des Protestantismus sei alsdann verpflichtet, das Denkmal zu Ende zu führen. Das half mit zur Entscheidung. Rietschel reiste nach Berlin, kam aber doch wieder ohne feste Verpflichtung. Er fürchtete zu sehr die Bureau-Arbeiten der Direction, die Nöthigung viel zu sprechen, und überhaupt glaubte er, daß er nicht der Mann dazu sei, zumal bei seiner angegriffenen Gesundheit, dem zu entsprechen, was man von ihm erwarten mußte. Die reine und strenge Gewissenhaftigkeit bewährte Rietschel im Leben, wie in seinem Schaffen, und es kann nicht anders sein, als daß es sich in beiden zugleich bewährt. Zudem hatte man Rietschel ein kaum auskömmliches Gehalt geboten, wenigstens war es im Verhältniß zu seiner Dresdner Stellung nach dieser Seite hin durchaus nicht verlockend, und jetzt gab sich die sächsische Regierung alle Mühe, das eingeborene Landeskind, das die Zierde des Landes war, festzuhalten, und Rietschel hing mit inniger Neigung an seinem Heimathlande und an den altgewohnten Verhältnissen.

Es war im Hochsommer 1859, als ich Rietschel einen ganzen Tag für mich hatte. Er kam am Mittag zu mir nach Schandau, blieb über Nacht und athmete mit wahrer Wonne die milde Luft dort im Elbthale ein. Wir saßen noch lange in seinem Zimmer am Fenster und schauten hinaus auf den mondbeglänzten Strom und die dunkeln Berge. Am andern Morgen kam Rietschel ganz früh zu mir, um in dem Berggarten an meiner Wohnung den Kaffee zu trinken. Wir saßen dort unter dem Kastanienbaum, bis die heiße Mittagssonne uns vertrieb. Dann gingen wir in das Kirnitzschthal in den Wald, und hunderterlei, ach leider Vergessenes, was aber doch wie ein stilles ewiges Leben in der Seele ruht, sprachen wir da mit einander. Am Nachmittag war Rietschel voll Heiterkeit, da wir allesammt mit dem anwesenden Dingelstedt und dessen Frau uns an Speise und Trank erlabten. Ich habe Rietschel selten so von Grund des Herzens lachen sehen, als damals, da bei Tische die beiden Frauen als geborene Oesterreicherinnen einander im Erzählen heimathlichen Scherzes überboten. Dann ging’s wieder gemächlich hinaus in’s schattige Thal, bis es endlich Zeit war, den Abendzug nach Dresden zu erreichen. Wir setzten über den Strom. Wir saßen noch eine Weile auf dem Bahnhofe, still hinausschauend nach den Schrammensteinen, die jetzt von der untergehenden Sonne erglühten, die hinter dem Liliensteine verschwand. Dann stieg Rietschel ein; wir hätten ihn gern in lauter Herzlichkeit getragen, so wohl und glücklich machte die Anwesenheit dieses herrlichen Menschen.

Ich kam zum Schillerfeste von meinem Landaufenthalte nach der Stadt. – Es waren wunderbar sonnige Tage, jene Tage vom 9. bis 11. November. Ich war viel bei Rietschel, der leider an keiner der öffentlichen Festlichkeiten Theil nehmen konnte. Ich ging am Mittag des 9. lange mit ihm spazieren, durch die Stadt und über die Terrasse. Ueberall wurden Kränze gewunden, Fahnen getragen, und alle Menschen, kein Stand ausgenommen, waren von dem einen großen Gedanken des Festes bewegt. Ich war erhoben, daß es uns Deutschen und uns Allen, deren Gedankenarbeit uns so oft von dem Gemeindebewußtsein ausschließt, vergönnt war, einmal ein großes, nationales Culturfest mitzufeiern. – Es war in der Welt eine Stimmung, wie zu den olympischen Festen, aber größer und weiter, wie es eben die neue Welt mit sich bringt. Rietschel lächelte zu solchen hochgehenden Betrachtungen und fragte mich: „Sag’ ehrlich, glaubst Du nicht, daß mehr Politik als Schillerverehrung dahinter steckt?“ – Ich erklärte ihm, wenn man das Bewußtsein, daß man einmal etwas Einiges habe, um das man sich sammle, den Gedanken, daß ein Mann und ein Name den edelsten Inhalt unsers Lebens ausdrücke, wenn man das Alles Politik nennen wolle: so sei dies allerdings dabei. Aber in der Einheit der Empfindung des gesammten Lebens liegt eben die Politik mit eingeschlossen. Unser deutsches innerstes Leben ist ein nicht blos politisches, sondern wir wollen das politische Leben in Einheit und Freiheit um der Bildung und Menschenhoheit willen. Rietschel gestand mir, daß er eigentlich blos gefragt habe, um sich bekehren zu lassen, und war nun selbst froh und glückselig.

Ich las Rietschel am Nachmittag die Ansprache vor, die ich im Auftrage des Comités als erste Einleitung zum Festbanket halten sollte. Mehrere Freunde waren dagegen, daß ich diese Worte geradezu lese. Ich war aber der Meinung, daß ich es nicht darauf ankommen lassen dürfe, einen so hohen, nie wiederkehrenden Moment einer unmittelbaren Eingebung zu überlassen. Denn nichts ist peinlicher, als beim Niedersetzen sich sagen zu müssen: du hast nicht gesagt, was du sagen wolltest, hast es in anderer Weise oder gar ganz Anderes gesagt. Ein Vorbereitetes aber auswendig zu lernen, und sich den Schein zu geben, als ob es aus dem Momente entsprungen, erschien mir unwahr und unwürdig. Rietschel gab mir, im Widerspruche mit Anderen, Recht zu diesem Verfahren, und ich las die gesetzten Worte um so beruhigter. Auch am andern Tage war ich wieder bei Rietschel. Er hielt sich still, wie ein Einsiedler, während draußen die hellste Festfreude jubelnd durch alle Straßen und alle Herzen zog. – Das Goethefest 1849 hatte Rietschel noch mit feiern können. Er hatte damals im Harmoniesaale die sitzende Goethe-Statue drapirt, die so sehr gefiel, daß er sie in kleinerem Maßstabe zum Zimmerschmuck ausführen mußte. Das Schillerfest konnte der Bildner Lessing’s, Goethe’s und Schiller’s nicht in der Gemeinschaft mitfeiern.

Nochmals im vorigen Sommer brachte ich einen ganzen Tag mit Rietschel zu. Wir saßen wieder miteinander im kühlen Waldthale. Rietschel war unruhig und besorgt, zog seinen Paletot bald an bald aus und besonders, als zwei Finken hüben und drüben am Berge einander immer zu schmetterndem Gesange aufreizten, [360] hörte er mit Entzücken zu. Auch eine Goldammer pfiff auf einer Erle am Bach, und ich sagte ihm, daß man in meiner Heimath dem Gesange dieses Vogels allerlei Worte unterlegt; neben vielem Derben sagt man auch, daß die sechs kurzen Töne und der langgezogene Schlußton der Goldammer eigentlich heiße: „Wie, wie hab’ ich dich so lieb!“

Als wir wieder über die Elbe fuhren, sagte Rietschel: „Es ist doch schön! Wie, wie hab’ ich dich so lieb – singt der Vogel.“ Nochmals reichte er die Hand zum Wagenschlage heraus, hielt meine Hand fest und schaute mich noch lange an mit seinen treuen Augen, und das war das letzte Mal, daß ich in sein Auge schaute und seine Hand hielt. – Wenn ich wieder von Ufer zu Ufer fahre, werde ich des Liedes unsers Uhland gedenken:

Ueber diesen Strom vor Jahren,
Bin ich einmal schon gefahren;
Und von diesem Kahn umschlossen
Waren wir da zween Genossen …

So, wenn ich vergangner Tage,
Glücklicher, zu denken wage,
Muß ich stets Genossen missen,
Theure, die der Tod entrissen.

Doch was alle Freundschaft bindet,
Ist, wenn Geist zu Geist sich findet;
Geistig waren jene Stunden,
Geistern bin ich noch verbunden. –




Pariser Bilder und Geschichten.

Von Sigmund Kolisch.
Moderne Marktschreier
.

Gewöhnlich bezeichnet man Spanien und Italien als den classischen Boden der Charlatane und Charlatanerie, der Quacksalber, der Verkäufer von allerlei Wundertränken und allgemeinen Heilmitteln, kurz als die gelobten Länder ausgebeuteter Leichtgläubigkeit und irregeführter Unwissenheit. Gil Blas, Dulcamara und wie sie alle heißen mögen, die berühmt gewordenen Marktschreier der verschiedenen Länder, sie sind arglose Kinder im Vergleich zu dem ersten besten pariser Speculanten, Glücksritter, ja zu dem gewöhnlichsten pariser Geschäftsmanne.

Wer in Europa, sei es nun in dem alten oder modernen, kann sich mit Mengin, dem berühmten Bleistiftverkäufer messen, der als Ritter mit Helm und wallendem Federbusch, mit Musik und einem Wappen auf einem Wagen einherfährt, um auf öffentlichen Plätzen der gaffenden Menge seine Waare feil zu bieten, und der von sich rühmt und rühmen kann, daß er von derselben für mehr als eine Million Franken an den Mann gebracht habe.

Mit einer Offenheit, die Glück macht, erklärt es Mengin den Leuten, die sich, sobald er sichtbar wird, um ihn sammeln, warum er nicht wie gewöhnliche Menschenkinder, sondern in so abenteuerlicher Weise auftritt, wenn er sein Gewerbe treibt. „Sie werden mich einen Charlatan nennen,“ sagt er ihnen, „weil ich mich in einem solchen Anzug darstelle und mit Musik ankündige. Sie haben Recht; meine Verkleidung ist ein marktschreierischer Behelf; allein meine Bleistifte blieben trotz ihrer Vortrefflichkeit auf dem Lager, wenn statt des Helms eine gewöhnliche Mütze oder ein Hut mein Haupt und statt des weißen Mantels ein alltäglicher Paletot meinen Leib bedeckte.“ Und damit berührt der Philosoph der Straße den Kern des pariser Lebens und Treibens. Ohne Trompetenstöße, ohne Wind und Geräusch kein Gelingen, kein Erfolg. Für das stille Verdienst giebt es in diesem Meere von arbeitenden Kräften und arbeitenden Leidenschaften, das man Paris nennt, keinen Lohn.

Herr Merimé, der berühmte Novellendichter, hat eine Reise durch Spanien gemacht und natürlich ein Buch über das merkwürdige Land geschrieben, das von allen christlichen Ländern sich die meisten nationalen Eigenthümlichkeiten bewahrt und seine Sitten und Gebräuche am längsten der überwältigenden Einwirkung der Mode entzogen hat; allein der französische Reiseschriftsteller, weit entfernt, sich mit all dem Ungewöhnlichen und Seltsamen, das er vorfand, zu begnügen, tischte seinen Lesern die abenteuerlichsten Erfindungen auf, wie z. B. das Märchen von dem Dolche, den die Frauen auf der pyrenäischen Halbinsel im Strumpfband tragen sollen, und dergleichen mehr. Bei einem Zusammentreffen mit dem Herzog von Rivas, dem angesehenen spanischen Poeten, von diesem befragt, warum er in seiner Reisebeschreibung Dinge, die nie waren und nicht sind, mitgetheilt habe, gab der Franzose die mehr offene als würdige Antwort: „Sehen Sie, mein Freund, wenn ich die Dinge treu wiedergegeben hätte, wie sie sich vorfinden, so hätte mein Buch nicht angezogen und mir wenig Leser, noch weniger Käufer gefunden; aber etwas Unerhörtes, etwas Unmögliches, glücklich angebracht, ist eine Würze, die den Gaumen des Publicums reizt und den materiellen Erfolg einer Reisebeschreibung sichert.“

Der Schriftsteller Merimé geht von derselben Maxime aus, wie der Bleistiftverkäufer Mengin. Herr Merimé hat es bis zum Senator gebracht; wer weiß, ob es Mengin, mit der Begabung des Herrn Merimé ausgerüstet, nicht noch höher gebracht hätte.

