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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[337]

Ein Deutscher

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Wie betäubt, starren Schrecken im Gesicht, stand einige Secunden lang Alles, was sich eben noch so fröhlich durcheinander bewegt, bis plötzlich Leben unter den männlichen Theil der Gesellschaft kam, Einzelne nach der Ausgangsthür stürzten, während Andere die Damen mit hastiger Zusprache nach den Divans führten und dann den Ersteren folgten. Von draußen klangen laute Worte des Capitains durch die offenen Fenster herein, von einer entfernten Stimme beantwortet; schwere Tritte eilten zu beiden Seiten über die Gallerien, und bald ertönten mächtige, das ganze Verdeck erschütternde Schläge gegen das Boot. Reichardt hatte nach der ersten Ueberraschung seine Violine bei Seite gelegt und war den Davoneilenden gefolgt; er sah aber bald, daß die vor dem Ausgange sich zusammendrängende Passagiermenge ebensowenig als der dicke Nebel ihm gestattete, sich von der Natur des Geschehenen oder dem Grad einer möglichen Gefahr zu unterrichten, und trat, nachdem er auf keine seiner Fragen eine Antwort hatte erhalten können, in den Salon zurück, wo ihm die Augen sämmtlicher Ladies in peinlicher Erwartung entgegenstarrten.

„Ich glaube kaum, daß der Unfall bedeutend ist!“ sagte er, um nur etwas diesen fragenden Blicken zu entgegnen; kaum hatte er sich aber nach seinem frühern Platze an einem der offenen Seitenausgange gewandt, als auch der Capitain, gefolgt von den Passagieren, den Salon betrat. „Alles in Ordnung, Ladies, keine Gefahr!“ rief der Eintretende, „hätte aber bei dem verwünschten Nebel ein richtiges „Smash up“ geben können, wenn nicht ein sonderbarer Umstand gewesen wäre!“

In diesem Augenblicke klang die Dampfpfeife, ein gleiches Signal antwortete neben dem Boote, und die ersten Stöße der neu mit ihrer Arbeit beginnenden Maschine machten alle Theile des großen Fahrzeugs erzittern.

„Es ist die „Belle“, die gegen uns gelaufen ist.“ fuhr der Sprechende fort, während die Reisenden begierig nach Näherem sich um ihn drängten; „wir haben nur einen Radkasten eingebüßt, aber ihr Außenzeug scheint ziemlich schlimm zugerichtet. Daß wir aber diesmal nur mit einer Schramme davongekommen sind, verdanken wir Niemand, als dem Gentleman hier!“ Reichardt sah plötzlich alle Blicke auf sich gerichtet, sah des Capitains Hand gegen sich ausgestreckt, und fühlte sich im ersten Momente fast verblüfft von der sonderbaren Angabe. „Glaub’s gern, daß Sie nichts davon wissen,“ fuhr der Capitain lachend fort, ihm kräftig die Hand schüttelnd, „demungeachtet ist es so, und wenn Sie jemals dieselbe Tour wieder machen, so suchen Sie die „Mary Brown“ auf, es soll Ihnen kein Cent Passage abgenommen werden. Die Sache ist die, soviel ich aus den kurzen Worten des Capitains von der „Belle“ habe entnehmen können,“ wandte er sich zu den Uebrigen, „unser rothes Licht scheint heute Nacht Mucken gehabt oder sich mit dem Nebel schlecht vertragen zu haben; es hat so trübe gebrannt, daß man fünf Schritte davon kaum eine Art unbestimmten Schein in dem Dunste gesehen hat, und die „Belle“ wäre uns jedenfalls gerade auf den Leib gefahren, wenn der Mann im Steuerhäuschen nicht schon ein paar Minuten vor dem Zusammenstoß den lustigsten Reel aus dem Nebel hätte klingen hören.

Im Anfange hat er gemeint, der Schall komme aus einem Hause am Ufer, und er habe unrecht gesteuert, bis er noch zu rechter Zeit auf die richtige Vermuthung gekommen und sich, soviel er gekonnt, nach dem Klänge gerichtet hat – das ist die Sache; aber eine Mordsfiedel muß das sein, die Sie da haben, Sir, und es ist ein Glück, daß ich Zeugen mit nach St. Louis bringe, sonst würde ich mit meiner Geschichte ausgelacht!“

„Die Violine trägt weit, das ist die Wahrheit,“ erwiderte Reichardt lachend, „wenn ich mir auch nicht hätte träumen lassen, daß sie noch einmal zum Signal-Instrumente dienen würde.“

Das frühere Gefühl der Sicherheit stellte sich bald wieder in der Gesellschaft her, besonders als der Capitain meldete, daß alle möglichen Vorsichtsmaßregeln zur Verhütung eines ähnlichen Falls getroffen seien; die Tanzlust schien aber der gehabte Schrecken vertrieben zu haben, und Reichardt sah sich bald mit seiner Violine, welche die Runde unter den kopfschüttelnden Passagieren gemacht, in eine der bequemen „Cabins“ einquartiert, während die erhaltene Gepäckmarke ihn über die Sicherheit seines Koffers beruhigte.

„Doch noch nicht ohne Glück!“ sagte er, als er sich auf die weiche Matratze warf, „also nur immer den Kopf hoch, und das Uebrige wird sich schon finden!“

Die übrigen Tage der Reise vergingen mit all der Eintönigkeit einer amerikanischen Flußdampfschifffahrt. Reichardt fühlte, daß trotz der Freundlichkeit seiner Mitpassagiere das „Deck,“ auf welchem er Passage genommen, wie eine unsichtbare Scheidewand zwischen ihm und der übrigen Gesellschaft stand, und hielt sich für sich, soviel er konnte. Zweimal wurde er aufgefordert, die Ladies mit seiner Kunstfertigkeit zu unterhalten, und er that dies so ganz mit der Miene des Weltmanns, der sich freut, sich Jemand verbinden zu können, daß man später Anstand zu nehmen schien, weitere Opfer von ihm zu verlangen. Während aber der größte Theil der Reisenden die Zeit entweder mit Kartenspielen und [338] Trinken oder faulem Umherliegen todtzuschlagen suchte, hatte sich Reichardt eine Beschäftigung gebildet, welche ihm mit jeder Stunde mehr Interesse abgewann. Er hatte zuerst einen einfachen Brief an Harriet begonnen; bald aber war er, in dem Wunsche, sich dem Mädchen ganz so zu zeigen, wie er war, und ihr eine volle freundschaftliche Hingebung zu bethätigen, von der Gegenwart in seine Vergangenheit gerathen, hatte von seinem Entwickelungsgange gesprochen, hatte sie in jede Falte seines Herzens, das kaum ein paar flüchtige Neigungen geborgen, sehen lassen, und nach und nach sein ganzes Denken und Empfinden vor ihr bloßgelegt. Er war in seiner Arbeit unterbrochen worden und hatte sie bei Seite gelegt; bald genug aber mahnte ihn die müßige Zeit wieder zur Fortsetzung. Er nahm einen neuen Gedanken auf, wie er sich ihm gerade bot, und begann zu plaudern, als säße er dem Mädchen Auge gegen Auge gegenüber, und als er an diesem Abende schloß, freute er sich schon auf den nächsten Morgen, um in seiner Beschäftigung fortzufahren. Aus seinem Briefe war endlich eine Art Tagebuch geworden, in welchem er seine Gedanken, die volle Zeit hatten sich zu ergehen, seine Anschauungen und Urtheile einzeichnete, und er wußte es wohl selbst nicht, welch’ erschöpfenden Bild seines eigenen Selbst er darin gegeben hatte. –


Erst als vor den Augen des Deutschen die langgestreckte Stadt mit der unabsehbaren Reihe still liegender Dampfboote auftauchte, begann der Gedanke an die nächste Zukunft sich wieder seiner Seele zu bemächtigen, und er vermochte nicht, ein Gesicht von Besorgniß, das ihn leise beschlich, ganz von sich abzuweisen. Er berechnete unwillkürlich die Entfernung, welche ihn jetzt von New York trennte – er konnte dort auf nichts rechnen, er hatte dort keinen seiner Fähigkeiten würdigen Broderwerb finden können, und doch kam ihm New-York noch immer wie sein letzter Halt vor, den er, je weiter er sich davon entfernte, je mehr verlor.

Ein Gewühl von Lohnkutschern, Karrentreibern und Lastträgern, zudringlich ihre Dienste anbietend, empfing die Aussteigenden. Reichardt wies Alles, was Kutsche und Wagen hieß, von sich und wählte einen Neger zur Fortschaffung seines Koffers.

„Wohin, Sir?“ fragte dieser, als die Last auf seiner Schulter ruhte.

„Ja, wohin jetzt?“ fragte sich der Deutsche selbst. Er sah in das Gewühl und Treiben um sich, blickte in die endlose Straße hinein, die sich vor ihm aufthat, und fast wollte ihn das Gefühl des Verlorenseins in einer großen Stadt überkommen. „Wißt Ihr nicht ein anständiges Boardinghaus, Onkel, in dem man ein paar Wochen bleiben kann, ohne daß dem Menschen die Haut über die Ohren gezogen wird?“ sagte er nach kurzem Besinnen.

„Mehr als eins, Sir,“ grinste der Schwarze, „wir sind nicht so schlimm in unserm St. Louis, kommen Sie nur mit mir!“

„In Gottes Namen denn, mag jetzt das Schicksal aus mir machen, was es Lust hat!“ brummte Reichardt und folgte dem Schwarzen in die von geschäftigen Menschen und Lastkarren belebte Straße; kaum aber hatte er ein paar hundert Schritte zurückgelegt, als sein Gesicht sich plötzlich aufklärte und er dem ein Stück voransfchreitenden Neger nachsprang. Sein Auge war auf einen großen, frischen Zettel mit den riesigen Anfangszeilen: „„Varieties Theatre – Parlour Opera! – first Night“ gefallen, und Alles, was von Besorgniß in ihm gelebt, war wie dünner Nebel vor den hereinbrechenden Sonnenstrahlen gewichen.

„Ist nicht irgend ein billiges Hotel oder dergleichen in der Nähe der „Varieties?“ fragte er den Lastträger, „es wäre mir meiner Geschäfte wegen lieb!“

Der Schwarze setzte seine Last nieder und kratzte seinen Wollkopf. „Ich bin wenig dort hinauf bekannt,“ erwiderte er, „und wenn Sie nicht gerade im „Plantershouse“, wo es aber starke Rechnungen geben soll, bleiben wollen –“

„Um Gotteswillen nicht!“ unterbrach ihn Reichardt, „führt mich nur hin, wohin Ihr denkt, ich kann ja später noch meine eigene Wahl treffen!“

Der Deutsche sah sich bald in einer der engen Straßen nahe dem Flusse untergebracht und ergab sich zum ersten Male darein, ein Zimmer zu beziehen, in welchem bereits zwei andere Gäste ihre Schlafstätte hatten. Die Billigkeit des Unterkommens mußte jetzt für ihn das allein Maßgebende sein, und wenigstens erschien ihm das Haus reinlich. Er hatte sofort nach seinem Eintritte sich erkundigt, auf welche Weise man wohl die Wohnungen der angekommenen Künstler erfragen könne: die Leute im Hause schienen aber von den zu erwartenden Vorstellungen weder etwas zu wissen, noch überhaupt das geringste Interesse daran zu nehmen, und der junge Mann saß jetzt neben seinem noch ungeöffneten Gepäck, um seine nächst zu thuenden Schritte zu überlegen. Es waren noch zwei Stunden bis zu Mittag, und er hatte Zeit vor sich, um Mathildens Wohnung nachzufragen; gelang es ihm aber nicht, diese zu erkunden, so mußte er Abends das Eintrittsgeld zur Vorstellung daran wenden, und es hier versuchen, zu ihr zu gelangen.

Er ließ sich den Weg nach dem Theater beschreiben, steckte zugleich den Brief an Harriet zur Absendung zu sich und wanderte in das Gewirr der Straßen hinein. Das Postgebäude war schnell gefunden, ebenso ohne große Schwierigkeiten das Theater; an den geschlossenen Thüren des letzteren aber endete Reichardt’s Weisheit, und nach einigem Besinnen wandte er sich einem nahegelegenen Trinklocale zu, um sich hier, wenn auch nicht Auskunft, doch wenigstens einen Rath zu erholen. Aber auch hier ward ihm nur Kopfschüttelu und bedauerndes Achselzucken, und er bereute schon die zehn Cents, welche er unnütz für einen Schluck Brandy ausgegeben, als ein junger Mann mit weißem Castorhut und schwarzem Schnurrbart sich vom Schenktische nach ihm drehte, erst einen Blick über seine frische Erscheinung laufen ließ und dann fragte, wen von der Gesellschaft er zu sprechen wünsche. Reichardt, in welchem eine neue Hoffnung erwachte, beeilte sich, Mathildens Namen zu nennen und den Frager seines besten Dankes für Angabe ihrer Wohnung zu versichern. Dieser überflog noch einmal das ganze Aeußere des Deutschen. „Miß Heyer nimmt, soviel ich weiß, niemals einen Privatbesuch in ihrer Wohnung an –“ erwiderte er.

„O, sie wird mich empfangen und Ihnen für meine Zurechtweisung verpflichtet sein,“ versetzte Reichardt eifrig, „– sie ist meine Schwester, Sir, wenn wir auch nicht gleiche Namen führen!“ fügte er nach einem augenblicklichen Stocken hinzu.

In dem Gesichte des Andern stieg ein zweifelndes Lächeln auf. „Geben Sie mir Ihren Namen, Sir, wenn Sie Ihrer Sache so sicher sind, – ich bin der Agent der Gesellschaft,“ sagte er, „und dann warten Sie hier einen Augenblick.“

Der Deutsche beeilte sich, ein Blatt Papier aus seinem Notizbuche zu reißen, froh, so schnell den rechten Mann getroffen zu haben, und mit einem eigenthümlichen Blicke auf die rasch hingeworfenen Worte entfernte sich der Andere. Jetzt aber zum ersten Male stieg in Reichardt der Gedanke auf, ob denn wohl der Fall möglich sei, daß Mathilde ihn nicht sehen wolle. Er hatte bis zu diesem Augenblicke nur eine unbestimmte Vermuthung über die Ursache, welche das Mädchen in New-York von seiner Seite getrieben, und sie hatte ihn damals gebeten, sie nicht aufzusuchen – er hatte nicht den geringsten Begriff, wie sie zu der Operngesellschaft gerathen und welche ihre jetzigen Privatverhältnisse waren; konnte es denn wohl Gründe geben, die sie es vorziehen ließen, ihn von sich entfernt zu halten? Reichardt wurde, je mehr er sich abquälte Möglichkeiten zu ersinnen, je unruhiger; seine Herreise war in einer so bestimmten Erwartung, mit dem Mädchen zusammenzutreffen, erfolgt, daß er sich wie in die Wildniß hinaus geworfen vorkam, wenn er das Wiedersehen mit ihr aus seinen Hoffnungen strich.

Die Rückkehr des Agenten, welcher dem Deutschen schon zwischen der Thür einen Wink, ihm zu folgen, gab, setzte allen Befürchtungen indessen ein vorläufiges Ziel. „Die Lady ist in der Probe, Sir, und Sie sprechen sie am besten dort,“ sagte Jener; „wenn Sie mir folgen wollen, zeige ich Ihnen sogleich den Weg.“

Reichardt konnte nur seine vollste Zustimmung ausdrücken und sah sich nach dem hintern Theile den Theatergebäudes geführt, wo eine niedrige Thür den Eingang zu dem Allerheiligen der Breterwelt bildete. Schon bei seinen ersten Schritten in dem dunkeln Raume hörte er den Klang eines Pianos, dem sich bald die Töne einer menschlichen Stimme anschlossen; sein Begleiter ließ ihm indessen keine Zeit zum Horchen, faßte seine Hand und führte ihn über dunkle Treppen zwischen Bretern und Balken, aufgespannten Leinwandstücken und andern mysteriösen Gegenständen, deren Natur die Berührung der Hand nicht zu ergründen vermochte, einem matten Lichtpunkte zu, der sich bald als ein halberblindetes Fenster erwies, und der Deutsche sah sich plötzlich, zum ersten Male in seinem Leben, hinter den Coulissen einer großen Bühne.

[339] „Der Geschmack muß da sein, Messieurs,“ klang eine ärgerliche Stimme in halb gebrochenem Deutsch, „das Singen mag sehr gut sein, aber der Geschmack in der Attitüde giebt erst den Effect. Nehmen Sie ein Vorbild an Mademoiselle Heyer und jetzt stellen Sie sich noch einmal auf!“ Ein Händeklatschen erfolgte, und mehrere Personen glitten über die Breter; gerade sich gegenüber aber sah Reichardt jetzt eine schlanke, weibliche Gestalt erscheinen; sie hob ein feines, bleiches Gesicht, und kaum hatte ihr Blick ihn getroffen, als es wie Morgenröthe in ihren Wangen aufschoß. „Max, Bruder Max, ist es denn wirklich so?“ rief sie und im nächsten Moment war sie auch schon in der Coulisse; Reichardt hatte unwillkürlich die Arme gehoben – er fühlte sie an seiner Brust, er fühlte ihren Mund so warm und innig auf dem seinen, als dürfe das gar nicht anders sein, trotz der Menschen um sie her, und als er die feine Gestalt in seinen Armen hielt, kam es über ihn wie ein stilles, klares Heimathsgefühl, als sei jetzt Alles gut und er habe kaum mehr zu sorgen um das, was künftig werden solle. In der nächsten Secunde stand sie vor ihm, Gesicht und Nacken roth übergossen, in halber Verwirrung, aber der ruhige, glückliche Ausdruck seines Gesichts schien ihr schnell ihre volle Controle zurückzugeben. „Welche Schicksale haben Dich denn getroffen, daß sich unsere Wege hier im fernen Westen kreuzen?“ frug sie, seine beiden Hände fest in die ihrigen nehmend.

