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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[209]

No. 6.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.




Am Scheidewege.

Von Th. Mügge.[1]


1.

An einem Julitage des Jahres 1789 lag die alte Stadt Valence im schönsten Sonnenschein unter blauem Himmel, und wer sie so zum ersten Male und in der Ferne vor sich erblickte, wie dies einem Reisenden geschah, der damals eben auf der Straße von Grenoble in einem kleinen Postcarriol sich ihr näherte, der mochte sich nicht leicht vorstellen, daß dies wirklich ein so altmodischer, finsterer Ort voll enger Gassen und hoher Giebelhäuser sei, wie man es ihm berichtet hatte.

Das bergige Land glänzte rings in seinen grünen Gewändern, mitten hindurch bahnte sich die Rhone brausend und schäumend ihren Weg, und je näher der Stadt, um so zahlreicher streckten sich Fruchtgärten und Landhäuser an den Lehnen des Stroms und der Hügel aus, bis wo Valence selbst von seiner schwellenden Höhe herunterblickte. Und wer hätte bei diesem sanften, schönen Rundbilde voll Glanz und heiterer Ruhe wohl daran denken mögen, daß das ganze Land der Franzosen eben jetzt voll gährender Leidenschaften und wilder Parteikämpfe sei; war es doch, als ob man hier nichts von den stürmischen Auftritten in Paris wüßte, die Menschen vielmehr alle in friedlicher Abgeschiedenheit glücklich wohnten und lebten, als seien sie weit davon entfernt.

Der Reisende auf dem Postkarren mochte ähnliche Gedanken haben, als er die duftigen Berge und die sonnenleuchtende Stadt ernst und nachdenkend und dann vor sich hin lächelnd betrachtete. Er war noch jung an Jahren, aber sein Kopf mit breiter Stirn, über welcher ein gewaltiger schwarzer Haarwuchs sich ausbreitete und unter der zwei dunkle Augen scharf und lebhaft glänzten, sah männlich und kräftig geformt aus. Seine Hautfarbe hatte einen südlichen bronzenen Ton, auch seine Kleidung schien ziemlich fremdartig. Er trug einen braunen kurzen Mantel von grobem Wollenzeug, mit einer Kappe versehen, die im Nothfall über den Kopf gezogen werden konnte, und um den Leib einen Gurt, der dies weite, bequeme Gewand zusammenhielt. Auf dem Postkarren lag ein leichter Mantelsack, und Alles in Allem schien dieser Reisende keiner, der zur vornehmen Gesellschaft gehörte; doch das ließ sich zu jener Zeit schon nicht als besonderes Glück mehr betrachten. Als der Wagen das Thor erreichte, stand dort eine Wache, die ihn anhielt, und es kam ein Sergeant heraus vom Artillerieregiment La Fere, das hier in Garnison lag, um ihn zu examiniren. Valence wurde als Festung betrachtet, wenigstens hatte es einen befestigten Kern, eine Citadelle, in welcher neun Jahre darauf der arme, alte Papst Pius VI. als ein Gefangener starb. Gefangener der französischen Republik, hierhergeschafft auf Befehl desselben Mannes, der jetzt dort oben in dem baufälligen Giebelhause am Ende der Straße seinen Arm auf das Fensterkreuz gestützt, starr hinausblickt in das Rhonethal, ohne auf den Karren am Thore zu achten.

„Wer sind Sie?“ fragte der Sergeant vom Regiment La Fere den Reisenden.

„Ich bin ein Student der Rechte,“ antwortete der Fremde mit wohllautender Stimme.

„Woher kommen Sie?“

„Ich komme aus Pisa, aus Italien, von Turin und Chambery. Hier ist mein Paß.“

„Wie heißen Sie?“ fragte der Examinator, indem er in das Papier blickte.

„Ich heiße Carlo Andrea Pozzo di Borgo.“

„Ein Italiener! Ich dachte es beinahe,“ nickte der Sergeant aufblickend, „obwohl Sie verteufelt gut französisch sprechen.“

„Das kommt daher,“ lächelte der Student, „weil Frankreich uns gewürdigt hat, zu ihm gehören zu dürfen.“

Der Sergeant begriff den Sinn dieser Antwort nicht recht.

Er starrte den Reisenden an.

„Ich bin ein Corse aus Ajaccio,“ fuhr dieser lächelnd fort.

O, sacre bleu! jetzt versteh’ ich!“ rief der Sergeant und legte die Hand an seinen Hut. „Die Corsen sind brave Leute. Wir haben Einen bei unserem Regiment. Wart einmal, richtig! der ist auch aus Ajaccio. Vielleicht kennen Sie ihn. Wir haben hier einen Lieutenant mit Namen Bonaparte.“

„Napoleon Bonaparte.“

„Es kann sein, hier giebt’s nur den Einen.“

„Ich kenne ihn recht gut,“ sagte der Reisende.

„Dann müssen Sie ihn besuchen.“

„Das will ich gewiß thun. Kann ich erfahren, wo er wohnt?“

Der Sergeant drehte sich um; es hatte sich eine Anzahl Soldaten vor der Wache versammelt, welche neugierig zuhörten.

„Weiß Keiner, wo der Lieutenant Bonaparte wohnt?“ fragte er.

Aber der Held, welcher wenige Jahre darauf seinen Namen so bekannt gemacht hatte, daß jedes Kind davon zu erzählen wußte, war den meisten dieser Soldaten fremd, und wo er wohnte, konnte Niemand sagen. Der Sergeant fluchte und rief noch mehrere Andere herbei, die verschiedene Quartiere angaben und sich darüber stritten. Darauf schrie der alte Krieger: „Schweigt Alle still! Dort kommt der Lieutenant Demarris, der weiß es gewiß.“

Ein junger Herr in Uniform mit rothen Rabatten schritt so eben die Straße herab, und der Sergeant ging ihm ein paar


  1. Wir veröffentlichen heute die letzte Arbeit dieses jüngst verstorbenen Autors. Als ob es wie eine Ahnung seines baldigen Todes über ihn gekommen, nannte er das letzte Product seiner Muse: „Am Scheidewege“. – Mit ihm ist einer unser besten Novellisten und ein treuer, ehrlicher Patriot geschieden.
    D. Redaction

[210] Schritte entgegen. Als der Officier das Anliegen vernommen hatte, trat er artig grüßend näher und sagte höflich: „Der Lieutenant Bonaparte wohnt dort oben in dem hohen Giebelhause, das Sie von hier aus sehen können.“

„Er ist also nicht verreist?“ erwiderte der Student dankend.

„Nein, er ist hier, und wahrscheinlich treffen Sie ihn in seiner Wohnung, denn er ist sehr fleißig und häuslich.“

„Das ist mir lieb zu hören. Ich fürchtete, ihn nicht in Valence zu finden, da ich weiß, daß seine Familie ihn in Ajaccio erwartet.“

Der Officier, der ein schöner, junger Mann war, schüttelte den Kopf und sagte mit einem muthwilligen Lachen: „Ich glaube nicht, daß er jetzt auf Reisen gehen wird, denn er hat hier Besseres zu thun. Auch bin ich mit ihm gut befreundet und weiß nichts davon. Sie sind sein Landsmann?“

„Ja, mein Herr.“

„Und heißen Pozzo di Borgo?“

„Ja, mein Herr.“

„Er hat mir diesen Namen zuweilen genannt. Sind Sie nicht besonders befreundet mit seinem älteren Bruder Joseph?“

„Sie haben ganz Recht.“

„Und sind mit ihm selbst dagegen in mancherlei Streit gerathen?“

„Knabenstreite bei Knabenspielen.“

„Er will überall der Erste sein,“ lachte Demarris, „und streitet für sein Leben gern. Bei alledem wird er sich freuen, Sie zu sehen. Ich bedauere, daß ich Sie nicht begleiten kann; doch ich habe einer Dame meinen Besuch versprochen, und Damen muß man Wort halten.“

„Man muß immer Wort halten,“ sagte Pozzo di Borgo freundlich. „Vielen Dank, mein Herr.“

„Ich hoffe, wir sehen uns noch,“ rief Demarris. „Sie werden Valence doch nicht gleich wieder verlassen wollen?“

„Ich bleibe wohl einen und den anderen Tag, ehe ich meinen Weg nach Paris fortsetze.“

„Nach Paris wollen Sie? Sie sind zu beneiden. Es gehen große Dinge dort vor sich.“

„Es werden noch größere vorgehen,“ antwortete Pozzo di Borgo.

„Die Nationalversammlung wird vom Könige nach Soissons geschickt werden. Haben Sie davon gehört?“

„Ich habe nichts davon gehört.“

„Nun, man wird sich schon vertragen!“ rief Demarris. „Ein ganzes Heer lagert um Paris, schade daß wir nicht dabei sind. Aber ich will Sie nicht länger aufhalten. Fahren Sie nach dem rothen Hause, dort speist man am besten, ich esse auch dort. Und grüßen Sie Bonaparte. Pardon! noch einen Augenblick. Er wollte ebenfalls Frau von Colombier seinen Besuch machen. Er soll bald nachkommen und soll Sie mitbringen. Ich werde Sie anmelden. Verlassen Sie sich darauf, Sie werden willkommen sein und die liebenswürdigste Aufnahme finden. Es ist eine der ersten und ausgezeichnetsten Familien in Valence. Auf Wiedersehen also, Herr Pozzo di Borgo. Sie werden finden, daß die Damen von Valence den Ruf ihrer Schönheit verdienen. Adieu! Adieu!“

So selbstgefällig lachend und höflich grüßend ging der Lieutenant zum Thore hinaus und trällerte unter der Wölbung ein Liedchen, während der Postkarren in entgegengesetzter Richtung weiter rumpelte.

„Meiner Treu!“ murmelte der junge Rechtsgelehrte vor sich hin, „wenn Napoleon Bonaparte viele solche intime Freunde hat, wie diesen, so muß er sich sehr verändert haben – doch nein,“ fuhr er fort und ein spöttisches Zucken flog um seinen Mund, „er hat sich immer Leuten zugeneigt, die sich von ihm bevormunden ließen und ihn bewunderten, und dieser geschwätzige Camerad ist sicher einer von der Sorte, wie sie ihm zumeist behagt.“

Der Führer des Karrens hatte die Weisung empfangen, nach dem rothen Hause zu fahren, und bald hielt er dort, wo Pozzo di Borgo wohl aufgenommen wurde. Als das Fuhrwerk an dem hohen Hause vorüberrollte, in welchem der Lieutenant Bonaparte wohnte, sah sein Landsmann hinauf, es war jedoch Niemand zu erblicken. Der junge Mensch, welcher im dritten Stock aus dem Fenster schaute, als der Karren vor der Wache hielt, hatte sich längst wieder von diesem Platze entfernt und saß nun an einem hochbeinigen Schreibpulte, mit der einen Hand seinen Kopf stützend, in der anderen eine abgeschriebene Feder haltend, welche eilig über den Papierbogen flog, der vor ihm lag. Diesen Bogen hatte er beinahe voll beschrieben und eine Anzahl anderer schichteten sich in einem Fache auf. Das Stübchen war klein und ziemlich ärmlich möblirt. Ein Bett in der Ecke, ein Schrank an der anderen Seite, einige Riegel, an denen Kleidungsstücke hingen, ein Tisch und einige Stühle, die unordentlich umherstanden, nahmen den meisten Raum fort. Auf dem Schreibpulte lag ein Haufen Bücher, einige davon aufgeschlagen. Papierstücke, die beschrieben und zerrissen, angefangene Zeichnungen, denen es nicht besser ergangen, zerspaltene und zerbrochene Federn und Bleistiftsplitter bedeckten den Fußboden, dem mancherlei große Tintenflecken überdies nicht fehlten. Landkarten waren an die Wände genagelt, eine große Karte überdeckte den Tisch, und an verschiedenen Stellen derselben steckten Nadeln mit rothen, schwarzen und farbigen Köpfen. Am Pfeiler hing ein schmales Spiegelglas, gesprungen von oben bis unten, darunter aber auf der Tischecke schimmerte ein Blumenstrauß in ein Wasserglas gestellt und von einem blauen Bande umwunden. Es war dies der einzige freundliche Schmuck des Zimmers, das einzige Zeichen der Sorgfalt seines Bewohners, überall sah es sonst wüst und wirr aus. Das Bett selbst befand sich in Unordnung, mit Uniformstücken beworfen, und der Degen des Herrn Lieutenants Bonaparte, welcher daran gelehnt hatte, war heruntergerutscht, daß er nur noch mit dem Gefäß an einer Kante festhing.

Aber Napoleon Bonaparte hatte keine Augen dafür. Er richtete diese unverwandt auf den Bogen vor sich und schrieb mit Hast. Zuweilen jedoch hielt er inne, strich aus und schrieb von Neuem, warf seine Blicke lebhaft umher und zum offenen Fenster hinaus auf die grünen Berge und den fluthenden Strom, der einen leuchtenden Streif in der Ferne erkennen ließ; dann warf er sich selbst in den Stuhl zurück und starrte die Zimmerdecke an, um plötzlich aus dieser Ruhe aufzufahren und wiederum seine Feder arbeiten zu lassen.

Die schmale, untersetzte Gestalt des jungen Mannes schien von außerordentlicher Beweglichkeit. Er gehörte zu den Menschen, deren geistiges Leben auch den Körper in fortgesetzter Unruhe erhält. Unter dem alten Militairrock ruckten seine Füße und sein Leib hin und her, und an der schmalen Hand, welche seinen Kopf stützte und über welche das feine schwarze Haar fiel, zuckten seine Finger bald hier, bald dort. Es war kein eben schöner Kopf, der aus der dunklen Halsbinde hervorstieg, aber doch ein Kopf von eigenthümlichen Formen und anziehendem Gepräge. Gelb und blutlos die Gesichtsfarbe, feingebildet und fest Nase und Mund, die Stirn hoch und besonders breit, eine knochige, mächtige Denkerstirn, das Haar darüber seidig glänzend, die Augen tief, dunkel und von durchdringendem Feuer. Ein kühner Ausdruck überlegener geistiger Kraft und Kälte nahm diesem Gesicht die jugendliche Frische; man sah ihm an, daß heftige Leidenschaften es plötzlich in Aufruhr bringen konnten, und daß es nicht für die leichtfertige Lust und Fröhlichkeit eines sorglosen, jungen Officiers geschaffen sei.

Dazu stimmte es auch sicherlich, daß an diesem schwülen Nachmittage der zwanzigjährige Lieutenant hier einsam auf seinem Zimmer, vergraben unter Büchern und Papieren, arbeitete, während seine Kameraden, wie der muntere Demarris, umherschwärmten, um zu trinken, zu spielen oder schönen Damen den Hof zu machen, und so ernstlich war diese Arbeitsamkeit gemeint, daß Napoleon Bonaparte es nicht hörte oder beachtete, als draußen feste Schritte sich seiner Thüre näherten und bald darauf wiederholt an diese geklopft wurde.