Mengin, ohne sich viel in Schulen umgethan, ohne orthographisch schreiben gelernt zu haben, besitzt eine Naturberedsamkeit und einen Humor, von denen der Senator in dem Luxembourg-Palaste bis zur Stunde keine Beweise gegeben hat. Mengin erheitert seine Zuhörer, und man möchte sagen, daß sie ihm eher für die gebotene Unterhaltung, als für die Bleistifte die Zweisousstücke hinwerfen. Ein eben so vollendeter Zeichner als Redner, fängt Mengin damit an, sich aus der Schaar, die ihn umsteht, einen Kopf auszusuchen, den er mit Blitzesschnelle als Zerrbild aufs Papier wirft und alsbald der Menge zeigt, um darzuthun, wie trefflich sich mit seinen Bleistiften sogar zeichnen läßt. Der Haufen lacht auf über das Bild, und alle Blicke wenden sich abwechselnd nach der Person, welche unwillkürlich dem indiscreten Zeichner gesessen, oder besser gesagt, gestanden, und nach dem komischen Portrait. Diese Person, obgleich auf diese Weise dem Gelächter preisgegeben, weil entfernt sich verletzt zu fühlen, stimmt in das Gelächter ein, und die Heiterkeit ist allgemein. Hie und da ruft einer von den Umstehenden dem Marktschreier einen Witz zu, der diesem zu einer trolligen Antwort oder auch nur Grimasse Anlaß giebt und zur Erhöhung der Heiterkeit beiträgt.

Dieses Alles geht vor, während der Knappe hinter dem Ritter auf dem Wagen auf einem Leierkasten die Ouverture zu der Komödie spielt, welche der neugierige Haufen mit Spannung erwartet. Man kann nicht trefflicher als Mengin einen Boten für eine erwünschte Ernte bearbeiten. Der letzte Ton des Leierkastens verklingt, und Mengin ergreift das Wort.[1] Nachdem er sein Auftreten und seine Verkleidung, wie oben angedeutet wurde, erklärt hat, fährt er also fort: „Sie erkennen wohl mit mir, daß eine Waare nichts durch die Geschicklichkeit von ihrem Werthe verliert, mit welcher ein Verkäufer sie anzubringen weiß. Die künstlichen Mittel, welche ich angewendet habe, um Sie anzuziehen und Sie in Verbindung mit mir zu bringen, fallen von dem Augenblicke weg, als es sich um das Geschäft selber handelt. Könnte eine gute Waare schon dadurch, daß sie gut und wohlfeil ist, angebracht werden, ich brauchte wahrlich dieser auffallenden Ankündigung nicht. Meine Bleistifte sind die ausgezeichnetsten, welche in Paris, der Hauptstadt nicht nur von Frankreich, sondern der civilisirten Welt, zu finden sind, und im Verhältniß zu ihrer Vortrefflichkeit spottwohlfeil, ich möchte sagen zu wohlfeil. Es steht zu befürchten, daß Leute, die Billigkeitssinn und Verständniß, ein edles Herz und einen edeln Geist besitzen, sich Vorwürfe darüber machen, daß sie für einen so brauchbaren, allen Anforderungen entsprechenden Gegenstand, wie ein Bleistift aus der Fabrik, welche ich vertrete, so geringes Geld, wie zwei Sous, bezahlt haben. Ich weiß wie weit der Edelmuth bei Franzosen, überhaupt bei Menschen gehen kann, welche vom Lichte der Civilisation erleuchtet sind; das, was ich hier sage, glauben Sie mir, ist tief gefühlte Wahrheit. Ich schneide nicht auf und

[361] will es Ihnen beweisen. Glauben Sie wohl, daß ich für mehr als eine Million Franken, also zehn Millionen Bleistifte zu verkaufen vermocht, daß ich einen so guten Ruf erlangt hätte, wenn gegen meine Waare etwas einzuwenden wäre? Nimmermehr! Denn wenn der Franzose sich anerkennend zeigt dem Verdienste gegenüber, ist er unerbittlich gegen die Unredlichkeit. Dies der moralische Beweis, dessen Gültigkeit Sie wohl nicht bestreiten können, nicht bestreiten werden. Einen materiellen Beweis habe ich durch die Zeichnung geliefert, an welcher Sie die Festigkeit und zugleich Weichheit des Striches bewundern konnten. Sehen Sie außerdem, was so ein kleines Ding wie die Spitze einer Bleifeder, wenn diese gewissenhaft fabricirt ist, aushalten kann.“ Und nun schlägt Mengin mit einem gespitzten Bleistift so gewaltsam auf ein Bret, das vor ihm liegt, daß die Münzen, die sich auf demselben befinden, klirrend in die Höhe fahren. Wer zwei Sous hat, kauft, und Mengin hat seinen Zweck erreicht.

Mehr oder weniger – von Mengin findet sich fast in jedem Franzosen. In gesellschaftlicher, wie in geschäftlicher Beziehung liebt es der Franzose, sich bemerkbar zu machen, Aufsehen zu erregen. Es giebt viele Leute, die sich für den Salon, wie Schauspieler für die Bühne, wie Mengin vorbereiten, um irgend eine witzige Geschichte, einen komischen oder tragischen Vorfall anziehend wirksam zu erzählen. Es giebt eine Menge Leute, welche von ihren Salonerfolgen leben, durch diese Salonerfolge ihr Glück machen, einflußreiche Personen, Akademiker, Generaleinnehmer, Präfecten, Staatsräthe, Senatoren, Deputirte, Minister werden. Die Gabe, angenehm zu plaudern, gilt dem Franzosen mehr, als ausgedehnte Kenntnisse und große Fähigkeiten, als ein edles Streben und Tadellosigkeit des Charakters; drum befleißt er sich auch dieser Kunst vor allem. Wie in seinen Büchern, sucht der Franzose in seinen Gesprächen vor allem zu unterhalten, zu ergötzen. In Paris verzeiht man einem Menschen eher ein Verbrechen, als Langeweile, die er etwa verursacht. Die Marktschreierei wird zur Nothwendigkeit, sie ist die erforderliche Schwuranklage für das Verdienst, wie für die Mittelmäßigkeit, für die gänzliche Ohnmacht.

Herr … ist eine viel bekannte, vielgesuchte Erscheinung, der es zum Volksvertreter und Minister gebracht hatte und der, obgleich durch eingetretene Verhältnisse ohne Staatsamt, ein Mann von dem größten Einfluß ist, dessen Schutz und Empfehlung wie eine werthvolle Kostbarkeit gesucht wird, der mit den hochgestelltesten Personen aller politischen Farben in Verbindung steht und dessen Beziehungen zu Staatslenkern oder zu Candidaten künftiger Größe weit über die Grenzen des Landes hinausreichen. Der Minister dieses Staates ist sein Freund, der Führer einer mächtigen Partei jenes Staates ist sein Vertrauter. Mit diesem populären Vorfechter eines patriotischen Gedankens steht er im freundlichsten Verkehr, jenem anderen hat er Dienste geleistet, die Anerkennung finden und verdienen. Sein Salon wird von Berühmtheiten aller Zonen besucht. Verschlossene Thüren öffnen sich auf sein Wort. Feindselige Geschicke werden durch seine Fürbitte abgewendet, zürnende Erdengötter besänftigt. Handelsgesellschaften aller Art wählen ihn zum Unterhändler, wenn sie wichtige Geschäfte abzumachen haben, und betheiligen ihn am Gewinn, bei den größten industriellen Unternehmungen ist er betheiligt. Die Verwaltungscomités sind kaum zu zählen, denen er als Mitglied angehört; und doch ist er weder ein bedeutender Redner noch ein tiefer Denker, noch ein Gelehrter, noch ein Administrator, noch Schriftsteller, er steht nicht an der Spitze eines einflußreichen Blattes, dem er, wie ehemals Herr Bertin dem Journal des Debats, den außerordentlichen Einfluß verdankte, nicht einmal durch irgend eine Fachkenntniß thut er sich hervor, die man immer mehr oder weniger verwerthen kann.

Fragt man einen seiner Freunde, seiner Clienten und Lobredner, deren Zahl Legion ist, wodurch er zu der eben so vortheilhaften als angenehmen Stellung gelangt ist, so antwortet er mit Emphase mit dem Ausdruck tief gefühlter Ueberzeugung: „O, Herr … ist ein ausgezeichneter Mann (un homme distingué)“ – das sagt eben Alles und nichts.

Die Lösung des Räthsels liegt in dem pariser Leben, in dem Bedürfniß des geselligen Verkehrs, in der Empfänglichkeit des Franzosen für alle gesellschaftlichen Kunststückchen und seiner Dankbarkeit gegen Jeden, der ihn, wäre es auch nur eine Stunde lang, beschäftigt und unterhält, in der Leichtigkeit, mit welcher er sich gewinnen und ausdeuten läßt. Wenn der lateinische Spruch: „Mundus vult decipi“ (die Welt will betrogen sein) irgendwo zur Wahrheit wird, so ist es in Paris.

Herr … ist ein Mann von tadellosem Benehmen, alle Formen der großen Welt sind ihm geläufig, er verneigt sich wie man sich verneigen muß, er ißt, er kleidet sich, er besucht und empfängt nach der Vorschrift der Mode, ohne sich deßhalb stutzerhaft zu gebehrden. Nicht um ein Königreich würde er bei Tische das Brod rechts legen und das Glas links stellen oder sich beim Fisch eines Messers bedienen.

Er ist immer höflich, nie kommt ein ungeschliffenes Wort, ein kräftiger Naturausdruck über seine Lippen; er ist voll Schonung und Nachsicht für die Schwächen und Fehler seiner Freunde und Bekannten und lobt über Gebühr ihre kleineren und kleinsten Vorzüge. Tritt er einer Meinung entgegen, so geschieht es in so zarter, rücksichtsvoller Weise, daß man die Einsprache eher für eine Zustimmung halten möchte und der Vertreter dieser Meinung sich eher geschmeichelt, als verletzt, eher erhoben, als gedemüthigt fühlen muß. Es ist kein Beispiel vorhanden, daß er gegen irgend Jemanden, wie nahe er ihm auch stehen mag, einen Tadel ausgesprochen, daß er ihn auf einen begangenen Irrthum, auf eine hervortretende Unvollkommenheit aufmerksam gemacht hätte. Die verunglücktesten künstlerischen oder schriftstellerischen Versuche finden an ihm einen milden Beurtheiler; aus einem Meer von schlechten Versen, von verkehrten Sätzen versteht er einen wohlklingenden Vers, einen vernünftigen Satz herauszufinden, um ihn zu loben. Frauen gegenüber läßt er an Galanterie die Troubadours und Minnesänger des Mittelalters und den Hof Ludwigs XIV. hinter sich; was man nur aufbieten kann, um dem schönen Geschlechte gefällig zu erscheinen, das bietet er auf; er erweist sich aufmerksam, ehrfurchtsvoll, huldigend. Was einem weiblichen Ohr nur angenehm zu klingen geeignet ist, das sagt er und zwar in dem angemessenen Tone, der die Grenze des Gesagten richtig bestimmt.

Den Grund zu seiner Größe hat er im Salon gelegt, da hat er anziehende Geschichten wirksam zu erzählen gewußt und Verbindungen angeknüpft, durch diese Verbindungen wurde er in vielerlei Familien- und Staatsgeheimnisse eingeweiht, in die Lage versetzt, Vielen zu nützen und zu schaden, Dienste zu leisten und sich Gegendienste leisten zu lassen, und so hat er mit Emsigkeit seinen Einfluß ausgedehnt, sich zu einem Mittelpunkt vielfacher politischer Bestrebungen und Intriguen gemacht und sich zum Volksvertreter und Minister emporgearbeitet.