„Die sind sich nur gefolgt, Mathilde,“ erwiderte Reichardt lächelnd, seinen Blick in ihr großes, dunkles Auge senkend, „ich komme direct von Nashville, wo ich die erste Spur meiner unsichtbar gewordenen Schwester fand und mich sofort aufmachte, um mir Aufklärung und Rechenschaft geben zu lassen.“ Wieder stieg ein Roth in ihre Wangen, und in ihrem Auge bebte es wie eine niedergehaltene Empfindung. „Das aber und so manches Andere besprechen wir nachher,“ fuhr er fort, „jetzt darf ich wohl nicht länger stören.“

Sie warf einen fragenden Blick nach der Bühne, auf welchen dort indessen schon gewartet zu sein schien. „Gehen Sie, Mademoiselle,“ sagte die frühere Stimme, „wir brauchen keine weitere Gesangprobe und ich will Sie nicht aufhalten, es handelt sich nur noch um die Attitüde dieser Messieurs; Sie wissen, der Geschmack muß da sein.“

Mathilde hieß, davon eilend, mit einem Händedruck den jungen Mann warten, und dieser zog sich nach der Treppe zurück, um nicht lästig zu werden; nach zwei Minuten aber schon war das Mädchen mit Hut und Mantille wieder zurück, und Beide betraten zusammen die Straße.

Sie gingen schweigend neben einander her, als fühle Jedes, daß sie mehr zu sprechen hätten, als sich auf der Straße abmachen ließ; dann und wann nur, wenn Reichardt den Kopf nach ihr wandte, hob sie den Blick, als sei sie glücklich, ihn einmal wieder in seinen Zügen ruhen lassen zu können.

Sie hatte den Weg nach dem „Everett House“ eingeschlagen und ging dort ihrem Begleiter rasch nach den Räumen des obern Stocks voran, wo sich ein kleines elegantes Zimmer, mit Divan und Schaukelstuhl versehen, vor ihnen öffnete. „Jetzt denke. Du bist bei Deiner Schwester, Max, und mache es Dir so bequem als möglich,“ sagte sie, mit voller Ungezwungenheit sich ihrer Umhüllungen entledigend; dann zog sie den Schaukelstuhl zur Seite des Divans und ließ sich leicht darin nieder. „Und willst Du nun freundlich sein,“ fuhr sie, nachdem Reichardt sich ihr gegenüber niedergelassen, mit voller Seele zu ihm aufblickend, fort, „so frage mich nicht viel, was mich von New-York weggetrieben und mein Schicksal von dem Deinigen trennen ließ. Du weißt, ich hätte mich in dem gewöhnlichen weiblichen Wirkungskreise einzeln stehender Frauen, zu dem die Noth mich doch zuletzt gedrängt hätte, aufgerieben, und so habe ich einen Beruf ergriffen, der mir wenigstens nach einer Seite hin volle Befriedigung giebt. Jetzt erzähle mir Deine Schicksale, und vor Allem, was es möglich machen konnte. Dich hierher zu verschlagen.“

Reichardt hatte beobachtend in ihr Gesicht geblickt, das wieder die ganze Blässe angenommen hatte, welche ihm bei ihrem ersten Erscheinen aufgefallen war, und hatte einen kaum momentan um ihren Mund zuckenden Ausdruck wahrgenommen, der weder mit ihrem leichten Tone noch mit der Befriedigung, von welcher sie gesprochen, im Zusammenklange stehen wollte.

„Frage jetzt einmal nicht nach meinen Erlebnissen. Ich müßte Dir eine lange Geschichte erzählen, zu der eine völlig ruhige Stunde gehört,“ sagte der junge Mann und legte seine Hand auf die ihre. „Ich möchte, daß Du Dich erst einmal gegen mich recht von Herzensgrund aussprächst. Ich will nichts wissen, als was die augenblickliche Gegenwart betrifft. Ich werde auch nicht fragen, und zufrieden sein mit dem, was Du mir mittheilst – aber sprich, damit ich einen Begriff von Deinem jetzigen Leben erhalte, Mathilde.“

„Ich habe nichts zu verheimlichen,“ erwiderte sie, während ein leises Roth wieder in ihr Gesicht stieg; „Du sollst Alles hören, und zuerst, daß es mich ein wahrer Festtag dünkt, Dich hier neben mir sitzen sehen. Meine Lage ist mit zwei Worten ausgedrückt: ich stehe allein, aber ich habe die Kraft dazu und erwartete kaum Anderes, als ich von Dir schied. Habe ich auch Kämpfe zu überwinden, die in meiner Stellung kaum zu vermeiden sind, so habe ich doch auch Genugthuung durch die Kunst in Fülle, und was kann ein Mensch zuletzt mehr verlangen?“

„Und doch bist Du nicht glücklich, Mathilde!“

„Glücklich! du lieber Himmel, wie viel wirklich Glückliche giebt’s denn in der Welt, und welche Ansprüche habe ich denn, zu diesen Wenigen zu gehören?“ rief sie lachend; aber es war keine Freude in diesem Lachen, und in Reichardt’s Seele klang es wie ein Mißton. „Ich habe glückliche Augenblicke, Max,“ fuhr sie fort, „wenn ich den Gott in meiner Brust fühle, wenn die Menschenmenge vor mir, die nüchterne, träge Masse, von ihm ergriffen wird und im Enthusiasmus losspectakelt, wenn ein Wettkampf entsteht zwischen den rohen Aeußerungen dieser Begeisterung und den klingenden Tönen, die ich kaum mehr als die meinigen erkenne, und plötzlich, wie niedergeworfen von der Macht des Gottes, jeder Ton um mich her verstummt, daß ich fast erschrecke vor den siegenden Klängen der eigenen Brust – das sind Augenblicke des Glücks, Max, die ich festhalte, wenn die Oede des übrigen Lebens wieder an mich heran tritt, und hat denn der Mensch ein Recht, mehr zu verlangen?“

„Ich mag Dich nicht zu Mittheilungen drängen, die Du mir nicht ungefragt machen willst,“ erwiderte Reichardt, den Blick von ihrem eigenthümlich leuchtenden Gesichte sinken lassend, „die Augenblicke der Aufregung sind doch am wenigsten das wirkliche Leben, und von den Stunden der nachfolgenden Ermattung sprichst Du auch nicht.“

„Du sollst Alles durchblicken,“ erwiderte sie, seine Hand zwischen die beiden ihren nehmend, „aber warte, bis Du den Boden kennst, auf dem ich stehe, und die Menschen um mich beurtheilt hast, bis Du gesehen, wie ich mich zu ihnen und den Verhältnissen stelle. Vielleicht erscheine ich Dir dann fremder, als ich es Dir jemals gewesen – dann aber wird es Zeit sein, mehr zu sprechen. Du begleitest mich heute Abend hinter die Coulissen. Und nun eine Frage, die Du mir trotz der angedrohten Geschichte doch beantworten mußt: führt Dich ein bestimmter Zweck hierher, oder bist Du auf einer Irrfahrt begriffen?“

„Auf einer wirklichen Irrfahrt, Mathilde, die sich aber mit wenigen Worten eben nicht erklären läßt!“

„Es bedarf auch jetzt nicht der Erklärung. Für’s Erste nimmst Du Dein „Dinner“ mit mir – wir werden keine zwei Minuten darauf zu warten haben, und Nachmittags quartierst Du Dich hier ein, damit wir bei einander sind. – „Halt, einen Moment,“ unterbrach sie Reichardt, einen Blick durch das Fenster werfend, „ich thue Alles, was Du willst, aber hier logiren kann ich nicht. Ich weiß noch nicht, ob ich einen Cent werde in St. Louis verdienen können, und dies Haus ist mir zu kostspielig –“

„Gut!“ erwiderte sie mit einem glücklichen Lächeln, „ich werde auch für den Verdienst sorgen, wenigstens augenblicklich – oder meinst Du, wir sollen von einander gehen, ohne einmal wieder

„Zieh’n die lieben gold’nen Sterne“

zusammen durchphantasirt zu haben? und Monsieur Fonfride, der Director, wird einen Künstler, wie Dich, der ihm wie vom Himmel herab zufällt, unausgebeutet lassen, so lange wir hier sind?“

„So lange wir hier sind!“ klang es wie ein Echo in Reichardt’s Innern; sie dachte also nicht daran, daß er sich vielleicht der Truppe anschließen dürfe, wie es als halbe Hoffnung ihm zu Zeiten vorgeschwebt. Er sah einige Secunden lang schweigend vor sich nieder. „Und wenn nun mein Spiel gefiele, Mathilde? – ich habe so manches Effectstück eingeübt, das die Amerikaner ansprechen würde,“ begann er langsam, „glaubst Du nicht, daß es in Eures Directors Nutzen liegen würde, mich auch weiter zu beschäftigen?“

Als er aufsah, war das leise Roth der Erregung aus ihrem [340] Gesichte gewichen, und ihr Blick ruhte wie in plötzlich erwachter Besorgniß auf ihm. Ebenso schnell aber ward der eigenthümliche Ausdruck durch ein weiches Lächeln verwischt.

„Ich glaube, Max,“ sagte sie, seine Hand drückend, „daß Dir einige Productionen mit uns Gelegenheit geben werden, Dich hier zu zeigen, Dich in der guten Gesellschaft einzuführen und einen Grund für eine solide Existenz für Dich, sei es auch nur erst als Musiklehrer, zu legen. St. Louis ist kein New York, es fehlt hier an Leuten, wie Du es bist, und weder unser Director, noch das herumziehende Leben kann Dir jemals einen Halt für Deine Zukunft geben.“

„Und welchen Halt bieten sie Dir, Mathilde?“

„O, mit mir ist es etwas Anderes – aber laß das jetzt!“ rief sie, sich rasch erhebend, als die Mittagsglocke durch das Haus klang, und fast schien es, als sei ihr die Unterbrechung eine erwünschte. Sie wandte sich nach dem Spiegel, sich mit wenigen Strichen ihr Haar ordnend, und trat dann auf den jungen Mann zu, ihre Hand mit einem: „Ich werde Dich führen!“ leicht unter seinen Arm schiebend.

Es lag für Reichardt etwas wunderbar Wohlthuendes in der zwanglosen Weise, mit welcher das Mädchen ihn behandelte, in dieser Mischung von zutraulicher Wärme und halber Zurückhaltung, – er fühlte sich neben ihr daheim, und wenn er auch wußte, daß keine Empfindung ihn bewegte, die der Liebe, wie er sie sich dachte, nahe stand, so fühlte er doch auch, daß er gern mit ihr durch das ganze Leben gegangen wäre. Als sie an seinem Arme die Treppe hinab nach dem Speisesaal schritt, meinte er in ihrer leichten, graziösen Bewegung, in dem hellen Blick, welchen sie zu ihm hob, nur die Verkörperung ihres ganzen inneren Wesens zu sehen.

An der Tafel war kein Platz für den neuen Gast reservirt, er mußte seine Begleiterin verlassen und sich mit einem Sitze am untern Ende des Tisches begnügen. Mathildens Platze gegenüber sah er den Agenten, dessen Auge nicht von ihm wich, bis er sich niedergelassen, und auch dann noch den aus der Entfernung gewechselten Blick der „Geschwister“ aufzufangen schien. Der junge Mann wandte, etwas verwundert, den Kopf nach ihm und traf auf einen stechenden Blick unter zwei buschigen zusammengezogenen Brauen, der sich indessen vor seinem Auge langsam senkte. Reichardt suchte, während er aß, umsonst nach einem Grunde dieses sonderbaren Begegnens, bis ihn die Stimme seines Nachbars andern Gedanken zuführte. „Sie gehören zu der angekommenen Gesellschaft, Sir?“ fragte dieser höflich.

„Nicht ganz, Sir,“ erwiderte der Deutsche, „ich bin nur heute zufällig mit Miß Heyer, die meine Schwester ist, hier zusammengetroffen.“

Der Andere neigte leicht den Kopf. „Die Zeitungen haben schon viel Rühmliches über die junge Dame berichtet, und die Gesellschaft wird ihre Rechnung hier finden – wir sind leider arm an tüchtigen musikalischen Kräften, und doch könnten so manche ein rentabeles Geschäft als Lehrer in unsern besten Familien, oder als Sänger und Sängerinnen in unsern Kirchen machen. Es scheint, daß Leute von solcher Befähigung nur immer als Zugvögel hierher kommen.“

„Well, Sir,“ erwiderte Reichardt und ließ erst jetzt den Blick über das ganze respectabele Aeußere des Sprechenden laufen, während sein Auge in einer neuen Hoffnung aufleuchtete, „Sie stellen mir selbst da eine lockende Aussicht. Ich hatte schon den Gedanken, hier ein Feld für mich zu suchen, und gedachte deshalb während der kommenden Vorstellungen einige meiner Leistungen dem Publicum vorzuführen –“

„Halten Sie den Gedanken fest, Sir,“ gab der Andere zurück. „Wenn Sie der Mann sind, für den ich Sie halte, so ist hier Ihr Boden, und ich werde mich freuen, Sie zum Hierbleiben aufgemuntert zu haben!“

Reichardt hätte gern das Gespräch noch weiter fortgesetzt, aber Mathilde schien bereits mit ihrem Mahle zu Ende zu sein und auf ihn zu warten. Er erhob sich, die Hoffnung gegen seinen Nachbar aussprechend, ihn am Abend wieder hier zu treffen, und wandte sich nach den obern Plätzen der Tafel, wo sich bei seinem Herankommen ein halbes Dutzend Köpfe nach ihm drehte.

„Es muß hier gleich eine General-Vorstellung bewerkstelligt werden, um Dir die Ehre einer Bekanntschaft mit unserm verdienten Künstler-Corps zu verschaffen,“ empfing ihn Mathilde, während sich die nächsten Personen von ihren Sitzen erhoben und der Ankömmling sich zwischen einem vollen Kreuzfeuer musternder Blicke sah. „Mein Bruder, Max Reichardt, Violinist und Pianist!“ Der Vorgestellte blickte mit einer leichten Verbeugung um sich und begegnete wieder dem unangenehmen Blicke des Agenten, um dessen Mund sich bei der Nennung von Reichardt’s Namen ein Zug scharfer Ironie legte. Es zuckte in dem Deutschen, ohne Weiteres Erklärung von dem Manne zu fordern. Ein Blick auf die zahlreichen Gäste umher ließ ihn indessen die Ausführung seiner Absicht aufschieben.

„Mr. Fonfride, unser würdiger Director,“ fuhr Mathilde fort, und der junge Mann sah ein echt französisches Gesicht, von grau gemischtem Haare beschattet, vor sich. Trotz dieses Zeichens beginnenden Alters aber schienen doch die lebendigen Züge und das feurige Auge kaum auf mehr als vierzig Jahre zu deuten. „Freue mich, Herr,“ sagte er in dem gebrochenen Deutsch, welches Reichardt bereits am Morgen vernommen, „ein Bruder, ganz einer solchen Schwester würdig. Ich beurtheile die Leute nach ihrem Geschmack, Herr,“ setzte er, Reichardt’s Aeußeres überlaufend, wie erklärend hinzu, „und bin noch selten fehlgegangen; der Geschmack muß da sein, sonst ist für mich wenigstens der ganze Mensch nicht viel!“

„Es hat wenigstens bei dem Bühnenkünstler Manches für sich!“ erwiderte Reichardt mit höflichem Lächeln und wandte sich dann nach den nächsten Personen, einem Manne in „gesetzten“ Jahren, mit einem Anfluge von Wohlbeleibtheit, dessen ganzer Gesichtsausdruck aber in „lyrische Süße und lächelndes Schmachten“ ausgegangen zu sein schien – und einer Dame, schon etwas verlebt, aber mit einer selbstbewußten Bestimmtheit im Blicke. „Herr und Frau Meier, unser Bariton und Alt!“ erklärte Mathilde, „und hier,“ fuhr sie fort, „Fräulein Faßner, Sopran, und die Herren Stiller und Meßner, Tenor und Baß.“ Reichardt erwiderte die Verbeugungen, es waren gewöhnliche Erscheinungen, auf die sein Auge zuletzt getroffen. Dann aber blieb sein Blick wieder auf dem Agenten hängen, den Mathilde in eigenthümlich kurzem Tone als „Mr. Stevens, our Agent,“ vorstellte. „Wir kennen uns bereits,“ sagte Reichardt englisch, den Blick fest auf das noch immer zu halber Satire verzogene Gesicht des Letztgenannten richtend, „und Mr. Stevens wird mir vielleicht erlauben, ein paar Fragen an ihn zu richten.“

„Zu irgend einer Zeit, Sir!“ war die Antwort, mit welcher der Redende sich wie im halb verdeckten Spott verbeugte.

„Sobald wir allein sein werden, Sir,“ gab Reichardt zurück und wandte sich, um Mathilden den Arm zu bieten.

„Wir sehen Sie doch heute bei der Vorstellung?“ nahm der Director das Wort, „Mademoiselle Heyer hat mir so viel von Ihrer Kunst auf der Violine gesagt, daß Sie uns jedenfalls einige Mal unterstützen müssen.“ Der junge Mann konnte nur lebhaft seine Bereitwilligkeit erklären und nach einer leichten Verbeugung gegen die Uebrigen geleitete er die „Schwester“ aus dem Saale.

„Liegt etwas zwischen Dir und dem Agenten?“ fragte Mathilde, als Beide zusammen die Treppe hinaufstiegen.

„Etwas jedenfalls, denn er scheint es auf eine Beleidigung gegen mich abgesehen zu haben,“ erwiderte Reichardt. „Was es aber ist, will ich eben von ihm erfahren. Ich habe den Mann heute Morgen zum ersten Male und da nur mit ein paar kurzen Worten gesprochen.“

Mathilde blieb an der Thür ihres Zimmers stehen. „Laß den Menschen, Max,“ sagte sie, „ich habe Gründe es zu wünschen, die Du bei der ersten Gelegenheit erfahren sollst. Er tritt übrigens schon morgen seine Weiterreise an, und so, wie ungehörig er sich auch gegen Dich benommen haben mag. laß ihn, mir zur Liebe!“

„Ich will ihn meiden, wenn Du es verlangst,“ erwiderte er, ohne das Gefühl von Befremdung, das ihn überkommen, ganz verbergen zu können.