Erst als die Thür sich aufthat und Jemand hereintrat, erregte dies seine Aufmerksamkeit; allein er sah sich nicht um, sondern rief, ohne den Kopf aufzuheben und nicht allzu freundlich: „Warum kömmst Du jetzt? Ich kann Dich nicht gebrauchen. Doch halt, setze Dich nieder und schweige still, bis ich Zeit habe mit Dir zu sprechen.“

Der Eingetretene befolgte diese Weisung pünktlich. Er ging an den Tisch, welcher hinter dem schreibenden Lieutenant stand, setzte sich dort auf einen Stuhl, betrachtete die Karte mit den Nadeln, dann das Zimmer sammt Allem, was sich darin befand, endlich das Glas mit den Blumen unter dem Spiegel, und zuletzt ruhten seine Blicke nachdenklich und unverwandt auf dem Schreibenden, obwohl eben nur dessen bewegliche Schultern und Beine und die fingernde Hand sich seinen Betrachtungen darboten.

So verging einige Zeit, ehe eine Unterbrechung stattfand. Plötzlich aber lachte der Lieutenant Bonaparte auf und rief mit seiner scharfen Stimme: „Warst Du schon bei Frau von Colombier?“

„Nein,“ lautete die Antwort.

„Du hast also Fräulein Beatrice noch nicht gesehen?“

[211] „Nein.“

„Ich begreife nicht, wie Du das aushältst.“

„Ich kann warten,“ erwiderte der Wartende mit seiner weichen tiefen Stimme, und sobald er diese Worte gesprochen, wandte sich der Lieutenant Bonaparte hastig um. Im nächsten Augenblick stand er auf seinen Beinen und starrte seinen Besuch verwundert an. Dies dauerte wohl eine Minute; die beiden jungen Männer schwiegen. Pozzo di Borgo ließ sich betrachten; Bonaparte sah aus, als halte er, was er sah, für Täuschung, dabei blieb er so ernsthaft, als ob er kein großes Vergnügen über diesen unerwarteten Anblick empfände.

„Carlo Andrea!“ rief er dann und kam ihm näher. „Wie geht es in Ajaccio?“

„Ich weiß es nicht, Napoleon,“ war die Antwort, „denn ich komme von Pisa und komme Dich zu besuchen.“

In dem Augenblick verwandelte sich das Gesicht Napoleons. Er streckte dem Jugendfreunde beide Hände entgegen. „Sei mir willkommen, Carlo, es ist mir lieb, Dich zu sehen! Aber wie kommst Du hierher und wohin willst Du?“

„Ueber Paris will ich nach Haus, um dort, da meine Studien nun vollendet sind, meine Advocatur zu beginnen. Hierher komme ich, sowohl meines Weges wegen, als um Dir einen Brief zu bringen.“

„Einen Brief! Von wem?“

„Von einem Manne, den wir beide verehren, der jedem Corsen heilig und theuer ist.“

„Von Pasquale Paoli!“ rief Napoleon.

„Von dem Präsidenten,“ sagte Carlo Andrea.

Als die Franzosen im Jahre 1709 nach der Schlacht an der Golobrücke Corsica erobert und die corsische Republik vernichtet hatten, floh der Präsident Paoli nach London und lebte in dieser Verbannung nun seit zwanzig Jahren. Aber die zärtliche Verehrung des corsischen Volkes begleitete den großen Bürger in das sonnenkalte Land des Nebels, und dort leuchtete er immer noch als Stern, zu dem die Corsen ihre Segenswünsche und Gebete sandten. Wenn Einer in seiner Noth nicht wußte, wer ihm rathen und helfen sollte, wandte er sich an den verbannten Vater des Vaterlandes. Wer etwas Wichtiges unternahm, wollte wissen, was Er dazu sagte, und wo Männer und Jünglinge für ihres Landes und Volkes Sache hofften und strebten, war es die höchste Ehre, wenn der Präsident sie lobte und ihren Eifer mit seinem Beifall belohnte.

Als Pozzo di Borgo gesprochen hatte, zog er aus seiner Tasche einen Brief und reichte ihn Napoleon hin. „Da ich ihm schrieb,“ sagte er dabei, „daß ich von Pisa nach Paris reisen und meinen Weg über Turin und Lyon nehmen wollte, sandte er mir dies Schreiben für Dich, das ich Dir geben möchte, sobald ich Dich sehen würde. Hier hast Du es; ich habe meinen Auftrag erfüllt.“

Napoleon brach schweigend den Brief auf, blickte hinein und las. In seinen Mienen zeigte sich dabei eine Unruhe, die er nicht ganz unterdrücken konnte und welche Carlo Andrea sehr wohl bemerkte. „Er hofft! er hofft!“ rief er, indem er das Blatt sinken ließ. „Wir hoffen Alle auf eine neue Sonne, die der Menschheit aufgeht, doch man muß sich vor Illusionen hüten.“

„Du hast ihm einen Entwurf zu einer Geschichte Corsica’s gesandt, welche Du schreiben willst,“ sagte Carlo Andrea.

„Sie ist schon zum guten Theil vollendet,“ versetzte Napoleon, indem er nach dem Schreibpulte blickte und auf die angehäuften Bogen deutete. „Ich schrieb es ihm,“ fuhr er lebhaft fort, „daß ich sein reines Andenken vor der Verleumdung feiger Seelen retten, die Verräther am Vaterlands schonungslos brandmarken wollte. Ich will zeigen, wie wir gequält und mißhandelt, verrathen und entehrt wurden. Ich will damit den tugendhaften Minister, welcher Frankreich jetzt regiert, Herrn von Necker, für unser Schicksal interessiren, ihm meine Schrift übersenden, sobald ich sie vollendet habe.“

Der junge Advocat schwieg einige Augenblicke und erwiderte dann: „Necker wird kaum den Franzosen helfen können, noch weniger den Corsen, aber Paoli ist entzückt von Deinem Vorhaben und Deinem Briefe. Er setzt große Hoffnungen auf Dich.“

„Auf uns Beide also,“ erwiderte Napoleon, indem er den Freund ansah. „Denn er schreibt hier, daß er nichts sehnlicher wünsche, als uns zum Heile unseres Vaterlandes zu verbinden, da Zeiten kommen werden, wo Corsica seine besten Söhne brauche, und daß wir unsere geistigen Fähigkeiten vereinigen mögen, um einträchtig zu helfen.“

„Damit Corsica werde, was es war,“ antwortete Carlo Andrea, „damit die Republik und ihr Präsident zurückkehren.“

„Das ist nicht meine Meinung für unser Wohl!“ fiel Napoleon rasch ein. „Wir gehören jetzt zu Frankreich und müssen bei ihm bleiben. Wir wollen nicht wieder zu einem bedeutungslosen Staubkorn herabsinken, aber man soll uns gerecht werden. Wir wollen die Größe und das Glück des großen französischen Volkes theilen, wollen Franzosen sein, keine Colonie.“

Wie diese beiden jungen Männer schon als Knaben keine Viertelstunde beisammen sein konnten, ohne sich zu zanken, so geschah es auch jetzt, als sie sich nach Jahren kaum wieder gesehen hatten, trotz der eben vernommenen Ermahnung des verehrten Paoli, einig zu sein. Pozzo di Borgo wollte nichts von einem corsischen Franzosenthum wissen. Er zählte auf, mit welcher Gewalt und welchem Unrecht die Franzosen sich der Insel bemächtigt, wie sie die Corsen behandelt hätten und noch behandelten, und wie diese durch Sprache, Sitte und Abstammung von ihnen fremd und verschieden seien und zu Italien gehörten. Napoleon dagegen nahm sich eifrig der Franzosen an, bei denen die Corsen seit alten Zeiten Hülfe gegen die Tyrannei der Genuesen gefunden, und erwartete jetzt, wo die große Nation zu einem neuen freien Staatswesen sich eben Bahn brach, das Allerbeste auch für alle, die zu ihnen gehörten.

Bald befanden sich die beiden Landsleute in vollem Wortwechsel, und ihr Streit pflanzte sich weiter fort auf die Vorgänge in Paris. Der Lieutenant Bonaparte wurde dabei immer heftiger und absprechender in seinen Aeußerungen. Der junge Pozzo di Borgo vertheidigte die Grundsätze bürgerlicher Freiheit und Gleichheit, wie man dies von einem so entschiedenen Anhänger und Bewunderer des Präsidenten Paoli erwarten konnte, aber er that es mit vieler Mäßigung und der kaltblütigen Sicherheit und Schärfe, welche alle seine Urtheile auszeichnete. – Während der hitzige Napoleon bald in leidenschaftlichen Eifer gerieth, indem er seine Meinungen verfocht, dabei umherlief, seine Arme in die Luft warf, seine Lippen zucken und seine Augen rollen ließ, saß Carlo Andrea, ohne sich zu rühren, und betrachtete ihn mit verschränkten Armen.

„Nun, ich sehe wohl,“ sagte er endlich, „Du bist mehr Franzose geworden, als ich es erwartete, und bist ein besserer Royalist, als es nach den Briefen, welche Du an Deinen Bruder Joseph geschrieben, und nach den Grundsätzen, die Du dem Präsidenten Paoli für Deine Geschichte Corsica’s vorgetragen, anzunehmen war.“

„Was wollt ihr denn?“ rief Napoleon heftig, und durch sein gelbbleiches Gesicht schimmerte eine plötzliche Röthe. „Meint ihr besser zu sein als ich, ihr Anderen? Ich bin ein Corse von Geburt und werde es bleiben! Aber ich bin auch ein Bürger des großen Frankreichs, ein Bürger des mächtigsten europäischen Staates; das ist mehr werth, unendlich mehr, als Bürger einer ohnmächtigen, kleinen Republik zu sein, die jeden Augenblick die Beute eines stärkeren Nachbars, eines Abenteurers oder eines tyrannischen Herren werden kann. Ich bin ein Royalist, sagst Du? Ich verlange Gerechtigkeit, das Aufhören aller Vorzüge, aller Vorrechte. Ich will, daß das wahre Verdienst jeden Weg frei finde, daß jeder Bürger gleich sei vor dem Gesetz, mit gleichen Rechten, gleichen Ansprüchen, und ich hoffe, dahin soll es jetzt kommen. Die Nationalversammlung wird uns einen neuen Staat schaffen.“

„Nicht ohne eine Revolution,“ antwortete Pozzo di Borgo.

Bei diesen Worten warf Napoleon den Kopf auf, sah seinen Landsmann an und begann zu lachen. „Du gehörst also auch zu Denen,“ sagte er, „die Blut und Zerstörung prophezeien und nicht glauben wollen, daß die großen Ideen der Menschheit und der Aufklärung mächtiger sind, als die Vorurtheile der Privilegirten? Diese werden sich fügen müssen! Der König wird sich mit weisen Rathgebern umgeben müssen, der tugendhafte Necker wird in der Nationalversammlung Stützen und Gefährten finden, ihnen wird der König sich in die Arme werfen und nicht anders können. Der ganze Schwarm dieser nichtsnutzigen Hofleute und verstockten Sünder wird daran zerstäuben.“

„Ich weiß nicht,“ sagte Pozzo di Borgo, „ob Du Recht hast, mir scheint es jedoch, als würde der tugendhafte Necker eben so wohl nächstens fortgejagt werden, wie die Nationalversammlung, wenn nicht – “

Der Lieutenant fuhr heftig auf. „Genug, genug!“ rief er, „was sollen wir uns um solche Dinge streiten? wir haben uns oft genug gestritten. Aber, mein Freund, Du mußt mich begleiten, ich muß Dich mit Frau von Colombier bekannt machen, dort wirst Du Leute finden, die mit Vergnügen Deine Schreckbilder anhören werden.“

„Ich bin schon zu diesem Besuche eingeladen worden,“ erwiderte [212] Carlo Andrea, und er erzählte nun sein Zusammentreffen mit dem Lieutenant Demarris vor der Wache.

„Das ist ein Schwätzer,“ sagte Napoleon, „im Uebrigen aber mein anhänglicher lustiger Camerad; was er jedoch von Frau von Colombier erzählt, hat seine Richtigkeit. Die Dame besitzt Vermögen und wohnt dicht bei der Stadt. Sie ist gastfrei und liebenswürdig und versammelt einen Kreis der besten Leute um sich, die hier zu haben sind.“

„Du bist häufig dort?“

„Zuweilen, aber ich bin gern dort.“

„Hat Frau von Colombier Kinder?“ sagte Carlo Andrea nach einigen Augenblicken gleichgültig.

„Eine Tochter, ein junges Mädchen, kaum aus der Pension gekommen; doch nun erzähle mir, was Du weißt von meiner lieben Mutter, von meinem Onkel, von meinen Schwestern, Brüdern und Freunden. Ich brenne vor Verlangen, denn ich habe seit einiger Zeit schon keinen Brief von Ajaccio erhalten. Wahrscheinlich weißt Du also mehr von ihnen als ich.“

Die beiden Jugendfreunde tauschten nun aus, was sie wußten und Napoleon sprach mit Zärtlichkeit von seiner Mutter und seinen Geschwistern, von dem alten, haushälterischen Oheim, dem Archidiaconus Lucian, der ihm kein Geld schickte, und von den Parteien in Corsica und Ajaccio. Er sprach in abgerissenen Sätzen bald von dem Einen, bald von dem Anderen, mit launigen und spöttischen Bemerkungen oder auch wohl von heftigen Ausrufungen unterbrochen, die seine lebhaften Empfindungen ihm eingaben. Nach einiger Zeit sagte er dann: „Du willst also jetzt nach Ajaccio zurück, und was denkst Du dort zu thun?“

„Ich denke Processe zu führen und den großen Proceß abzuwarten, der auch bei uns gewonnen oder verloren werden muß“, antwortete Pozzo di Borgo.

„Der Proceß, wem die Zukunft gehören soll!“ rief Napoleon. „Welche Partei wirst Du nehmen?“

„Die des Rechts und der Vernunft!“

„Das ist die des Volks! – Welche Dummköpfe von Aristokraten hat man in die Nationalversammlung geschickt! Einen Buttafuoco, den schlechtesten Kerl, der aufzutreiben war –“ er fing an zu lachen, kreuzte seine Arme und blieb von Carlo Andrea stehen; „dieser Mensch ist reich und wir sind arm, das ist der Unterschied. Wenn man General ist, geht man mit dem Hof, wenn man Lieutenant ist, geht man mit dem Volke.“

„Wir gehören ja Beide auch zum Adel Corsica’s,“ erwiderte der junge Rechtsgelehrte, „und in dieser Zeit hält es nicht schwer, sich mit reichen Familien zu verbinden.“

„Wodurch?“ fragte Bonaparte rasch.