Wenn er spät kommt, wird er im Salon mit Spannung erwartet, wie das Auftreten des Helden eines Stückes, der das Hauptinteresse in Anspruch nimmt, auf der Bühne. Die Unterhaltung stockt, den Gesprächen fehlt Leben und Bewegung. Nun tritt er ein; er kommt gewöhnlich spät, um sich erwarten zu lassen, ein Geräusch der Befriedigung läßt sich vernehmen. Die Gruppen lösen sich auf, man eilt ihm entgegen, um ihn zu begrüßen, kaum daß die Frauen, dem Anstand gehorchend, auf ihren Plätzen bleiben. Wetteifernd sucht Jeder sich seiner zu bemächtigen, eine Unterredung mit ihm zu erhaschen, Fragen ohne Zahl werden an ihn gerichtet, über die Zustände im In- und Auslande, über finanzielle, theatralische, politische Verhältnisse, er beantwortet alle, er antwortet umständlicher, als man erwarten konnte, mit Anführung von Einzelnheiten, welche die Auskunft pikant machen. Diese Frau wünscht zu wissen, wen die Königin von Spanien in diesem Augenblick mit ihrer besondern Gunst beehrt; Herr … kennt ihn persönlich, giebt dessen Alter, Stand und die Provinz an, aus welcher derselbe stammt, er beschreibt ihn vom Kopf bis zum Fuß zum Entzücken der weiblichen Gesellschaft, die mit Andacht zuhört. Eine andere Frau möchte erklärt haben, warum die Kaiserin Eugenie so plötzlich in der rauhen Jahreszeit eine Reise incognito nach Schottland unternommen habe. Herr … erzählt verschiedene interessante Vorgänge in den Tuilerien, er schildert den Charakter der Fürstin, ihre Jugend, ihr Leben zu Madrid und Sevilla, bevor sie nach Frankreich kam und auf den Thron erhoben wurde, er tischt die Anekdoten auf, die man sich am Manzanares von der Mutter und Großmutter der Kaiserin erzählt, und erklärt das Räthsel, welches ganz Europa beschäftigt hat. Befragt, ob wohl der Papst in der italienischen Frage nachgeben werde, führt er eine Aeußerung an, die der Cardinal Antonelli zu einem seiner Freunde gethan, der denselben Gegenstand berührt. „Die Kirche kann niemals ihre eigenen Gesetze übertreten,“ hatte der erste Minister ausgerufen, „man fordre nicht, daß wir nachgeben, sondern daß [362] wir uns selbst aufgeben.“ Dem Schutzempfohlenen einer geistreichen Frau ertheilt er einen Rath, wie er es anfangen müßte, um eine Anstellung in der Bank zu erhalten, er bezeichnet ihm den Mitbewerber, welchen er zu besiegen hätte, und die geeigneten Mittel, die anzuwenden wären, um diesen Zweck zu erreichen; er entwirft einen vollständigen Feldzugsplan und schreibt einen Empfehlungsbrief an einen Mann, dessen Verwendung das Weitere thun werde. So beschäftigt er den ganzen Abend über die Gesellschaft und wird den ganzen Abend über von ihr beschäftigt.

Zu bemerken ist noch, daß Herr … eine bestimmte politische Meinung bekennt, von welcher er bisher nicht wesentlich abgewichen; er ist ein gemäßigter Republikaner, der sich mit einer echt konstitutionellen Monarchie abfinden läßt. Er ist mit einem Worte liberal, ob aus Ueberzeugung oder Berechnung, wer vermöchte das zu sagen? Genug, daß er den liberalen Bestrebungen nach Kräften Vorschub leistet und sich der kaiserlich napoleonischen Regierung ferne hielt, die ihm bereitwillig die Arme geöffnet hatte. Man sagt diesem Mengin des Salons, der mit Einfluß Handel treibt, eine glänzende politische Zukunft vorher. –

So oft ein neues Stück von Scribe gegeben wurde, sei es nun im Gymnase, oder in der komischen Oper, oder im Théatre Français, sah man während der Zwischenakte im Foyer einen Mann von stattlichem Aussehen in schwarzem Frack, in weißer Halsbinde und Glanzstiefeln, Namens Fournier. Wer ihn nicht kannte, hätte ihn zum Mindesten für einen Akademiker gehalten, so selbstbewußt trat er auf, so überlegen gebehrdete er sich, so bestimmt war sein Urtheil und jede seiner Behauptungen.

Herr Fournier war aber kein Akademiker, sondern bekleidete eine untergeordnete Stelle im Ministerium des öffentlichen Unterrichts und hatte einige unglückliche Bühnenversuche gemacht.

Die pariser Theater haben ein Foyer, eine Art Sprechsaal, wo die Zuschauer nach jedem Aufzug sich versammeln, sich von den erfahrenen Eindrücken erholen und über das Gesehene und Gehörte ihre Meinungen austauschen können. Es ist durch diese Einrichtung dem Bedürfniß des Franzosen, lebhaft Empfundenem sogleich Ausdruck zu geben und seinen Gefühlen in Worten Luft zu machen, in angenehmer Weise entsprochen. Bei ersten Vorstellungen bilden sich da Gruppen; Theaterliebhaber, Enthusiasten, Männer von Fach, Kritiker, Feuilletonisten erklären sich für und gegen das Gesehene und Gehörte. Handelte es sich um ein Erzeugniß von Scribe, so begab sich Herr Fournier von Gruppe zu Gruppe, bekämpfte mit heißer Beredsamkeit den Tadel, bekehrte die Unentschiedenen zu Gunsten des Verfassers, entflammte die lauen Lobredner und unterstützte die Preisenden. Man kann nicht genug von den Ueberschwänglichkeilen erzählen, denen sich Herr Fournier bei diesen Gelegenheiten hingab.

Als das „Glas Wasser“ im Théatre Français zur Aufführung kam, fand es Einer im Foyer unwürdig, daß drei Frauen und eine Königin auf einen jungen Officier förmlich Jagd machen, der aller geistigen Vorzüge baar sei.

„Wie?“ rief Fournier ihm entgegentretend, „Sie tadeln, was eben als ein großer Zug des Dichters zu betrachten ist, was des Verfassers tiefe Kenntniß der menschlichen Natur, seine gereifte Erfahrung, sein Ehrfurcht vor der Wahrheit darthut? Je unbedeutender Masham erscheint, desto interessanter, desto anziehender, desto lehrreicher die Liebe der Königin, wie der kleinen Abigail, wie der Frau des berühmten General Marlborough, zu ihm. Nur Shakespeare und Scribe besitzen die Meisterschaft, konnten so ein psychologisches Wunder entdecken, nur Shakespeare und Scribe besitzen die Meisterschaft, ein solches Wunder darzustellen. Nur wer das Höchste in der Kunst erreicht hat, kann es wagen, auf diese Weise mit den geheimen Feinden des menschlichen Herzens zu spielen.“ Ein großer Kreis hatte sich um die beiden Vertreter entgegengesetzter Meinungen gesammelt, und es war zu sehen, daß die meisten der Umstehenden, von diesen Worten hingerissen, Herrn Fournier beitraten.

„Das Bild selbst, wenn es wahr ist, bleibt unerquicklich und unmoralisch,“ versetzte der Tadelnde, der sich wenig darum zu kümmern schien, ob die Zeugen des Widerstreits ihm oder seinem Gegner beipflichteten. Da Herr Fournier nicht sogleich Argumente bei der Hand hatte, die wohl auch schwer zu finden sein mochten, um sie der neuen Anklage des unliebsamen Beurtheilers entgegen zu stellen, und doch denselben nicht gelten lassen wollte und konnte, so half er sich durch allerlei Gemeinplätze aus der Verlegenheit.

„In was für einer schlimmen Zeit leben wir,“ rief er im Tone eines zürnenden Propheten, „wo der Kranz auf dem geheiligten Haupte des Genie’s nicht mehr unbeneidet, nicht unangetastet bleibt, wo Götterfunken für Irrlichter, hochgehende Gedanken für Lästerungen, reine Gesinnung für Mangel an Erkenntniß gehalten werden!“ Während er jedoch mit diesen hohlen Phrasen um sich schlug, fiel ihm eine Betrachtung ein, die er dem Tadler gegenüber mit Vortheil verwenden zu können hoffen durfte, und er fuhr fort: „Die Liebe der drei Frauen zu Masham unmoralisch! Kommt er der Königin, kommt er der Frau des General Marlborough in unerlaubte Nähe? Wird das Princip der Ehe nicht in Ehren gehalten? Der Officier liebt die kleine Abigail, und die kleine Abigail liebt ihn, und sie heirathen sich. Was kann die strengste Moral mehr verlangen?“

Die Umstehenden nickten zustimmend. Sie zerstoben, da die Glocke den Beginn des folgenden Actes ankündigte und dem Streit ein Ende machte. Durch die Worte des Herrn Fournier überzeugt, kehrten sie in das Schauspielhaus zurück und beklatschten jede wirksame Scene, jedes geistreiche oder witzige Wort, jede überraschende Wendung der Vorgänge.

Es war nicht etwa aus Freundschaft, daß sich Herr Fournier der Stücke des Herrn Scribe so warm, so heldenmüthig annahm, er erfüllte ein Amt, das ihm der dramatische Schriftsteller übertragen und welches ihm weit mehr eingebracht haben soll, als seine Anstellung im Unterrichtsministerium.

Herr Scribe war ein praktischer Mann, ein berechnender Kopf, der seine Nation zu genau kannte, um nicht zu wissen, wie nützlich und schädlich jedem Unternehmen in Frankreich eine kühne, geläufige Zunge, verbunden mit einer imposanten Körperlichkeit, sein kann. Vertraut mit den Intriguen und Kämpfen des Foyer und überzeugt, daß ihre Einwirkungen die bestabgerichtete Claque nicht aufzuheben vermag, verfiel er auf den glücklichen Gedanken, sich einen Sprecher zu seinen Gunsten, einen Agenten im Foyer zu unterhalten, und in Herrn Fournier, der ihm bei seinen literarischen Arbeiten ein wenig behülflich war, glaubte er den Mann gefunden zu haben, der geeignet war, seine Interessen im Foyer zu vertreten.

Mit Eifer, Geschick und Erfolg erfüllte Herr Fournier die ihm gestellte Aufgabe; aber nicht immer wurde es ihm so leicht, wie bei der oben angedeuteten Gelegenheit, das letzte Wort zu behalten und seine Gegner durch einen Phrasenschwall zu erdrücken. Manchmal traf er auf einen geistreichen Widersacher, der ihn verspottete und dem Gelächter preisgab; ein ander Mal stand ein noch Reicherer an Worten, als er selber, ihm entgegen, so daß er durch die eigene Waffe geschlagen wurde; dann stieß er bisweilen auf einen Heftigen, der ihn hart anließ, der seine Zudringlichkeit zurückwies. Allen diesen Widerwärtigkeiten hielt Herr Fournier jedoch mit einem stoischen Gleichmuthe Stand, durch den er das Vertrauen des Herrn Scribe mehr als rechtfertigte.

Eines Abends sollte aber Herr Fournier gar arg aus der Fassung gebracht werden. „Une chaine à rompre“ vom Herrn Scribe wurde im Français gegeben, und ein älterer Mann mit grauem Schnurr- und Knebelbart eiferte im Foyer gegen das Stück, dem er einen verderblichen Einfluß auf die Sitten vorwarf, das er gemein und nichtswürdig schalt. Kaum hatte Herr Fournier dieses vernichtende Urtheil vernommen, als er erwiderte: „Ein Dichter, welcher die Gebrechen der Zeit aufdeckt, kann nicht Jedem Willkommenes vorführen, kann unmöglich alle Empfindlichkeiten schonen, und was den Einen erheitert, kann den Anderen verletzen.“ Ein höhnisches Lächeln zeigte sich auf den Lippen der Umstehenden, und der Mann mit dem grauen Schnurr- und Knebelbart gerieth in eine förmliche Wuth.

„Unverschämter!“ rief er dem Vertheidiger des Stückes zu, zog hastig ein Portefeuille aus der Tasche und reichte dem betroffenen Anwalt des Herrn Scribe seine Karte hin. Und als Herr Fournier zauderte sie anzunehmen, versichernd, daß er auf keine bestimmte Persönlichkeit angespielt habe, rief der Andere: „Nehmen Sie, oder ich beschimpfe Sie auf’s Gröblichste,“ so daß dem armen Fournier nichts Anderes übrig blieb, als die Karte anzunehmen und die seinige zu geben, wollte er sich nicht den Mißhandlungen jenes ungestümen Gegners und dem Gelächter der Anwesenden aussetzen.

Er entfernte sich und eilte in die Loge des Herrn Scribe, den er in bester Laune, sichtlich vergnügt über den Erfolg des Stückes fand.