„Thu’ es, Max,“ unterbrach sie ihn, ihre Hand an seinen Arm legend, „wir werden nicht von einander gehen, ohne daß Du klar in alle meine Verhältnisse geblickt hast – und nun,“ fuhr sie fort, als wolle sie damit den Gegenstand beseitigen, „laß Dein Gepäck hierhier schaffen, damit ich Dich in meiner Nähe weiß.“

Es waren mancherlei Betrachtungen, welche sich Reichardt beim Verlassen des Hotels über die Unklarheiten in Mathildens Lage aufdrängten, aber er hoffte sie bald ergründen zu können, und als er den Agenten, eine Cigarre rauchend, in der Ausgangsthür stehen sah, ging er an ihm vorüber, als bemerke er ihn nicht.

(Fortsetzung folgt.)
[341]
Der Schäfermarkt in Markgröningen.



Wenn es wahr ist, daß sich in den Festen eines Volks der Charakter desselben ziemlich treu abspiegelt, so dürfte es nicht ohne Interesse sein, in dem Folgenden ein Volksfest gezeichnet zu sehen, das schon durch sein uraltes Bestehen der Beachtung verdient: wir meinen das Schäferfest oder den Schäfermarkt in Markgröningen.

Der Triumphzug des Siegers und der Siegerin beim Schäferfest in Markgröningen.

Dieses Städtchen, recht eigentlich im Herzen Schwabens gelegen, vier Stunden von Stuttgart entfernt, rühmt sich eines sehr hohen Alters. Wiesen doch die Vorsteher desselben, als sie im Jahre 1720 die herzogliche Regierung um Belassung eines Special-Superintendenten baten, darauf hin, daß es „die älteste Stadt in ganz Schwaben und vermöge alter Documente 2900 Jahr nach Erschaffung der Welt, also 1000 Jahre vor Christi Geburt erbaut worden sei.“ Beschleichen uns bei dieser Angabe auch einige Zweifel, so möchte doch erwähnenswert sein, daß Attila, der wilden Hunnen König, das Städtchen um’s Jahr 450 nach Chr. zerstört, dagegen Chlodwig, der König der Franken, es wieder aufgebaut haben soll. Ueberdies soll es von Karl dem Großen im Jahr 810 zu einer Grafschaft erhoben, mit großen Vorrechten begabt und mit einem Adler im Wappen versehen worden sein. Jedenfalls ist aber als geschichtliches Datum das zu verbürgen, daß unser Gröningen, wie es damals hieß, seit 1322 im Besitz der Reichssturmfahne war, so wie daß es 1333 an Würtemberg kam.

Lassen wir die weiteren geschichtlichen Notizen bei Seite und gehen wir zur Hauptsache, zum Schäfermarkte des Städtchens über. Seit undenklichen Zeiten ist Markgröningen durch dieses Volksfest berühmt. Zu demselben gehörte ein Markt, die Kirchweihe und das Zunftfest der Schäfer sammt dem Hammellauf. Ueber den Ursprung des Gesammtfestes giebt uns die Sage Aufschluß. „Es war einmal“ – so erzählt sie – „ein Graf zu Gröningen, der hatte einen Schafknecht mit Namen Bartholomäus. Dieser Knecht ward berüchtigt vor seinem Herrn, daß er Schafe aus der Heerde verkaufe und das Geld für sich behalte. Das verdroß den Grafen sehr. Seinen Bartle (Bartholomäus) hatte er bisher immer treu erfunden und konnte fast nicht glauben, was man von ihm sagte. Um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, reiste der Graf weit über Land. Endlich kehrte er, als Metzger verkleidet, wieder zurück. Er ging nun hinaus auf’s Feld zu seinem Bartle. Da wollte er sehen, ob er von ihm Schafe bekäme. Er bot und schmeichelte und bot viel Geld dar. Doch vergebens! Endlich griff er nach einem Stück der Heerde. Da ergrimmte der Knecht und schlug den frechen Metzger. Jetzt gab sich der Graf [342] zu erkennen, lobte den treuen Diener, schenkte ihm einen Hammel und befahl, daß an dem Tage Bartholomäi, dem Namenstage des Knechts, die Schäfer alljährlich ein Fest der Freude und des Andenkens an diese That feiern sollten.“

So wenig diese Sage geschichtlichen Grund hat, so sehr zeigt sie, daß der Ursprung des Festes, das sich vorzugsweise auf die Schäfer und die mit ihnen sonst zusammengerechneten Metzger bezieht, sich in das graueste Alterthum verliert. Der Tag des Festes ist zugleich der Tag der Kirchweihe der Stadt; denn die Kirche war schon 1277 erbaut und dem heil. Bartholomäus gewidmet. Es dürfte aus diesem Umstande sich ergeben, daß schon zur Zeit der Hohenstaufen, die ohnehin dem Gedeihen der Volksfeste in Schwaben jeden Vorschub leisteten, dieses Schäferfest gefeiert wurde. Die erste geschichtliche Spur findet sich übrigens in einer Rechnung des Spitals der Stadt vom Jahr 1443–44, in welcher erwähnt ist, daß der Meister den Conventbrüdern, Knechten und Mägden an Bartholomäi gekauft habe „Seckel, Messer und Nestel.“[1] Als begünstigende Momente zur Ausbildung des Festes dienten der frühe Wohlstand der Stadt, die große Markung, die bei dem vormals sparsameren Anbau reiches Weideland für zahlreiche Heerden bot, wodurch die Gründung eines Sitzes der Schäferzunft sich von selbst ergab, die Anordnung eines Woll- und Schafmarktes und endlich das Wett- und Preislaufen als Spiel der Erwachsenen, der Söhne und Töchter der Schäfer. Wie besucht und bedeutend aber dieses Fest war, möge uns ein Straßburger Gelehrter, Lorenz Fries, darthun. In seinem Buch „von Beschreibung der Meercharten, gedruckt im Jahr 1525“ sagt derselbe: „Allda (nämlich zu Gröningen, das liegt in Schwaben) ist auf nächsten Tag nach St. Bartholomäi ein freier Markt, und auf einen Tag kommt wohl so viel Volks dar, als auf einen Tag gen Frankfurt.“ Um also ein Bild zu geben, muß sich Fries auf einen Tag der berühmten Frankfurter Messe beziehen. Nahmen doch die Herren des würtembergischen Landes und die Mitglieder des würtembergischen Hauses selbst daran Theil! Hatten sie doch nichts in ihrem Lande, das sich hätte mit diesem Feste vergleichen lassen! Und im Verlaufe der Zeit bis zum Anfang dieses Jahrhunderts fehlte es nie an Gästen aus der Mitte des geliebten Regentenhauses. Besondere Aufmerksamkeit richtete Herzog Eberhard III. nach dem dreißigjährigen Krieg auf den Schäfertag und die Schäferzunft. Neben andern Handwerksordnungen gab dieser Fürst eine erneuerte Schäferordnung (21. August 1651) und unterschrieb eigenhändig den pergamentenen Brief, der sie enthält.

Jung und Alt rührt sich schon tagelang, würdig sich vorzubereiten auf die freudigen Stunden des heiligen Bartholomäus. Vornehme und Geringe, Vermögliche und Dürftige scheuen kein Opfer der Gastfreundschaft; gilt es doch die Ehre der Stadt! Rauchsäulen steigen empor, und um die Häuser verbreiten sich Düfte, geeignet, das Herannahen von außergewöhnlichen Freuden zu verkündigen. Auf öffentlichen Plätzen, in den Straßen deuten Zurüstungen auf einen Markttag. Schäfer und Schäferinnen ziehen allmählich in’s Städtchen; es zeigen sich schon die bestellten Pfeifer der Schäferzunft; schon erblickt man den Dudelsack, die Querpfeife. Auch entferntere Gäste finden sich ein. Freundliche Blicke winken dem Fremden den Gruß zu. Lockende Töne aus einzelnen Schalmeien dringen an’s Ohr. Dort in friedlicher Herberge tanzen nur Etliche sittsam ein Tänzchen zur Uebung. Horch, es klingt ein Ständchen von Schäfern, den „Herren“ gebracht, herüber. Nacht ist’s geworden; der Vorabend des Festes ist da! Und zum Nachtgruß wirbeln die Trommeln und tönen die Pfeifen der Stadtwache durch alle Straßen des Städtchens. Und den erhabenen Schluß bildet das Schreien freudig nacheilender Gassenjungen! Aber wenn auch der Lärm aus Gassen und Plätzen verstummt ist, in den Häusern ist’s doch noch nicht stille geworden; nicht will der Schlaf die ermüdeten Augen schließen. Naht doch ein Morgen voll Lust!

Und siehe da, kaum graut der Tag, der ersehnte, so erhebt sich aus’s Neue Geräusch, denn die Stunde der Freude, schlüge sie jemals zu früh? Pfeife und Trommel der Stadtwache künden geräuschvoll sie an; mit Tagesanbruch beginnt sie den Umzug. Ueberall Rührigkeit, überall emsiges Treiben! Die Schäferobermeister ziehen mit Musik und mit fliegender Fahne vor die Stadtschreiberei, um ihren Obmann, den Stadtschreiber und die Lade der Zunft[2] auf das Rathhaus abzuholen. Dort wird die Fahne aufgesteckt; sie flattert gegen den Marktplatz hin. Geschäft und Freude beginnen zumal. In der großen Rathsstube geht das Ein- und Ausschreiben der Schäferjungen, das Einsammeln des Leggeldes bei Meistern und Knechten, die Austheilung der Nestel und Bänder an sie und dergleichen vor sich. In der geräumigen Hausflur tanzt die junge Schäferwelt unter aufregenden Hoffnungen des Tages beim hüpfenden Ton der Schalmeien. Die Zahl der Fremden wächst mit jeder Stunde. In allen Straßen, in allen Häusern giebt es, je nach Stand, Bildung und Bekanntschaft, Gruß und Kuß, Händedruck und Bückling. Der Krämer legt ohne Säumniß seine Waaren zur Schau; Handwerker um Handwerker ordnet, was seiner Hände Fleiß hervorgebracht, und auch der, „welcher die Einfalt durch tausend Künste und durch der Worte Schwall zu berücken pflegt, setzt sich in seine vielversprechende Stellung.“ Auf einmal ertönt das Geläute der Glocken, sie rufen zur Kirche Einheimische, Fremde. Ein langer, langer Zug schwebt die breite Treppe des Rathhauses herunter; beschaut von einer Menge Neugieriger, ordnet und vervollständigt er sich unten mehr und mehr. Die Spitze des Zuges bilden die Ladenpfeifer und Schäfer, mit ihren Schalmeien und Querpfeifen den Schäfermarsch blasend.[3] Nach ihnen kommt der erste Zug der Stadtwache, dann folgt die fliegende Fahne, getragen von dem Stadtschäfer Gröningens und umgeben von Obermeistern, die an ihrem Schäferstabe silberne Schippen haben. An diese reihen sich der Oberamtmann, der Stadtschultheiß, die Vorsteher der Schäferzunft und Andere. Den Schluß des Ganzen macht der zweite Zug der Stadtwache. Feierliche Festmusik empfängt die in die Kirche Eintretenden. Nach Absingung einiger Liederverse besteigt der Diaconus die Kanzel und hält eine Predigt dem Feste angemessen, die theils aufmerksam, theils voll Zerstreuung hingenommen wird, jedenfalls aber baldigst endigen muß, wenn nicht Murren über das säumige Amen vernommen werden soll. Hastig drängt sich die Menge durch die Kirchthüren hinaus und rennt spornstreichs davon, um bei dem nunmehr beginnenden Hammellauf einen günstigen Standort zu erhalten. Vornehme eilen in ihren Wagen hinaus.

Endlich ziehen die „Herren“ und Schäfer in demselben Zuge, wie sie gekommen waren, auf das Rathhaus zurück. Dort wird die oben berührte Schäferordnung verlesen; dort werden die Preise, welche nach dem Laufe ausgetheilt werden sollen und die in allerlei Kleidungsstücken bestehen, an die Schippen der Obermeister gebunden; dort wird an der Rathhaustreppe der mit Bändern und Blumen geschmückte Hammel in den Zug aufgenommen. Dieser Hammel wird von dem Stadtschäfer geführt und nach der Musik eingereiht. Ihm schließen sich an die fröhlichen Burschen und Mädchen, welche den sogenannten Sprung wagen. Der Oberamtmann, der Stadtschultheiß und Andere folgen, begleitet von stattlichen Reitern. Von Zuschauern dicht umgeben, bewegt sich der Zug auf den Festplatz. Auf einem Stoppelfeld ist die 300 Schritte lange Rennbahn hergerichtet. An dem einen Ende stellen sich die Springenden auf; am andern befinden sich die Kampfrichter. Auf beiden Seiten der Bahn wartet eine zahllose Menschenmenge, sei’s zu ebener Erde, sei’s auf Gerüsten und Wagen, sei’s hoch zu Roß, bis das Zeichen zum Wettlaufe gegeben wird. Endlich flattert das weiße Tuch. Barfüßig, die spitzigen Stoppeln nicht scheuend, kommen auf Sturmesflügeln die Burschen herbei. Gleiches Schauspiel bei den Mädchen. Zurufe der schauenden Menge feuern die Kämpfenden an. Aber es geht nicht ganz ohne Neid und Schabernack ab. Da giebt eine Dirne einer andern einen „gelinden“ Puff in die Seite, der ihr den Athem auf einen Augenblick nimmt; dort stößt eine an der andern an und Beide kommen zu Fall. Schnell richten sie sich auf und verbergen sich eben so schnell in die Zuschauermenge. Wieder verliert eine Dirne das Gleichgewicht, fällt zu Boden, rafft sich aber rasch wieder auf und humpelt den schadenfroh Vorübereilenden mit Mühe nach. Aber schon hat eine Glückliche keuchend den Fuß der Tribüne erreicht und schaut sich nach dem nächsten besten Sitze um, stolz und triumphirend um sich blickend, da ihr der Sieg ja geworden. Am Ende der Laufbahn liegen die Kampfpreise vor den Kampfrichtern.

[343] Der Wettlauf ist endlich vorüber. Der Richter Urtheil verkündet den Lauschenden nunmehr die Sieger und Siegerinnen. Der Jüngling und das Mädchen, die für die besten Springer erklärt sind, bilden das siegende Paar und werden mit schweren, glänzenden, roth unterfütterten Kronen aus Messing gekrönt. Von Mund zu Mund wird ihr Name getragen; die strahlenden Blicke verkünden den Zuschauern, wessen die Herzen nun voll. Den sie gewonnen, den Hammel, nehmen sie in ihre Mitte. Im Triumphe, begleitet von ihren Kampfgenossen, ziehen sie unter dem schrillen Getön der Pfeifen und Schalmeien vom Wahlplatze fort. Man kommt vor dem Rathhause an, dort wird Halt gemacht. Sämmtliche Schäfer und Schäferinnen, die sich am Sprunge betheiligten, tanzen daselbst einen Ehrentanz. In der Mitte des Kreises steht der Zahlmeister und wirft Nestel unter die Tanzenden, die sie zu erhaschen suchen. Doch nicht blos die Schäfermädchen drehen sich im Tanze, auch aus den umstehenden Fräulein und Jungfern holt sich der jubelnde Schäfer die Tänzerin; keine dürft’ es verschmähen, mit dem Hirtenkind einen lustigen Walzer zu wagen.

Nun ist’s Mittag geworden. Stiller wird’s auf den Straßen. Um so geschäftiger regen beim Mahl sich die Hände. Freundschaft und Liebe würzen gar seltsam die Arbeit des Mundes. Wenn im Gedränge sich kaum die Blicke begegneten: siehe, jetzt wirket das Wort, das lebendige, kosend und flüsternd und schäkernd – in allen Gestalten. Doch nicht allzulang dauert das Tafeln. Die Füße der Jugend haben die Ruhe schon satt; sie können es kaum erwarten, bis die Musik wieder zum Tanze sie ladet. Und aus allen Wirthshäusern tönet solch lieblicher Ruf. Ist vom Walzen, ist vom Getrapp und Gejauchze das Geräusch auch fast unerträglich, dennoch hält der gellende Ton der Querpfeife die Tanzenden richtig im Takte. Die Honoratioren – sie finden gar zahlreich sich ein – können ihre Tanzlust auf dem Rathhaus befriedigen. Die große Rathsstube ist in einen prächtigen Ballsaal verwandelt und scheint sich baß dieser Metamorphose zu freuen; wird sie gemeinhin doch anderer Tänze gewahr. Immer geht es ab und zu; der Tanzenden sind es so viele als der Zuschauenden. Schon ist es zu später Stunde, und dennoch vermindert die Zahl der Fröhlichen sich nicht. Einzelne tanzen sogar fort, bis die kühlende Lust der Morgendämmerung um die glühenden Wangen fächelt.

Der zweite Tag, zugleich Nachmarkt, versammelt in früher Stunde die Vorsteher der Schäferlade, um in Zunftangelegenheiten Gericht zu halten. Aber auch die Schalmeien der Schäfer ertönen fast eben so frühe, und dem beobachtenden Auge kann es nicht entgehen, daß die Tanzlust noch nicht männiglich befriedigt ist. Wenn auch die Zahl der herbeigeströmten Festgäste sich auffallend verminderte, und nur noch selten ein Fremder die Straßen durchwandelt: die Hirtensöhne und Schäfermädchen erscheinen auch heute im Festgewand. Doch sinkt die Flamme, welche so hoch aufgelodert, nach und nach, und „das Juchei des letzten Schäfers, der Abends aus den Thoren zieht, ist dem Funken gleich, der noch aus der Asche emporglimmt.“

Obgleich die Zeit gar Manches von dem ehemaligen Glanze dieses Volksfestes, dem einzigen in Schwaben während der guten alten Zeit, verwischte, so besteht es doch heute noch fort, und der Bartholomäustag ist alljährlich für Alt und Jung nicht nur in Markgröningen selbst, sondern auch in den umliegenden und entfernteren Orten ein Tag der Freude und des Jubels. Die Hauptgebräuche des Festes, der Schäfersprung, die Beischaffung der verschiedenen Gewinnste, an deren Spitze der „Festhammel“, die Tanzbelustigung etc., haben sich heute noch erhalten. Zudem ist mit dem Feste seit vielen Jahren ein sogenanntes landwirthschaftliches Fest als Erweiterung des Ganzen verbunden worden, wodurch auch die landbebauenden Bewohner des Bezirks durch Austheilung namhafter Preise für rationelle Betreibung des Ackerbaus und der Viehzucht in eine rege und innige Beziehung zum „Schäfermarkt“ gesetzt wurden. Und wenn der Freund des Volks vollends wahrnimmt, daß auch demjenigen Theil der dienenden Classe, der sich durch Treue und Fleiß und Wohlverhalten auszeichnet, unumwunden theils durch Geldgaben, theils durch Belobungsbriefe Seitens des Vorstandes des landwirthschaftlichen Vereins Anerkennung gezollt wird, so muß es ihm zu wahrer Befriedigung dienen, und er wird dieser Einrichtung mit ungetheiltem Beifall immer vollkommeneren und ausgebreiteteren Fortgang wünschen. – Wie sehr man sich’s übrigens angelegen sein läßt, das Fest immer mehr zu heben und zu einem Volksfest zu gestalten, zeigte die neueste Zeit, die dem „Schäferlauf“ noch eine andere Erweiterung auszumitteln wußte. Sie reiht sich dem Schäfersprung an.