„Durch eine Heirath. Wir haben reiche Mädchen genug, die Töchter der Peraldi, der Peretti, der Ornamo und Andere.“

Napoleon blickte ihn scharf an, drehte sich dann auf den Hacken um, sah zum Fenster hinaus und kehrte zurück. „Wohlan denn!“ rief er in lustigem Tone, „man muß es überlegen. Mir scheint jedoch, wenn man heirathen will, um sein Glück zu machen, muß es eine einflußreiche Familie sein; keine, die in einem Winkel Corsica’s auf ihre Schafheerden und Oelgärten den größten Stolz setzt. Wir wollen zu Frau von Colombier gehen; Du wirst da von ihrem Vetter, dem General Noallis hören und von einem halben Dutzend anderer Herren und Damen, die bei Hofe erscheinen oder in hohen Diensten und Ehren stehen. Sie ist sogar mit dem Herrn von Bretenil bekannt und hat Briefe von ihm aufzuwiesen.“

Er lachte laut auf, warf seinen Rock ab und fuhr in die Uniform, welche er vom Bett aufraffte. „Wir müssen so sauber erscheinen, wie es jungen Aristokraten zukommt,“ fuhr er dabei fort, „damit wir gnädig empfangen werden, Demarris sich meiner nicht schämt und der Verdacht nicht weiter um sich greift, daß ich ein Bewunderer des verabscheuungswürdigen, ganz aus der Art geschlagenen Grafen Mirabeau bin. Ich werde mir daher die Stiefeln blank bürsten lassen, gleich bin ich wieder hier.“

Carlo Andrea stimmte ihm bei; als Napoleon aber das Zimmer verlassen hatte, stand er auf, trat an das Schreibpult und betrachtete ein Blatt, welches der Lieutenant beschrieben und dann mit anderen Papieren bedeckt hatte. Seine Augen blitzten spöttisch darauf. „An meine theuere Beatrice,“ murmelte er, „Verse sogar! – Das sind also die letzten Studien für die Geschichte Corsica’s und das seine Begeisterung für das Vaterland!“ Er legte das Blatt wieder hin und setzte sich gelassen auf den Stuhl, wo er geduldig wartete, bis Napoleon zurückkehrte.


(Fortsetzung folgt.)




Eine deutsche Bürgerstochter.

Innsbruck zeigt trotz seines alten Ursprunges eine sehr moderne Architektur; fast möchte man sagen, seinen Straßen und Häusern sei der Alles nivellirende Charakter der Büreaukratie, denn diese beherrscht den Platz, aufgedrückt. An Werken der Baukunst, wie sie den Wanderer in mancher kleinen Stadt aus dem Mittelalter anheimeln, wird es vom nahen Hall übertroffen, die größten geschichtlichen Erinnerungen Tyrols knüpfen sich weder an seinen Namen, noch an die der Obrigkeit gegenüber stets zahme und ergebene Einwohnerschaft; die schöne Natur liegt vor seinen Thoren, und der eingeborene Bürger kümmert sich um diese auch sehr wenig, es sei denn irgendwo ein Wirthhaus, wo man guten Wein trinkt, oder eine Bauernhütte, in welcher süße Maibutter mit Zimmt gewürzt aufgetragen wird. Darum möge mir der Leser in das Freie folgen; bald haben wir die staubigen Straßen hinter uns, zur Seite rauscht die Sill, das Korn wogt im Winde und der duftige Klee lockt die Bienen auf die Wiese. Schon stehen wir am Eingange der Schlucht, welche der Waldbach tief in den grauen Schiefer gegraben, feuchte Kühlung weht uns entgegen, Büchsenknall von der Höhe rechts erinnert uns, daß da droben der Schießstand des Berges Isel sei. Der Berg Isel! kaum ein Hügel gegen die Riesen im Hintergrunde und doch hell beleuchtet vom Glanze großer Thaten! Hier warfen die Schützen von 1809 den französischen Marschall in die Flucht, daß er ohnmächtig grollend seiner Siege an der Weichsel und des Herzogstitels von Danzig vergessen mußte. Jetzt ist es Frieden, tiefer Frieden, kein Tropfen Blut färbt den Abhang mehr, den die rothe Steinnelke schmückt, und statt des Kampfgetöses tönt der laute Schrei des Falken, der nebenan auf einer Klippe sein Nest hat.

Wir wenden uns links, ein kunstloser Pfad leitet durch das Gebüsch, aus welchem hie und da ein neugierige Meise oder ein Rothkehlchen guckt; bisweilen öffnet eine Lichtung dem Blicke das

[213]

Philippine Welser.

schöne Innthal, endlich zieht uns eine Gruppe mächtiger Tannen an. Wir treten auf einen offenen Platz, überall Kreuze und Inschriften, dort ein riesiges Crucifix, an dessen rothem Stamme menschliche Glieder, Kühe, Schafe und Pferde aus Wachs, wie sie die Andacht der Wallfahrer befestigte, hängen. Da war im vorigen Jahrhundert der Begräbnißplatz für die im Militärspitale verstorbenen Soldaten; man spricht von vielen Tausenden, welche, in Folge der schlechten Pflege zu Grunde gegangen, hier eingescharrt wurden. „Das war im vorigen Jahrhundert!“ sagte man noch vor Kurzem wohlgefällig, bis man im letzten Feldzug erfuhr, daß die österreichische Regierung auch hier noch die alte war und die verwundeten Krieger eben so barbarisch ihrem Schicksale überlassen hätte, wäre dieses nicht durch die Milde des Tyrolervolks abgewendet worden. Dieser traurige Platz war einst zu schöneren Dingen bestimmt; hierher zogen die artigen Cavaliere aus Schloß Amras, tummelten die Pferde und übten sich unter den Augen Philippine’s im Ringelstechen, nachdem die gefährlichen Kämpfe des Turniers längst aufgehört hatten. Dort erhebt sich das Schloß, ein ausgedehnter Bau im Style der Renaissance, die herrlichen Thiergärten ringsum sind verwildert, die Teiche, wo Schwäne schwammen, versumpft, in die kahlen Räume sind zwar wieder Bewohner eingezogen, die Musen jedoch, welche einst hier walteten, wurden nicht mehr eingeladen. Gleichviel! uns schwebt aus der Vergangenheit das Bild der holden Philippine Welser entgegen, umrankt von den schönsten Arabesken der Sage, denn das Volk bewahrte keine Erinnerung der diplomatischen Schachzüge von Fürsten, wohl aber weiß jedes Kind noch von der milden, herrlichen Frau zu erzählen. Dort stand sie auf dem Söller und blickte in [214] das Weite, vielleicht mitten in fürstlicher Pracht des väterlichen Bürgerhauses gedenkend. Es sagt ja ein Sprüchwort: „Eine Frau, welche über ihren Stand heirathet, muß jeden Winkel der Wohnung, in die sie einzieht, mit Thränen waschen.“ Hier am Thore theilt sie den Armen, welche sie überall aufsuchten, Almosen aus, wie sie ein Basrelief auf ihrem Grabe darstellt; dort auf dem Vorsprunge des Hügels saß sie unter den Bäumen und kredenzte dem Gatten den Becher; ihre Haut sei so zart gewesen, daß man, wenn sie trank, den rothen Tyrolerwein durch den Hals schimmern sah. Wer vermöchte ihren Reiz, ihre Anmuth zu schildern, welche selbst einen gelehrten Pedanten, wie den berühmten Doctor Roner, in einer lateinischen Rede zu dem Ausruf veranlaßte: „Wen rührt nicht ihre ausgezeichnete, bewunderswerthe Schönheit, wen entzückt nicht die edle, erhabene Gestalt, welche schon von fern die Fürstin verkündet? Wer sah nicht mit Wonne das holde Gesicht, worauf Majestät und sanfter Reiz der Liebe verschmolzen, das lebendige Feuer des Auges? Alle Vorzüge des Geistes und Körpers waren in ihr vereinigt.“ Darf man sich da wundern, wenn sie den jungen Kaisersohn bezauberte, wie früher die Badertochter Agnes Bernauer den Herzog von Baiern? Ihre Züge sind uns von Künstlern der verschiedensten Art überliefert worden. Das Portrait unserer Zeitschrift ist nach einem Gemälde, welches sich im Museum zu Innsbruck befindet.

Besuchen wir das Schloß. Die Kunstschätze, welche Ferdinand mit den Beiträgen der Tyroler Stände ankaufte und hier vereinigte, sind längst auf dem Inn und der Donau nach Wien geschifft; wer hätte nicht von Raphaels Madonna nel verde im Belvedere, dem Sarkophage des Phidias, den seltenen Waffen berühmter Helden, der kostbaren Gudrunhandschrift gehört? Vor einigen Jahren kam zwar die freudige Botschaft, Tyrol solle die ganze Sammlung zurück erhalten, bis jetzt wurde jedoch kein Stück nach Innsbruck geschickt, und man zweifelt bereits, ob es je geschehen werde. Was nicht nach Wien geschleppt wurde und an den Wänden des Rittersaales aufgehängt ist, verlohnt kaum einer langen Betrachtung.

Auf einigen Stufen abwärts gelangt man in eine kleine Kammer mit einer kupfernen Wanne. Hier pflegte Philippine zu baden. Man mag sich dabei gerne an jenes liebliche Gedicht Walters von der Vogelweide erinnern, der seine Gebieterin belauschte, wie sie in das Wasser stieg. Dem Volke gilt jedoch dieser enge Raum als eine verfluchte Stätte grauenvoller Missethat. Philippine war nämlich dem Adel, welcher, so lange die Ehe geheim blieb, der glänzenden Feste entbehren mußte und in Sorge stand, den Hof ganz zu verlieren, wenn Ferdinand keine standesmäßen Erben zeugte, sehr verhaßt, obwohl Bürger und Bauern sie anbeteten und für sie auf einen Wink durch das Feuer gegangen wären. Auch die Jesuiten, deren Messen sie nie besuchte, während ihr Gegner, der aus Fischart’s Schriften wohlbekannte Weihbischof Nasus, bei Hof Zutritt hatte und demselben predigte, waren ihr abgeneigt, um so mehr, da sie bei dem Bürgerkind von Augsburg Spuren lutherischer Ketzerei witterten und daher besorgen mußten, es könne durch sie ein Sprößling des Hauses Habsburg der alleinseligmachenden Kirche abspenstig werden. Nun heißt es, der Adel habe ihr durch einen bestochenen Arzt, ehe sie in das Bad ging, Opium reichen und dann die Adern aufschneiden lassen, so daß sie verblutete. Nach einer anderen Angabe wäre dieses im Auftrag des Papstes, vermuthlich unter Mitwirkung der Jesuiten, die man überall nur zu gern als Mitschuldige böser List nennt, geschehen. Beides ist jedoch völlig unwahr. Das Volk verdichtete nach dem Tode der edlen Frau den ohnmächtigen Haß von Adel und Jesuiten zur Frevelthat, die von Geschlecht zu Geschlecht überliefert wurde. Wer hätte auch gewagt, sich an ihr zu vergreifen? Das blieb erst Herrn Oscar von Redwitz vorbehalten, der sie in dem Thränenstrome seiner sentimentalen Poesie ertränkte. Er hatte jedoch schon einen Vorgänger an Schikaneder, welcher für Mozart das Textbuch der Zauberflöte schrieb und aus den Schicksalen Philippinens ein romantisches Schauspiel zurecht schnitt, in welchem unter dem größten Beifalle des Publicums Tyroler Bauern, Knappen, Ritter und Berggeister ihren Unfug trieben.

Suchen wir wieder das Licht. Dort öffnen sich die Thüren des Kellers, der Castellan Panzl bringt uns einige Flaschen Bier auf die Terrasse, da genießen wir zugleich die herrliche Aussicht in das Ober- und Unterland, bis der breite Fluß in der Ferne verschwindet, begleitet von den Ketten der Gebirge, links wild und felsig, rechts sanft schwellend mit üppigen Matten. Da und dort blickt auch ein Dorf aus den Bäumen, während Innsbruck von hier aus fast wie eine große prächtige Stadt aussieht und Hall mit seinem grauen Münzerthurm an den lustigen Herzog Siegmund erinnert, der dort beim Fackelschein sprang und tanzte. Da hört man gerne von der schönen Philippine erzählen; die Abendglocke wird zum Aufbruch mahnen, und auf dem Rückweg bewundern wir das Alpenglühen als die letzte Spur eines reinen, heiteren Tages.

Im Mittelalter leiteten die deutschen Geschlechter ihren Ursprung von Griechenland, Rom und Troja her, als ob sie sich der deutschen Urwälder schämten. So knüpfte auch die Familie der Welser ihren Stammbaum an den Namen des großen Gothenbezwingers Belisar, der vor dem Undank seines Gebieters in die Schluchten des Wallis fliehend dort ein neues Geschlecht gegründet haben soll, welches später nach Augsburg auswanderte und zu solcher Blüthe gedieh, daß Kaiser in seinem Hause wohnten und seine Flotten unter dem Befehle Dalsingers Venezuela eroberten, jedenfalls mehr als gegenwärtig der ganze deutsche Bund in Amerika zu leisten vermöchte.

Bei Frauen nach dem Geburtsjahr zu fragen, galt schon damals für eine Unart, wo dem Franz Welser von seinem Weibe Anna von Zinnenburg ein Töchterlein geboren wurde, das später in dem reichen Kranze deutscher Frauen einen ruhmvollen Platz einnehmen sollte. Kein Geschichtsschreiber weiß ihren Geburtstag anzugeben, und auch ihr Grabstein enthält gegen den gewöhnlichen Brauch keine Nachricht, als wäre es zum Zeichen, daß sie im Gedächtniß der Menschen ewig jung bleiben werde. Von ihrer Erziehung wissen wir nur, daß sie in jedem Sinne ausgezeichnet war; Musik übte sie sehr gerne, und auch die Noten des einfachen Liedes sind erhalten, das sie all den kunstvollen Tonverschlingungen, welche damals durch Niederländer und Italiener in Mode kamen, vorzog.

Sie mochte ungefähr das achtzehnte Jahr erreicht haben, als der große Reichstag nach dem schmalkaldischen Kriege eröffnet wurde. Am 20. October 1547 zog Karl der Fünfte, sein Bruder Ferdinand, der römische König, und dessen Sohn gleichen Namens in den Mauern der Reichsstadt ein, welcher unter dem Druck der Zeiten viel gelitten hatte. Ueber Liebesseufzer und Küsse wurden bis jetzt noch nie Urkunden mit Siegeln ausgefertigt, und so wissen wir auch nicht, wann der Herzensbund zwischen Ferdinand und Philippine geschlossen wurde. Im Besitz der Familie Welser befindet sich ein altes Oelgemälde, welches ihr Haus auf dem Heumarkt darstellt. Ferdinand reitet auf einem Schimmel vorüber und blickt grüßend zu Philippine empor, die von der Fensterbrüstung niederschaut. So mochte der erste Blick entscheiden; Gelegenheit sich zu sehen war bei den Festlichkeiten, welche jeden Congreß hoher Häupter begleiten, gewiß hinlänglich, da der Reichstag 8 Monate dauerte. Wir wissen nur soviel, daß Philippine auch dem Fürsten gegenüber genug weiblichen Stolz besaß, ihren vollen Besitz von der Ehe abhängig zu machen, ebenso daß er als deutscher Mann sie gerade deswegen für würdig hielt sein Weib zu werden. Ferdinand verdiente übrigens ihre Liebe; er war schön, groß und so stark, daß er zwei über einander gelegte Kronenthaler mit den Fingern zerbrach, einen zweispännigen Wagen im schnellsten Fahren aufhielt und eine Lanze von 28 Fuß weithin schleuderte. Ueberdies bestrahlte ihn der weiblichen Herzen so gefährliche Ruhm des Kriegers; er hatte in der Schlacht bei Mühlberg siegreich einen Flügel geführt. Was die Eigenschaften seines Geistes betrifft, so war er edel, mild und verständig. Daß er nich blos für die Interessen einer dynastischen Hauspolitik Sinn hatte, beweist die von ihm angelegte weltberühmte Amraser Sammlung. Ueberdies sah er Künstler und Gelehrte gern um sich, ja selbst als Dichter versuchte er die Schwingen, obwohl in keiner Literaturgeschichte sein Name erwähnt ist. Er mag manches glühende Lied an seine Philippine gesungen haben; uns blieb nichts erhalten, als ein moralisirendes Schauspiel, wo der überglückliche Ehemann an einer Stelle, die wir hier nicht mittheilen können und welche sich zweifelsohne auf Philippine bezieht, aus der Schule schwatzte.