[363] „Was haben Sie? Sie sehen so verstört aus,“ frug den Ankommenden Herr Scribe; „es geht doch Alles gut.“

„Sehr gut!“ versetzte Herr Fournier. „Hören Sie nur, was sich zugetragen. Ein Wütherich nannte Ihr Stück unsittlich und gemein, ich entgegnete, und er gab mir seine Karte.“

„Das ist ja vortrefflich,“ sagte Herr Scribe.

„Er schickt mir morgen seine Zeugen.“

„Sie schlagen sich. Sie können mir und dem Stücke keinen bessern Dienst leisten.“

„Sie wollen, daß ich mich schlage?“

„Freilich, denken Sie nur, einem Stück, das ein Duell hervorgerufen, ist der glänzendste Erfolg gesichert, und wenn es das schlechteste von der Welt wäre.“

„Wenn ich falle?“

„So erlebt das Stück dreihundert Vorstellungen nach einander.“

„Das ist Ihr Ernst?“ frug Herr Fournier mit verloschener Stimme den Bühnendichter und starrte ihn wie ein Wunder an.

„Es fällt nicht Jeder, der sich duellirt, mein Freund,“ entgegnen beruhigend der Dichter.

Herr Fournier stürzte aus der Loge. Er war von diesem Augenblicke an der erbittertste Gegner des Herrn Scribe.

Den andern Tag that er dem Manne, der ihn herausgefordert hatte, in Gegenwart von vier Zeugen Abbitte, und es kam nicht zum Duell.




Eine gefährliche Stunde.

Von Marine-Lieutenant H.

Es war im Juli 1856. Die amerikanische Kriegsfregatte „Jamestown“, damals in den afrikanischen Gewässern stationirt, lag auf der Rhede St. Philipp de Benguela, an der westlichen Küste Süd-Afrika’s, ruhig vor Anker, und wir, die Officiere des stattlichen Fahrzeugs, hatten gute Zeit, mitunter auch wohl etwas Langeweile, die wir uns denn, so gut es gehen wollte, zu vertreiben suchen mußten. Einen schönen Abends saßen wir auf dem Kanonendeck der Fregatte beisammen, rauchten gemüthlich unsere Cigarre und plauderten von Diesem und Jenem, als der Besuch des Befehlshabers eines gerade dort auch vor Anker liegenden amerikanischen Handelsschooners eine erfreuliche Abwechselung in unsere Gesellschaft brachte. Capitain Dunlap, eine jener hohen, markigen und knochigen Gestalten, wie man sie nur in Kentucky, seiner Heimath, findet, war bereits über die Mitte der Fünfziger hinaus, und schon begann der Schnee des Alters sein Haar zu bleichen; doch war er noch kräftig und rüstig, und die Strapazen seines vielfach bewegten Lebens hatten nicht vermocht, seine eisenfeste Gesundheit zu erschüttern. Unsere Bekanntschaft war bald gemacht. Der Capitain war als wortkarg bekannt, der nur ungern von seinen Lebensereignissen erzählte. Heute aber hatte er unter unsern Officieren einen alten Jugendfreund gefunden, der Grog that das Uebrige, und so saßen wir bald um ihn gereiht und horchten seinen Mittheilungen.

„Wir verließen die Ufer des Arunga-Flusses,“ begann er eine seiner Erzählungen, „und nahmen unsern Weg nach Süden. Obgleich ich dabei einen großen Umweg in das Innere Afrika’s machte, so glaubte ich doch dabei nichts einzubüßen, weil ich fest überzeugt war, daß ich auf diesem Wege die an den Grenzen des großen Tafellandes, im Gebiete der Shagga-Neger, liegenden Goldminen auffinden und daselbst einen vortheilhaften Tauschhandel mit den Eingeborenen würde treiben können. Gegen den Abend eines furchtbar heißen Tages, den wir auf einer Wüstenei zugebracht hatten, langte unsere kleine Karawane an einem breiten Gürtel waldigen Gebirges, in der Nähe des Monbaza, an. Ein kleiner Bach schlängelte sich am Fuße der Hügel hin, und die Vegetation war grün und üppig. Es war mit einem Worte ein höchst angenehmer Ruheplatz, und wir schätzten uns glücklich, denselben erreicht zu haben.

Obgleich wir noch ziemlich vier Stunden bis zum Eintritt der völligen Dunkelheit hatten, so war uns doch, ebenso wie unsern Pferden, Ruhe unbedingt nothwendig, und wir beschlossen derselben so schleunig wie möglich zu pflegen. Ein guter Weideplatz für unsere Pferde war bald gefunden. Eben loderte unser Feuer lustig empor, und einige Vögel, die wir am Tage geschossen, drehten sich schon munter am Spieße, ein leckeres Abendmahl in Aussicht stellend, während Einige von uns Wasser aus dem nahen Bache zum erfrischenden Tranke herbeiholten – als plötzlich ein Getöse von der Wüste her uns aufschreckte. Ich sprang sofort auf, ergriff meinen Rifle und eilte nach dem Saume des Waldes, woselbst sich eine Scene vor meinen Blicken entfaltete, welche mein ganzes Innere auf verschiedene Art berührte. Ich war erschreckt, erstaunt und erfreut zu gleicher Zeit.

Eine Heerde Elephanten kam über die Sandfläche getrabt, ihre mächtigen Rüssel hoch erhoben, und dann und wann laute, durchdringende Schreie ausstoßend, während die Wüste unter der Wucht der Tritte ihrer unförmlichen Füße weithin erzitterte. Sie kamen gerade auf den Platz los, wo ich mich befand, und sobald ich meine verworrenen Gedanken einigermaßen ordnen und sammeln konnte, wurde es mir auch klar, warum die wüthenden Bestien gerade dahin ihre Richtung nahmen. Der Platz nämlich, den wir zu unserem Nachtlager erwählt hatten, bot, von der Ebene aus gesehen, den einzigen Zugang zum Walde, denn letzterer bildete bei unserer Annäherung eine förmliche Barriere auf der anderen Seite des Baches, mit Ausnahme des Plätzchens, wo wir unser Zelt aufgeschlagen hatten. Natürlicherweise hatten die Elephanten dies ebenfalls bemerkt und richteten daher ihren Lauf instinctmäßig nach demselben Zugang. Abdar und Mada, meine beiden Gefährten, waren fast gleichzeitig an meiner Seite, und sobald Ersterer die Thiere erblickt hatte, versicherte er mir, daß die Heerde jedenfalls von Jägern angegriffen und zur Flucht gezwungen worden sei. „Es kann nicht anders sein,“ bemerkte er, „man hat die Thiere in einen Schlupfwinkel zusammengetrieben, und sie sind zuletzt, wüthend gemacht, aus demselben entkommen. – Ha! und siehst Du?“ rief er, als sein scharfes Auge die Reihen der flüchtigen, riesenhaften Kolosse überflogen, „dort ist einer mit einem Pfeile im Nacken.“ Ich folgte seiner zeigenden Hand mit den Augen und erblickte bald ebenfalls deutlich genug den hin und her schwankenden Schaft eines gefiederten Pfeiles in der rechten Schulter des Anführers der Heerde. Abdar versicherte mir, die Elephanten wären im höchsten Grade wüthend, und würden jedenfalls, wenn sie uns bemerkten und erreichten, blutige Rache an uns nehmen. Ich hielt mich gerade noch lange genug auf, um deutlich wahrnehmen zu können, daß die Heerde wenigstens aus einem Dutzend Elephanten bestand, ehe ich meinen vorauseilenden Gefährten in athemlosem Laufe nachfolgte. „Die Pferde werden sie nicht belästigen!“ rief Mada, als ich bemerkte, daß es gut sein würde, dieselben los zu binden und frei herum laufen zu lassen, „menschliche Wesen waren es,“ fügte er hinzu, „die sie gereizt und in Wuth versetzt haben.“

Es war keine Zeit mehr zu weiteren Fragen vorhanden, denn die unförmlichen Berge lebenden Fleisches nahten sich wie ein Gewittersturm. Jetzt bemerkte ich nicht weit von mir einen Baum; auf diesen eilte ich zu und schickte mich sofort an, ihn zu ersteigen. „Um Gotteswillen, nicht da hinauf! nicht da hinauf!“ schrie mir Abdar zu, als er an mir vorüberrannte, allein ich verstand ihn nicht, und hätte ich ihn verstanden, so würde ich mich doch nicht haben abhalten lassen, auf den Baum zu klettern, da es mir in jenem Moment überhaupt nicht mehr möglich war, zu denken oder die Ausführung des einmal gefaßten Entschlusses wieder aufzugeben; denn die Elephanten waren schon am Eingang des Waldes.

Der Baum, den ich mir zu meinem Versteck ausgesucht hatte, war eine Eichenart, schlank, biegsam und dicht belaubt. Ich hatte nur darauf Bedacht genommen, daß er hoch und stark genug sei, um meine Person – dies war mein einziger Gedanke in jenem kritischen Augenblicke – aus dem Bereiche der Elephantenrüssel zu bringen. Eben hatte ich die Krone des Baumes erreicht und da Platz genommen, und eben war ich im Begriff, meinen Rifle über den Ast, auf dem ich saß, zu heben und mir denselben quer über die Beine zu legen, um mich dadurch besser in der Balance zu erhalten, als der vorderste Elephant – derselbe, in dessen Nacken der Pfeil stak – unter mir vorüber rannte. – Ich athmete [364] auf. „Wenn der vorüber läuft, thun’s die andern auch,“ dachte ich. Indessen ich täuschte mich sehr. Zwei andere passirten gleich nach jenem unter mir weg – jetzt kam der Vierte. Mit schwerfälligem Trabe näherte sich der Koloß meinem Baume, blieb bei demselben stehen, stieß ein lautes, fast triumphartig klingendes Geschrei aus und hob dann seinen Rüffel drohend nach mir empor. „Aha,“ dachte ich, „alter Kerl, beinahe hättest Du mich, allein die Natur ist Dir doch ein Bischen zu kurz gewachsen, obgleich Du ein recht ungeschlachtes Vieh bist.“

Das Unthier schien meine Gedanken zu errathen, denn kaum hatte ich sie gedacht, als es seinen furchtbaren Rüssel um den Stamm des Baumes schlang und denselben bedächtig schüttelte. Es war der größte Elephant der ganzen Heerde, selbst größer und mächtiger als der vorderste, von dem Pfeile getroffene, in Wahrheit ein wandelnder Berg. Er ließ mich auch gar nicht lange auf eine Probe seiner riesenhaften Stärke warten. Schon der erste Zug, den er an dem Baum that, versetzte diesen in eine sehr schwankende Bewegung; allein das war noch gar nichts im Vergleich zu dem, was folgte. Er schien nur erst probiren zu wollen, inwieweit der Stamm des Baumes ihm Widerstand zu leisten vermöge. Im nächsten Augenblicke schlang er seinen Rüssel abermals um den Stamm, etwa 12 Fuß hoch über der Erde, und entwickelte nun seine ganze gigantische Stärke. Der Baum zitterte und bog sich wie ein schwaches Rohr. Bei der vierten oder fünften Schwingung ließ ich meinen Rifle fallen, denn ich fühlte bald genug, daß ich entweder diesen, meinen treuen Gefährten, oder mich selber fallen lassen müßte, da ich nur durch möglichst festes Anpacken der Baumzweige mich noch halten konnte. Bis dahin hatte ich gehofft, dem Ungethüm eine Kugel durch’s Auge jagen zu können, aber die Bestie vereitelte mir durch ihr unmanierliches Gebahren diese Hoffnung gänzlich. Es wurde mir klar, daß ich in weniger als einer halben Minute von meinem luftigen Sitze herabgeschüttelt sein würde – etwa wie ein reifer Aepfel oder ein Maikäfer durch einen lüsternen Knaben von einem jungen Bäumchen abgeschüttelt wird – denn das wüthende Thier rüttelte und schüttelte jetzt die Eiche, als ob ein Orkan sie aus dem Boden reißen wolle. Meine Arme und Hände wurden starr und matt, mein ganzer Körper schmerzte, Schwindel erfaßte meinen Kopf, und der Athem fing an mir auszugehen.