Dort an den Schranken haben sich nicht wenige Preisbewerberinnen aufgestellt und harren der Dinge, die da kommen sollen. Der neue Act des Schauspiels beginnt: ein „Rennen mit Hindernissen“. Jedes Mädchen trägt nämlich eine neue, ganz mit Wasser gefüllte Gelte frei auf dem Kopfe. Nun gilt es, in möglichst schnellem Laufe und ohne die Gelte mit der Hand zu halten, der Tribüne zuzueilen. Aber auch hier stellt sich allerlei Mißgeschick ein. „Die Last auf dem Kopfe kommt aus dem Gleichgewicht; die Schöne verliert die Haltung, fährt mit den Händen nach der wankenden Gelte, und ein tüchtiges Sturzbad kühlt den Eifer der gedemüthigten Neiderin, die kaum vorher hart an ihrer Nebenbuhlerin vorbeistreifte und derselben durch einen Stoß mit dem Ellbogen die Gelte vom Kopfe herunter zu holen gedachte. Beschämt sucht sich diese in der Zuschauermenge zu verstecken. Es gelüstet sie nicht zu sehen, welche von ihren Gespielinnen zuerst die Tribüne erreicht und so den ersten Preis davon trägt.“ Daß gerade dieses „Rennen“ gar manches Gelächter hervorruft und nicht wenig erheitert, läßt sich leicht denken.

Die liebe Jugend ist aber auch nicht vergessen; sie findet Gelegenheit genug zu freudigem Treiben. Besonders verlockend winkt ihr der Kletterbaum mit feinen bunten Gaben, die hoch oben verführerisch flattern. Jeder Junge glaubt eine derselben erklettern zu müssen, und die letzte Kraft wird aufgeboten, um das beglückende Ziel zu erreichen.
Glr.




Aerztliche Blicke in die Kinderstube.
Das gefährliche Zahnen.

Noch nie ist ein Kind am „Zahnen“ gestorben. Stets ist die Ursache des Todes, wenn ein Kind während der Zahnperiode stirbt, eine neue, mit dem Ausbruche der Zähne gar nicht zusammenhängende, lebensgefährliche Krankheit, meistens eine Lungenentzündung oder Brechdurchfall. Daß dem so ist, lehren die Sectionen von Kindern, die angeblich der Tod an den Zähnen zu sich genommen hat. Damit soll nun aber ja nicht etwa gesagt sein, daß der Zahnausbruch bei manchen, zumal schon kranken, Kindern nicht ziemlich heftige Beschwerden und Krankheitserscheinungen veranlassen könnte, und daß zur Zeit des Zahnens manches schwache Kind nicht geneigter zum Krankwerden sein könnte. Beides findet statt; aber das Zahnen selbst ist niemals tödtlich, denn das Zahnen gehört zur naturgemäßen Entwickelung des kindlichen Körpers und geht bei gesunden Kindern stets ohne besondere Erscheinungen vor sich.

Es ist sehr schlimm, daß unter den Müttern und sogar auch bei einzelnen Aerzten noch so viel Aberglaube über das Zahnen herrscht; es ist dies deshalb sehr schlimm, weil dabei sehr oft leicht zu vermeidende und in ihrem Beginne schon heilbare Uebel als unvermeidliche, vom Zahnen herrührende angesehen und oft so vernachlässigt werden, daß sie einen tödtlichen Verlauf nehmen. Es ist freilich recht bequem für Aerzte, welche ein krankes Kind nicht gehörig zu untersuchen verstehen, und für Mütter, welche die Aufsicht über die Gesundheit ihrer Kinder Wärterinnen anvertrauen, beim Krankwerden von Kindern sich mit der Redensart zu beruhigen: „das Kind bekommt Zähne.“ Wie oft werden nicht mit den Ausdrücken „Zahnkrämpfe, Zahnhusten, Zahnruhr, Zahnen durch die Glieder“ u. s. f. schwere Krankheiten bemäntelt, die durch Vernachlässigung unheilbar und tödtlich werden!

Viele Mütter, denen Kinder angeblich an Zahnkrankheiten gestorben sind, werden dadurch fort und fort in ihrem falschen Glauben an die Gefährlichkeit des Zahnens bestärkt, weil sie beim noch lebenden Kinde keinen Zahn entdecken konnten, nach dem Tode des Kindes aber einen solchen deutlich wahrnahmen. Allein diese nicht wegzuleugnende Erscheinung hat, gerade so wie das Wachsen der Haare bei einer Leiche, ihren Grund darin, daß nach dem Tode [344] das Zahnfleisch, in welchem während des Lebens der Zahn noch verborgen war, (wie die behaarte Haut) blutarm und dünner wird, einschrumpft und sich über die Zahnkrone zurückzieht, so daß nun der vorher unsichtbare Zahn sichtbar wird. – Andere Mütter werden dadurch verleitet an tödtliche Zahnleiden zu glauben, weil so viele Kinder gerade zur Zeit des Zahnens sterben. Allein auch diese Thatsache hat einen andern Grund, als das Zahnen. Da nämlich gerade in der Zahnperiode die meisten Kinder von der Mutter- oder Ammenmilch entwöhnt und an andere, meist unzweckmäßige Nahrung gewöhnt werden, weil sie ferner aus dem warmen Wickelbettchen genommen und ins kühle Freie bei schlechter Luft getragen werden, also eine große Umwälzung der früheren Verhältnisse des Kindes eintritt, darum können so leicht krankmachende Einflüsse auf das zahnende Kind einwirken. In der Regel sind diese Einflüsse solche, welche Schnupfen, Husten und Lungenentzündung, sowie Brechdurchfall (in Folge von Magen-Darmkatarrh) erzeugen, nämlich eine rauhe und unreine (besonders staubige) Luft, unverdauliche Kost und Erkältungen (zumal des Bauches). Für die sorglose Mutter und den gewissenlosen Arzt sind diese gefährlichen Krankheiten (s. Gartenl. Jahrg. 1654, Nr. 17) nichts als „Zahnhusten und Zahnruhr“, und stirbt das Kind daran, so war natürlich nur das schlimme Zahnen und ein unvermeidliches unglückliches Schicksal, nicht aber menschliche Dummheit daran schuld. Wie viele solcher angeblich zahnkranken Kinder würden am Leben bleiben, wenn beim ersten Auftreten des Schnupfens und Hustens das Kind nur sofort zu Hause in warmer reiner Luft (aber bei Nacht wie bei Tage) gehalten würde, oder wenn man bei den ersten Spuren des Durchfalls warme Ueberschläge auf den Bauch und passende Nahrung angewendet hätte!

Im Allgemeinen erfolgt der Zahndurchbruch auf gleiche Weise bei allen Kindern in einer bestimmten Zeit und Ordnung. Doch giebt es viele Ausnahmen, und diese Ausnahmen sind ohne große Bedeutung. Gewöhnlich schon im 3. oder 4. Lebensmonate treten beim Säuglinge Erscheinungen ein, welche mit dem Zahngeschäfte im Zusammenhange stehen (d. i. das Einschießen der Zähne): die Kinder geifern, schreien plötzlich auf, schrecken im Schlafe manchmal zusammen, uriniren oft und blaß, haben leichteren Stuhl, bekommen wohl auch einen Bläschenausschlag im Gesicht (auf der Wange in der Nähe des Mundes) und werden blässer und unruhiger und zeitweilig unwillig; sie kauen viel und bringen alle Gegenstände mit dem Zahnfleische in Berührung, auch lassen sie sich gern das Zahnfleisch streichen. An gesunden Kindern sind diese Erscheinungen kaum bemerklich oder gering und bald vorübergehend. Das Erscheinen der ersten Zähne, und zwar der untern mittlern Schneidezähne, findet bei den meisten Kindern zwischen dem 6. und 9. Monate statt. Doch brechen sie oft auch schon weit früher (14 Tage nach der Geburt), aber auch weit später hervor. Daß Kinder nach Verlauf des 1. Jahres noch keinen Zahn haben, ist nichts Seltenes; dagegen ist es eine Seltenheit, wenn mit Ende des 2. Jahres noch kein Zahn durchgebrochen ist. Mädchen, die sich überhaupt früher als Knaben entwickeln, sind diesen gewöhnlich auch im Zahnen voraus. Frühzahnen ist aber durchaus kein Zeichen von Kräftigkeit, ebensowenig wie Spätzahnen auf Schwäche deutet. Zuweilen ist unregelmäßiges Zahnen sogar eine Familien-Eigenthümlichkeit; auch hat die Stamm- und Volks-Race auf den Zahnproceß Einfluß.

Als Zahncuriositäten erzählt man sich: daß Ludwig XIV. und König Richard mit Schneidezähnen geboren worden sind; – daß Mirabeau 2 Backzähne mit auf die Welt brachte; – daß Hercules 2 Reihen von Zähnen hinter einander stehen gehabt hat; – daß der Sohn des Prusias, Königs von Bithynien, nur Einen großen Zahn statt aller übrigen im Munde hatte; – daß ein Mann im 116. Lebensjahre 8 neue Zähne bekam, die nach einem halben Jahre ausfielen, um durch neue ersetzt zu werden, welche wieder mehrmals wechselten, so daß binnen 4 Jahren (der Mann starb in seinem 120. Jahre) 50 neue Zähne kamen und ausfielen.

Der Ausbruch der ersten oder Milchzähne, von denen ein Kind gegen das Ende des 2. oder zu Anfange des 3. Jahres 20 Stück (8 Schneide-, 4 Eck- und 8 Backzähne) besitzt, geschieht gewöhnlich in folgender Ordnung: zuerst erscheint (meistens zwischen dem 6. und 9. Monate) das mittlere Paar der untern Schneidezähne und bald (etwa 4 Wochen darauf) das obere Paar derselben; ungefähr 40 Tage später kommen die seitlichen (oder äußern) untern und kurz nachher die seitlichen obern Schneidezähne zum Vorschein. Zu Ende des ersten Lebensjahres bricht nun der vorderste Backzahn, zuerst im Unterkiefer, bald darauf im Oberkiefer hervor. In der Mitte des 2. Jahres zeigt sich der untere und nach diesem der obere Spitz- oder Eck-) Zahn, und mit dem Hervortreten des 2. Backzahnes (erst des untern und dann des obern) ist der erste Zahnausbruch beendigt. Diese Zähne behält das Kind bis zum 7. oder 8. Lebensjahre, wo dann allmählich (d. i. der Zahnwechsel) unter Ausfallen der Milchzähne die 32 bleibenden Zähne hervorsprossen. Nach Plinius sind bei den Römern die Schneidezähne des Oberkiefers zuerst erschienen.

Von den Beschwerden, welche das Zahnen manchen Kindern macht, sind die gewöhnlichsten: Hitze und Schwellung des stärker gerötheten Zahnfleisches, was das Kind veranlaßt, öfters mit den Händchen in den Mund zu greifen, jedoch nicht mehr wie früher das Streichen des Zahnfleisches zu dulden. Das beste Linderungsmittel gegen diese beschwerliche Hitze im Munde ist öfteres Betupfen des Zahnfleisches mit kaltem Wasser. Manchmal sind mit dem Zahnfleische auch die Speichel- und Halsdrüsen geschwollen; ja sogar Schwämmchen können sich im Munde entwickeln, doch dürften dieselben öfter noch als vom Zahnen von unpassender Nahrung, vom Zulpe oder nicht gehörigen Reinhalten des Mundes herrühren. Daß bei schwächlichen, reizbaren Kindern durch die Zahnfleischaffectionen beim Durchbruch der Zähne Krampfanfälle veranlaßt werden können, ist nicht unmöglich, jedoch tödtlich werden dieselben sicherlich nicht. In solchen Fällen kann allenfalls das Einschneiden des dünnen, stark über die vorstehende Zahnkrone hinweggespannten Zahnfleisches manchmal augenblicklichen Nutzen schaffen. In den meisten andern Fällen ist aber diese Operation nutzlos, ja sie könnte sogar dadurch schaden, daß sich danach eine Narbe im Zahnfleische bildet, welche der Zahn, weil sie aus festerem Gewebe besteht, schwerer durchbrechen kann als das gesunde weiche Zahnfleisch.

Die Pflege den zahnenden Kindes braucht keine andere als die eines kleinen Kindes überhaupt zu sein, denn dieses bedarf stets der allergrößten Vor- und Umsicht (s. Gartenl. Jahrg. 1854, Nr. 43). Es werde das Kind seinem Alter angemessen ordentlich und mäßig ernährt, hauptsächlich durch Milch; es werde gehörig warm und reinlich gehalten und, wie sich das eigentlich von selbst versteht, vor Erkältung, Diätfehlern, Verstopfung, großer Hitze und schlechter Luft bewahrt. Ein gerade zahnendes Kind, zumal wenn es Beschwerden dabei hat, muß man weder entwöhnen noch impfen. Wäre also ein Kind vor dem Durchbruche der ersten Zähne noch nicht entwöhnt worden (was übrigens gar nicht sein soll), so ist es rathsam zu warten, bis die ersten 8 Zähne durchgebrochen sind, weil dann gewöhnlich ein mehrmonatlicher Stillstand eintritt.

Sicherlich wird es jedem Kinde gut thun, wenn es bis nach dem Erscheinen der Eckzähne gestillt wird. – Eine recht unsaubere, sogar bisweilen schädliche Manier ist es, dem zahnenden Kinde öfters mit unreinem (d. h. mit einem nicht eben erst gewaschenen) Finger in den Mund zu fühlen. Ebenso kann das Darreichen und Umhängen von festen Körpern (Wurzeln, elfenbeinernen Ringen, Korallenstücken u. s. w.) zum Daraufbeißen nur Nachtheile bringen.

Daß gegen schweres Zahnen mancher Altweiber-Hokuspokus (wie das Umbinden von Zahnperlen aus verschiedenen Stoffen oder Bändern um den Hals des zahnenden Kindes u. s. f.) existirt, ist bekannt, ebenso auch, daß dieser Unsinn sogar von sogenannten gebildeten Müttern getrieben wird. Und daß die ebenfalls zu den sympathetischen Curarten gehörige homöopathische Heilkünstelei eine hübsche Anzahl (gegen 16-20 von ausgezeichneten Heilnichtsen gegen Zahnbeschwerden der Kinder besitzen muß, ist natürlich, da ja bei jeder besondern Beschwerde ein besonderes Heilnichts nöthig wird. So ist (nach Dr. Clotar Müller) z. B. vom Kalk alle Wochen eine Gabe zu geben, wenn die Zähne sehr lange zögern durchzubrechen oder wenn das Kind 9–12 Monate wird, ohne daß überhaupt Andeutungen am Zahnfleische zu bemerken sind. Nach Hering dagegen hilft dieser Kalk ganz besonders auch, wenn zu viele Zähne auf einmal durchbrechen. Schwache Kinder brauchen nur an Kalk zu riechen, und bekämen sie Beschwerden davon, dann hilft das Riechen an Kampher oder an versüßten Salpetergeist. China kann gegeben werden, wenn zahnende Kinder oft in’s Bett pissen und sich sehr an der Nase reiben, Chamomille aber, wenn sie einen grünen, gehackten Stuhl haben. Ist das nicht eine nette Heilkunst?

Bock. 



[345]

Vom hochnothpeinlichen Halsgerichte.

Schon Viele werden von dem „hochnothpeinlichen Halsgerichte“ gehört haben, ohne genauere Wissenschaft über das dabei stattgehabte Verfahren zu besitzen. Vielleicht dürfte dem Wunsche mancher Leser entsprochen werden, wenn im Nachstehenden eine actentreue Darstellung eines zu Glauchau am 10. August 1768 stattgehabten hochnothpeinlichen Halsgerichts gegeben wird. Ist doch der menschliche Geist so gern gewillt, die Gegenwart mit der Vergangenheit zu vergleichen und sich in die Zeit früherer Jahrhunderte zurückzuversetzen. Solches aber geschieht am besten, wenn Thatsachen an dem Geiste vorüberziehen. Fragt man, welchen Vorzug die neueren Strafgesetze mit ihrem Verfahren vor dem der Vergangenheit angehörigen haben, so bedarf es nur eines Rückblicks auf Kaiser Karl’s V. hochnothpeinliche Halsgerichtsordnung, genannt Carolina, welche in den meisten deutschen Ländern bis in unser Jahrhundert in Gültigkeit gestanden hat, ja, in mehreren Ländern heute noch gilt; und fürwahr, es ist hohe Zeit, daß dieses vollständig veraltete Gesetzbuch gänzlich in Ruhestand versetzt wird. Bekanntlich huldigte die Carolina der sogenannten Abschreckungstheorie. Geringen Diebstahl ahndete sie mit dem Strange, auf Kindesmord setzte sie das Lebendigbegraben nebst dem Pfählen, auf Ehebruch das Säcken, beziehendlich das Schwert, auf Brandstiftung das Lebendigverbrennen, und so sind fast alle Strafen peinlich, d. h. solche, welche an Leib und Leben gehen. Um wie viel milder urtheilen die neueren Strafbücher über Schwächen und Verbrechen!