Ueber den Fortgang des Verhältnisses ist ein Schleier gebreitet, den nur die Hand jenes Dichters, welcher uns Romeo und Julie schuf, lüften dürfte. Die Vermählung erfolgte heimlich am 24. April 1550 zu Innsbruck, und zwar, wie es scheint, nicht gegen den Willen von Philippinens Eltern, sodaß wir diese Geschichte mit keiner Entführungsscene ausschmücken können. Dies widerspräche auch dem reinen Charakter Philippinens, welche makellos in jedem Sinne gewiß nicht in eine Ehe getreten wäre, die [215] mit ihren kindlichen Pflichten in Widerspruch stand. Anders verhielt es sich mit Ferdinand, er hatte als Mann über sich selbst zu richten.

Die Habsburger waren stets stolz auf ihr Haus; so darf man sich nicht wundern, wenn der königliche Vater im ersten Grolle vom Sohne nichts mehr hören wollte, sodaß er ihm sechs Jahre nicht unter die Augen kam. Allein auch hier siegte Philippinens edle Weiblichkeit über das Standesvorurtheil und stellte das schöne echt menschliche Verhältniß wieder her, welches die Grundlage der Familie bildet und alle Glieder derselben innig zu einem Ganzen vereinigt. Sie mochte wohl oft einen Zug der Trauer im Gesicht des Gatten bemerken, den Schatten, welchen der Widerspruch des Lebens in seine Seele warf; sie wußte, daß der König zwar beleidigt war; sollte jedoch er, den man wegen seines Wohlwollens gegen alle pries, den Sinn des Vaters ganz abgelegt haben? Im Jahre 1558 befand er sich zu Prag. Sie reiste mit ihren Kindern hin und stellte sich, als er gerade Audienz gab, unter die Reihe der Bittenden. Vor die Stufen des Thrones hin knieend trug sie ihm unter falschem Namen ihr Schicksal vor und verklagte den Schwiegervater, der weder göttliches noch menschliches Recht achtend ihre Ehe nicht anerkennen wolle. Gerührt von ihrer Schönheit, ihren Bitten und den Thränen der Kinder erhob er sich vom Sitze und verhieß bei seinem kaiserlichen Wort, er werde Recht schaffen. Nun gab sie sich zu erkennen. Anfangs betroffen und fast unwillig, daß er so überrascht worden, mochte er doch sein Wort nicht zurücknehmen und reichte ihr versöhnt die Hand. Diese Scene hat jüngst ein braver Künstler, Malknecht aus Gröden, für das Museum zu Innsbruck in einem Gemälde dargestellt, dessen Vorzüge ihm den Beifall aller Kunstkenner erwarben. Den alten Fürsten sah man später, als er nach Innsbruck kam, im Saale der Hofburg mit seinen Enkeln scherzen. Ueber den Act der Versöhnung wurde 1561 eine Urkunde aufgenommen, in welcher Ferdinand und Philippine versprachen, ihre Ehe noch geheim zu halten und für die daraus erzeugten Kinder nicht die Rechte der Erzherzoge in Anspruch zu nehmen. Sie sollten einfach zum Taufnamen den Beisatz „von Oesterreich“ führen. Von den zwei Söhnen starb der eine ziemlich früh, der andere widmete sich dem Dienst der Kirche, erhielt vom Papste den Purpurhut und ist als Cardinal Andreas von Oesterreich bekannt. Wer da sehen will, wie sich Streusand auf den thauigen Rosen der Liebe ausnehme, für den setzen wir den Eingang jenes Schriftstückes her:

„Wir Ferdinand von Gottes Gnaden, Erzherzog zu Oesterreich, und Philippine, Seiner Durchlaucht demüthiges und unwürdiges Ehegemahl, bekennen hiermit, nachdem aus Schickung Gottes die Sache zwischen uns beiden dahin gerathen, daß wir uns für uns selbst, auch außerhalb Raths, Wissens und Willens derer, die wir billig ersuchen hätten sollen, in eheliche Verbindung durch einen Priester mit einander begeben, dadurch wir dann billig in der römischen kaiserlichen Majestät unseres gnädigen und liebsten Herrn und Vaters, sonderlich in Bedenkung, daß die Philippine Ehehochgenanntem, meinem gnädigsten und liebsten Herrn Ehegemahl an Stand und Würden bei weitem nicht gleich noch gemäß – schwere Ungnade und Zorn gefallen sind; und aber wie zur Milderung solcher Ungnade, auch daneben allerlei Unrath, so dieser Heirath halben in vielen Wegen entstehen möchte, zu verhüten, nicht allein Ihre kaiserliche Majestät um gnädigste väterliche Vergebung gebeten, sondern uns auch auf Ihre Majestät Begehren, doch freiwillig und ungedrungen und ungezwungen nachträglich sämmtliche Verpflichtung und Beschreibung gegen ihre Majestät aufrichten gewollt, so folgt.“

Von nun an lebten beide Gatten zu Innsbruck in Ruhe, und wie jene Frau die beste ist, von der man am wenigsten spricht, so darf man nicht an der Fortdauer des Glückes dieser Ehe zweifeln, bestätigten auch nicht andere Zeugnisse, daß Ferdinand seinen Schritt nie bereute und ihr stets mit gleicher Liebe zugethan blieb. Hier und da riefen ihn Staatsgeschäfte ab; so erwarb er sich gegen Halil Pascha, der mit türkischen Horden in Ungarn vorgedrungen war, neue Lorbeern.

Der Vater Ferdinands, welcher nach dem Tode Karls des Fünften den Titel eines römischen Kaisers angenommen hatte, starb 1564. Nun wurde die Ehe öffentlich anerkannt, Philippine zur Markgräfin von Burgau ernannt und stets als soche begrüßt. Ferdinand verleugnete auch die ihm keineswegs ebenbürtigen Verwandten seiner Frau nicht. Als ihr Neffe Boimund von Colowrat sich 1578 mit einem ihrer Hoffräulein vermählen wollte, richtete er dem Brautpaare eine glänzende Hochzeit ein, bei welcher Ritterspiele aufgeführt wurden, die den Adel von allen deutschen Gauen herbeizogen. Der Rennplatz vor der Hofburg zu Innsbruck hat noch die Erinnerung und den Namen davon behalten.

Aber kein Erdenglück ist beständig. Nach einer Verbindung von achtundzwanzig Jahren erkrankte Philippine, die Aerzte besorgten einen tödtlichen Ausgang und beriefen Ferdinand an ihr Bett. Wie sie gelebt, so starb sie, rein, edel und heilig. Der Hof war an ihrem Sterbelager versammelt, da verschob sich das Kleid an ihrem Arme, sie versuchte noch, es zu ordnen. Bald darauf begann sie schwer zu athmen, das letzte Wort, welches sie sprach, gehörte bereits der Ewigkeit: „Ich sehe den Himmel geöffnet und die Engel mir entgegen kommen.“ Als sie beerdigt wurde, strömte das Volk aus allen Thälern zusammen und betrauerte sie wie eine Mutter. – – – – – – – –

Der Abend ist angebrochen, schon lodern die Zinnen des Halljoches in heller Gluth; schlagen wir den Pfad neben dem See ein. Hie und da zittert das Schilf vom Flügelschlag eines Rohrhuhns, aus dem Korn fährt noch träumend eine Lerche empor, als brächte der Abendstern, der dort über der Martinswand funkelt, den Morgen, und laut dringt der Jodler eines Hirten durch die Luft, welcher bei seinem Diendl Fensterln will. Hier an der Biegung des Weges hemmen wir einen Augenblick den Schritt. Es erheben sich aus dem hohen Grase zwei Steine. Als Philippine zu Amras das erste Knäblein geboren hatte, setzte sich ein Page auf das schnellste Roß und sprengte im Galopp, um dem Erzherzog, welcher zufällig in Innsbruck war, die erste Kunde zu bringen. Er schlug dem Pferde die Sporen in die Weichen, es machte einen Sprung, dessen Weite eben diese zwei Steine andeuten, und brach todt zusammen, so daß er den Weg zu Fuß vollenden mußte. Blicken wir noch einmal zurück, ehe Amras auf seinem grünen Hügel in Nacht versinkt. Noch glüht ein Wölklein am Himmel und spiegelt aus den Fensterscheiben wieder, als sollten dieser Stätte nie die Rosen fehlen.

Wir haben Innsbruck erreicht, bereits brennen die Gasflammen. Laß uns in das ehrwürdige Dunkel jener Kirche treten. Zu beiden Seiten ihres Schiffes stehen zwischen rothen Marmorsäulen am Grabe des Kaisers Maximilian die ehernen Standbilder von Helden und Frauen der Vergangenheit, noch riesiger in der Dämmerung, und halten Wacht. Dort rechts die Treppe hinauf. Wir sind in einer kleinen Kapelle, welche das Volk von dem Reichthume des Altars die „silberne“ heißt. Auf einem Tragstein an der Wand kniet in betender Stellung ein geharnischter Ritter. Es ist die hohle Rüstung Ferdinands. Blicke zur Seite. Ein Grabmal im besten Style der Renaissance, das Meisterwerk des berühmten Collin aus Mecheln! Das Frauenbild, welches unter dem Marmorbogen auf dem Grabsteine ruht, ist Philippine. Ueber das weiße Antlitz zittert das Licht der ewigen Lampe und verklärt seine Züge zu neuem Leben. Ja, die Stätte ist geweiht und würdig, daß jedes deutsche Mädchen, welches durch die Alpen Tyrols wandert, sie besuche und als Vorbild echten weiblichen Wesens die Erinnerung an Philippine mitnehme.




Die philosophische Königin von Preußen.

Eine der wunderbarsten und merkwürdigsten Frauen auf dem Throne war die Gemahlin Friedrich des Ersten von Preußen, Sophie Charlotte, die philosophische Königin, wie sie von ihren Zeitgenossen schon genannt wurde. Sie war im Jahre 1668 am 20. October auf dem Schlosse Iburg im Hochstift Osnabrück geboren, das ihr Vater damals als protestantischer Fürstbischof verwaltete, da ihm erst später durch kaum gehoffte Erbschaft die herzogliche Würde von Hannover zufiel. In ihren Adern floß das Blut der Stuarts; denn ihre Mutter, die geistreiche Sophie von Hannover, war die Tochter des unglücklichen Böhmenkönigs Friedrich von der Pfalz und der schönen, hochbegabten Elisabeth von England, die ihr trauriges Geschick mit männlichem Muthe ertrug [216] und selbst in höchster Noth ihre fürstliche Würde bewahrte. Glücklicher war das Loos der nicht minder berühmten Enkeltochter, die unter der Leitung ihrer Mutter und einer trefflichen Hofmeisterin, der Frau von Harling, eine ausgezeichnete Erziehung erhielt. Am Hofe zu Hannover herrschte damals ein reges geistiges Leben, hauptsächlich gefördert durch die Herzogin Sophie. Leibnitz, der große Gelehrte, Philosoph und Weltmann, war ihr vertrauter Freund und Rathgeber, mit ihm besprach die hohe Frau die höchsten Geistesfragen, bei seiner Klugheit erholte sie sich Rath in den wichtigsten Familienangelegenheiten. In solcher Umgebung und unter solchen Eindrücken entfaltete Sophie Charlotte frühzeitig ihren regen Geist, der durch den besten Unterricht gepflegt und durch interessante Reisen erweitert wurde. Schon als zwölfjähriges Märchen sah sie Italien, das Land der classischen Bildung und der Künste, für die sie mit empfänglicher Seele sich begeisterte.

Zwei Jahre später lernte sie Paris und den Hof Ludwig des Vierzehnten kennen, der damals als das unerreichte Ideal höfisch feiner Sitte galt. Ludwig der Vierzehnte selbst war von der liebenswürdigen Erscheinung der kaum fünfzehnjährigen deutschen Prinzessin so entzückt, daß er ernstlich daran dachte, sie mit einem französischen Prinzen zu vermählen. Mutter und Tochter aber lehnten zum Glück diese lockende Verbindung ab, da Beide den damit nothwendig verbundenen Uebertritt zur katholischen Religion mit ihren echt protestantischen Grundsätzen nicht vereinbar fanden. Dagegen eröffnete sich für Sophie Charlotte eine andere, nicht minder glänzende Aussicht bei ihrer Rückkehr nach Hannover. Der damalige Kurprinz Friedrich von Brandenburg, der seine Gemahlin, eine geborene Prinzessin von Hessen-Kassel verloren hatte, hielt um die Hand der durch Geist und Schönheit gleich ausgezeichneten Fürstentochter an. Am 28. September 1684 geschah die Trauung zu Herrenhausen mit großer Feierlichkeit und unter Festlichkeiten, die dem prachtliebenden Sinne des hohen Bräutigams eine besondere Befriedigung gewährten, während Sophie Charlotte schon damals den eitlen Prunk der Höfe nach seinem richtigen Werthe würdigte. Durch Klugheit und Liebenswürdigkeit gewann sie das Herz ihres Schwiegervaters, des damals schon der Schwäche des Alters fast erliegenden großen Kurfürsten und seiner hochfahrenden zweiten Gemahlin, der herben, finstern Dorothee, mit der sie jedoch im besten Einvernehmen stand. Unter schwierigen Verhältnissen gelang es ihr, sich die Liebe und Achtung Aller und vornehmlich ihres Gatten zu erwerben, obwohl ihr Bildungsgang und ihre Lebensanschauung von den seinigen bedeutend abwich. Weit entfernt sich an dem Zwist und dem Treiben der Parteien zu betheiligen, oder in die Staatsgeschäfte einzugreifen, suchte und fand sie das wahre Glück in dem inneren Kreise einer ansprechenden Häuslichkeit, in der Gesellschaft gleichgesinnter Freunde und Freundinnen, wo zwanglose Gespräche mit musikalischen Genüssen abwechselten und jede lästige Etiquette verbannt war. Auch nicht Hoffähige fanden hier Zutritt, wenn sie sich durch Geist auszeichneten, welcher der erst siebzehnjährigen Fürstin höher galt, als der Adelsbrief ungeschlachter Junker.