In diesem verzweifelten Augenblicke, wo ich wußte, daß ich fallen mußte, kam mir einer jener glücklichen Gedanken zu Hülfe, die öfters die finstere Nacht der Seele eines in der äußersten Todesgefahr schwebenden Menschen wie Blitze erleuchten.

Fiel ich nämlich, so mußte ich unfehlbar, da ich die Richtung meines Sturzes dann nicht in der Gewalt hatte, zu Boden stürzen und würde ohne Gnade und Barmherzigkeit von dem wüthenden Elephanten zu Brei zerstampft worden sein; sprang ich aber herab, so war es möglich, den Rücken des Thieres zu erreichen und mich dort vielleicht festzuhalten. Freilich eine sehr unsichere Aussicht auf Rettung, aber es greift ja der Ertrinkende nach dem Strohhalm. Ich benutzte einen verhältnißmäßig ruhigen Augenblick, empfahl meine Seele dem Himmel und sprang in Gottes Namen von dem Baume herunter.

Der Sprung brachte mich glücklich auf den Hals des Elephanten, gerade zwischen Schultern und Kopf, wo ich mich mit der Kraft der Verzweiflung anklammerte.

Als die wilde Bestie den salto mortale begriff und meine schwache Last auf ihrem Körper fühlte, wickelte sie ihren Rüssel von dem Baume los und schlug damit nach mir, – jedoch ohne Erfolg; ich befand mich außer dem Bereiche des gefährlichen Werkzeugs. Der Elephant wiederholte dies Manöver fünf- oder sechsmal, konnte aber seine freundliche Absicht nicht in Ausführung bringen. Zwei- oder dreimal schlug er von der Seite nach mir, so daß die Schläge dicht hinter mir aufklatschten, und zweimal versuchte er es, mich von oben herab zu treffen, indem er den Rüssel senkrecht in die Höhe reckte und dann damit nach hinten schlug; aber auch diese Versuche gelangen nicht, der Rüssel war eben zu kurz, als daß er mich damit hätte erreichen können.

Ich hatte durch einen glücklichen Zufall gerade die Stelle des Rückens oder Halses eingenommen, welche das Thier mit dem Rüssel nur sehr schwer oder gar nicht zu erreichen vermag, und hütete mich wohl, diese Festung freiwillig zu verlassen. Uebrigens mochte die blinde Wuth, in der sich mein Gegner befand, ihm in diesem Momente nicht gestatten, weitere Versuche dieser Art anzustellen, indem es ihm sonst und im ruhigen Zustande wohl noch gelungen sein würde, meiner mit dem Rüssel habhaft zu werden. Kurz – sobald das Thier merkte, daß seine Rüsselschläge ohne den gewünschten Erfolg blieben, stieß es einen entsetzlichen Schrei aus und stürzte in wildem Laufe davon.

Die übrigen Elephanten waren aus dem Gesichtskreise verschwunden, wohin? das wußte ich nicht; sie waren nirgends zu sehen oder zu hören. – Mein riesiges Roß lenkte in einen offenen Weg ein, eine Art sandiger Straße, die durch den Wald führte und das ausgetrocknete Bett eines ehemaligen Flusses zu sein schien. Mit unglaublicher Schnelligkeit raste das Thier vorwärts, schnaubend und brüllend und hin und wieder den Kopf zornig aufwerfend. Ein paar Augenblicke später schimmerte das Wasser eines quer über unsern Weg fließenden Stromes im Abglanz der untergehenden Sonne. Das Ungethüm stürzte unaufhaltsam darauf zu und hinein, so daß das hoch aufspritzende Wasser mich vollständig durchnäßte.

Der Strom war nicht breit, und ein paar Secunden genügten meinem Reitpferde, ihn zu durchschwimmen. Das jenseitige Ufer war niedrig und sandig. Kaum eine Viertelmeile davon begann wieder dichter Waldwuchs, der nur durch eine Fläche sandigen Bodens von dem Flusse geschieden war. Der Elephant sprang mit Leichtigkeit die niedrige Uferbank hinauf, und galoppirte dann ohne Rast gerade auf den Wald los.

Jetzt bemerkte ich auch die Fährten seiner vorausgeeilten Begleiter, welche dieselben deutlich genug in dem weichen Sande hinterlassen hatten. Bei diesem Anblicke entschwand mir der Muth. Wenn der Elephant den Wald mit mir erreichte, war ich ohne Rettung verloren. Die Bäume standen so dicht, daß ich sofort durch deren Zweige von dem Rücken des Thierewürde abgestreift worden sein, und dann war ich hülflos der Wuth desselben preisgegeben. Ich verfolgte mit Anstrengung meiner ganzen Sehkraft die Fußspuren der voran-gelaufenen Elephanten, konnte indessen keine Oeffnung in dem Saume des Waldes entdecken, durch welche dieselben hätten eingedrungen sein können. Mein Riesengaul konnte sich wohl mit seinem kolossalen Cadaver leicht eine Bahn in den Wald brechen, da die Bäume verhältnißmäßig nur schwach waren und der Elephant sie mit Leichtigkeit wie Strohhalme geknickt und zur Seite gebogen haben würde; – aber ich? jedenfalls würde mich der erste beste Ast, wie die Sehne den Pfeil, von meinem Sitze geschnellt haben.

Aber es war keine Zeit da zu langem Ueberlegen und Nachsinnen über die Mittel zur Abwendung der drohenden Gefahr, denn mit reißender Schnelligkeit näherten wir uns den verhängnißvollen Bäumen. Noch ein paar Minuten, und ich hatte den Wald erreicht, damit zugleich aber auch das Ende des Daseins, so nicht ein Wunder mich errettete aus der Gewalt des grimmigen Feindes. Da durchzuckte mich der Gedanke, ob es nicht wohl gethan sein möchte, wenn ich mich von dem Elephanten langsam herabließe? Vielleicht würde er das Verschwinden meiner verhältnißmäßig geringen Last gar nicht gewahr, und renne auch ohne seinen Reiter in seinem tollen Eifer vorwärts. Die Furcht aber, daß er meinen Fluchtversuch dennoch entdecken und mir in diesem Falle sofort den Garaus machen werde, hielt mich von der Ausführung dieser Idee zurück.

Die Art und Weise übrigens, wie das Ungethüm nach dem Gehölze zusteuerte, sein kurzes, wüthenden Schnauben, ließen mich sicher genug darauf schließen, daß mein Elephant nur nach Rache dürste und noch etwas ganz Anderen beabsichtige, als sich nur seines Reiters durch das Eindringen in die verschlungenen Baumäste zu entledigen. Was ihm andere Jäger vielleicht Uebles zugefügt, dafür wollte er sich an mir Unschuldigem blutig revanchiren, denn ich war ja auch ein Mensch, und folglich – sein Feind.

Indessen war es höchste Zeit, daß etwas geschehen mußte, wenn ich mich nicht widerstandslos opfern lassen wollte. – In einigen Minuten längstens war der Wald erreicht und ich unrettbar verloren. Mit der größten Anstrengung, mit der Kraft der Verzweiflung, wie sie nur die Todesangst dem Menschen verleiht, hatte ich bis dahin meinen Sitz zu behaupten gewußt. Plötzlich belebte sich meine Seele mit neuer Hoffnung. Ich erinnerte mich nämlich, gelesen zu haben, daß die Elephantenführer in Indien ihre Thiere tödten, wenn dieselben plötzlich rasend werden und auf keine andere Weise zu bändigen und unschädlich zu machen sind.

Konnte ich nicht das auch thun? Versucht wenigstens mußte [365] es werden. Hatte ich doch mein Jagdmesser, eine starke, zweischneidige Waffe, mit langer, vortrefflicher Klinge noch an meiner Seite. – Ich zog es aus der Scheide und faßte es fest in die rechte Hand. Sodann versuchte ich, mich zu erinnern, wo sich wohl der Fleck befinden möge, unter welchem der verwundbarste Theil der Rückenwirbel liegt. Einen Augenblick überlegte ich; meine, wenn auch nur unvollkommene, Kenntniß der Anatomie thierischer Körper kam mir zu Hülfe. Ich setzte die scharfe, glänzende Spitze auf den Nacken des Elephanten, gerade zwischen Kopf und Schultern. – Einen Moment noch zögerte ich, ungewiß ob ich auch die rechte Stelle gefunden. – Sodann raffte ich alle mir noch übriggebliebene Kraft zu dem tödtlichen Stoße zusammen, stützte beide Hände auf den Griff des Messers und drückte dann mit aller Gewalt der Arme und der ganzen Wucht des Oberkörpers nach unten. Die Spitze durchdrang die dicke, dunkle Haut des Thieres, die Klinge sank tiefer und tiefer in die Fleischmasse ein. Mit einer ungeheuern Anstrengung warf ich jetzt, da das Messer mir einen festen Anhaltepunkt gewährte, mein ganzes Gewicht auf dasselbe, so daß die Klinge bis an’s Heft eindrang.

Der Elephant hielt in seinem Laufe inne und stieß einen durchdringenden Schmerzensschrei aus, zitterte wie ein vom Erdbeben erschütterter Berg und stürzte dann, wie ein vom Beile des Schlächters getroffener Stier, schwerfällig auf den Sand, um sich nicht wieder zu erheben. Ich hatte mich auf den Sturz vorbereitet und sprang wohlbehalten zur Seite auf den weichen Boden. Ich war gerettet!

Wir athmeten hoch auf, denn die Haare hatten uns bei der Erzählung des Capitains zu Berge gestanden – und brachten ihm ein donnerndes Hoch aus, indem wir die Gläser kräftig zusammenklingen ließen. Es war uns ja, als wäre er eben erst dem Leben wieder geschenkt worden, denn er hatte seine Todesgefahren so lebendig geschildert, daß wir gleichsam gegenwärtige Zeugen davon gewesen waren.

„Danke schön, Jungens, für Eure Theilnahme,“ sagte Dunlap, indem er sich eine frische Cigarre anzündete, „und da es schon spät ist, so will ich mich beeilen, an den Schluß meiner Geschichte zu kommen.

Der Koloß also fiel zu Boden, wie einst der Riese Goliath von der Schleuder des kleinen David. Die Erde zitterte von der Wucht seines Sturzes. Eine Minute lang lag er regungslos wie ein Fels. Dann erzitterte der gigantische Körper, konvulsivisch reckten und dehnten sich die säulenartigen Beine, noch einmal erhob sich der ungeheuere Kopf und der furchtbare Rüssel peitschte den Sand. Dann schlossen sich die kleinen Augen, und der Riese war todt.

Eilig trat ich nun den Rückweg an, schwamm durch den Strom und begegnete dann meinen Gefährten, welche schon geraume Zeit mich suchend umhergestreift waren. Sie hatten mich von ihren Verstecken aus auf der Bestie vorbeireiten sehen und mich natürlich verloren gegeben. Um so größer war ihre Freude, mich zwar matt und angegriffen von dem furchtbaren Mazeppa-Ritt, aber doch sonst wohlbehalten und unverletzt wiedergefunden zu haben. Als ich erzählt hatte, wie es mir gelungen sei, das wüthende Thier zu erlegen, machten sie den Vorschlag, umzukehren und dem Elephanten die Zähne auszubrechen. Aexte hatten sie bei sich, und so machten wir uns auf den Weg. Uebrigens war es keine leichte Arbeit, die massiven Elfenbeinmassen dem Todten zu entreißen, und erst nach mehrstündiger Anstrengung war das Werk gelungen. Mit Hülfe eines Taues schafften wir die ungeheueren Hauer über den Fluß und verbargen sie dann im Buschwerk, um sie am folgenden Tage mit unseren Pferden abzuholen und weiter zu transportiren. Sodann begaben wir uns an unsern Lagerplatz zurück, wo ich am Feuer sofort in einen todähnlichen Schlaf versank.“




Deutscher Volksfrühling.[2]

Gedicht für Männergesang mit Orchester.

     Chor.

Was für ein Klingen und Regen
Hebt rings den lustigen Reihn,
Als wehe ein großer Segen? –
Das muß der Frühling sein!

Die Bächlein, die Ströme fließen
Befreit von des Eises Last,
Es blühet auf allen Wiesen,
Es schallet von jedem Ast.