Kommt hierzu noch, daß die Angeklagten zu jener Zeit durch die Folter zum Geständnisse gezwungen, daß sie vor der Hinrichtung öfters zur Erhöhung der Strafe mit glühenden Zangen zerfleischt wurden, daß dem Todesstreiche selbst das quälende, die Todespein vermehrende hochnothpeinliche Halsgericht voranging, so wird Jeder sich glücklich preisen, daß er der Gegenwart angehört. Freilich darf man die Zustände, welche das genannte kaiserliche Gesetzbuch hervorriefen, nicht außer Acht lassen. In einer an Krieg und Rohheit überreichen Zeit, wo Leben und Eigenthum für nichts geachtet wurde, bedarf es der Strenge und Schärfe der Gesetze, und darum mag die Carolina für ihre Zeit ein ebenso passendes Strafbuch gewesen sein, wie die neueren Strafgesetzbücher für die Gegenwart.

Wie schon oben erwähnt, ging der jedesmaligen Hinrichtung das sogenannte hochnothpeinliche Halsgericht voraus. Dasselbe war ein öffentliches Anklageverfahren, welches wider den Angeklagten unter freiem Himmel stattfand. Die Form und den Charakter des Halsgerichts wird nun ein Jeder selbst aus Nachstehendem sich herauszeichnen können.

Zur Vollstreckung des wider Susannen Rosinen Winklerin wegen Diebstahls ausgesprochenen Todesurtheils war der 19. August anberaumt und dem damaligen Landgerichte zu Glauchau aufgegeben worden, dies hochnothpeinliche Halsgericht wider dieselbe auf öffentlichem Markte gewöhnlicher Maßen zu hegen und die Execution verrichten zu lassen. Demzufolge hatte sich am gedachten Tage früh 6 Uhr das damit beauftragte Landgericht, bestehend in der Person des Landrichters und vier Landgerichtsschöppen, allerseits in schwarzer Kleidung und Degen oder Hirschfänger an der Seite tragend, bei dem in der Vorstadt wohnenden Landrichter selbst versammelt, und nachdem von dem commandirenden Bürgerhauptmann die bestimmte Mannschaft zur Abholung der Delinquentin aus der Frohnfeste abgeschickt gewesen, sich auf den Marktplatz begeben, allwo vor dem Rathhause, zur Hegung des hochnothpeinlichen Halsgerichts, ein schwarzbehängter Tisch nebst sechs dergleichen Stühlen gesetzt worden war.

An diesem Tische, auf welchem ein eiserner Handschuh, ein Schwert in der Scheide und ein weißer Stab lagen, welche Stücke der Gerichtsdiener dem Landgerichte im Hereingehen aus der Vorstadt nachgetragen hatte, setzte sich der Landrichter nebst den erwählten vier Schoppen dergestalt nieder, daß der Landrichter den Rücken dem Rathhause zuwendete und die eine Breitseite des Tisches einnahm, während die Beisitzer, je zwei, an der Längenseite des Tisches einander gegenübersaßen, der fungirende Protokollant aber auf dem sechsten Stuhle an der andern Breitseite Platz nahm.

Als nun hierauf die arme Sünderin, Susanne Rosine Winklerin, durch das dazu abgesendete Commando der Bürgergarde, unter Begleitung der Geistlichen, mit Vorsingung der Schule, auf den Markt und in den von der gewaffneten Bürgerschaft geschlossenen Kreis, vor das Gericht gebracht worden war, so wurde mit Hegung des hochnothpeinlichen Halsgerichts der Anfang gemacht. Behufs dieses redete der Landrichter den ersten Schöppen zur linken Hand also an:

„Herr Gerichtsschöppe! ich frage Ihn, ob es Zeit sei, daß ich ein endliches hochnothpeinliches Halsgericht hegen möge, einem Jeden nach seinem Rechte, nach peinlicher Art?“

Der erste Schöppe antwortete hierauf: „Herr Landrichter! dieweil Ihm die Gerichte anbefohlen und Leute vorhanden sind, welche hochnothpeinlich Halsgericht und Recht begehren, so ist es an der Zeit, daß Er das endliche, hochnothpeinliche Halsgericht hegen möge, einem Jeden zu seinem Rechte, nach peinlicher Art.“

Der Landrichter wandte sich sodann an den zweiten Schöppen: „Herr Gerichtsschöppe! ich frage Ihn, wie das hochnothpeinliche Halsgericht ich hegen soll, einem Jeden zu seinem Rechte, nach peinlicher Art?“

Worauf dieser Schöppe entgegnete: „Herr Landrichter! hege Er selbiges mit Urthel und Recht zum ersten Mal, mit Urthel und Recht zum zweiten Mal, mit Urthel und Recht zum dritten Mal: Er gebiete Recht und verbiete Unrecht und Dinges Unlust, und daß Niemand vor gehegte Bank trete und sein selbst oder eines Andern Wort vor Gericht rede, er thue es denn mit Gerichts Urlaub.“

Darnach stand der Landrichter mit den Gerichtsschöppen auf, legte den eisernen Handschuh an, ergriff das Schwert und ließ die Scheide von dem Gerichtsdiener hinter sich abziehen und wieder an seinen Ort auf dem Tische legen, nahm das Schwert entblößt sammt dem weißen Stabe in die rechte Hand und hegte das Gericht stehend folgender Gestalt: „So hege demnach ich ein hochnothpeinlich Halsgericht mit Urthel und Recht zum ersten Male, mit Urthel und Recht zum zweiten Male, mil Urthel und Recht zum dritten Male; ich gebiete Recht und verbiete Unrecht und Dinges Unlust, und daß Niemand vor gehegte Bank trete und sein selbst oder eines Andern Wort rede, er thue es denn mit Gerichts Urlaub.“

Hiernächst fragte der Landrichter den dritten Schöppen: „Herr Gerichtsschöppe! ich frage Ihn, ob das hochnothpeinliche Halsgericht ich zu Recht genugsam geheget habe, einem Jeden zu seinem Recht, mit Urthel und Recht, nach peinlicher Art?“

Nachdem darauf der dritte Schöppe: „Herr Landrichter! Er hat das hochnothpeinliche Halsgericht mit Urthel und Recht, einem Jeden zu seinem Rechte genugsam geheget; lasse Er es den Frohn abrufen,“ geantwortet hatte, wandte sich der Landrichter zum Amtsfrohn mit den Worten: „Frohn, rufe Er es ab.“

Letzterer rief nun mit lauter Stimme aus: „Es ist anitzo das hochnothpeinliche Halsgericht geheget mit Urthel und Rede zum ersten Mal, es ist geheget mit Urthel und Recht zum zweiten Mal, es ist geheget mit Urthel und Recht zum dritten Mal, nach peinlicher Art, daß Niemand vor das hochnothpeinliche Halsgericht treten soll, er thue es denn mit Urlaub und Recht. Wer nun vor diesem hochnothpeinlichen Halsgerichte zu klagen hat, der komme und trete hervor, wie Recht ist, nach peinlicher Art; es soll verholfen werden, was Recht ist.“

Kaum daß der Amtsfrohn solches ausgerufen, so trat auch schon der Scharfrichter vor und redete den Landrichter an, wie folgt: „Herr Landrichter! ich bitte um Gunst und Urlaub, daß vor dieses hochnothpeinliche Halsgericht ich treten und reden möge, wie Recht ist.“

Der Landrichter erwiderte hierauf: „Es sei Dir vergönnet.“

Jetzt begann der Ankläger weiter: „Weil heute von Gott und Rechtswegen, auch von wegen der hohen Obrigkeit ein hochnothpeinliches Halsgericht geheget ist, so bitte ich, man wolle mir meine dreifache Anklage in einer vollbringen lassen, wie sie zu Recht beständig ist.“

Wieder entgegnete der Landrichter: „Es sei Dir vergönnet.“

Der Ankläger fuhr fort: „Herr Landrichter! ich klage peinlich an gegenwärtige arme Sünderin, Susanne Rosine Winklerin, so sie wider das siebente Gebot gehandelt und gestohlen, auch beim Stehlen Wache gestanden, ich klage sie an zum ersten Mal, ich klage sie an zum zweiten Mal, ich klage sie an zum dritten Mal, zu Hals und Bauch und Alles, was sie um und an hat, damit soll sie bezahlen heute diesen Tag. Herr Landrichter, ich frage Ihn, ob ich meine drei Anklagen in einer vollbracht habe, wie es sich nach peinlicher Art eignet und gebühret, daß sie Kraft hat?“

Der Landrichter bejahte solches mit den Worten: „Ja, Du hast Deine drei Anklagen wider Susanne Rosine Winklerin in einer vollbracht, wie sie Kraft hat und wie es sich zu Recht und nach peinlicher Art gehört.“

[346] Darauf fuhr der Scharfrichter und peinliche Ankläger weiter fort: „Herr Landrichter! so bitte ich, man wolle diese peinlich angeklagte arme Sünderin darüber vernehmen und derselben ihre gütliche Aussage nochmals vorhalten und hören, ob sie ihrer begangenen Missethat nochmals geständig sei.“

Auf des Landrichters Antwort: „Ja, es soll geschehen und ihr vormaliges gütliches Geständniß vorgelesen werden,“ las jetzt der betreffende Protokollführer der Winkler das über ihre erste Vernehmung aufgenommene Protokoll, worin sie der bezüglichen Entwendung von 12 Thalern 12 Gr. geständig, laut und vernehmlich vor, worauf öffentlich der Landrichter die Angeklagte befragte: „Bekennst Du Dich zu dieser Deiner vormals gethanen Aussage, vor gegenwärtigem hochnotpeinlichem Halsgerichte, nochmals?“

Nachdem die Winkler mit deutlichem „Ja“ diese Frage beantwortet und ihr Bekenntniß bekräftigt, so fuhr der Scharfrichter als peinlicher Ankläger fort: „Herr Landrichter! Dieweil die peinlich angeklagte arme Sünderin, Susanne Rosine Winklerin, hier stehet vor Gott und männiglich unter freiem Himmel und ihre Missethat, worüber sie vor diesem hochnothpeinlichen Halsgerichte angeklagt, geständig ist, so bitte ich um Recht und daß vor diesem hochnothpeinlichen Halsgerichte das Urthel derselben gesprochen werden möge, nach peinlicher Art.“

Der Landrichter erwiderte nunmehr: „es soll geschehen,“ worauf der Protokollführer das von dem Schöppenstuhle zu Leipzig abgefaßte Urthel, durch welches die Winkler wegen Diebstahls zum Tode mittels des Stranges verurtheilt worden war, langsam vorlas.

Sofort nach der Publication zerbrach der Landrichter den weißen Stab und legte die Stücke vor sich auf den Tisch, während der Scharfrichter abermals vortrat und das Halsgericht also anredete: „Dieweil denn dieser von mir peinlich angeklagten armen Sünderin, Susannen Rosinen Winklerin, wegen ihrer eingestandenen und überzeugten Missethat das Urthel von diesem hochnothpeinlichen Halsgerichte gesprochen und eröffnet worden, nach peinlicher Art, so frage ich, wer das jetzt publicirte Urthel zur Execution bringen soll.“

Ihm antwortete der Landrichter: „Das sollst Du thun. Jedoch weil gegenwärtiger armen Sünderin der ihr zuerkannte Strang in’s Schwert in Gnaden verwandelt ist, so hast Du sie mit dem Schwerte vom Leben zum Tode zu bringen.“

Der Ankläger und Scharfrichter wandte sich nach dieser Antwort wieder an’s Halsgericht mit folgender Rede: „Weil mir nun aufgetragen wird, von Gott und Rechts wegen und von wegen der hohen Obrigkeit, die Todesstrafe an gegenwärtiger armen Sünderin zur Execution zu bringen, so will ich sie annehmen und dem wohlbehaupteten und gesprochenen Urthel gemäß sie vom Leben zum Tode mit dem Schwerte bringen, damit die hohen Gerichte im Lande mögen gestärket und nicht geschwächt werden, einem Andern zum Exempel und Beispiel. Herr Landrichter! ich bitte aber auch um ein frei, sicher Geleit, damit, wenn mir etwa meine Kunst, wie ich doch, ob Gott will, nicht hoffe, mißlingen möchte, ich dennoch sichern Ein- und Ausgang haben möge.“

Der Landrichter antwortete: „Ja, es soll geschehen,“ und forderte den Amtsfrohn dazu auf.

Dieser verrichtete den Befehl also: „Es wird vor diesem hochnothpeinlichen Halsgerichte dem Scharfrichter und seinen Leuten ein frei, sicheres Geleit hiermit ausgerufen, dergestalt und also, da es über Verhoffen ihm oder den Seinigen in Vollstreckung des Urthels mißlingen sollte, daß er seinen Eingang und Ausgang habe und sich Niemand an ihm oder seinen Leuten vergreifen solle, bei Leib- und Lebensstrafe.“

Jetzt erst schloß der Scharfrichter mit den Worten: „Herr Landrichter! Er vergönne mir, vor diesem hochnothpeinlichen Halsgerichte wieder abzutreten und die arme Sünderin abfolgen zu lassen,“ welche Bitte ihm sofort gewährt ward.

Nach diesem Allen wandte der Landrichter sich an den vierten Schöppen und frug ihn, ob es Zeit sei, daß er das hochnothpeinliche Halsgericht wiederum aufheben möge.

Dieser Schöppe eutgegnete: „Wenn Niemand vorhanden, der vor diesem hochnothpeinlichen Halsgerichte weiter zu klagen hat, oder Gericht und Recht begehret, so mag es wiederum aufgehoben werden, wie es angefangen ist; es soll aber der Amtsfrohn zuvor nochmals abrufen, ob etwa noch Jemand vorhanden, der vor diesem hochnothpeinlichen Halsgerichte zu schaffen hat.“

Auf die diesfallsige Aufforderung hin rief der Frohn darnach Folgendes aus: „Wenn Niemand vorhanden, der vor diesem hochnothpeinlichen Halsgerichte zu schaffen hat, der mag vortreten, denn die Herren wollen das Gericht aufheben.“

Da Niemand vortrat, so hob der Landrichter das Gericht folgendermaßen auf: „Weil Niemand mehr vorhanden, der vor diesem hochnotpeinlichen Halsgerichte etwas zu schaffen hat, so hebe ich selbiges hinwiederum auf, im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, Amen!“

Jetzt legte der Landrichter den eisernen Handschuh wieder ab, ließ das Schwert durch den Frohn wieder in die Scheide stecken, und es wurden auch sodann zugleich die Stühle nebst dem Tische umgeworfen. Darauf wurde die Winkler unter Läuten des Armsünderglöckleins, unter gehöriger Bedeckung der gewaffneten Bürgerschaft, Vorsingung der Schule und unter Begleitung der Geistlichen und des Landgerichts auf den üblichen Richtplatz geführt und durch einen glücklichen Schwertstreich des Scharfrichters, Vormittags 10 Uhr, enthauptet.

Nach dessen Beschehen rief der Scharfrichter dem mit anwesenden Landrichter zu: „Herr Landrichter, Herr Landrichter!“ und fragte ihn, nach dessen Antwort: „was ist Dein Begehr?“ weiter: „Herr Landrichter, habe ich recht gerichtet?“ worauf der Letztere erwiderte: „Ja, Du hast gerichtet, was Urthel und Recht mit sich gebracht hat.“

Damit endigte das von 6 Uhr bis 10 Uhr Vormittags angestandene Executionsverfahren.




Deutsche Männer.

Schluß.

Von Strub weg eilte Oppacher zu Wintersteller, dem er die bittersten Vorwürfe machte, daß er ihn verlassen. Dieser, betroffen durch den Verlust des Passes, eilte mit all seinen Schützen gegen Waidring, fest entschlossen, trotz der mehr als zehnfachen Uebermacht des Feindes den Kampf zu wagen. Ehe wir das Gefecht beginnen, wollen wir unsere Leser mit Wintersteller, der zu den besten Führern der Tyroler gehört, näher bekannt machen. Er stammt aus einer berühmten Familie. Sein Urgroßvater, ebenfalls Wirth zu Kirchdorf, war Commandant des Landsturmes, als 1703 der bairische Kurfürst Max Emanuel in Tyrol eindrang, um sich mit den Franzosen, welche an der Etsch herauf rückten, zu vereinigen. Sein Heer wurde von den Wogen des Aufstandes verschlungen, dabei zeichnete sich Wintersteller vor Allen aus, indem er vier Fahnen und eine große Trommel eroberte. General Heister, welcher, wie die Oesterreicher meistens, erst dann in Tyrol angekommen war, als die Bauern den Feind bereits ausgekehrt hatten, hängte ihm im Auftrage des Kaisers Leopold die große goldene Medaille um.

Sein Sohn zeichnete sich 1742 im österreichischen Erbfolgekrieg für Maria Theresia aus. Der Pandurenführer Trenck, welcher mit seinen Horden im Unterinnthal einquartiert war, unterrichtete ihn in der Kriegskunst. Er rückte mit den Schützen aus und wirkte am 12. Februar bei der Erstürmung Münchens mit. Jubelnd und mit reicher Beute beladen führte Wintersteller seine Schaar zurück; die Beute überließ er ganz seinen Schützen, ja er forderte nicht einmal Ersatz für die ausgezahlten Löhnungen. Die Kaiserin ehrte seine Tapferkeit und Hingebung durch die große goldene Medaille mit doppelter goldener Kette und einen Wappenbrief mit vielen Vorrechten. Er war so stark, daß unter den Bauern noch jetzt von ihm erzählt wird, er sei im Stande gewesen, wenn ein Paar Robler in seinem Hause rauften, mit jeder Hand Einen beim Schopf aufzuheben und so Beide zugleich zur Thüre hinauszuwerfen.

Reich an Ruhm und Unglück war sein Enkel Rupert. Er nahm Theil an allen Kriegen Tyrol’s 1796 bis 1809. Hier begegnen wir ihm wieder zu Waidring. Oppacher rieth bei der großen Ueberzahl des Feindes von jedem Widerstande ab, da hielt der Metzger Vörgöttler eine kühne Rede und entflammte Alle auf’s Neue, um so mehr, als Chasteler sagen ließ, man solle sich nur bis fünf Uhr Morgens halten, dann werde er mit 10,000 Mann eintreffen und man könne den Feind gänzlich aufreiben. An Kämpfern hatte man zur Verfügung etwa 700 Schützen, 1200 Landstürmer und vierzig Weiber, [347] die, mit Gabeln bewaffnet, sich unter ihrer Anführerin Anna Feichtinger freiwillig anschlossen und, als es d’ran und d’rauf ging, verwegen wie der Teufel unter den Feind fuhren. Um 1 Uhr Nachts sammelte Wintersteller die Hauptleute, unterrichtete sie von dem entworfenen Vertheidigungsplane, demgemäß die Schützen die Abhänge des engen Thales standhaft behaupten, die Sturmmänner rückwärts die Unterstützungen bilden sollten. Ihm gegenüber stand Wrede mit 10,000 Mann Fußvolk und Reiterei und sechzehn Kanonen.