Als regierende Kurfürstin änderte sie nichts in ihrer gewohnten Lebensweise; sie zog es vor in ländlicher Abgeschiedenheit mit ihrem Hofstaate zu leben, der meist aus den geistreichsten Herren und Damen zusammengesetzt war. Zu diesem Zwecke erkaufte sie das Dorf Lützow, zwischen Berlin und Spandau an der Spree gelegen. Die Großmuth des Kurfürsten setzte sie in den Stand, daselbst nach dem Plane des berühmten Schlüter ein Schloß im italienischen Geschmacke zu bauen, das erst nach ihrem Tode zu ihrem Andenken den Namen Charlottenburg erhielt. Die ganze Einrichtung zeigte von einem wahrhaft gediegenen Geschmack; ein Zimmer enthielt kostbares chinesisches und japanisches Porzellan, wie es die Mode der Zeit forderte, in einem anderen waren die Leuchter, ein kleiner Kaffeetisch, ein dazu gehöriges Service und selbst die Roste des Kamins von gediegenem Golde, ein kostbares Geschenk des hohen Gemahls. Die schönste Zierde des Schlosses bildeten aber die nach den Rissen des berühmten Lenôtre ausgeführten Gartenanlagen, ausgestattet mit schönen Orangebäumen, seltenen Blumen, Vasen und Statuen. Hier wandelte sie an der Seite des berühmten Leibnitz, der von Hannover öfters sie besuchte, im eifrigen Gespräche, voll Wissensdurst die höchsten Fragen der Menschheit mit ihm verhandelnd. Ihr Forschungstrieb hatte keine Grenze, so daß der große Philosoph ihr einst lächelnd sagte: „Es ist gar nicht möglich Sie zufrieden zu stellen, Sie wollen das Warum des Warum wissen.“ Hier entwarf sie mit ihm den Plan zur Gründung jener Berliner Akademie der Wissenschaften, welche den Grund zu der geistigen Größe des preußischen Staates legte und deren erster Präsident Leibnitz wurde, von dem Friedrich der Große urtheilt, daß er allein eine ganze Akademie vorstelle.

Hier in Lützelburg empfing sie den berühmten englischen Dichter und Freidenker Toland, mit dem sie in Gegenwart mehrerer Theologen über die Grundwahrheiten der christlichen Religion ebenso tief, als geistreich sprach. Den bedeutenden Eindruck, den sie auf ihn machte, schilderte der Reisende in seinem Bericht über seinen Aufenthalt am preußischen Hofe folgendermaßen: „Sophie Charlotte ist die schönste Prinzessin ihrer Zeit und sie steht keinem Menschen nach an richtigem Verstand, zierlichen und wohlgesetzten Worten und an Annehmlichkeit in der Unterhaltung und im Umgang. Sie hat überaus viel gelesen und kann mit allerhand Leuten von allerhand Gegenständen reden. Man bewundert eben so wohl ihren scharfen und gewandten Geist, als ihre gründliche Wissenschaft, die sie in den schwersten Stücken der Philosophie erlangt hat. Ja, ich muß frei und ohne die geringste Schmeichelei bekennen, daß ich in meinem ganzen Leben Niemand gehört habe, der geschicktere Einwürfe hätte machen oder die Unzulänglichkeit und Sophisterei vorgebrachter Schlüsse und Argumente entdecken, die Schwäche oder Stärke einer Meinung leichter durchdringen können als sie. Sie sieht es gerne, wenn Fremde ihr aufwarten und von allem, was in ihrem Lande merkwürdig ist, Unterricht geben. Ja, sie hat eine so genaue und rechte Erkenntniß von den Regierungen, daß man sie in ganz Deutschland nur zu nennen pfleget die republikanische Königin, oder die es nicht mit der absoluten unumschränkten Monarchie hält. Alles was lebhaft und gebildet ist, kommt an ihren Hof, und man sieht da zwei Dinge, die die Welt sonst für einander ganz zuwider hält, in vollkommener Einigkeit beisammen, die Studien und die Lustbarkeiten. Für ihre Person ist sie eben nicht sehr groß und schmächtig, vielmehr etwas stark von Körper, ihre ganze Bildung sehr regelmäßig und ihr Teint sehr weiß und lebhaft, sie hat blaue Augen und kohlschwarze Haare; sie hat sehr gerne schöne Damen um sich, wie denn ihr ganzes Frauenzimmer davon voll ist.“

Von derselben Toleranz wie ihr berühmter Freund Leibnitz beseelt, beschäftigte auch sie vielfach der damals öfters auftauchende Gedanke, eine Einigung der getrennten und sich feindlich gegenüber stehenden Glaubensbekenntnisse herbeizuführen. In diesem Sinne veranlaßte sie den geistvollen und weltklugen Jesuiten Vota, den Beichtvater des Königs von Polen, zu einer Zusammenkunft und Disputation über theologische Gegenstände mit ihren französischen Hofpredigern Beausobre und Lefant. Sie selbst nahm den lebhaftesten Antheil an diesem Streite, der wie gewöhnlich damit endigte, daß kein Gegner den andern überzeugte und jeder sich den Sieg zuschrieb. Sie selbst stand über beiden Parteien und mäßigte mehr als einmal den Eifer der Kämpfenden, der in Bitterkeit ausartete, durch ihr feines, taktvolles Benehmen, so daß ihr von katholischer, wie von protestantischer Seite das höchste Lob gezollt wurde. Der gewandte Jesuit entschuldigte in einem Briefe an sie seine Heftigkeit, indem er jedoch seine Gegner anklagte und von Neuem herausforderte. Sophie Charlotte theilte den Brief ihren beiden Theologen mit, um ihn zu widerlegen; wobei sie selbst den Anfang und den Schluß der weitläufigen Antwort verfaßte, welche der schon genannte Toland nach ihrem Tode unter dem Titel: „A letter against popery“ in englischer Uebersetzung herausgab.

Trotz dieser philosophischen Richtung und innigen Betheiligung an den großen Fragen ihrer oder vielmehr aller Zeiten bewahrte sich Sophie Charlotte den ihr angeborenen heiteren Sinn und eine frische Lebenslust. Neben den ernsten Wissenschaften pflegte sie die heitere Kunst; sie liebte vor Allem die Musik. Mit Anmuth und Fertigkeit spielte und sang sie Werke der ersten Meister; ihre musikalische Bibliothek wurde eine Tonne Goldes werth geschätzt. Ein Clavier, welches ihre Cousine, die originelle Herzogin von Orleans, ihr aus Paris zum Geschenk gesandt hatte, wurde noch lange als eine werthvolle Reliquie bewahrt. Sie hatte ihre eigene Capelle unter der Leitung des berühmten Virtuosen Attilio Ariosti und componirte selbst ausgezeichnet. Der berühmte Händel kam 1698, damals fünfzehn Jahr alt, nach Berlin und an den Hof, wo sie zuerst sein Talent erkannte und ihn auch dauernd zu fesseln suchte. Auch dem Theater widmete sie ihre Neigung und stete Aufmerksamkeit zu. Auf ihrem Schlosse zu Lützelburg ließ sie eine Bühne [217] einrichten, auf der sie große Opern und die besten französischen Werke zur Aufführung brachte. Oft sah man sie mitten im Orchester am Clavier sitzen und mitwirken. Ihr Beispiel weckte den Geschmack an der Kunst und trug wesentlich zur Bildung und Veredlung des ganzen Hofes und der Residenz bei. Der Kurfürst selbst ließ über dem Reithause in der breiten Straße ein Theater bauen, ebenso gründete der Oberbürgermeister von Berlin von Hessig in seinem Hause in der Königsstraße eine kleine Opernbühne; alle jüngeren Personen am Hofe waren musikalisch, und selbst die Herzogin von Kurland und die nächsten Verwandten des Kurfürsten verschmähten nicht, neben den fremden Künstlern in der Oper: „i trionfi del Parnasso“ zur Einweihung der neuen Schloßbühne aufzutreten.

Natürlich fehlte es nicht an Widerspruch gegen dieses ungewohnte Treiben, besonders von Seiten der zelotischen Geistlichkeit, der die ganze Richtung und die weltlichen Lustbarkeiten des Hofes als ein Gräuel erschienen. Als die Kurfürstin am zweiten Pfingstfeiertage eine Opernvorstellung in Lützelburg geben wollte, worin einige junge Edelleute und Fräulein mitwirken sollten, eiferte der Hofprediger Cochius von der Kanzel herab gegen dieses Vorhaben mit unduldsamer Rede. Nicht durch Trotz, sondern durch Liebenswürdigkeit hoffte sie den strengen Mann zu überwinden, indem sie seine Frau und Tochter freundlich zu der Vorstellung einladen ließ, mit dem Bemerken, diese würden ihm am besten dann bezeugen können, daß daselbst nichts Böses vorginge. Trotzdem unterblieb die Vorstellung, und die Bühne mußte auf Befehl des Kurfürsten abgebrochen werden, da dieser der Stimme seiner Geistlichkeit diese Rücksicht schuldig zu sein glaubte. Dennoch siegte zuletzt die hohe Frau durch ihr kluges Benehmen, und als in der Folge der berühmte Spener die Schauspiele als dem Christenthum entgegen untersagt wissen wollte, erzielte er blos, daß die Aufführung wirklich anstößiger Stücke verboten wurde.

So war und blieb Sophie Charlotte der geistige Mittelpunkt der feinsten, ungezwungensten Geselligkeit, um sie sammelten sich die besten und edelsten Männer und Frauen der damaligen Zeit. Sie besaß das Talent, die hervorragendsten Geister anzuziehen und auch dauernd zu fesseln. Wie Leibnitz ihr vertrautester Freund, so war Fräulein von Pöllnitz ihre beste Freundin. Sie war eine der sechs Kammerfräulein der Kurfürstin, ausgezeichnet durch Geist und Schönheit wie ihre Herrin, dieser ähnlich durch jugendlichen Sinn und muntere Neigung, empfänglich für Freundschaft und von grenzenloser Ergebenheit. Sie hatte eine lebhafte Einbildungskraft, raschen Witz und ein so reiches Wissen, wie man es bei Frauen nur selten findet und ihnen kaum gestatten will. Dabei besaß sie die Gabe des Anordnens und Erfindens, und durch ihre Leitung und Fürsorge gewannen die Vergnügungen und der tägliche Lebenslauf in Lützelburg einen großen Theil des Reizes und der Annehmlichkeit, wodurch sie sich auszeichneten. Wie innig das Verhältniß beider Frauen war, bezeugt am besten ihr Briefwechsel, aus dem folgende Zeilen ihre gegenseitige Stellung und ihren innern Werth abmessen lassen: „Meine theure Pöllnitz! Sie haben mich vollständig besiegt, denn ich bin nicht im Stande, Ihre Liebenswürdigkeiten zu erwidern, und ziehe es deshalb vor, daß Sie eher an meiner Freundschaft zweifeln mögen. – Ihre Mutter benachrichtigte mich, daß Sie in acht Tagen wieder ausgehen können. Mir schlägt mein Herz vor Freude, ich empfinde das Vergnügen im Voraus. Jetzt kann ich nicht über die Dummheiten lachen, die um mich vorgehen: mit Wem? – Gewisse Philosophen verabscheuen das Leere, und ich, theure Pöllnitz, das Volle. Gestern sah ich an meinem Hofe zwei Damen, dick bis zu den Zähnen, langweilig bis zum Scheitel und dumm bis zu den Zehen. Glauben Sie, meine Theuere, daß Gott, indem er solche Creaturen schuf, sie nach seinem Ebenbilde geformt hat? – Nein, er machte für sie eine besondere und ganz verschiedene Form, um uns den Werth der Schönheit und Grazie durch die Vergleichung erkennen zu lassen. Wenn Sie das boshaft finden, so weiß ich, an wen ich mich adressire. Gleich und Gleich gesellt sich gern. – Da einmal mein Geist im boshaften Zuge ist, so will ich auch so fortfahren. Ich sah auch hier zwei fremde Jammergestalten. Wenn Gold, Stickereien und Orden das Verdienst bezeichneten, so würde keines dem ihrigen gleichkommen. Aber da ich wenig Respect vor solchem Reichthum habe, so weiß ich ihren wahren Werth zu schätzen. Ich begreife es, daß der Anblick der Großen einschüchtern und dem Geiste die Fähigkeit rauben kann, sich zu zeigen und zu glänzen; dann halte ich es für meine Pflicht aufzumuntern. Wenn aber die Dummheit sich breit macht und die Anmaßung, mit Thorheit verbunden, die Rücksicht für sich beansprucht, die wir allein dem wahren Talente schuldig sind, dann bin ich ohne Erbarmen und schonungslos. Wie schätzenswerth ist das Mißtrauen unseres eigenen Werthes, aber diese Tugend ist selten! Glauben wir nicht immer, einige Karate mehr zu wiegen als die anderen Menschen? Wie erbärmlich ist die Eitelkeit, und doch ist dieses Gefühl unser treuster Begleiter. Großer Leibnitz! Was für schöne Dinge hast Du darüber gesagt! Du entzückst, überzeugst, aber besserst Keinen. – Ich bin im Zuge zu moralisiren, doch das Concert beginnt; ein neuer Sänger wird singen, und ein großer Ruf geht ihm voran. Wenn er ihm entspricht, wie angenehm werde ich meine Zeit verbringen! Adieu, Adieu, die Musik erwartet mich, und ich muß die Freundschaft dem Talente opfern. Nochmals Adieu und diesmal ohne Widerruf.“

Außer dem Fräulein von Pöllnitz gehörten die Hofdamen von Bülow, von dem Bussche und Seesfeld, der Oberhofmeister Eusebius von Brand und Bülow, die Kammerherren von der Marwitz und Graf Otto von Schwerin, der Chevalier François de Jaucourt, Seigneur de Villarneul, ein alter Junggeselle voll Originalität, und der Legationsrath Isaak von Larrey, der eine Geschichte der „Eleonore von Guyenne“ schrieb, zu der vertrauten Umgebung der Kurfürstin. Mit ihnen überließ sie sich einer heiteren Geselligkeit; Theatervorstellungen, Opern und Schauspiel wechselten mit Bällen und Festen ab, die stets das Gepräge eines geistigen Vergnügens trugen. Besonders beliebt waren die sogenannten „Wirthschaften“, Maskenscherze, welche durch die Verse des Dichters Canitz und des Oberceremonienmeisters Besser verherrlicht wurden. Wir besitzen die Schilderung eines derartigen Maskenfestes von der Feder des berühmten Leibnitz. Das Lützelburger Schloß stellte einen Jahrmarkt mit Buden vor, belebt von dem buntesten Maskengewühl. Die Rollen wurden durch das Loos vertheilt; die Kurfürstin selbst erschien als Quacksalberin an der Seite des Geheimrath von Osten, der den Charlatan übernahm. Seine Gehülfen waren der Markgraf Albert und der Graf von Solms. Der damals zwölfjährige Kurprinz stellte einen Taschenspieler vor und erntete großes Lob für seine Geschicklichkeit. Die Fürstin von Hohenzollern wahrsagte als Zigeunerin dem in seiner Loge anwesenden Kurfürsten und den hohen Herrschaften. An Sophie Charlotte richtete sie die folgenden Verse:

Wofern mir meine Kunst recht kund,
Zeigt dieser Strich, der so zertheilet:
Daß sie viel Tausend zwar verwundt,
Allein noch Keinen hat geheilet.