Hinaus auf die grünenden Matten,
Wo Lust und Lieb’ uns winkt,
Daß fröhlich im Waldesschatten
So Becher wie Lied erklingt.
(Ländliche Musik; fernes Gewitter.)

     Baß-Solo.

Hört Ihr vom Himmel hoch des Donners Rollen?
Das schauert durch die Luft wie ernstes Mahnen,
Von andrer Feier geht ein leises Ahnen,
Und also tönt’s wie ferner Stimme Grollen:

„Ist’s Zeit, daß ihr an Spiel und Tanz euch weidet?
Schaut ihr das Leuchten nicht am Saum der Wolke?
Der Geistesfrühling nahet meinem Volke.
Und habt ihr auch die Stätte ihm bereitet?“

     Quartett.

Brüder, nicht mit Jubelchören,
Nicht mit Kränzen hebt es an,
Leben keimet aus Zerstören,
Und der Sturm erst fegt die Bahn.
Nieder stürzt’s in Wetterbächen,
Heiß entbrennen Kampf und Streit,
Erst das alte Eis zu brechen,
Eh’ uns Rosen bringt die Zeit.

Drum, gelobt’s in edler Wette,
Für das Vaterland erglüht:
Männerherzen sind die Stätte,
Wo der Völkerfrühling blüht!
Frischer Muth und feste Treue,
Starke Hand und kluger Rath,
Daß der Bund sich stets erneue,
Und das Lied, es werde That.

     Chor.

Mag er sich nahn!
Sei es in Kampfesnoth.
Im Sturmgetose
Oder im Maiengekose,
Hört sein Gebot,
Brüder, heran!

Starr lag des Winters Hand
Ueber dem Land,
Bruder vom Bruder gebannt,
Die Herzen voll banger Trauer
Endlich nach langer Nacht
Glühet die Morgenwacht,
Heil’ge Lenzesschauer
Durchbrechen die alten Schranken,
Mit frischen Liebesranken
Alle, die stammverwandt,
Wieder zu einen
Zum einen,
Zum deutschen Vaterland.
Das wir von Herzen meinen!

     Terzett.

Ach, Du warst selbst, mein Volk, Dir untreu worden,
Den eignen Söhnen wurdest Du zum Spott,
Geknechtet tief von frecher Schergen Horden.

Nur Eines blieb in all der Schmach und Noth
Von Deinen alten Ehren Dir erhalten:
Dein Sangesruhm und edler Frauen Walten.

[366]

     Tenor-Solo.
O naht der Männer Kreise, holde Frau’n,
Ihr ernstes Ringen huldvoll anzuschaun,
Zu wallen bei des droh’nden Kampfs Gebahrung
In heil’ger Sitte, höhern Rechtes Wahrung.
Ja, Frauensinn kann nimmer fehlen,
Mit dem ihr seid, der wird das Rechte wählen,
Zu dem ihr steht, der muß das Feld behalten,
Im Banne kämpft er höherer Gewalten.

     Chor.
Laßt die Feier denn beginnen,
Schalle, deutscher Männer Chor,
Und als heil’ge Priesterinnen,
Tretet, holde Frau’n, hervor!
Neu die Gluthen anzufachen
Auf des Vaterlandes Heerd,
Treu die Keime zu bewachen,
Die der Frühling uns bescheert.

Schaut ihr den Himmel in Flammen?
Alle zum Schwure schließt euch zusammen:
Zu halten am Vaterlande,
Zu sprengen des Wahnes Bande,
Wieder zu lösen den alten Ruhm,
Den Volkes Heiligthum
Neu zu erbauen!
Das Banner Schwarz-Roth-Gold voran,
Bald bricht der Sieges-Morgen an –
Und sollt’ unser Blut ihn bethauen!

 Baß-Solo mit Chor.

Solo.  Gedenkt der Todten!
Die in den Kämpfen dieser Zeit
Mit ihrem Blut genetzt den Boden.
Chor.       Die Todten! Gedenkt der Todten!
Solo. Umweht’s euch nicht wie Geistergrauen?
Seht sie, gleich Eideshelfern, auf euch schauen,
(Chor.   Die Todten, die Todten!)
Solo. Die Finger in den Wundenmalen,
Sie mahnen euch, die Schuld zu zahlen:
(Chor.   Die Todten!)
Solo. Ja, ob’s auch spät und heiß errungen werde,
Ein Land, ein Volk, so weit die deutsche Erde!
Chor. Ein Land, ein Volk, so weil dir deutsche Erde!

 Schluß-Chor.
Und jetzt, den Lenz zu verkünden,
Zieht rings durch das deutsche Land,
Von Gau zu Gau soll zünden
Der heil’ge Völkerbrand.

 S.




Der große Brand in Glarus.

Als vor neunzehn Jahren die Schreckenskunde vom Brande Hamburgs durch alle Lande flog, erzitterten die Herzen der Menschen vor dem großen, nie geahnten Unglück, welches die blühende, reiche, in der ganzen Welt bekannte Handelsstadt getroffen, und von Nah und Fern strömten Gaben mildherziger Liebe herbei, um die Noth der Betroffenen nach besten Kräften zu lindern. Ein verhältnismäßig weit größeres Unglück hat jedoch vor wenigen Wochen den rührigen und wohlhabenden Hauptort des Schweizer-Kantons Glarus heimgesucht, denn er ist in einer einzigen Nacht fast vollständig ein Raub der Flammen geworden; von seinen 4000 Einwohnern haben gegen 3000 nur das nackte Leben zu retten vermocht, während der eigentliche Flecken selbst, der größte, schönste, werthvollste Theil desselben, durch das furchtbare Element vollständig zerstört worden ist.

Der Flecken Glarus – wir hoffen nächstens eine gute Abbildung zu geben – liegt ungemein schön. Durch ein großartiges Gebirgsthor tritt man vom Norden her in das etwa eine Viertelstunde breite Linth- oder Großthal ein, in welchem am Fuße himmelhoher Bergriesen der genannte Hauptort des Kantons gelegen ist. In der Thaltiefe (südlich) erhebt sich der Kärpf in schneeigem Gewande, rechts (westlich) steigt die Felsenpyramide des Glärnisch empor, links (östlich) der drohende Schilt (über 7000 Fuß hoch), nach Norden scheint das Thal vom mächtigen Wiggis abgeschlossen. Unmittelbar am Fuße der düstern Pyramide des Glärnisch (Vorderglärnisch), der sich mehr als 6500 Fuß über das Meer und über 5000 Fuß über die Thalsohle erhebt, erblickt man den Flecken Glarus mit den anschließenden, aber selbstständigen Nebenorten Ennenda und Ennetbühl, die sich gegen den Rücken des Schilt hinaufziehen. Die Bergriesen scheinen den Flecken in nächster Nähe im Kreise zu umschließen und keinen Ausgang zu lassen. Als wollten sie die Ortschaft, welche nicht einer günstigen Lage, sondern einzig menschlichem Fleiß ihr Entstehen verdankt, als treue Wächter vor aller Unbill schützen, stehen sie da, die Zeugen der frühesten Zeiten der Erde. Nachdem sie Jahrtausende nur düstern Wald unter sich gesehen, scheinen sie sich jetzt am fröhlichen Treiben behäbiger Menschen zu ergötzen. In ihrem Schooße aber tragen die gewaltigen Recken böse Tücken, und so treu besorgt für das Thal sie aussehen, so schlimm spielen sie zuweilen den Thalbewohnern durch Wasserstürze und Lawinen, vor allem aber durch Sturmwinde mit, von deren Gewalt man außerhalb des Thales keine Vorstellung hat. In Minuten übler Laune lassen die südlichen Riesen den wilden Föhn aus mächtigen Lungen über das blühende Thal los, als wollten sie die Ortschaften zu ihren Füßen in einem Zuge vom Erdboden wegblasen. Da auch in der Schreckensnacht vom 10. auf den 11. Mai, in welcher Glarus ein Raub der Flammen wurde, der Föhn losbrach und dadurch es der Menschengewalt unmöglich machte, dem furchtbar entfesselten Elemente nachhaltigen Widerstand zu leisten, so möge hier für Leser, welche die Gewalt des Föhns noch nicht kennen, eine kurze Schilderung desselben, wie wir sie in dem so eben erschienenen Schriftchen des Schweizerhauptmanns Senn lesen, folgen.

Zehn bis zwölf Mal des Jahres braust von den südlichen Bergriesen herab ein wüthender Orkan, der sich schon aus weiter Ferne durch ein unheimliches Tosen in den Bergen und durch ein wildes Rauschen in den Wäldern ankündigt. Bald durchstürmt er dann mit furchtbarer Gewalt das Thal, deckt nicht selten Häuser und Stämme ab, entwurzelt Bäume, schmettert Felsen von den kahlen Berggipfeln nieder und versetzt die ganze Natur in grausigen Aufruhr. Plötzlich verstummt der Orkan, als wäre er über sein eigenes Wüthen erschrocken, um nach einigen Minuten mit erneuter Gewalt loszubrechen. Das ist der „wilde Föhn“, eine der furchtbarsten Erscheinungen der Gebirgswelt.

Der wilde Gast kündigt sich immer durch Wolken an, welche sich um die südlichen Berggruppen lagern. Am Abend und Morgen ist der Himmel dann stark geröthet, die höheren Wolken zeigen prächtiges Farbenspiel, während die untern grau und düster herabdrohen. Bleich, als wäre sie wegen des tückischen Gesellen im Schrecken, der auf den Moment des Losbrechens lauert, steigt die Sonne Morgens am Himmel auf. – Ist der Föhn einmal losgebrochen, so stürmt er in der Regel ein paar Tage hindurch, oft nur im Hinterland, andere Male das ganze Land entlang, über den Wallensee bis Zürich hin. Nicht immer ist er verderblich, oft zahm und dann im Frühjahr segensreich. Ist er aber im Grimme, so wird er zur Landesgeißel. Gegen die Tücken des Föhnsturms, der bei einem Brande besonders verderblich wird, haben sich die Glarner seit alter Zeit durch strenge Verordnungen in Sachen der Feuerpolizei möglichst zu schützen gesucht. Während der Föhn geht, sind besondere Wächter in den Ortschaften bestellt; alle Feuerarbeiter müssen ihre Arbeiten einstellen, es darf kein Brod gebacken, in Mollis nicht einmal gekocht werden. – Daß diese Anordnungen nicht überflüssig sind, hat das Unglück vom 10. Mai bewiesen. Bricht während des Föhnsturms in einer Ortschaft Feuer aus, so ist es um dieselbe geschehen. Mit rasender Gier, vom wilden Orkan gepeitscht, verschlingt der Brand dann Haus um Haus und ruht nicht, bis Alles in Asche liegt.

Am vergangenen 9. Mai hatte sich das Glarner Volk zur Landesgemeinde in Glarus versammelt und unter anderen auch einen Antrag auf theilweise Revision des oben erwähnten strengen Feuerpolizeigesetzes verhandelt und zurückgewiesen. Der Ehrentag des Glarner Volkes verlief in würdiger Ruhe. Der folgende Tag (Freitag) kündigte den Besuch des Föhn an. Niemand fürchtete Arges von ihm. Wurden ja doch die allgemein vorgeschriebenen Vorsichtsmaßregeln für Verwahrung von Feuer und Licht wie sonst getroffen, und war der Föhnwind doch lange nicht mehr im Bunde mit Feuerflammen erschienen.