Um vier Uhr Morgens fielen die ersten Schüsse, eine bairische Colonne wollte auf der Straße vorrücken, wurde jedoch bald gehemmt; am schärfsten nahmen die Schützen die Kanoniere und Reiter auf das Korn. Der Versuch einer Umgehung wurde durch die Keulenschläge des Landsturms vereitelt, wobei dem Hauptmann Hörl eine Kanonenkugel den Kopf abriß. Nun entbrannte der Kampf auf der ganzen Front sehr heftig. Wintersteller flog auf seinem weißen Rosse, er war nämlich ein sehr gewandter Reiter, hin und her, überall anordnend und befeuernd. Die Schützen krochen bis auf 120 Schritt gegen die Kanonen und zwangen den Feind zweimal sie zurückzuziehen und, weil die Artilleristen erschossen waren, von Infanterie bedienen zu lassen. Da trat allmählich Mangel an Pulver und Blei ein, die Schützen erboten sich zum Sturmlaufen, sie wollten unter die Feinde springen, um sie niederzuschlagen, Wintersteller verbot es jedoch, weil er die kleine Schaar nicht opfern wollte. So wurde es elf Uhr, aber kein österreichischer Soldat ließ sich sehen. Da befahl Wintersteller einen langsamen Rückzug. Am Aberg, wo ein Bergvorsprung sich an die Straße drängt und diese rechts durch Sümpfe eingeengt wird, wollte er noch einmal Widerstand leisten und einen Verhau anlegen. Vergebens! die Baiern waren ihm auf der Ferse. Den Hansl-Bauer holten drei Reiter ein; er sprang über den Straßenzaun und schoß Einen, der einen Hieb nach ihm führte, nieder; dann lief er querfeldein, verfolgt von den zwei anderen, er hatte aber wieder geladen und schoß den zweiten vom Pferde, dann lud er noch einmal und traf auch den dritten. So erlitt der Feind einen starken Verlust.

Während dieses Gefechtes hielt sich der kaiserliche General Fenner zu St. Johann auf. Als er um vier Uhr früh den feindlichen Kanonendonner vernahm, verlor er derart den Kopf, daß er vom Bette aufsprang und sich eine Weile im Pferdestall verbarg. Dann lief er wie toll im Hause herum und warf sich endlich auf sein Pferd und ritt davon. Auf der Brücke lauerte aber ein Schütz, der den Auftrag halte, Niemand durchzulassen. Er hielt Fenner den Stutzen vor. Dieser rief: „Wer hat Euch das befohlen“ – „Unser Commandant!“ war die Antwort. Er entgegnete: „Euer Commandant bin ja ich!“ – „Das ist nicht wahr,“ entgegnete Jener, „denn wärst Du unser Commandant, so würdest Du jetzt, wo schon die Kanonen schallen, nicht davon reiten.“ Da kam der Hauptmann, zu dessen Compagnie der Schütz gehörte, und sagte ihm: „General, Sie hören, in welcher Gefahr die Unsrigen sind. Jetzt wäre Ihr Beistand am nöthigsten. Ich lasse Sie reiten, wenn aber die Sache schlecht geht, so verklagen wir Sie beim Kaiser.“ Fenner entschuldigte sich, er wolle nur Hülfe holen, und galoppirte davon, nicht die Stimme der Ehre, sondern nur die Kanonen hörend. Seitdem geht in St. Johann der Spruch: „General Fenner war ein Flenner!“

Die Feinde waren durch ihren großen Verlust sehr erbittert. Wie man meistens die Erfahrung gemacht hat, waren nicht die Franzosen, welche nur stahlen, was ihre Klauen faßten, fürchterlich, sondern die Rheinbündler, welche oft mit viehischer Grausamkeit wütheten. Sie waren unedel genug, ihrem tapfern Feinde die Habe zu verwüsten und sein Haus anzuzünden. Wintersteller sah es von ferne auflodern und schwur grimmige Rache. Nur die alte Trommel, die sein Großvater von den Baiern erbeutet hatte, ward gerettet. Er rief aus: „So ist’s recht, ich werde darauf den Mordbrennern zur Hölle trommeln!“ Ueber die Barbarei der Baiern, deren Unthaten selbst ihren in Napoleon’s brutaler Schule gebildeten General Wrede empörten, theilen wir den Brief eines Augenzeugen, des Bauer Millinger, mit. „Die eingefallenen Soldaten raubten und plünderten, was sie bekamen, zerhackten und zerschnitten Kästen, Truhen, Kleidungen, schlugen die Fenster ein und ruinirten Alles; selbst in die Gotteshäuser drangen sie, nahmen Meßgewänder und die geweihten Gefäße, zertrümmerten die Orgeln und Kirchenfahnen, erbrachen die Tabernakel, streuten die heiligen Hostien auf den Boden und nahmen Monstranzen und Kelche mit. Die Einwohner waren geflohen. Sie erwischten nur alte Leute, Troddeln und einige Weibsbilder. Jene stachen sie wie Kälber ab, diesen schnitten sie die Brüste heraus, streuten Salz und Pfeffer in selbe, schändeten sie noch halbtodt, stachen ihnen die Augen aus, schnitten ihnen Nasen und Ohren ab und marterten die unschuldigen Menschen auf’s Gräßlichste, bis sie den Geist aufgaben. Zu St. Johann brachten sie die im Spitale befindlichen Troddeln um, einen umwickelten sie mit Baumwolle, zündeten diese an und jubelten seiner Schmerzen spottend. Wir haben die gefangenen Baiern vor vier Wochen gewiß nicht schlecht behandelt, haben ihnen von unserm Geld auf den Weg noch Brod gekauft, das Mittagsessen mit ihnen getheilt, aber mit uns sind sie ganz anders. Doch ich höre auf von diesem Tage zu schreiben, er war der schrecklichste und traurigste meines Lebens.“

Wintersteller, auf dessen Kopf ein Preis von 100 Ducaten gesetzt war, entfloh in’s Gebirge. Als der Feind vorwärts marschirte, wollte er neuerdings die Schützen sammeln und im Rücken desselben den kleinen Krieg anfangen. Der Dechant Wieshofer bat ihn jedoch, der Klugheit Gehör zu geben, damit nicht alles Eigenthum zerstört und Weiber und Kinder dem Verderben preisgegeben würden. Dieser würdige Priester hat durch seine Vorbitte, durch sein starkmüthiges Benehmen das große Dorf St. Johann vom Untergange gerettet. Als die Franzosen am 12. Mai eindrangen, erbittert durch den hartnäckigen Widerstand bei Waidring, befahl Lefèbvre, St. Johann anzuzünden und den Geistlichen, welchen er für einen Hauptaufwiegler hielt, vor der Kirchthüre zu hängen. Wieshofer warf sich auf den Boden und kroch dem Marschall so lange auf den Knieen nach, bis er für die unschuldige Gemeinde Gnade erhielt. Nun stand er auf und dankte; ohne ein Wort weiter zu sagen, war er bereit, den schmählichen Tod zu erleiden, ein wahrer Hirt, der für seine Heerde stirbt. Lefèbvre bewunderte den Muth des ehrwürdigen Greises und ließ das Todesurtheil nicht vollziehen. Unsere Balladendichter suchen so oft nach Stoffen und stöbern alle Ritterburgen durch; in diesen Kriegsgeschichten liegt genug, um zehn dieser Herren vollauf zu beschäftigen.

Der Feind wurde am Berg Isel geworfen und floh aus dem Lande. Neuerdings bot Wintersteller auf Hofer’s Befehl die Schützen auf und half die Festung Kufstein blockiren. Der französische Marschall zog jedoch Verstärkungen an sich, 5000 Mann brachen in das Pinzgau und konnten von hier aus den Vertheidigern der Ostgrenze in den Rücken fallen. Um so gelegener war es Wintersteller, daß der Führer der feindlichen Armee eine Unterredung mit dem Commandanten der Schützen verlangte. Er sandte zwei Schützen ab, welche einen Vertrag schlossen, demgemäß die Tyroler noch in der Nacht abziehen und die Baiern Tags darauf einrücken sollten. Lefèbvre versprach, ohne Jemand ein Leid zuzufügen, schnell vorzurücken, und hat auch Wort gehalten, indem er, als einige Soldaten plünderten, die geraubten Sachen zurückstellen ließ.

Am 1. August wurden 25 der gefährlichsten Tyroleranführer nach Innsbruck vorgeladen, ihnen jedoch Verzeihung und freie Rückkehr zugesichert. Wintersteller machte sich auf den Weg, zwei seiner treuesten Hauptleute begleiteten ihn freiwillig, entschlossen, jedes Loos mit ihm zu theilen. Man stellte sie alle drei dem General Drouet vor, der, nicht Deutsch verstehend, sich ihre Rechtfertigung verdolmetschen ließ und ihnen schließlich, wenn sie noch einmal aufständen, mit einer Pantomime den Galgen drohte. Wintersteller betrachtete er lang und aufmerksam und klopfte ihm, als er ihn entließ, freundlich auf die Schulter. Tags darauf schickte er ihm einen Paß und den Befehl, schnell heim zu kehren, denn schon drohte Hofer vom Brenner herab. Auch diesesmal unterlag der Feind. Am 21. August kam Hofer nach Wörgl und beauftragte Wintersteller, den Oberbefehl über die Schützen der Gegend zu übernehmen. Er gehorchte mit männlicher Entschlossenheit ohne Rücksicht auf die Gefahren, welche ihm an Leib und Leben drohten. Auch Speckbacher traf ein. Am 24. September marschirten sie mit 4300 Mann ab, wovon die eine Hälfte Speckbacher, die andere Wintersteller befehligte, welcher über Kössen nach Unken vorrücken sollte. Der Feind auf dem Kniepaß wurde von Oppacher geworfen und durch ihn die Verbindung zwischen Beiden hergestellt. Er stellte sich dann in einem Wäldchen an der Saale unweit der Straße auf, um sich nach Erforderniß rechts oder links zu wenden. Speckbacher begann den Angriff bei Lofer und drängte den Feind gegen Unken. Auf der Straße empfing ihn Oppacher. Als kein Entrinnen mehr möglich war, warfen die Baiern ihre Gewehre weg. Oppacher selbst erzählt, daß es ihm bei dieser Scene [348] eiskalt über den Rücken lief und ihn der größte Schauder ergriff, als das ihm vielfach überlegene feindliche Militär, welches so tapfer gekämpft hatte, die Waffen niederlegte und um Pardon schrie. „Die Thränen der Rührung traten mir in die Augen, als auf meinen Ruf: „Haltet ein, meine Landsleute! wir geben Pardon; wir wollen Christen sein und sind wehrlosen Feinden Gnade schuldig!“ – meine bei der Erinnerung an die von den Baiern verübten Gräuelthaten zur Wuth gereizten Schützen die Stutzen von der Wange senkten und ausriefen: „Ja, Oppacher, wir wollen Christen sein!“ und sie, anstatt sie für ihre Frevel zu tödten, verschonten und gefangen nahmen.“

Als Wintersteller von weitem das Getöse des Kampfes vernahm, gürtete er sich zum Waffentanze. Der Feind hatte als Schlüssel der ganzen Stellung den Friedhof von Unken verschanzt und sich in die nahen Häuser geworfen, wo er den Tyrolern einen ernstlichen Widerstand bereitete. Da befahl Wintersteller dem Hauptmann Reischer, mit 600 Schützen Sturm zu laufen. Sechs Mal nahm er den Friedhof, und sechs Mal vertrieben ihn die Baiern wieder, und er mußte daher, um sich zu behaupten, neue Hülfe erwarten. So wogte der Kampf hin und her. Da stellte der Feind jenseits der Brücke eine Compagnie und zwei Kanonen auf, wodurch die Tyroler, von einander abgeschnitten, in eine gefährliche Lage gebracht worden wären. Kaum hatte es Wintersteller bemerkt, so rief er mit lauter Stimme: „Wer Schneid hat, freiwillig vor!“ Da stürmten, eh’ noch die Geschütze abgeprotzt waren, drei Bauerburschen und der Schullehrer Hölzl mit umgekehrten Gewehren über die Brücke, ihnen nach Empl mit einer ganzen Compagnie. Der Anlauf war so rasch und heftig, daß die Baiern nicht mehr Zeit zur Flucht fanden und sich ergeben mußten. Hölzl erbeutete das Pferd des Officiers. Nach dem Treffen sagte ein ihm unbekannter Schütze: „Du hast ein schönes Roß erwischt, laß mich aufsitzen, ich werde sehen, wie es zum Reiten geht.“ Hölzl hielt gutmüthig das Pferd am Zaume und – hatte von seiner Beute nichts als das Nachsehen, denn „Roß und Reiter sah man niemals wieder.“ Auf anderen Punkten dauerte der Kampf mit großer Heftigkeit fort, denn die Baiern wollten nicht nachlassen, weil man ihnen gesagt hatte, daß die Tyroler jeden Gefangenen zu Tode marterten. Da schrie Wintersteller mit lauter Stimme: „Vorwärts, vorwärts! Sturmlaufen! sonst können wir nicht siegen!“ Nun wälzten sich Schützenmassen und Landsturm mit der unwiderstehlichen Gewalt einer Lawine von den Höhen herab, und schnell war die Stellung des Feindes erobert. Etwa 200 Baiern wollten sich durch die Flucht retten und liefen der Saale zu. Dort versuchten sie den Fluß zu übersetzen, indem sie einander die Hände reichend eine Kette schlossen. Allein die nachlaufenden Schützen sprengten diese, indem sie einzelne Glieder herausschossen, so daß Viele ertranken. Dabei zeichneten sich vor Allen Empl und der Teufelsveit aus. Der Feind hatte außerordentlichen Verlust erlitten, das bairische Leibregiment war den Stutzenkugeln fast vollständig erlegen. Da kein Hinderniß mehr entgegenstand, so rückten die Tyroler in Baiern ein und kamen noch an diesem Tage bis zu den Höhen, von denen Schloß Karlsburg die Stadt Reichenhall beherrscht. Obgleich in dem Lande eines Feindes, welcher Tyrol unterdrückte und überall die Spuren der Gräuel zurückgelassen hatte, untersagte Wintersteller jede Plünderung auf das Strengste und zwang einige Schützen, zu ihrem großen Verdrusse, das geraubte Gut zu ersetzen. Bis zum 17. October hielt er sich in seinen Stellungen an der Grenze; da erlitt Speckbacher bei Melleck eine schwere Niederlage. Wintersteller konnte sich nur durch einen schleunigen Rückzug, den er mit großer Klugheit ausführte, vor Tod und Gefangenschaft retten. Dabei mußte er seine zwei Kanonen zurücklassen; bei der Nacht gelang es Empl, den Feind durch List zu täuschen und sie in einem Heufuder fortzuschmuggeln. Die Baiern rückten indeß unaufhaltsam durch das Innthal vor und erstickten die letzten Funken des Aufstandes am 2. November auf dem Berg Isel, wo die Tyroler bisher stets siegreich gewesen waren. Einige Hitzköpfe wollten auch jetzt noch den Kampf fortsetzen, und es gelang ihnen, obschon die Botschaft von dem Friedensschlusse, welcher Tyrol neuerdings an Baiern auslieferte, allgemein verbreitet wurde, hie und da ein Aufflackern der Flamme zu bewirken; der bedachtsame und kluge Wintersteller hielt jedoch die Sache für beendet und ließ sich weder durch Bitten noch durch Drohungen bewegen, noch einmal zum Stutzen zu greifen. Die Leute hatten felsenfest auf Oesterreich vertraut, sie wußten nichts von den Kniffen einer unwürdigen Diplomatie, Oppacher schrieb an Wintersteller: „Mir scheint, es kann nicht möglich sein, daß mit dem Kaiser Franz der Frieden abgeschlossen worden ist.“ Während diese treuen Herzen bluteten oder in Elend brachen, bereitete Kaiser Franz die Hochzeit seiner Tochter mit dem verhaßten Corsen vor.

Auch Wintersteller und Oppacher wurden vor das Kriegsgericht geladen. Mit ruhigem Gewissen und ohne Furcht erschienen sie vor Drouet, welcher schon früher mit dem Hängen gedroht hatte. Die Baiern selbst mußten ihnen bezeugen, daß sie stets menschlich gegen die Gefangenen gewesen seien und nie von ihren Siegen einen Mißbrauch gemacht hätten. Sie wurden frei gelassen. Besonders lebhaften Antheil nahm der Kronprinz Ludwig, welcher sich später als Förderer deutscher Kunst einen unvergeßlichen Namen erwarb, an ihnen; er sprach lange und freundlich mit Wintersteller und ließ sogar auf seine Vorbitte einige gefangene Bauern aus ihrer schweren Haft befreien.

Wintersteller kehrte nach Kirchdorf zurück. Seine Felder waren verwüstet, sein Haus lag in Trümmern, der Schaden, den er erlitten, belief sich auf 49,000 fl., sodaß er in große Dürftigkeit gerieth. Zur Seite ein braves, edles Weib, ertrug er sein Elend mit männlichem Schweigen, obwohl er die Gnadenketten, welche seine Ahnen von den Kaisern als Auszeichnung erhalten hatten, verkaufen mußte. Treu dem Lande wollte er nicht auswandern, wie andere Führer der Tyroler, welche ihr Glück in Wien suchten; er war nicht der Mann in den Vorzimmern zu lungern und, da ihm die Baiern keinen Paß ausgestellt hätten, viel zu stolz, sich heimlich davon zu schleichen.