Der sächsische Gesandte, Herr von Flemming, rief auf gut pommersch:

„Vivat Friedrich und Charlott’!
Wer’s nicht recht meint, ist ein Hundsfott!“

Das Fest dauerte bis spät in die Nacht, was Leibnitz zu den Worten veranlaßt: „Je fais ici une vie, que madame l’électrice appelle après moi „ein liederlich Leben.“ – Ueber diese Zerstreuungen vergaß indeß die Kurfürstin nicht ihre ernsten Pflichten. Vorzugsweise beschäftigte sie die Erziehung ihres Sohnes, des nachmaligen Königs Friedrich Wilhelm I. , dessen wilde, trotzige Natur ihr vielen Kummer bereitete. Schon als Kind zeigte er die deutlichen Spuren eines unbändigen Charakters. Als ihn eines Tages seine Gouvernante züchtigen wollte, kletterte er auf die Fensterbrüstung und drohte sich hinabzustürzen, wenn ihm die zugedachte Strafe nicht erlassen würde. Im Gegensatz zu seinem prachtliebenden Vater verrieth er schon frühzeitig einen hohen Grad von Einfachheit, indem er einen goldstoffenen Schlafrock in das flammende Kaminfeuer warf. Seine Sparsamkeit grenzte fast an Geiz, und statt nach dem Wunsche seiner geistreichen Mutter sich mit den Wissenschaften zu beschäftigen, zeigte er nur eine auffallende Neigung für den Soldatenstand und für das rohe Lagerleben. Ohne die sich in solchem Thun äußernde Kraft zu verkennen, bemühte sie sich, durch die Wahl ausgezeichneter Erzieher und durch mütterliches Zureden auf ihn einzuwirken und seine rauhen Ecken abzuschleifen.

Nicht minder war sie bedacht, auch da den Wünschen ihres Gemahls nachzuleben, wo sie seinen Ehrgeiz und seinen Hang für äußerliche Größe nicht theilte. Schon lange ging der Kurfürst mit dem großen Gedanken um, seinem Hause die Königswürde zu verschaffen; [218] schaffen; er bedurfte zu diesem Zwecke nicht nur die Einwilligung des deutschen Kaisers, sondern auch der übrigen Fürsten. Bereitwillig ging Sophie Charlotte auf seine Wünsche ein und übernahm, obwohl sie sich sonst von allen Staatsgeschäften fern hielt, die oft schwierige Unterhandlung. Im Verein mit ihrer Mutter reiste sie in dieser Absicht zunächst nach Brüssel, wo es ihr gelang, den Kurfürsten von Baiern für die hochstrebenden Pläne ihres Gatten durch Liebenswürdigkeit zu gewinnen. Von hier begaben sie sich nach Holland, um die Zustimmung der einflußreichen Seemächte zu erlangen. Bei allen diesen Gelegenheiten zeichnete sich Sophie Charlotte durch die entschiedenste Ueberlegenheit ihres Geistes und durch die Klugheit ihres Benehmens aus, so daß ihre Bemühungen von dem besten Erfolge gekrönt wurden. Trotz dieser politischen Unterhandlungen behielt sie noch immer Zeit und Lust, ihren wissenschaftlichen Neigungen zu folgen. Kaum im Haag angekommen, wo der berühmte Kritiker Peter Bayle verweilte, schickte sie noch am späten Abend zu demselben, um seine belehrenden Gespräche zu genießen. Schon im Bette liegend und von Kopfschmerzen gequält, mußte er die ihm zugedachte Ehre ablehnen. Erst später erschien er in Gesellschaft des nicht minder ausgezeichneten Basnage vor der Kurfürstin, welche beide Gelehrte mit der größten Achtung aufnahm. Die mit Bayle gepflogene Unterhaltung, welche sie Leibnitz mittheilte, gab diesem die Veranlassung, seine berühmte „Theodicee“ zu schreiben. Zu gleicher Zeit verdankte ihr somit Preußen eine Königskrone und die Welt ein philosophisches Werk von der höchsten Bedeutung.

Mit unermeßlichem Aufwande und nie gesehener Pracht fand in Königsberg am 18. Januar 1701 die feierliche Krönung des Königspaares statt, wobei Sophie Charlotte ihren auf Etiquette besonders achtenden Gemahl nicht wenig dadurch verletzte, daß sie während der langweiligen Ceremonie eine Prise aus ihrer vom Czar Peter geschenkten goldenen Dose nahm, als sie sich einen Augenblick unbemerkt glaubte. Fast erlag sie unter der Last ihrer Würde und der darauf folgenden Festlichkeiten. In jenen Tagen schrieb sie an Leibnitz folgende charakteristische Zeilen: „Glauben Sie nicht, daß ich all den Glanz und diese Krone, von der man so viel Aufhebens macht, dem Vergnügen vorziehe, das mir unsere philosophischen Unterhaltungen in Lützelburg gewähren.“

Auch als Königin bewahrte sie sich den freien Sinn, mit dem sie auf die irdische Größe von ihrer geistigen Höhe niederschaute. „Letzthin,“ sagte sie ironisch in einem Briefe an ihre Freundin, „hat mich Leibnitz von dem unendlich Kleinen (seine Theorie der Monaden) unterhalten. Wer kennt diese kleinen Wesen besser als ich?“ –

Während sie aber mit Nichtachtung auf das kleinliche Treiben des Hofes blickte, schlug ihr Herz für das große Ganze, für das Wohlergehn des Volkes. Schon als Kurfürstin hatte sie den ihr zugehörigen Garten, der jetzt den Namen „Monbijou“ führt, mit dem daran grenzenden Vorwerk und einer bedeutenden Meierei den Berliner Bürgern gegen einen geringen Grundzins oder auch ganz umsonst überlassen, indem sie mit dieser Schenkung das Glück und den Wohlstand unzähliger Familien begründete. Theilnehmend sprach sie mit den geringsten Leuten und half ihnen, wo sie konnte. Die Liebe zu ihrem Volke wurde von diesem reichlich vergolten, und noch heute bewahrt die Köpniker Kirche eine reich gestickte Fahne, die ihr die Berliner Bürgerschaft zum Geschenk gemacht.

Um so tiefer und schmerzlicher war der Eindruck, den ihr unerwarteter Tod hervorrief. Sie starb, erst sechsunddreißig Jahre alt, am ersten Februar 1705 auf einer Reise nach Hannover an den Folgen einer vernachlässigten Halsentzündung. Bis zum letzten Augenblicke bewahrte sie jene philosophische Ruhe und Erhabenheit, die ihr Leben auszeichneten. Auf dem Sterbelager tröstete sie ihren jüngern Bruder, der verzweifeln wollte, mit den Worten: „Der Tod schreckt mich nicht, schon allzulange betrachte ich ihn als unvermeidlich.“ Den französischen Hofprediger La Bergerie, der ihr in den letzten Stunden beistand, begrüßte sie lächelnd: „Man erkennt seine Freunde in der Noth. Sie kommen mir Ihre Dienste anzubieten in einer Zeit, wo ich nicht mehr im Stande bin, etwas für Sie zu thun; ich danke Ihnen dafür.“ – Als er darauf einige tröstliche Worte an sie richtete, erwiderte sie ihm: „Ich habe seit zwanzig Jahren der Religion ein ernstliches Studium gewidmet, und mit Aufmerksamkeit die Bücher gelesen, die davon handeln; mir ist kein Zweifel übrig. Sie können mir nichts sagen, was mir nicht bekannt wäre; ich kann Ihnen versichern, daß ich ruhig sterbe.“ -In einem zärtlichen Briefe nahm sie von ihrem Gatten Abschied; worauf sie, vielleicht an seine Prachtliebe denkend, sich an ihre anwesende Freundin, Fräulein von Pöllnitz, mit den Worten wendete: „Ach, wie viele unnütze Ceremonien wird man für diesen Körper anstellen!“ Als sie diese in Thränen zerfließen sah, fuhr sie fort: „Was weinen Sie? Dachten Sie denn, ich sei unsterblich?“

Der König fiel, als er die Nachricht von ihrem Tode erhielt, in Ohnmacht; es mußte ihm eine Ader geöffnet werden. Er war tief gebeugt durch ihren Verlust, nicht minder ihre untröstliche Mutter, und der große Leibnitz, der sie in seinem Trostbriefe an Fräulein von Pöllnitz „die vollendetste Fürstin der Welt“ nannte. Alle Höfe legten tiefe Trauer um sie an, am meisten aber wurde sie von ihrem eigenen Volke beweint. – Friedrich der Große, ihr auch im Geiste verwandter Enkelsohn spricht das Urtheil der Mit- und Nachwelt über die herrliche Frau in folgenden Worten aus: „Sophie Charlotte hatte eine starke Seele. Ihre Religion war geläutert, ihre Gemüthsart sanft, ihr Geist geschmückt durch das Lesen aller guten französischen und italienischen Bücher.“

Sie starb zu Hannover im Schooß ihrer Familie. Man wollte einen reformirten Geistlichen bei ihr einführen. Sie sagte ihm: „Lassen Sie mich sterben, ohne daß wir uns streiten.“ – Eine ihrer Damen, die sie sehr liebte, zerfloß in Thränen. „Beklagen Sie mich nicht,“ sagte sie zu dieser, „denn ich gehe jetzt, meine Neugier befriedigen über die Urgründe der Dinge, die mir Leibnitz nie hat erklären können, über den Raum, das Unendliche, das Sein und das Nichts, und dem Könige, meinem Gemahl, bereite ich das Schauspiel eines Leichenbegängnisses, welches ihm neue Gelegenheit giebt, seine Pracht darzuthun.“ – Sie empfahl sterbend ihrem Bruder dem Kurfürsten die Gelehrten, welche sie begünstigt hatte. –

Sophie Charlotte verdiente im Leben wie im Tode den Namen der „philosophischen Königin“. –
Max Ring. 




Spaziergänge durch das heutige Rom und durch die Campagna.

„Hotel de la Minerve!“ sagte ich zu meinem schweigenden Kutscher, der mich auf dem Bahnhofe in Empfang nahm, und bald hielt der Wagen auf einem ziemlich großen Platze Rom’s, in dessen Mitte ein Elephant eine Pyramide auf seinem Rücken trug, vor einem erleuchteten Hause, über dessen Thore ich in glänzenden Metallbuchstaben den Namen des Gasthofs las. Ich war ja zum ersten Male in Rom, in der märchenhaften Siebenhügelstadt des Romulus und des Numa, in der Stadt der Gracchen, in der Hauptstadt der Erde, in deren Tempeln und Palästen lorbeergekrönte Imperatoren die Schätze Griechenland’s, Afrika’s und des Orients aufhäuften, in dem modernen Rom, wo sich der Titanengeist Michael Angelo’s und Raphael’s unsterblicher Genius ewige Denkmale von wunderbarer Schönheit geschaffen haben, in der tausendjährigen Residenz des Hohenpriesters der christlichen Kirche, aus der er ein Jahrtausend lang vermittelst des Bannfluchs und der Knechtung des Gedankens die Welt beherrscht hat. Welche Erinnerungen! Rasch ließ ich mir einen Lohndiener geben, um mich noch eine Stunde in der Stadt spazieren zu führen.

Wie war Alles still und öde in den Straßen! Ich kam über Plätze, auf denen Obelisken standen und Wasserstrahlen aus dem Munde von Tritonen rauschten, welche von Delphinen getragen wurden. Die Obelisken standen einst in den sonnendurchglühten Ebenen des Nilthals; die Brunnen waren Meisterwerke Bernini’s, des großen Baumeisters und Bildhauers zweier mächtiger Päpste. Todesstille Einsamkeit lagerte über den Obelisken und Tritonen, ich hörte die Millionen Tropfen, welche auf der Spitze der im Mondlicht glänzenden Strahlen in die Höhe flogen, in silberne Funken zerstieben und auf dem Spiegel der Wasser rauschten, in deren glänzendem Grunde sich Tritonen und Delphinen zunickten. Tropfen nach Tropfen hörte ich fallen; so [219] gespenstisch still war es. Und es war doch noch nicht zehn Uhr in der Hauptstadt der Welt!

Nun passirte ich den Corso, die reichste Pulsader römischen Lebens. Hellbeleuchtet im Mondlicht lag die Straße in ihrer ganzen Länge vom venetianischen Platze bis zu der Piazza del Popolo vor mir. Die reichste und belebteste Straße Roms glich der Straße einer ausgestorbenen Stadt. Alle Läden und Verkaufslocale waren geschlossen, alle Häuser waren dunkel, nur hie und da blickte ein matterleuchtetes Fensterauge aus einem der oberen Stockwerke in diese Einsamkeit hinab. Dann und wann warfen die Laternen ihre Streiflichter auf die rothen Hosen einiger französischen Soldaten, welche Arm in Arm, ein Liedchen aus dem Faubourg St. Marceau summend, nach ihrer Caserne schwankten, oder ein Schatten glitt an der Häuserreihe entlang, eilig, ängstlich, als wenn das unheimliche Gespenst der Einsamkeit hinter ihm herschliche und ihn nach befreundeten Menschen zu Hause triebe. Ich blickte in eine Querstraße. Am Ende derselben stieg eine hohe, imposante Treppe in drei verschiedenen Stufenabtheilungen in die Höhe. Auf einer der Stufenabtheilungen erhob sich ein Obelisk, an den sich eine französische Schildwache lehnte. Oben war die Treppe von einer Kirche gekrönt, an welche sich ein langes Klostergebäude anschloß. Die imposante Treppe war die berühmte spanische Treppe, welche nach dem ihr gegenüber liegenden Palaste der Königin von Spanien ihren Namen führt. Die Straße, welche zu der Treppe führte, war vollkommen dunkel und einsam; sogar die Mönche und die Bettlergestalten, diese nothwendige Staffage jedes Winkels im modernen Rom, waren aus der Straße verschwunden. Nur zwei Thüren waren offen in der ganzen Straße. Durch sie blickte ich in die noch erleuchteten Zimmer zweier Kaffeehäuser, welche zu den ersten Roms gehörten.

Das Innere der Cafés war ärmlich und schmutzig; mehrere schmale, enge Zimmer lagen hinter einander, die Wände waren ohne Schmuck, ohne Vergoldung, ohne Spiegel, ja ohne Tapeten, der Tabaksrauch hatte ihnen ein graudunkles Colorit gegeben. Schmale Divans, mit schwarzem Leder überzogen, zogen sich an den Wänden entlang. Auf den Divans saßen zwei, drei Menschen, welche sich flüsternd mit einander unterhielten, kein lautes Wort sprachen und dann und wann einen Blick scheu seitwärts warfen, als wenn sie sich von Spionen belauscht wähnten. Ich trat in eins der Cafés und bestellte mir Eis. Es gab in Rom kein Eis. Ich griff nach einer Zeitung; es war die officielle Zeitung des Papstes, das „Giornale di Roma“. Ich ließ den miserabeln Thee, das „Giornale di Roma“ und die „Augsburger Allgemeine“, die ich dort fand, im Stich, ich floh aus diesem miserabeln Kaffeehaus und eilte durch die todesstillen Straßen der Residenz Pius des Neunten nach Hause, so schnell, als wenn die Gespenster der Langeweile und der Einsamkeit hinter mir schlichen und mich vorwärts trieben. Niemand begegnete mir auf dem langen Wege; ich hörte nur das Echo meiner eigenen Tritte auf den schmalen Trottoirs. Der Mond hatte sich hinter einem großen, dunkeln Wolkenberg verborgen. Ich hatte Rom bei Abend gesehen, das schweigende, todesstille Rom, das Rom der Langeweile und Einsamkeit. Zwei Abende vorher fuhr ich zu derselben Zeit durch die Straßen von Neapel. Sie waren mit Lichterglanz, mit Musik, mit Evvivarufen und fröhlichen Menschenmassen erfüllt; es war das freie Neapel, welches den Sieg Garibaldi’s vor Capua feierte.