[367] Aber die Glarner sollten gräßlich aus ihrem Vertrauen aufgeschreckt werden. – Dort am Landesgemeindeplatz, in der nordöstlichen Ecke desselben, begann Abends 9 Uhr leise ein Flämmchen an einem Holzschopfe zu züngeln, das von einem Fünkchen aus einer brennenden Tabakspfeife oder sonstwo angefacht worden war. Während die Bevölkerung des Fleckens unbesorgt bei einem Glase Bier oder Wein saß oder sich zu Bette begab, spielte das Flämmchen im Holzschopfe weiter und brach zwischen 9 und 10 Uhr zur Flamme aus. – Sofort Feuerlärm, Hülferuf, herbeieilende Löschmannschaft, Gerassel der Feuerspritzen. Es wäre wohl leicht gewesen, das kaum beginnende Feuer zu löschen, wenn der Föhn nicht mit furchtbarer Wuth das Thal durchstürmt hätte. Er wurde der mächtige Bundesgenosse des in seinen ersten Anfängen unbedeutenden Brandes. Mit ihm vereint spottete der Letztere allen Anstrengungen der Löschmannschaft und griff mit rasender Eile um sich. Kaum hatte sich der Hülferuf durch Glarus verbreitet, kaum waren die Spritzenmannschaften herbeigeeilt und begannen ihre Arbeit, so standen auch schon mehrere Häuser in Brand. Der Föhnsturm jagte die Flamme nordwärts über die Dächer hin, vermehrte die Gluth des Feuers, trug brennende Schindeln und glühende Schieferziegel weithin im Fluge des Blitzes und bewirkte so schnell die Entzündung von Gebäuden auf anderen Punkten.

Es gestattet weder der Raum dieses Blattes, noch ist es unsere Absicht, dem furchtbaren Elemente Schritt vor Schritt, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße zu folgen; vom Föhnsturm gepeitscht flog die Flamme auf den Flügeln des tobenden Orkans dahin, als gälte es, keine Secunde beim schrecklichen Zerstörungswerke zu verlieren.

Noch war keine Stunde verflossen, als der ganze Flecken vom Landesgemeinde-Platze bis über den Spielhof am nördlichen Ende hinaus in Flammen stand. Schauervoll prächtig – schreibt Senn – zeigte sich jetzt das Thal, in welchem Glarus liegt. Wenn der Föhn einen Augenblick den Athem an sich hielt, so stieg eine Feuersäule gen Himmel, welche mit den Bergriesen ringsum an himmelanstrebender Höhe wetteiferte. Wie von mächtigem bengalischen Feuer vom Fuß bis zum Gipfel beleuchtet, stand die 7000 Fuß hohe Pyramide des Glärnisch da. Der Kärpf mit seinen Gletschern im Hintergrunde des Thales strahlte rothhell im Flammenmeere; wie feuriger Regenschauer rieselten die Funken und Gluthen, welche der Föhn emporwirbelte, auf die Umgegend nieder und setzten selbst die Nachbargemeinde Netstall in Brandgefahr. Der Himmel strahlte in so glühendem Roth, daß man bis Zürich, ja selbst bis Schaffhausen, Aarau und Frauenfeld und über die Bergzüge des Jura hinweg darauf aufmerksam wurde und überall einen Brand in der Nähe vermuthete.

So furchtbar schön die Beleuchtung war, so unerträglich glühend war die Hitze. Sie erreichte einen solchen Grad, daß sie die Pflanzendecke des Niedrain-Hügels vom Fuße zum Gipfel bis auf die Wurzeln zerstörte. Hölzerne Gebäude in der Nähe der Brandstätte mußten allein von der Hitze, ohne Berührung mit dem Feuer, in Brand gerathen; drei Spritzen verbrannten gänzlich. Noch am Sonntag nach dem Brande war es in den Trümmern des Fleckens so heiß, daß man nur mit Mühe Athem schöpfen konnte.

Von 10 Uhr Abends bis 6 Uhr am andern Morgen wogte das Flammenmeer über Glarus; am gewaltigsten von 11 bis 4 Uhr. Gegen 500 Gebäude waren das Opfer der grausen Feuersbrunst geworden; darunter die achthundertjährige Pfarrkirche, welche bisher allen Stürmen der Zeit widerstanden und die beinahe die ganze Geschichte des Glarnervolkes mitgemacht hatte. Das wunderhübsche Geläute derselben schmolz stückweise in die Tiefe. Ob sie sich noch ihren Grabgesang läutete, konnte im wilden Sturme der Elemente nicht vernommen werden. Außerdem verbrannten sämmtliche Pfarrhäuser, etwa ein halbes Dutzend Gasthäuser, zwei Druckereien, eine Buchhandlung und beinahe sämmtliche Verkaufslocale, das Rathhaus, das Regierungsgebäude, die Bank, das Casino, das Schützenhaus u. a. m. Nur wenige Gebäude sind versichert, der Schaden aber wird auf 12 Millionen Franken geschätzt.

Um 6 Uhr Morgens hatte sich die größte Wuth der Elemente erschöpft; sie fanden im Norden, wohin ihre Richtung ging, keine Nahrung mehr. Wie viele Menschenleben in diesem glühenden Grabe liegen, weiß zur Stunde noch Niemand. Eine Frau Luchsinger, die sich aus der ganz neu etablirten, ebenfalls abgebrannten Apotheke ihres Sohnes retten wollte, ist auf ihrer Flucht in dem sogenannten Gewölb erstickt. Den gleichen Tod fand mit ihr Herr Hauptmann Tanner von Herisau, der alljährlich und so auch dieses Mal die hiesige Landesgemeinde besuchte. Zwei Tage nachher kam sein Sohn, um die Brandstätte zu sehen, und erkannte die Leiche seines Vaters, den er längst heimgekehrt wähnte.

Auf dem ganzen Erdenrund giebt es wohl wenige Stellen, wo eine Feuersbrunst sich mit solcher Blitzesschnelle verbreiten, sich zu solcher Heftigkeit entwickeln und solch schreckhafte Gestaltung annehmen kann, wie im Lande Glarus. Keine Feder ist deshalb im Stande, eine Schreckensnacht, wie sie der Hauptort dieses Kantons erlebte, auch nur annähernd zu schildern, und in der vorliegenden Darstellung mag der Leser blos ein dürftiges, skizzenhaftes Bild jener düstern, unheilvollen Stunden suchen. Der Jammer und das Elend so vieler wackern Leute, die in wenigen Stunden all ihr Hab und Gut vernichtet sahen, ist erschütternd. Vielen der reichsten Leute blieb nichts als die Schlüssel ihrer Hausruinen! Ständerath Blumer sah sein ganzes Eigenthum in den Gluthen versinken und hatte nur noch Zeit die theure Bürde seiner alten kränklichen Mutter davonzutragen.

Noch während des Brandes aber und kurz nachher zeigte sich in allen Kantonen der Eidgenossenschaft die rührigste Bruderliebe in Hülfe jeglicher Art. Ueberall im ganzen Schweizerlande erfolgten Anordnungen für die Hülfsleistung, die Organisation von Comités, die Sammlungen und Sendungen. Es bewährte sich jetzt wieder die mächtige Leistungskraft eines freien Volkes, eines republikanisch organisirten Gemeindewesens; es bewährte sich vor Allem in erhebendster Weise die alte treue Liebe der Eidgenossen zu einander in aller Noth und Gefahr.

Und auch das große Deutschland, der herrlichen Schweiz stammverwandt durch Sprache, Sitte und eine langjährige gemeinsame Geschichte wird, wie es stets gethan, sicher nicht zögern, den hartbedrängten eidgenössischen Brüdern in Glarus mit helfender That beizustehen, damit ihr Hauptort wieder wie ein Phönix aus der Asche in schönerer Gestalt erstehe. Es ist dem deutschen Volke Gelegenheit geboten, durch die That zu beweisen, daß,
„so weit die deutsche Zunge klingt,“
ein „einig Volk von Brüdern“ lebt, welches in dem mannhaften, heldenreichen Schweizervolke seine treuesten Bundesgenossen, seine muthigsten Vorkämpfer ehrt und liebt, welches daher auch mit freudigem Herzen die heilige Pflicht zu erfüllen sich drängt, den schwer heimgesuchten Glarnern die helfende Rechte zu reichen! [3]




Blätter und Blüthen.

Post-Sparcassen. Die öffentlichen Sparkassen sind ohne Zweifel eine sehr segensreiche Einrichtung. Sie bestehen bei uns in Deutschland seit langer Zeit und sind auch in England eingebürgert. Wer sie erfunden hat, weiß ich im Augenblick nicht zu sagen; allein in England schreibt man ihren Ursprung einem schottischen Geistlichen Dr. Duncan zu, der die einfache Einrichtung zum Besten seiner Pfarrgemeinde machte. Jetzt bestehen diese Sparbanken durch das ganze Königreich hindurch, und das in ihnen niedergelegte Capital beläuft sich auf die ungeheuere Summe von vierzig Millionen Pfund Sterling oder 266 Millionen preußische Thaler. Im vergangenen Jahr 1860 wurden 16,250,000 Pfund Sterling eingezahlt (108.330,000 Thlr.). Sehr eigenthümlich und charakteristisch ist, daß von den 266 Millionen Thalern, welche das Capital der Sparbanken repräsentiren, neun Zehntel von Dienstboten beiderlei Geschlechts beigetragen sind. Daraus geht die traurige Wahrnehmung hervor, daß die ungeheuer zahlreiche Classe der Arbeiter entweder sehr ungenügend bezahlt oder sehr nachlässig und verschwenderisch ist. Es mag wohl Beides daran schuld sein. daß die Arbeiter so wenig ersparen, und noch ein anderer Umstand dazu beitragen. Die Sparbanken, z. B. in London, sind nur ein oder zwei Mal in der Woche und dann auch nur zu gewissen Stunden des Tages geöffnet; ferner gibt es in kleinen Orten gar keine [368] Sparbanken, und endlich erhalten die Arbeiter meistens am Sonnabend ihren Lohn. Hat Jemand ein knappes Einkommen, so gehört schon eine gewisse Energie dazu, überhaupt zu sparen; allein noch bei Weitem mehr, wenn man das Geld lange in seiner Tasche behalten und sich endlich viel Mühe machen muß, um dasselbe in einer Sparcasse zu deponiren; die Versuchung, das Geld am Sonnabend Abend und Sonntag in den weit näher liegenden und zahlreicheren Bierhäusern zu vertrinken, ist, für einen englischen Arbeiter besonders, gar zu verführerisch.

Wer nicht viel hat und das Wenige, was er verdient, sehr sauer verdienen muß, der ist natürlich besorgt, daß die Ersparnisse, die er sich abdarbt, auch sicher angelegt sind. Nun ist es aber in England nicht selten der Fall gewesen, daß Sparcassenbeamte mit dem ihnen anvertrauten Gelde davongegangen und große Verluste erlitten worden sind. Dieser Umstand macht mißtrauisch und das Resultat ist, daß Mancher es vorzieht, sein Geld in irgend einem alten Strumpf für knappe Zeiten aufzuheben, wo ihm aber jedenfalls die Zinsen verloren gehen.

Um nun all diesen Uebelständen abzuhelfen, hat man jetzt in England den Vorschlag gemacht, die Sparcassen mit der Post in Verbindung zu bringen.

Die englischen Posteinrichtungen sind ausgezeichnet, besonders seit Sir Rowland Hill an der Spitze steht. Ich werde später eine Gelegenheit finden, diese Einrichtungen zu beschreiben, und begnüge mich jetzt nur mit einigen Bemerkungen. Die Zahl der allein in London angestellten Postbeamten beläuft sich aus zweiundzwanzigtausend, ungerechnet die Postmeister der durch die ganze Stadt vertheilten Nebenpostämter, die in Specerei-, Apotheker- und andern Läden ihren Sitz haben und deren Geschäfte von dem Principal des Geschäfts oder irgend einem Commis nebenbei besorgt werden.