Endlich schickte ihm der Kaiser 7000 fl. Er suchte damit Haus und Scheune neu aufzubauen, als jedoch die Baiern merkten, daß er sich erhole, suchten sie ihn mit schweren Processen heim, und er konnte kaum wieder emporkommen. Das Unglück läuterte ihn wie siebenfach Gold; wie vorher auf dem Schlachtfeld, leuchtete er jetzt in Noth und Leiden als frommer Mann hervor. Als er vernommen hatte, daß sein Waffenbruder Hofer verhaftet worden, sandte er trotz seiner Mittellosigkeit einen eigenen Boten an den Kaiser Franz, damit dieser Alles für die Rettung aufbiete, und erhielt wenigstens tröstliche Worte zurück. Die Sache hatte keine Eile. Wie man es den Tyrolern überlassen hatte, allein zu siegen, so kam man auch jetzt zu spät, und Hofer fiel auf den Wällen von Mantua. Als diese Festung wieder kaiserlich geworden, kümmerte man sich nicht einmal um seine Leiche, bis diese endlich einige Tyrolerjäger, keineswegs zur Freude des Kaisers, der nun ein Denkmal setzen lassen mußte, heimlich ausgruben und zu Innsbruck in heimathliche Erde senkten. Man hörte später zu Wien nicht mehr gern vom Jahr 1809 reden, denn es war ja möglich, daß die Tyroler, welche die Waffen so kühn gegen den König von Baiern getragen, sie einmal gegen den Kaiser kehren möchten, der ihnen zu Nutz und Frommen des Absolutismus ihre alten Rechte nicht mehr zurückgab. Als Wintersteller die Botschaft vom Tode Hofer’s vernahm, weinte er bitterlich und rief aus: „Den unschuldigsten, christlichsten und redlichsten Menschen, der so vielen tausend gefangenen Feinden das Leben rettete und sich keiner Grausamkeit schuldig machte, haben sie gemordet; die Strafe des Himmels kann und wird dafür nicht ausbleiben!“

Als im Jahre 1813 Deutschland sich erhob, so ließ die bairische Regierung Wintersteller und andere Tyroler ergreifen und nach Ingolstadt führen, wo man sie in Eisen schlug. Die Schergen höhnten ihn und drohten ihm mit dem Tode, sein treues Weib, welches zu München um seine Freiheit bat, wurde zurückgewiesen. Erst nach dem Vertrage von Ried ließ man ihn frei. Tyrol wurde wieder kaiserlich. Nun fragt es sich: wie wurde Wintersteller, der für seinen Herrn Haus und Hof geopfert hatte, von diesem belohnt? Er erhielt vom Landeschef eine Uniform geschenkt, auf welche man ihm die goldene Medaille heftete. Er nahm diese mit Dank an; denn erst jetzt, sagte er, fühle er sich seinen Ahnen, deren jeder die gleiche Auszeichnung empfangen, gleich. Sein Hauswesen ging aber in Folge der Kriegsschäden und großen Theuerung zurück; er fühlte zu edel, seine Noth auf den Markt zu tragen, und mußte lange in sehr beschränkten Umständen leben, bis er eine Pension erhielt. Man rathe, wie viel? – 400 fl., mit Worten vierhundert Gulden, es ist um keine Null zu wenig! Er starb 1832, und das ärztliche Gutachten sagt: „er sei in Folge seiner Unglücksfälle seit den letzten 12 Jahren physisch wie psychisch auf einen [349] Punkt herabgesunken, daß er sich selbst nicht mehr ähnlich war, die körperliche und geistige Thatkraft ganz verlor und endlich im 50. Jahre nach einer langwierigen Krankheit einer allgemeinen Entkräftung unterlag.“ Wintersteller war ein stattlicher Mann, groß und breitschulterig, das Antlitz festknochig, das Auge feurig, die Stimme laut und tönend. Sein Scharfsinn war eben so groß als sein Muth; daß er mehr zum Feldherrn geboren war, als mancher hochgeborene Herr der österreichischen Armee, hat er sattsam bewiesen.

Machen wir noch einen Besuch bei Oppacher in Jochberg. Auch ihm hatte man für seine Verdienste eine goldene Medaille gegeben, denn die Orden gehörten damals fast nur der haute volée, welche sie gar nicht zu verdienen brauchte. Mehr als dieses erfreute ihn jedoch der Besuch des Kaisers Franz, der auf der Durchreise bei ihm einsprach und ihn sehr herablassend behandelte. Als Denkzeichen an dieses Ereigniß prangt noch ob der Hausthüre eine rothe Marmortafel mit goldenen Lettern. Oppacher genoß unter den Bauern eines großen Ansehens und wurde von ihnen zum Vertreter auf dem Landtage erwählt. Seine kurze, gedrungene Statur ließ auf große Stärke schließen, die Stirne, von der langes graues Haar zu beiden Seiten niederhing, war hoch, der Blick frei, die Nase stark gewölbt. Die Züge des bescheidenen Mannes, der wenig Aufhebens von sich machte, waren mild und sanft. Wie alle diese Männer von 1809 war er sehr fromm und der Kirche treu ergeben. Er verschied 1845 in einem Alter von 75 Jahren.

Vielleicht fragt nun der Leser, welcher sich die Mühe nahm, diese Episoden aus einer großen Zeit zu lesen: „Warum alte Wunden aufdecken und die Kriege, welche blutsverwandte Stämme mit einander in grimmiger Erbitterung führten, neuerdings vor die Erinnerung führen?“ Man kann es den Deutschen, welche einig die Welt bezwingen würden, nicht oft genug in’s Gedächtniß rufen, daß sie sich selbst die schrecklichsten Uebel zufügten, wenn sie den Fremden dienten. Zwischen den Tyrolern und Baiern ist jetzt Friede und Freundschaft, über die Leichen der Gemordeten wächst Gras, und die alten viel umstrittenen Schanzen in den Engpässen sind zu bemoosten Erdhaufen zerfallen. Vor zwei Jahren sagte mir ein alter Schütz: „Ich weiß nicht, ob es nicht etwa besser wäre, wenn wir bairisch geblieben wären; das thät mich aber freuen, wenn ich mich noch einmal an der Seite der Baiern gegen die verfluchten Franzosen schlagen dürfte, denn die Baiern sind wackere und feste Leute.“ Möge nie dynastisches Sonderinteresse die deutschen Brüder trennen; wenn sie Seite an Seite unter dem deutschen Banner gegen den Feind kämpfen, so werden gewiß die Helden von 1809 sie versöhnt aus ihren Gräbern segnen, und wie die Schatten der griechischen Heroen bei Salamis zum Siege vor ihnen herziehen!




Illustrirte Skizzen aus Rom.


Erholungsstunden der Franziskaner auf dem Aventin.
Nach der Natur gezeichnet von Zwahlen und Zielcke

Unser heutiges Bild bedarf keiner großen Erklärung. Wir sind in einem Kloster der Regel des heiligen Franz und schauen aus dem Garten desselben hinab auf das weite herrliche Rom und die goldene Tiber. – Diese Ordensbrüder wußten sich stets die schönsten Lagen für ihre Häuser zu wählen, so denn auch hier auf einem der sieben Hügel, dem Aventin. – In der Ferne bietet sich unserm Blick der Sanct Peter mit dem vatikanischen Palast, näher aber der Fluß mit dem Ponte Sisto in der bezaubernden Färbung eines Sommerabends. – Unsere Brüder haben ihre kirchlichen Exercitien eben beendet und suchen in der köstlich kühlen Laubveranda ihres Gartens für den Abend ein Plätzchen der Erholung. – Der Bettelmönch dieses Landes ist fast immer ein Mann aus dem Volk, er bleibt stets mit demselben in Verbindung und hat Freud’ und Leid mit demselben gemein. So also [350] auch die Vergnügungen, die seinigen sind diejenigen des Volks. – Wer nun aus dem guten Stadtviertel Trastevere oder dem Borgo liebt es nicht, an schönen Sommernachmittagen in einer Osteria jenseits der Tiber seine Partie alla Boccia oder Piestrella (d. h. dasselbe bekannte Spiel, nur werden anstatt der hölzernen Kugeln gewöhnliche, nur etwas glatt geformte Steine verwendet) zu machen? – So denn auch unsere Frati; die Osterien an der Tiber existiren für sie nicht, sie wählen also ihre zehnmal schönere Veranda. – Die beiden letzten Würfe waren meisterhaft, und unser junger Spieler sucht mit gewohntem Kennerblick gerade zu ermessen, wer von den beiden Gegnern dem Lecco am nächsten gekommen ist (Lecco ist die zuerst ausgeworfene kleine Kugel, der die Werfer so nahe als möglich zu kommen suchen müssen). Oft ist der Kampf recht hitzig, und die endlichen Sieger sind dann nicht weniger befriedigt als ihre Freunde aus dem Volke, wenngleich sie keine frischduftende Foglietta als Siegespreis erreichen können. – Wir begegnen unsern Frati oder einigen ihrer Commilitonen aus andern Orden vielleicht später wieder in Bildern anderer Episoden ihres für den Maler so interessanten Klosterlebens.




Der Zwölfte.

Kleine Bilder aus großer Zeit.
Von Georg Hesekiel.
(Schluß.)


Ueber den Rhein nach Paris; nach Paris zog der Wedell mit seinen Reitern, er half die blutige Bahn zwei Mal hauen und zog zwei Mal mit Orden und Ehren geschmückt in die Hauptstadt des großen Tyrannen ein, der ihn fünf Jahr zuvor nach Cherbourg geschickt hatte, der ihn als Sträfling an die Karre schmieden ließ.

O ja, es giebt doch eine Vergeltung auf Erden!

Dem Major von Wedell war es eine ernste Pflicht in Frankreich, sich sofort in Cherbourg und andern Städten selbst umzuthun, oder doch durch seine Cameraden nachforschen zu lassen nach deutschen Kriegsgefangenen, die der gestürzte und verbannte französische Kaiser in der grausenhaften Ueberhebung seiner Tyrannennatur zur Galeere verurtheilt hatte. So wurden noch Hunderte von deutschen Landsleuten frei durch den „Zwölften“ und nicht ohne Mühe, denn die durch ihre Niederlagen erbitterten Franzosen versteckten die Gefangenen und hielten sie fest, als wollten sie dieselben behalten zur Erinnerung an den gefallenen Zwingherrn.

Zu Cherbourg suchte Wedell vergebens nach Herrn de Lachétardie, seinem alten Freund, er konnte nur sein Grab besuchen, denn seines Wohlthäters Tochter, Madame Noirot, war mit ihren Kindern nach dem Süden gezogen. Wedell mußte sich die Freude des Wiedersehens versagen. Er stand lange nachdenklich vor dem alterthümlichen Hause in der Hafenstraße, in dem jetzt andere Leute wohnten, und ihm wurde das Auge naß bei der Erinnerung. Der bärtige Wachtmeister aber hinter ihm, der weinte wie ein Kind, daß er Florine und Dorine nicht fand, seine beiden kleinen artigen Freundinnen. An Ruhm und Ehren reich kehrte der Major von Wedell heim aus Frankreich. Zu Wesel besuchte der „Zwölfte“ das Grab der „Elf“. Bürger von Wesel hatten es durch kleine eingepflanzte Büsche bezeichnet, damit die Stätte nicht in Vergessenheit gerathe.

Auf Sanct Helena gefangen saß Napoleon – der „Zwölfte“ verließ mit leichtem Herzen das Grab der Opfer. Er hatte im Siege die Schmach vergessen, es war keine Spur von Rachegefühl mehr in seiner Seele. Im Frieden gründete sich der ehemalige Sträfling von Cherbourg sein Haus. Die edle, milde Gräfin Charlotte Pückler wurde, zehn Jahre nach dem zweiten Einzuge in Paris, seine Gemahlin. Der Obrist von Wedell wurde General und galt für einen der vorzüglichsten Truppenführer der königlichen Armee. Seit 1846 lag der General von Wedell mit seiner Division in Bromberg, als 1848 der polnische Aufstand ausbrach. Da zeigte der 63jährige General, daß all das Feuer und die rastlose Energie des jugendlichen Schill’schen Officiers noch lebendig waren in ihm. Sein Federbusch wurde der Schrecken der polnischen Insurgenten, seine Erscheinung der Trost und die Zuversicht der deutschen Landsleute, und endlich war er es, der die letzten Reste des polnischen Heeres bei Bardo anseinander sprengte und so die deutsche Bevölkerung des Großherzogthums von der brutalen Unterdrückung der Polen befreite. Die Dankbarkeit der deutschen Bewohner Posens sendete 1851 den Befreier, den rastlosen General von Wedell, als Abgeordneten für Bromberg in die erste Kammer. Da hat sich der tapfere General nicht wohl befunden, er hat seine Pflicht gethan, so gut er’s vermochte, aber der ehemalige Officier von Schill und der Gefangene von Cherbourg, der Mann der Thaten, nicht der Worte, war doch herzlich froh, als im folgenden Jahre schon sein Mandat erlosch. Gleich darauf wurde er Generaladjutant Sr. Majestät des Königs und Gouverneur der Bundesfestung Luxemburg, 1855 aber General der Cavallerie.

Da saß nun der „Zwölfte“ hoch oben auf dem grotesken Felsenhorste von Luxemburg, mit hellem Auge schaute er hernieder in die Lande der Belgier und der Niederländer, deren Könige ihn mit ihren höchsten Orden decorirten, aber er schaute auch in die französischen Landschaften hinüber, über welche abermals ein Bonaparte gebot, ein dritter Napoleon herrschte mit eiserner Gewalt und glatten Redensarten, ein Herrscher, den die Fürsten Europas bewunderten, weil er gegen die Bewegung der Völker zwar auch kein anderes Mittel wußte, als die brutale Kartätsche und das dumme Bajonnet, die freche Polizei und die gemeine Spionage, aber diese traurigen Mittel mit Glück angewendet hatte.

Wedell schaute ernst hinüber, er wußte, daß es nur ein wirksames Mittel giebt, die Revolution zu bekämpfen und den Völkern das Heil zu bringen. Wer die Revolution nicht geistig zu bestreiten und aus ihrem Gegentheil heraus zu besiegen vermag, der arbeitet mit Kartätschen und Bajonnet nur für die Revolution.


6.

Im Jahre 1855 war es, da hielten einige prachtvolle und glänzend bespannte Hofequipagen des Kaisers Napoleon III. zu Paris vor dem Hotel Mirabeau in der Friedensgasse und, geleitet von kaiserlichen Ceremonienmeistern und Kammerherrn in Gala, sah man einen greisen Herrn in der preußischen Generalsuniform, von seinen Adjutanten und andern Officieren gefolgt, die Treppen herniedersteigen. Der greise Herr war der Generaladjutant des Königs von Preußen, Gouverneur von Luxemburg, General von Wedell, welcher in außerordentlicher Mission seines Souverains in Paris eingetroffen war und jetzt von den höchsten Hofbeamten des gekrönten Bonaparte in feierlichem Aufzuge zur Audienz in das Schloß der Tuilerien geleitet werden sollte.

Es war Wedell, es war der „Zwölfte“, den der Bonaparte, der dritte Napoleon, mit den höchsten Ehrenbezeigungen zu seinem Hoflager geleiten ließ!

O ja, es giebt doch eine Vergeltung, auch auf Erden!

Die schimmernden Karossen donnerten über das Pflaster von Paris, mit unbewegtem Antlitz saß Wedell dem kaiserlichen Ceremonienmeister gegenüber, nur auf den Platz, auf welchem der Obelisk von Luxor steht, machte er den preußischen Officier, der ihn begleitete, durch eine Handbewegung aufmerksam.

„Der Platz Ludwig’s XV.,“ sagte Feuillet de Conches, der kaiserliche Ceremonienmeister, erklärend.

Wedell verneigte sich leicht, er kannte den Platz gut genug, den Platz, der erst nach Ludwig XV. hieß, der dann das Schaffot Ludwigs XVI. trug und Revolutions-Platz genannt wurde. Eintrachts-Platz wurde er später getauft, aber Wedell hatte hier in Parade gestanden 1814, Preußen, Oesterreichs, Baiern, Würtemberger, Russen, die ganze siegende Eintracht der deutschen und europäischen Rache gegen Napoleon’s Zwingherrschaft – und nun saß doch wieder ein Bonaparte in jenem Tuilerienschloß?

Halt! Trommelwirbel, Spiel, der französische Marsch, die kaiserliche Schloßwache steht unter dem Gewehr und macht die Honneurs vor dem „Zwölften“, der langsam die Stufen zum Pavillon Marsan hinaufsteigt. Die Hundert-Garden, die in großer Gala an den Thüren schildern, sie salutiren vor dem alten Schill’schen Manne, der vielleicht an Cherbourg und die Karre denkt.

Während der General von Wedell Audienz hat in dem großen [351] Salon hinter der Dianen-Gallerie, hat auch ein altes, kleines Männchen mit dünnem, weißem Haar, das mit dem General von Luxemburg gekommen ist, eine Audienz und zwar bei einer Dame.

Das alte, kleine Männchen hatte seinen General in allem Glanz davonrollen sehen und wollte eben in seine Wohnung zurückkehren, als ein Hausdiener zu ihm trat und ihn um einige Augenblicke bat, denn eine Dame wolle ihn sprechen. Der kleine Alte sah den übereleganten Gasthofsdiener mit einer halb verlegenen, halb lächelnden Miene an, als wollte er sagen: „Sie befinden sich sicherlich in einem schweren Irrthum, mein geputzter junger Herr; sehen Sie mich doch an und Sie werden selbst begreifen, daß ich es nicht sein kann, den eine Dame zu sprechen wünscht!“

Der Kellner aber fuhr statt aller Antwort mit der Hand durch die genialen Locken, lächelte spöttisch, öffnete eine Thür und rief mit lauter Stimme: „Der Herr, welchen Madame befohlen hat!“ dann ließ er den Kleinen eintreten und schloß die Thür hinter ihm. Der Alte stand in einem sehr eleganten Zimmer, eine in braune Seide gekleidete, ziemlich wohlbeleibte Dame, die ihn sehr freundlich aus ihren hübschen dunkeln Augen ansah, kam ihm entgegen. Der Alte im blauen Rock, der mancherlei Bänder im Knopfloch trug, verneigte sich höchst geschmeichelt, denn die Dame gefiel ihm sehr, obwohl sie schon in reifem Alter war und sicher über fünfzig Jahre zählte. Die Dame nöthigte den kleinen Alten höflich, Platz zu nehmen und ein Glas Liqueur mit ihr zu trinken. endlich begann sie das eigentliche Gespräch mit der Frage: „Sie gehören zum Gefolge des Herrn preußischen Generals, mein Herr, der mir die Ehre erzeigt hat, in meinem Gasthofe abzusteigen?“

„Allerdings zu seinem Gefolge, Madame,“ entgegnete der Alte in ziemlich gewagtem Französisch; „ich bin kein Diener Sr. Excellenz, königlicher Beamter, Madame, Steuerofficier außer Dienst, aber ich wohne im Hause Sr. Excellenz, denn wir sind alte Kriegskameraden!“ Der kleine, vom Alter gekrümmte Mann richtete sich bei den letzten Worten stolz auf und fuhr, da die schmucke Dame ihm verbindlich zulächelte, mit großem Selbstbewußtsein fort: „Seine Excellenz hat mich eingeladen, sie nach Paris zu begleiten, wissen Sie, Madame, nur der Erinnerung wegen; ich bin nämlich mit Sr. Excellenz schon drei Mal nach Frankreich gekommen, und da meinten sie, daß es doch hübsch wäre, wenn wir auch das vierte Mal zusammengingen.“

„Sie kennen also den Herrn General schon lange, mein Herr?“ fragte die Dame.