„Gennazzano,“ hatte er mir gesagt, der deutsche Maler, als wir auf dem Verdeck des französischen Dampfboots von einander Abschied nahmen, und die päpstlichen Marinesoldaten ihn in dem langweiligen Hafen von Civitavecchia an das Land ruderten, „in Gennazzano werden Sie mich treffen, wenn Sie nach Rom kommen.“

„Gennazzano,“ sagte ich am andern Morgen, als ich im Hotel de la Minerve die Treppen hinabstieg, und auf jedem Treppenflur ein Priester in schwarzer Kutte saß, den häßlichen, großen Hut mit den umgebogenen Krempen auf dem Kopfe, und mir mit einem Buche entgegenkam, in dem in drei verschiedenen Sprachen eine Aufforderung zu Beiträgen für ein Hospital geschrieben war, unter welche ich trotz allen Sträubens meinen Namen neben den Namen von Erzbischöfen, Bischöfen und Principes mit fünf Franken unterzeichnen mußte.

„Gennazzano,“ wiederholte ich nochmals in der verdrießlichsten Laune, als ich unten vor der Hausthür stand, und mein erster Blick in der ewigen Roma auf einen Bettelmönch fiel, der, mit kahltonsurirtem Haupte, den Strick um den Leib gegürtet, mir eine klappernde Blechbüchse entgegenhielt, „ich habe Rom bei Nacht gesehen, es war odiös, der Morgen fängt schön an, ich werde sofort nach Gennazzano in’s Gebirge fahren und Rom bei Tage später sehen.“

Nach einer Stunde fuhr ich mit einem Vetturin an den kolossalen Trümmerresten des Colosseums vorüber nach der Porta maggiore, um auf der alten Via Labicana nach Palestrina und nach Gennazzano zu reisen. Rechts erheben sich vor mir die Trümmer des alten Roms, die Thermen des Caracalla und des Titus, die epheuumrankten, grandiosen Bogen der Kaiserpaläste auf der breiten Scheitelfläche des palatinischen Hügels, Triumphbogen, gebrochene Säulenstümpfe, Reste von Einfassungsmauern von Bädern und Wasserleitungen, an denen wilder Wein heraufkletterte, zwischen weiten Raumflächen von Oliven-, Wein- und Gemüseanpflanzungen – jeder Fuß classischer Boden. Durch die Porta maggiore ging’s in die Campagna hinein, in diese eigenthümliche Wüste, welche in der Breite von vierzig Miglien ringsum die Stadt umschließt und in ihrer Sonderbarkeit und Oede gewiß nur einmal auf der Erde existirt. Ruinenhaufen und Grabmäler neben der Straße, auf der der Wagen in raschem Trabe dahinrollte. Zu beiden Seiten trat die Campagna in immer eigenthümlicherer Gestalt auf. Ein unabsehbar, wellenförmig bewegtes Land, grün, aber mattgrün, von einer mit gelben und grauen Tinten gemischten Farbe, wie ich sie nie auf der Erde gesehen, sich ganz sonderbar abhebend gegen die dunkelblauen Tinten des Himmels, welcher am Horizont auf der Ebene zu ruhen schien, ganz unbewohnt, nirgends von Häusergruppen belebt, ohne alle Bewohner. Ueberall ragten Mauertrümmer, Architekturreste von Tempeln, Bogen und Säulenstumpfe, Trümmer mittelalterlicher Castelle über die wellenförmig sich erhebenden Erhöhungen des Bodens empor, lange Pfahlreihen bezeichneten die wechselnden Grenzen gemietheter Prati; aus epheuumrankten formlosen Massen wirbelten Rauchwolken in die Höhe – es waren die improvisirten Wohnungen der Hirtenfamilien, welche die großen Rinderheerden in der Campagna weiden; dann stand hie und da ein Winzerhäuschen, malerisch von einigen Ulmen umringt, die Mauern mit gelbgrünem Weinlaub bekleidet, aus dessen niedriger Thür eine Frau in zerlumpter Kleidung hervortrat, neugierig meinem dahinrollenden Wagen nachschauend; neben dem kleinen Häuschen erhoben sich mittelalterliche Mauern mit Zinnen, über den Resten des Thores noch die Reste eines Wappens tragend. Nun zogen halbwilde Riderheerden vorüber, große, stattliche Thiere mit breiten Stirnen und langen Hörnern. Die Hirten, welche sie begleiteten, waren zu Pferde, in Schaffelle gehüllt, die Beine bis zum Knie in lederne Gamaschen gekleidet; jeder trug einen langen Stab in der Hand, an dem vorn eine lange Spitze befindlich war. Große, wilde Hunde umsprangen die Pferde. In hochgeschwungenen Bogen zogen sich in langen Linien die Trümmer der verfallenen Wasserleitungen in das Land hinein, plötzlich abbrechend, dann von Neuem beginnend, oft sich durchkreuzend. Oede, Vereinsamung, Belebung und Monotonie, classisches Alterthum, Mittelalter und moderne Ruinen wechselten in harmonischer Weise; sonnendurchglühte Brachflächen grenzten an mit den üppigsten Kräutern bedeckte Viehweiden. Dann kamen wir durch ein verfallenes Dorf. Es ist die Stelle, wo einst das alte Labicum stand. Hier beginnt der Schauplatz des Virgil in den letzten Gesängen der Aeneïde neben den Quellen der Acqua Felice.

So fuhren wir während acht Stunden durch die Campagna. Die Erinnerungen von zweitausend Jahren umschwebten vor meinem geistigen Auge die Grabmonumente, die Zinnen mittelalterlicher Thürme und die verfallenen Bogen der altrömischen Aquaducte in bunten, immer wechselnden Gestalten. Die Stellen dieser sonnendurchglühten Brachfelder und dieser steinigen Ebenen nahmen einst Strecken des fruchtbarsten Landes ein; immergrüne Parkanlagen, Wildgehege, Teiche mit den seltensten Fischen, Triften mit den auserlesensten Viehheerden, mit Marmorstatuen und mit den kostbarsten Mosaiken geschmückte Villen, Marmorbäder und goldgeschmückte Tempel. Wo einst das Feuer der Vesta brannte, da steht jetzt in einer von Rauch geschwärzten Nische ein armseliges Muttergottesbild, und halbverwischte Arabesken und Fragmente der herrlichsten Musivbilder leuchten dem Wanderer aus mit Ginster umrankten Trümmerhaufen entgegen. Die Contraste des Heidenthums und christlicher Weltanschauung, die Gegensätze des üppigen Lebens und der einsamsten Verödung, die Denkmäler aller Stadien einer zweitausendjährigen Vergangenheit liegen dicht neben einander, oft von denselben Mauertrümmern umschlossen.

[220] Und was ist der Grund dieser grenzenlosen Verödung? Was würden die alten Römer sagen, wenn sie aus ihren Gräbern aufständen und sehen würden, was die päpstliche Regierung aus dem Paradiese gemacht hat, welches sie einst mit hunderttauscnd Sclavenhänden rings um die Hauptstadt der Welt geschaffen hatten? Die zwei Millionen der ewigen Roma sind auf nur hundertsiebenzigtausend Bewohner herabgesunken, und die Campagna ist nicht einmal im Stande, die Bewohner des modernen Rom zu ernähren. Die ungeheueren Gütercomplexe des alten republikanischen und kaiserlichen Roms sind in die Hände der Pfaffen und der Principi des heurigen Kirchenstaats übergegangen. Diese Pfaffen, diese Fürsten, diese geistlichen Congregationen haben keine Neigung und auch keinen Begriff von Ackerbau. Sie sind enorm reich, ihre Güter und Besitzungen liefern ihnen pecuniäre Mittel genug, um in Schwelgerei und in einem halb asiatischen Luxus zu leben; sie verpachten deshalb ihre großen Gütercomplexe in der Campagna an Mercanti, welche die weiten Strecken zu Viehzucht benutzen, weil sie kein Interesse und keine Lust daran haben, aus ihnen urbare und getreidetragende Ländereien zu machen.

Würden diese großen Gütercomplexe parcellirt, würde dann die Regierung des Papstes ihre Aufgabe verstehen, den Ackerbau, die Industrie, überhaupt alle commcrcielle und industrielle Verhältnisse in den römischen Staaten ebenso zu heben und zu fördern, wie sie dieselben von Jahr zu Jahr herunterdrückt und principiell vernachlässigt: so würden in der öden Campagna statt des gelbblühenden Ginsters wiederum Wein und Maulbeerbäume wachsen, und der Wind würde in den Halmen von Getreidefeldern rauschen, wo er jetzt an den Ufern mooriger Teiche und sumpfiger Ebenen in der riesigen römischen Canna (Rohr) flüstert. Aber die Parcellirung der großen Latifundien, die Hebung des Ackerbaues, die Handelsschiffe, die Eisenbahnen und die Straßenzüge, das Alles ist dem innersten Wesen der theokratischcn Regierung, welche über dem Patrimonium St. Petri waltet, vollkommen zuwider! –

Mittag war lange vorbei, und blaudüstere Schatten umhüllten die bewaldeten Höhen des Gebirges, welches ganz nahe an die Straße herantrat, mit ihrem schattigen Mantel, als ich an Palestrina vorüber fuhr. An den Felsen, wo jetzt die ärmlichen Häuser amphitheatralisch übereinander ragen, lehnte sich einst das uralte Präneste, lange vor Rom erbaut, einst Hauptstadt des lateinischen Bundes, in der Römerzeit und im Mittelalter vielfach erobert, zerstört und wieder aufgebaut. Dann rollten die Räder des Wagens auf antiker Römerstraße. Noch einige Miglien und Cavi erschien, die Häuser malerisch gruppirt auf ihrem Tufffelsen am Abhang des Monte di Montorella. Der Abend nahte, ein Meer dunkler Schatten lagerte sich über die zweitausendjährige Vergangenheit der Campagna hinter mir, aber heller und durchsichtiger wurde die Atmosphäre, da hielt ich vor dem Thore Gennazzano’s. Rauschend stürzten mir die Wellen des Rivorano entgegen, sapphirblaue Wellen, weiße, geträufelte Schaumwirbel auf ihren Häuptern. Geisterhaft blickte das uralte Schloß auf einsamer Höhe herab.

Das Begräbniß.
Nach der Natur aufgenommen von Zwahlen und Zielcke

Was ist das für ein wunderbarer Zug, der da langsam aus dem Thore hervorschreitet und die Stufen des steilen Weges hinabsteigt? Voran wurde das Kreuz getragen, von Priestern in ihren weißen, goldgestickten Gewändern umgeben, dann eine Reihe sonderbarer, unheimlicher Gestalten. Sie waren alle in aschfarbene Kutten gehüllt, vom Kopf bis zu den Füßen vermummt, die Kapuzen durchlöchert, aus deren ausgeschnittenen Augenhöhlen die Augen gespenstisch hervorleuchteten. Ein eintöniges, unheimlich klingendes Grablied singend, schritten sie vor der Bahre vorher. Vier von ihnen trugen die Bahre, welche mit schwarzsammtnem Teppich bedeckt war, auf dessen Grunde silberne Rosen blühten, auf ihren Schultern. Auf der Bahre lag, ganz in weiße Mullkleider gehüllt, die Leiche, ein junges Mädchen, über deren schwarze Locken kaum achtzehn Frühlinge vorübergerauscht waren, ein sanftes Lächeln auf den Friede und Ruhe athmenden Zügen. Junge Märchen sterben so leicht; ohne Schmerz und ohne Qual schwingt sich der Geist auf zum Aether, und lächelnd blickt ihm das Antlitz der Gestorbenen nach. Ein goldgestickter Schleier fiel über die zarten, weißen Schultern hinab, und ein Kranz von weißen Rosen und Tuberosen umschlang das duftige Haar. Hinter der Bahre schritten wieder die vermummten Gestalten, das Sterbelied singend, gespenstisch mit dunkeln Augen aus den Löchern der Kapuze hervorblickend. Es waren die Mitglieder der Confraternita, einer [221] Brüderschaft des Städtchens, aus den vornehmsten Bewohnern desselben bestehend, wie sie in den meisten Städten Mittelitaliens und Süditaliens sich gebildet haben. Die Confraternita sammelt in den Straßen und in den Häusern milde Beiträge für die Armen und für die Gefangenen, sie bestattet die Gestorbenen zu Grabe, ihre Zwecke und ihre Tendenzen sind Demuth und Wohlthun; die Leichenzüge in den offenen Särgen, die bunten Farben derselben, die vermummten Gestalten sind Alles noch Reste antiker Sitte.

Den Strohhut abnehmend, grüßte ich die langsam vorübergetragene Todte. Mein Kutscher betete ein Ave Maria. Noch lange schaute ich dem sonderbaren Zuge nach, bis der eintönige Grabgesang in der Ferne verhallte. Dann fuhr ich ein in das Städtchen. Die Straßen des berühmten Wallfahrtsortes der Madonna del buon Consiglio im Sabinergebirge, zu deren Kapelle in den Marientagen die Menschen aus der Umgegend und selbst aus dem Neapolitanischen zu Tausenden wallfahrten, waren heute Abend einsam und öde, bis ich auf den Platz kam, an dem der ehrwürdige Palast des einst in diesen Gegenden so mächtigen Geschlechts der Colonna steht: da war Alles voll Leben und Bewegung. Mitten auf dem Platz hielt ein mit zwei Pferden bespannter Wagen. Der Kutscher saß, die Peitsche und die losen Zügel in der Hand, auf dem Bocke. Im Wagen stand aufrecht, eine Flasche in der einen Hand, mit der andern Hand in der Luft gesticulirend, ein Mann, etwa in der Mitte der Vierziger, und redete zu der den Wagen umgebenden Menge.

Was redete der sonderbare Mann? Er pries der gaffenden Bevölkerung des Städtchens die Medicin an, welche in der Flasche enthalten war. Es war kein Heilmittel für ein einzelnes Uebel, etwa für Rheumatismus, oder für Magenbeschwerden oder gegen das Fieber. O nein, mit der Bereitung solcher Kleinigkeiten hatte sich der Mann im Wagen niemals abgegeben. Es war eine Universalmedicin, ein Heilmittel für alle und jegliche Uebel, ein wunderbares Elixir, welches er in dem Decoct von seltenen Pflanzen fand, die nur in den afrikanischen Wüsten wachsen. Dort hielt er sich Jahre lang auf, nicht, wie seine Collegen, sich üppiger Muße hingebend, sondern den ernstesten Studien obliegend. Jetzt bereiste er Europa, von Sicilien anfangend, um mit seinem Wunderelixir alle Schmerzen und alles Elend der leidenden Menschheit zu heilen, nicht um Schätze zu erwerben, nein, sondern nur der leidenden Menschheit wegen. Deshalb forderte er auch keinen Goldscudo für sein Wundermittel, nicht einmal einen Silberscudo – der Werth des Elixirs sei ja mit Hunderten von Goldscudi nicht bezahlt –, sondern er bot es an – für nur einen einzigen Paolo.