Die meisten dieser Postämter auf dem Lande und eine durch die Stadt vertheilte große Anzahl in London sind zugleich Money-order-offices, d. h. Geldorder-Bureaux. In jeden derselben kann man eine Summe bis einschließlich fünf Pfund oder 33 Thlr. 10 Gr. einzahlen, wofür man einen Schein empfängt, der, wenn von dem Adressaten bei seiner nächsten Money-Order-Office abgegeben, ausgezahlt wird. Diese Maßregel erleichert den Geldverkehr, da es hier keine Pfundnoten giebt und das Einlegen von baarem Geld die Briefträger in Versuchung führt. Man zahlt natürlich eine Kleinigkeit für solche Postwechsel. Wie populär diese Einrichtung ist, geht daraus hervor, daß im Jahr 1860 nicht weniger als 26,500,000 Pfd. Sterl. (nicht ganz 177 Millionen Thaler!) in dieser Weise ausgezahlt wurden. Um aber das Versenden ganz kleiner Summen noch zu erleichtern, hat man ferner die Verfügung getroffen, daß jedes Postamt für Portomarken baar Geld auszahlen muß, so daß diese nun durchweg als eine Art von Tresorscheine gebraucht werden. Nebenbei will ich bemerken, wie sehr die Post darauf bedacht ist, Alles zu thun, was zur Bequemlichkeit des Publicums beiträgt. In Deutschland muß man die Postmarken stets mit der Scheere zerschneiden, eine Unbequemlichkeit, die dort kaum als eine solche gefühlt wird, hier aber eine große war, da eine solche Unmasse von Briefen abgesandt werden. Um nun dieselbe abzustellen, erfand Jemand ein sehr einfaches Mittel. Die Postmarken werden in Bogen gedruckt und jede Reihe der Marken ist nun der Länge und Breite nach von der andern durch eine Reihe dicht aneinander befindlicher, eingestampfter Löcher getrennt, welche ein Abreißen ohne alle Schwierigkeit erlauben. Diese einfache Erfindung belohnte das Generalpostamt mit fünftausend Pfund (oder 33,333 Thlr. 10 Gr.). – Empfangscheine für größere Summen werden nicht gegeben, obwohl man sie mit aller Sicherheit in Briefe legen kann, wenn man den Brief registriren läßt, was außer dem Porto noch sechs Pence (5 Groschen) kostet. Ich bin vollkommen überzeugt, daß die Post den Schaden ersetzen würde, wenn ein solcher Brief verloren ginge, obwohl auf dem Schein, den man erhält, nichts weiter als der Empfang des Briefes angegeben ist.

Um einige Beispiele zu geben, wie sorgfältig man hier bei der Post verfährt, will ich zwei Fälle aus persönlicher Erfahrung anführen. – Ich sandte meiner in Deutschland reisenden Frau eine kleine Summe Geld in Cassenanweisungen nach Bonn, wo sie mir eine Adresse angegeben hatte. Ich bemerkte weder auf dem Couvert, daß Geld im Briefe war, noch hielt ich es für nöthig, den Brief zu registriren. Zu meinem Erstaunen erhielt meine Frau weder Brief noch Geld; allein nach einigen Wochen verlangte mein Londoner Briefträger mich persönlich zu sprechen. Er brachte mir meinen Brief zurück, der mit einem Siegel von der Dead letter office (wörtlich: Büreau todter Briefe) versiegelt und auf dessen Adresse von Bonn aus bemerkt war, daß meine Frau sich dort nicht aufhalte. Es wurde mir nun von dem Briefträger eine Quittung vorgelegt, in welcher ich den Empfang des Briefes sowohl, als des nicht declarirten Geldes, bescheinigen mußte. Die Sache war deshalb um so bemerkenswerther, als der Brief deutsch geschrieben war und ich weder meine Adresse in London angegeben, da diese meiner Frau bekannt war, noch meinen Namen unterzeichnet, sondern mich mit dem Anfangsbuchstaben meines Vornamens begnügt hatte.

Ein andermal schrieb ich an eine Dame, die von dem Lande in ihre Stadtwohnung zurückkehrte. Auf der Adresse versah ich mich in der Hausnummer, und da der Briefträger neu war und das Haus den Winter über leer gestanden hatte, so kannte derselbe noch nicht die Namen in seinem Bezirk; genug, der Brief kam nicht an. Ich schrieb also eine kurze Notiz an das Generalpostamt, ohne meinen Namen zu unterzeichnen, und legte eine Postmarke ein, da doch der Fehler der meinige war. Sogleich bekam die Dame ein Schreiben, unterzeichnet von Sir Robert Hill, in welcher ihr angezeigt wurde, daß man Nachforschungen wegen des Briefs anstelle. Dann am nächsten Tage kam der Brief, und endlich wieder ein Schreiben von Sir Robert Hill, welcher die von mir gesendete Pennymarke enthielt!

Man sieht daraus, daß die Post hier ein Institut ist, welches vollkommen begreift, wie es einzig und allein für den Dienst und die Bequemlichkeit des Volkes da ist, und daß es die beste Weise ist, dieses Institut für den Staat zugleich einträglich zu machen, diesem Dienst die allergrößte Aufmerksamkeit und Sorgfalt zu widmen. Es ist daher begreiflich, daß die Post in England populär ist und großes Zutrauen genießt.

Man hat also jetzt, wie oben erwähnt, vorgeschlagen, die Sparcassen mit der Post zu verbinden. Dies soll auf die allereinfachste Weise geschehen. Wer irgend eine kleine Summe erspart hat, geht auf irgend ein Postamt, welches zugleich Money-Order-Office ist, zahlt das Ersparte ein und läßt die Summe in sein Büchelchen einzeichnen. Nun haftet der Staat für diese Summe.

Es ist klar, daß diese einfache Maßregel nicht allein alle obenangeführten Uebelstände hebt, sondern noch andere Vortheile für Individuen und den Staat selbst mit sich bringt. Man kann jetzt recht viel Geld in der Sparcasse in London haben und doch in Edinburgh, oder wo man sich sonst in Großbritannien befinden mag, in große Verlegenheit gerathen; durch die neue Einrichtung würde denn auch abgeholfen; hat man nur sein Büchelchen bei sich, so zahlt jedes Postamt, wenn man es verlangt, den ganzen bei irgend einem Postamt deponirten Betrag nebst den fälligen Zinsen. Dem Staat erwächst aber der Vortheil, daß er über die beträchtlichen Summen, die bis jetzt in die ihm unzugänglichen Sparkassen gezahlt wurden, im Interesse den Staates verfügen kann. In manchen Staaten des Continents möchte diese Einrichtung freilich die entgegengesetzte Wirkung haben, als diejenige ist, welche man sich davon in England verspricht. Die Ungeheuerlichkeit der englischen Staatsschuld – die der Staat nicht Fremden, sondern dem englischen Volke, also eigentlich sich selbst schuldet – ist die beste Garantie gegen Staatsbankerott, – da das englische Volk sich selbst regiert.

Es war noch von einer andern Maßregel die Rede, welche mir gleichfalls sehr zweckmäßig scheint, die aber nicht mit der Post, sondern mit den Telegraphenbüreaux in Verbindung gebracht werden sollte. Zahlt man z. B. in Wien tausend Gulden an das Bürean, so soll man das Geld auf die telegraphische Anzeige an jeder größern Telegraphenstation empfangen können. Es sind das telegraphische Wechsel. –
C. 




Deutsche Geschichte. Wenn wir in unsern Tagen, wo die nationale Idee so gewaltig an der Neugestaltung des alten Europa arbeitet und auch unser Vaterland mit ihrem belebenden Hauche durchdringt, auf ein Werk aufmerksam machen, welches auf einem noch nicht betretenen Wege die deutsche Geschichte in ihren gesammten politischen, wirthschaftlichen und Cultur-Beziehungen vorführt, so wird dies keiner Rechtfertigung bedürfen. Es ist dies die „Deutsche Geschichte von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart“ von Max Wirth, welche in 15 Lieferungen à 8 Bogen und – 12 Ngr. – und 3 Bänden, jeder Band in zwei Abtheilungen, im Verlag der Expedition des Arbeitgebers zu Frankfurt erscheint, wovon soeben die erste Lieferung ausgegeben ist. Ganz abweichend von der gewöhnlichen Methode beginnt der als Volkswirth und Publicist rühmlich bekannte Verfasser damit, den Lesern die geschichtlichen Entwicklungsgesetze vorzuführen, und sogleich von Haus aus die äußern Begebenheiten dem bloßen Spiele der Willkür zu entrücken und unter dem höhern Gesichtspunkt innern nothwendigen Zusammenhangs eines großen stetig fortschreitenden Culturprocesses zusammenzufassen. Sehr glücklich sind die von der Nationalökonomie zunächst auf ihrem Felde festgestellten Gesetze den gesellschaftlichen Verkehrs der Menschen in ihrer universellen, weil aus der menschlichen Natur selbst abgeleiteten Geltung für das Geistesleben und die staatliche Gestaltung der Nationen nachgewiesen, und auf diese Weise dem Leserkreise gleichsam eine Vorschule geschichtlichen Studiumn geboten, wie sie uns bei keinem ähnlichen Werke bekannt ist. Die Darstellung ist gedrängt und höchst populär, aber populär in dem Sinne, daß sie auch den Gebildetsten anspricht, dabei in hohem Grade anregend; Eigenschaften, die wir dem Werke nicht wenig zum Verdienst anrechnen.

Was das eigentlich Geschichtliche anlangt, so sind in der vorliegenden ersten Lieferung, welche das erste Auftreten der Deutschen in der Geschichte bis zu den Römerkämpfen umfaßt, die Quellen so gut wie die neuesten Arbeiten der Forscher gewissenhaft benutzt, ohne daß der Verfasser sich des eignen selbstständigen Standpunktes begäbe, von welchem aus er uns vielmehr manchen neuen eigenthümlichen Blick eröffnet. Am besten wird sich die Reichhaltigkeit des Materials, welchen das Werk bietet, aus dem Inhaltsverzeichnisse des zweiten, nicht die äußeren politischen Begebenheiten, sondern die inneren Zustände behandelnden Abschnitts der ersten Abtheilung des ersten Bandes (bis zum Ende der Karolinger) ergeben. Derselbe behandelt:

1. Land, Wohnsitze, Leute. 2. Eigenthum, freies und gebundenes, Gesammteigenthum. Markgenossenschaft. 3. Die Gütererzeugung, a. Landwirthschaft, Ackerbau, Viehzucht, Jagd, Fischerei, b. Gewerbe und Handel. 4. Münze, Maß, Gewicht. 5. Transportwesen. 6. Capital, Credit, Preise. 7. Die Staatsverfassung, die Ständeunterschiede, Fürst und Volksversammlung. 8. Gesetzgebung und Gericht. 9. Militärverfassung. 10. Zölle, Steuern. 11. Wohnung, Kleidung, Nahrung. 12. Erziehung, Sprache, Schrift, Literatur, Wissenschaft, Kunst, Musik. 13. Sitten und Gewohnheiten. 14. Religion und Aberglaube. 15. Allgemeiner Stand der Bildüng am Ende des Zeitabschnittes.
Und so können wir die Anschaffung des Werks, das sich, wie wenige andere, als ein wahres Volksbuch ankündigt, nicht dringend genug empfehlen.
Schulze-Delitzsch. 




Heiraths-Ceremonien. Die einfachsten und kürzesten Heiraths-Ceremonien unter civilisirten Völkern finden unstreitig in den Vereinigten Staaten von Nordamerika statt. Das Folgende ist authentisch. Magistratsbeamter: „Mein Herr, wie heißen Sie?“ Antwort: „Matthäus.“ Magistrat: „Wie heißen Sie, mein Fräulein?“ Antwort: „Polly.“ Magistrat: „Polly, wollen Sie Matthäus?“ Antwort: „Unbedingt, ich will.“ Magistrat: „Matthäus, wollen Sie Polly?“ Antwort: „Das versteht sich.“ Magistrat: „Gut, ich erkläre Euch also als Gatte und Gattin für die Zeit Eures Lebens.“


  1. Ich theile eine seiner Reden, die ich mir gemerkt und aufgezeichnet habe, fast wörtlich mit.
  2. Von verschiedenen Seiten sind Preise für gute Texte zu Männergesangcompositionen ausgeschrieben. Wir dürfen den „deutschen Volksfrühling“ wohl allen Compositeuren empfehlen und bitten die Herren, falls sie sich mit dem Dichter in Verbindung zu setzen wünschen, um gefällige Nachricht.
    Die Redaction.
  3. Obwohl in allen Gauen Deutschlands für unsere unglücklichen Brüder in Glarus bereits gesammelt wird und ich mit meiner Bitte bei der langsamen Erscheinungsweise der Gartenlaube wohl etwas zu spät kommen dürfte, so wage ich es dennoch an die Herzen meiner Leser zu appelliren und sie um eine Beisteuer für die Unglücklichen zu ersuchen. Es ist ja so viel Unglück vergessen zu machen. – Ueber die eingegangenen Liebes-Gaben werde ich in der Gartenlaube öffentlich quittiren.
    Ernst Keil.