„Seit Anno 1809,“ entgegnete der Alte nachdenklich und wiegte das weiße Köpfchen, „ja, ja, Anno 1809; Du lieber Gott, wer hätte das gedacht, als wir damals Beide Gefangene in Cherbourg waren!“

„In Cherbourg?“ rief jetzt die Dame, „wirklich, in Cherbourg? so ist er’s, ich habe mich nicht geirrt! War der Herr General von Wedell 1809 Gefangener in Cherbourg, mein Herr?“

Die Dame verrieth eine große Aufregung.

„Se. Excellenz und ich,“ erwiderte der Alte, der sich nicht vergaß, „wir waren in jenem Jahre zu Cherbourg als Gefangene an eine Karre geschmiedet; an der Karre haben wir unsere Bekanntschaft gemacht, Madame; der Bonaparte hat uns selbst zusammengeschmiedet, Se. Excellenz und mich, das hat gehalten. Er verstand sich auf’s Schmieden, der Bonaparte.“

Der Alte plauderte so eine ganze Weile fort, ohne darauf zu achten, daß sich die Dame zurückgelehnt hatte und ihn mit scharfen Blicken aufmerksam musterte. Plötzlich traten der französischen Dame ein paar kleine Thränen in die Augen, die sie indessen mit den Wimpern zerdrückte; sie richtete sich hastig auf, faßte die Hand des kleinen Alten und rief lebhaft: „Sie sind ein Ungeheuer, Frédéric, Sie verdienen gar nicht, daß ich mich Ihrer erinnere, denn Sie haben Ihre kleine Freundin von Cherbourg ganz vergessen!“

Erschreckt durch die französische Lebhaftigkeit war der gute alte Friedrich Kühns, der ehemalige Schill’sche Unterofficier, aufgestanden, die Dame aber zog ihn mit einem kräftigen Ruck wieder nieder zu sich und fuhr hastig fort: „Ja, ja, Sie sind ein Ungeheuer, Frédéric, Sie sind mir nicht treu geblieben, obwohl Sie uns das so oft geschworen haben, mir und meiner Schwester, dieser armen Dorine; ja, ich bin Florine, Monsieur Frédéric, die kleine Florine Noirot aus dem alten Hause in der Hafenstraße zu Cherbourg – o! wie viele Bonbons habe ich Ihnen gegeben! Großvater Lachétardie hielt mich für eine Gefräßige darum, aber ich ließ es mir ruhig gefallen, um nur Ihnen recht viele Bonbons geben zu können, und nun haben Sie mich undankbar vergessen! O! auf diese Ueberraschung war ich gar nicht vorbereitet; als ich vorgestern den Namen des Herrn Generals nennen hörte, da klang mir der so bekannt; ich suchte gestern unter den Papieren meiner armen Mutter und des Großvaters, bis ich den Namen fand; richtig, er war es, aber es konnte mehrere des Namens geben; sollte das mein Jugendfreund Henri aus Cherbourg sein? das mußt du wissen, dachte ich, ich ließ Sie rufen, ei! ich hatte keine Ahnung, daß ich einen zweiten alten Freund finden würde! Henri und Frédéric – von 1809 bis 1855 – Cherbourg und Paris; o! wenn meine arme Mama noch lebte, wie würde die sich freuen! und diese arme Dorine und der liebe kleine Großpapa Lachétardie!“

Einen Augenblick verzog Dame Florine wehmüthig den Mund und schwieg, gleich darauf aber lachte sie wieder und plauderte so unaufhaltsam und so in einem Gusse weiter, daß der brave Herr Friedrich Kühns gar nicht die Möglichkeit fand, auch nur ein einziges armes, kleines Wörtchen einzuschieben, obwohl ihm seine Jugendfreundin von Cherbourg zum zwanzigsten Male wenigstens befahl: „Ei, so reden Sie doch, Frédéric, sprechen Sie, sagen Sie mir, ob Sie mich ganz verändert finden, ob Sie auch nicht ein Zug mehr an das kleine Mädchen von 1809 erinnert!“

Als der kleine Alte die Unmöglichkeit erkannte, sich durch Worte verständlich zu machen, begann er mit großem Eifer zu nicken und streichelte dazu höchst zärtlich die derbe, sehr fleischige Hand, welche ihm seine Jugendfreundin überlassen. Er war sehr erfreut, daß er auf diese Weise wenigstens einigermaßen vermochte, seine Gefühle an den Tag zu legen.

Nach und nach erst kam einigermaßen Ordnung in das Gespräch; das heißt, Madame nahm immer noch den Löwenantheil für sich, aber sie ließ doch hier und da ein Wort über den General zu, während sie dem Herrn Kühns in höchster Ausführlichkeit den Tod ihres armen Großvaters, den Tod ihrer armen Mutter, den Tod ihrer armen Schwester Dorine, den Tod ihres armen Mannes schilderte, denn „arm“ waren, echt französisch, in den Augen der wohlbeleibten, lebenslustigen Frau Alle, welche das Unglück gehabt hatten zu sterben, mochten sie auch, wie der alte Herr de Lachétardie, das höchste Alter erreicht haben. So feierten Dame Florine und Herr Friedrich Kühns das Fest des Wiedersehens mit etlichen Thränen, mehreren Gläsern Liqueur und einer eigentlich ganz unbilligen Menge von Worten. Als der General von Wedell zurückkam von der kaiserlichen Audienz, stattete ihm Kühns sofort Rapport ab über dieses Wiederfinden, und der General eilte sofort in höchster Freude, das Kind seiner Wohlthäter, seiner Retter zu begrüßen.

Die Leute, die Dienerschaft wie die Gäste, im Hotel Mirabeau haben sich in jenen Tagen nicht wenig den Kopf darüber zerbrochen, was wohl der Gesandte des Königs von Preußen so lange und so oft mit „Madame“ zu besprechen haben könne!



7.

Das französische Kaiserthum hatte in jenen Januartagen 1855 den General von Wedell mit Zuvorkommenheiten überhäuft; der Greis aber fragte sich, als er heimkehrte in sein Gouvernement nach Luxemburg, ob die Ehre, die ihm die Bonapartes angethan, als sie ihn nach Cherbourg an die Karre schickten, nicht doch noch größer gewesen, als die, welche sie ihm zu Paris in den Tuilerien erwiesen!

Das war der Gedanke, der den „Zwölften“ beschäftigte bei der Heimkehr! Zu Luxemburg feierte General von Wedell am 15. April 1856 sein sechszigjähriges Dienstjubiläum, und nicht nur die preußische Besatzung der Bundesfestung beging dieses Fest mit ihrem General, sondern auch die Bevölkerung der Stadt feierte es mit, eine Bevölkerung, die sonst den preußischen Gouverneurs eben nicht besonders freundlich gesinnt zu sein pflegt. Der alte Wedell aber, der hatte es doch verstanden, mit den Leuten da fertig zu werden, und so erklärte die Bürgerschaft feierlich: „Unser Militär-Gouverneur hat, seit er dieses hohe Amt bekleidet, nicht versucht, sich gefürchtet zu machen, er zog es vor, sich verehren zu lassen. Große und Kleine, Arme wie Reiche, lieben und verehren ihn!“

Die Orden und Ehrenzeichen aller Souveraine schmückten den allen Schillianer von Cherbourg, und im Jahre 1858 erhielt er [352] auch die höchste Auszeichnung im Königreich Preußen, den hohen Orden vom Schwarzen Adler. Erst am 1. Juli 1860 nach 64jährigem treuem Dienste trat Leopold Heinrich von Wedell in den Ruhestand, und er war auch da noch eine frische männlich kräftige Erscheinung, so würdig und gewinnend auch im äußern Auftreten, daß häufig Fremde, die ihm begegneten, stehen blieben und achtungsvoll den Hut vor ihm zogen.

Die letzten Lebenstage des greisen Kriegers waren nicht ungetrübt, er mußte noch seine geliebte Gemahlin begraben und seinen König, an dem er mit wahrer Begeisterung gehangen; er eilte nach Berlin, um ihn zur Gruft zu geleiten. Noch bei der großen Fahnenweihe König Wilhelm’s und bei dem Krönungsfeste sah man den ältestdienenden preußischen Soldaten in ungebrochener Rüstigkeit. Zwei Tage darauf war er todt: am 22. Januar 1861 ein halbes Jahrhundert nach den elf Cameraden, starb der „Zwölfte!“



Blätter und Blüthen


Eine Engländerin Königin der Sandwichsinseln. Ein englischer Seeofficier schreibt von Honolulu, der Hauptstadt der Sandwichsinseln: „Der Premierminister der Regierung ist Herr Wylie aus Ayrshire, dessen Tochter Emma vor einigen Jahren der König Kamehameha heirathete, der nun auf dem Thron der Sandwichsinseln sitzt. – … Der König ist ein Vollblut-Kanakia (wie die Eingeborenen genannt werden) und ein großer, hübscher Mann von so stattlichem Ansehen und höflichem Wesen, wie man es nur bei uns finden kann. Er besitzt gebildete Neigungen, tanzt gut, ist auch etwas musikalisch und hat bei alledem eine sehr einnehmende bescheidene Würde. Seine Bescheidenheit kann man am besten erkennen, wenn man eine Stelle aus einer Rede anführt, die er kürzlich bei einer großen öffentlichen Gelegenheit hielt, wo er sagte: „Ich bin der bescheidene Beamte eines bescheidenen Staates.“ Ich habe ihn, seit wir hier sind, mehrmals in Privatgesellschaften getroffen und fand ihn sehr freundlich und angenehm. Die Königin (Emma) lebt sehr zurückgezogen, und da ich sie nur einmal gesehen habe, so kann ich nicht viel über sie sagen, was Sie interessiren würde.“ – Einem Prinzen der Sandwichsinseln begegnet man in London oft aus der Straße. Er ist ein großer, sehr schön gewachsener junger Mann, stets einfach elegant – natürlich englisch – gekleidet und dessen schönen, braunes Gesicht einen sehr intelligenten und angenehmen Ausdruck hat. Der Prinz ist in Paris erzogen.






Das Wallroß und sein Junges. In einem eben erschienenen Reisewerke findet sich folgende Stelle aus der Beschreibung eines Wallroßjägers: „Eine Kuh und ein Kalb wurden angegriffen, und die Kuh hatte bereits eine verlorene Harpune in ihrem Rücken. Ich habe in meinem ganzen Leben nichts Interessanteres und Rührenderes gesehen, als die wundervolle mütterliche Liebe, welche dies arme Wallroß an den Tag legte. Als sie an der Harpune fest war und das Boot wüthend durch die Eisberge riß, war ich im Begriff sie durch den Kopf zu schießen, um Zeit zu gewinnen, die andern zu verfolgen; aber Christian rief mir zu, nicht zu schießen, da sie ein Junges bei sich habe. Obgleich ich seine Absicht nicht verstand, so sparte ich meinen Schuß und als ich genau das Wallroß betrachtete, als es an die Oberfläche kam, um Luft zu schöpfen, bemerkte ich, daß sie ein sehr junges Kalb unter ihrem rechten Arm hatte und sah, daß er es harpuniren wollte. Aber wenn immer er seine Waffe schwang, um sie zu werfen, schien die alte Kuh auf die Richtung derselben zu achten, schob ihren eigenen Körper dazwischen und schien mit Vergnügen mehrere Harpunen aufzufangen, die für das Junge bestimmt waren. Endlich traf eine wohlgezielte Lanze das Kalb, und wir zogen dann die an die Kuh befestigten Leinen an uns und tödteten sie mit den Lanzen. Christian hatte nun Zeit und Athem mir zu erklären, warum er so begierig war, sich des Kalbes zu versichern, und er gab mir eine praktische Illustration seiner Absicht, indem er das unglückliche Junge mit dem Stiel seiner Lanze sanft „aufstocherte“. Dies verursachte, daß das arme kleine Thier einen eigenthümlichen, klagenden, grunzenden Schrei ausstieß, der ganz außerordentlich ausdrucksvoll Angst und den Wunsch nach Hülfe aussprach. und Christian sagte, daß dieser Ruf sogleich die ganze Heerde um das Boot herumbringen werde. Unglücklicherweise hatten wir aber so viel Zeit gebraucht, unsere arme kleine Lockente zu bekommen, daß die andern alle bereits außer Hörweite waren, und sie überließen ihren jungen Verwandten seinem Schicksal, welches ihn schnell in Gestalt eines Lanzenstoßes von dem unbarmherzigen Christian ereilte. Ich glaube, ich werde niemals die Gesichter des alten Wallrosses und seines Kalbes vergessen, wie sie nach dem Boot zurücksahen! Das Gesicht des Letzteren drückte solch entsetzlichen Schrecken und zugleich Vertrauen aus in die Macht der Mutter es zu beschützen, wie es unter ihrem Arm dahin schwamm; und das Gesicht der alten Kuh zeigte solche kühne Herausforderung, Alles, was nur immer in unserer Macht, ihr selbst zu thun, und doch wieder solche schreckliche Angst für die Sicherheit ihren Kalbes!“




Ein sehr zweckmäßiges Gesetz, welches wohl der Auffrischung bedürfte, wurde im Jahr 1770 von dem englischen Parlament zum Schutz der Männer erlassen. Durch dasselbe wurde bestimmt: „daß alle Frauen, was immer ihr Alter, Rang, Gewerbe oder Grad sein möge, ob Jungfrauen, Mädchen oder Wittwen, die nach Erlassung diesen Gesetzes irgend welche Ihrer Majestät männliche Unterthanen betrügen und zur Ehe verführen würden durch Parfümerien, Schminke, kosmetische Waschwasser, künstliche Zähne, falsches Haar, spanische Wolle, Eisen, eiserne Schnürbrüste, ausgestopfte Hüften und hohe Hacken – dieselbe Strafe erleiden sollen, welche gegen Hexerei oder ähnliche Verbrechen bestimmt ist, und die unter solchen Umständen geschlossenen Ehen sollen, nach Ueberführung der schuldigen Partei, null und ungültig sein.“






Bock's Buch in Heften 4. Auflage.

Die dritte, 10,000 Exemplare starke Auflage des schon bei seinem ersten Erscheinen mit allgemeinem Willkommen begrüßten Werkes:
Das Buch vom gesunden und kranken Menschen
von Dr. Carl Ernst Bock.

Professor der pathologischen Anatomie in Leipzig.

Mit 38 feinen Abbildungen.

ist vergriffen und die vierte, durchgebends verbesserte und vermehrte ist soeben in der ersten Lieferung erschienen.

Der Verfasser sagt darin in einer Ansprache an das Publicum:

„Jeder Mensch hat von Natur die Macht und deshalb auch die Verpflichtung, sich und, soweit es in seinen Kräften steht, auch seine Mitmenschen gesund und bei langem Leben zu erhalten. Denn Krankwerden, frühzeitiges Altern und vorzeitiges Sterben sind ebensowenig wie Gesundbleiben und ein langes Leben weder Zufälligkeiten noch Vorausbestimmungen, sondern die nothwendigen Folgen unsers Verhaltens; sie hängen von ganz bestimmten Ursachen ab und geben nach feststehenden Naturgesetzen vor sich. Es ist deshalb die Aufgabe jedes wirklich Gebildeten, überhaupt Jedes, der den Namen „Mensch“ verdienen will, sich mit jenen Bedingungen und Gesetzen nicht nur vertraut zu machen, sondern denselben auch nach Kräften nachzukommen, um Krankheit und frühen Tod zu verhüten.

Das vorliegende Werkchen soll den Leser mit den Bedingungen zur Gesundheit und zum langen Leben, soweit es zur Zeit die Wissenschaft vermag, bekannt zu machen. Es lehrt deshalb, gestützt auf den Bau und die Verrichtungen unseres Körpers und seiner einzelnen Organe, ebenso die Pflege des gesunden, wie den kranken Körpers. Müttern und Lehrern ist es aber vorzugsweise deshalb gewidmet, weil diese die Macht haben, durch richtige Erziehung der Kinder ein in körperlicher, wie geistiger und moralischer Hinsicht gesünderes und besseres Menschengeschlecht, als das jetzige ist, zu erzielen.
Bock.

Die anerkannte Gemeinnützigkeit dieses Buches und die glänzende Aufnahme, welche es in seinen drei ersten Auflagen überall gefunden, wo deutsche Zungen reden, überhebt die unterzeichnete Verlagshandlung jeder Anpreisung desselben.

Die 4. Auflage des Buches vom gesunden und kranken Menschen erscheint wieder in sieben, in monatlichen Zwischenräumen auf einander folgenden Lieferungen. Der Subscriptionspreis jeder Lieferung von 5 – 6 Bogen ist nur 7½ Ngr., wofür auch der weniger Bemittelte im Stande ist, sich diesen Helfer in der Noth nach und nach anzuschaffen.

Die Verlagshandlung.

Leipzig, im Mai 1861.

Ernst Keil. 




  1. Nestel, Bandstreifen von farbigem Leder mit metallenen Spitzen, das Abzeichen der Schäfer.
  2. Die Casse, in welcher die Zunftgelder, die Einlagen der Schäfer, aufbewahrt werden.
  3. Dieser Marsch ist uralt und höchst einfach und für den Gröninger das, was der Kuhreigen dem Schweizer ist.