Der Charlatan.
Nach der Natur aufgenommen von Zwahlen und Zielcke

Dann erzählte er unter den lebhaftesten Gesticulationen lange, schreckliche Krankheitsgeschichten. Immer erschien er zum Schluß als rettender Engel, sein Universalelixir, wie heute, in der Hand, welches noch niemals seine Urkraft verleugnete. Ich kehrte mich um und lachte. Da saß er ja, mir gerade gegenüber, auf einem abgebrochenen Säulenstumpf, seine Zeichenmappe vor sich auf den Knieen, der Freund, den ich in Gennazzano suchte, der auf dem Verdecke des französischen Dampfschiffes in dem langweiligen Hafen von Civitavecchia von mir Abschied genommen hatte! Er zeichnete den gesticulirenden Mann in dem Wagen mit seinem Wunderelixir. Mit einem fröhlichen „Guten Abend“ streckte ich ihm die Hand entgegen.

„Was ist denn das für ein sonderbarer Kerl, da in dem Wagen?“

„Das ist der Römische Charlatano oder Heilkünstler“, erwiderte er, „doch passen Sie auf, jetzt kündigt er die Operationen an. Nun, über das Herausreißen eines Zahnes geht er selten hinaus!“



[222]

Ein Deutscher

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Langsam war Reichardt nach dem Zimmer unter dem Dache in Congreßhall hinaufgestiegen, das er mit einem Gefühl der Erleichterung leer fand, und warf sich hier auf den nächsten Stuhl, um sich einen Moment seinen Empfindungen zu überlassen. Vor ihm stand bald die schlanke, volle Harriet Burton mit ihrem dunkeln leuchtenden Blicke, der ihm so viel zu erzählen schien, als er nur darin hätte lesen mögen; bald trat das frische, lachende Gesicht ihrer Begleiterin hervor, und er hätte sich versenken mögen in die Tiefe dieser milden, blauen Augen; nach Kurzem aber sprang er kräftig von seinem Sitze auf. „Alles Unsinn!“ rief er, einen Gang durchs Zimmer machend, „höchstens gut, um mir meinen künftigen Weg selbst noch zu erschweren. – Nur der Neger fiedelt zum Tanze,“ fuhr er stehen bleibend fort, „das ist die richtige Arznei, und ich werde daran denken, wenn ich einmal wieder in Versuchung komme, den Gentleman zu spielen – vorläufig aber sollen sie doch einmal eine Probe von Fiedeln bekommen!“ Er öffnete seinen Violinkasten, suchte ein Notenheft unter dem Pack der daliegenden Musikalien heraus und machte sich fertig, um an die ihm vorgeschriebene Uebung zu gehen. – Das „Supper“ war vorüber, und in dem großen Saale, welcher der kühlen Abendluft nach allen Seiten hin den Zutritt gestattete, promenirten bereits zahlreiche Paare in glänzender Toilette, der Musiker harrend, welche so eben von den Ueberbleibseln des Mahles ihren Hunger stillten. Reichardt hatte das nöthigste Bedürfniß befriedigt und eilte noch einmal nach dem gemeinschaftlichen Zimmer hinauf, um das von ihm gebrauchte, zurückgebliebene Notenheft zu holen, während die Uebrigen sich fertig machten, um ihre Plätze im Saale einzunehmen. Das fehlende Heft war schnell gefunden, und der junge Mann schlug einen Weg durch die Corridore ein, welcher ihm der nächste nach dem Saale zu sein schien, sah aber bald, daß er am Ende eines Ganges stand und die Treppe verfehlt haben müsse. Er wollte sich eben auf dem weichen Teppiche, welcher jeden Schritt unhörbar machte, zurück wenden, als aus dem nächsten nur theilweise geschlossenen Zimmer es ihm wie eine halblaut gehaltene Predigt entgegenklang. Unwillkürlich blieb er bei dem sonderbaren Klange stehen und horchte.

„Es lebt noch etwas in Ihnen, theuere Schwester, was dem Worte, das an Ihr Herz pocht, entgegenstrebt,“ hörte er; „Christus ist wohl in Ihnen, aber die Welt mit ihren Begriffen und Ansichten ist noch stärker in Ihrem Herzen. Wenn erst Christus ganz in Ihnen zum Durchbruch gekommen sein wird, dann werden Sie mit derselben brünstigen Liebe, mit welcher er die Seinigen umfing, den Bruderkuß empfangen und ihn zurückgeben, dann werden Sie in den stillen Stunden, die wir seinem Dienste widmen, an das Eine denken, daß nur die sein eigen sind, welche sich ihm ohne Vorbehalt ergeben, und daß die Liebe, wie sie seine Auserwählten umschlingen soll, aller Heiligung Anfang ist!“

Es ward still im Zimmer, und Reichardt schlich, den Athem an sich haltend, der Thürspalte näher, aber er konnte die Personen der Scene nur theilweise sehen; ein Mann in dem langen schwarzen Rocke der amerikanischen Geistlichen saß dicht vor einem Schaukelstuhle, gegen die darin ruhende Dame gebeugt und deren beide Hände in die seinigen geschlossen. Der Lauscher konnte nur das volle braune Haar des Mannes erblicken, während der Oberkörper von dessen frommer Gefährtin seinem Auge ganz entzogen war. Reichardt wartete noch einige Secunden, konnte aber nichts entdecken, als daß die Hände sich fester in einander zu schließen schienen, und eilte mit einem Kopfschütteln leise nach der verfehlten Treppe. Auch seine Gedanken über die eben behorchte Scene wurden durch das Anstreichen der Instrumente im Saale in den Hintergrund gedrängt, er hatte schnell die offene Thür des Tanzlocals erreicht und schritt dort, ohne sich umzublicken, nach dem erhöhten Platze, welchen seine Collegen bereits eingenommen. Erst von hieraus übersah er die durcheinanderwogende Gesellschaft, und entdeckte bald seine früheren Gesellschafterinnen, strahlend in der luftigen, reichen Balltoilette. Harriet in sichtlich sprudelnder Laune wanderte am Arme eines jungen Mannes durch den Saal, und schien durch ihre Bemerkungen einen ganzen Trupp Anderer, welche dem Paare folgten, in die heiterste Laune zu versetzen; nicht einmal aber hob sich ihr Auge nach dem Orchester, so scharf sich auch Reichardt’s Gestalt im Vordergrunde von den übrigen Musikern abzeichnete.

Margaret dagegen ging an dem Arme eines ältlichen Mannes, welchem sie eifrig zu erzählen schien, und hier glaubte Reichardt zum Oefteren einen halbverdeckten Blick von ihr wie von ihrem Begleiter aufgefangen zu haben.

„Wir geben zuerst ein Stück Unterhaltungsmusik,“ zischelte der kleine Dirigent dem jungen Manne zu, „es ist noch etwas zu früh zum Tanzen, und wir zeigen gleich, daß wir auch etwas Ordentliches leisten können; so etwas hilft zur Recommandation.

Nr. 4, das Solo, das wir gestern probirt haben.“

Reichardt nickte nur und blätterte sein Notenheft auf; er wußte, der Alte wollte mit seinem Spiele Staat machen, kaum hätte dieser ihm aber im Augenblicke einen größern Gefallen erweisen können. Nr. 4 war nichts Anderes als Ernst’s „Elegie“, welche, aus dem Nachlasse eines verstorbenen Geigers in die jetzigen Hände gelangt, hier todt gelegen hatte, von Reichardt aber beim Durchstöbern des Musikvorraths schnell genug aufgefunden worden war. Es war nur Quartett-Begleitung dazu, aber Reichardt’s großer schöner Ton hatte trotzdem den Alten schnell den Effect, welchen die Pièce hervorbringen müsse, erkennen lassen.

Die Einleitung begann, ging aber in dem Lachen und Schwatzen der promenirenden Gesellschaft unter, und erst als die Töne des Solo’s, mit jeder Note sich mehr heraushebend, in wahrer Großartigkeit des getragenen Spiels sich geltend machten, blieben einzelne Paare stehen und begannen aufmerksam zu horchen; bald indessen ward der Zuhörerkreis größer, die lautesten Lacher wurden zur Ruhe gewinkt, und in Kurzem hatte die Macht des Vortrags eine volle Stille geschaffen. Reichardt warf einen Blick über seine Noten hinaus und sah ringsum die Augen auf sich geheftet; eine tiefe, wohlthuende Genugthuung zog in seinem Herzen auf; mit einer Leichtigkeit, die er früher kaum gekannt, führte er die bekannten Passagen durch, brachte er den Charakter der Composition zur vollen, ergreifenden Wirkung, und als er endlich den letzten Halt hatte verklingen lassen, als er unter dem losbrechenden Applaus aufsah, traf sein Blick Margaret’s Auge, die noch wie in voller Selbstvergessenheit zu ihm aufsah, und ihm wurde es plötzlich, als wisse er jetzt, warum ihm das Klagen seiner Violine selbst so viel Genugthuung gegeben. Hinter ihm aber rieb sich der Alte befriedigt die Hände und schickte sich an, das Orchester zu verlassen, „um die Gelegenheit zur Recommandation warm zu benutzen“, wie er dem jungen Manne in die Ohren zischelte. Dieser trat, um ihm den Weg frei zu machen, hinab in den Saal, wo bereits die Promenade wieder im vollen Gange war; noch hatte er aber hier, die Augen in das Gewühl gerichtet, keine Minute gestanden, als dicht an seiner Seite zwei Damen vorüberrauschten und er sich zugleich ein Stück Papier in die Hand gedrückt fühlte. Nur im Fluge konnte er Harriet’s Gesicht erkennen, das aber, dem lebhaften Gespräche hingegeben, von einem Gedanken an ihn am wenigsten zu wissen schien. Reichardt trat auf das Orchester zurück und entfaltete den Zettel. Er enthielt nur zwei mit Bleistift hingeworfene Zeilen: „Gut, sehr gut! aber was hilft’s? Bei der ersten Quadrille ist der Nigger dennoch da!“

Reichardt biß sich auf die Lippen, seine warme Stimmung verschwand wie unter einem Sturzbade. Sein Blick flog durch den Saal, während sich das Papier in seiner Hand zerknittert zusammenballte; dort stand sie, lachend und conversirend, als habe sie von seiner Existenz keine Ahnung – er hätte sie gern hassen mögen, wäre sie nur in dieser Balltracht, die der Geschmack selbst arrangirt zu haben schien, nicht so sinnberückend schön gewesen. Aber er behielt keine Zeit zu langem Grübeln, ein lautes Klatschen wurde hörbar, der kleine Dirigent kam in raschem Schritte auf das Orchester los, und die Paare flogen durcheinander, um sich zur Quadrille aufzustellen. Reichardt griff nach seiner Geige, entschlossen, sich durch keinen unnützen Gedanken mehr stören zu lassen, und mit dem Zeichen zum Beginn ließ er den aufgelegten „Reel“ [223] über die Saiten laufen, als gälte es, ein Bravourstück zu spielen; neben ihm stand der alte Musiker und rief die Touren aus, unten rauschten die Paare durcheinander – der Anfang, den er fast gefürchtet, war überwunden, und nun fühlte sich Reichardt leichter. Mochten ihn jetzt die Menschen für einen gewöhnlichen Fiedler nehmen, er konnte es nicht ändern, er verdiente sein Brod damit, und eine andere Zeit für ihn mußte auch einmal kommen. Trotzdem aber hätte er jetzt das Auge nicht über die Tanzenden werfen mögen; immer war es ihm, als müsse er demselben halb zornigen, halb spöttischen Blicke, mit welchem Harriet am Nachmittage von ihm gegangen war, oder dem mitleidigen Auge Margarets begegnen, und er konnte jetzt Beides nicht brauchen. Als die Quadrille zu Ende war, blieb er, in den Noten blätternd, hinter seinem Pulte, und erst als die neue Aufstellung erfolgte, sandte er einen raschen Blick über die antretenden Paare. Von den beiden Mädchen aber war hier nichts zu entdecken, und auch die übrige Gesellschaft zeigte keine Spur von ihnen – im Nu würde er schon ihre Kleider erkannt haben. Die zweite Quadrille ging zu Ende, auch die dritte, und eine allgemeine Pause trat ein, ohne daß die Vermißten sich gezeigt hätten, und fast wußte Reichardt nicht, thue ihm ihr Verschwinden leid, oder solle er sich darüber freuen.

Die Musiker verließen für die Dauer der Pause das Orchester, und Reichardt schlug den Weg nach der Piazza ein. Kaum ließen sich hier in der matten Beleuchtung die einzelnen Gruppen von Gästen, wie sie zerstreut zwischen den üppigen Schlingpflanzen saßen, genau erkennen; der junge Mann warf sich auf einen einsamen Stuhl und gab seinen Kopf der heißen Nachtluft Preis. Er dachte an sein Solo, mit welchem er den Abend eingeleitet, an den Beifall, welcher ihm geworden, und wie sich nachher dennoch Niemand auch nur mit einem Blicke um ihn gekümmert. So bitter ihn auch anfänglich Harriet’s Zettel berührt, so hatte doch nur herbe Wahrheit darin gelegen. Zu einem Herzen hatte er wohl angeklungen – Margaret’s selbstvergessener Blick beim Schlusse seines Spiels stand vor ihm, und er hätte sich immer und immer diese Augen vor die Seele rufen mögen.

Da fühlte er plötzlich einen leichten Druck auf seiner Schulter. „Geben Sie mir für einen Augenblick Ihren Arm, Mr. Unaussprechlich!“ klang es halblaut in seine Ohren, und aufspringend sah er in Harriet’s mattbeleuchtetes Gesicht. „Ohne Aufsehen – kommen Sie!“ fuhr sie fort, „ich möchte noch zwei Worte mit Ihnen reden!“ Sie schlug die Richtung nach dem Ende der Piazza ein, das von Besuchern völlig leer war, und blieb dort hinter einer der üppig umlaubten Säulen stehen.

„Wollen Sie mir wohl sagen, Sir, wie Ihnen Ihr Geschäft jetzt behagt?“ begann sie, und Reichardt wußte nicht, war es Spott oder Laune, was ihm aus ihrem Tone entgegenklang.

„Warum fragen Sie mich das, Miß?“ erwiderte er; „glauben Sie, eine mit Selbstüberwindung übernommene Beschäftigung wird leichter unter solchen Bemerkungen?“

„O – und Sie meinen, ich habe Sie nur ausgesucht, um solche Bemerkungen zu machen? stelle mich mit Ihnen im Dunkeln hierher, nur um meiner Laune willen?“

„Ich habe keine Ahnung, Miß Harriet,“ sagte er, eigenthümlich von ihrem Tone berührt; „was verlangen Sie von mir? Sie haben heute Abend nicht einen einzigen Blick und nur einen bittern Stachel für mich gehabt –“

„Und würde nichts anderes haben können, Sir, sollte ich mich auch in’s eigene Fleisch treffen, so lange Sie nicht als Gentleman vor mir stehen!“ rief sie mit unterdrückter Stimme. „Ich habe eine andere Aussicht für Sie – aber setzen Sie keinen Fuß wieder dahin, wo zum Tanz gespielt wird, ich habe nicht im Saale bleiben mögen, so lange ich Sie dort oben sah – versprechen Sie mir wegzubleiben und Gentleman zu sein!“

Sie war ihm wie unbewußt näher getreten, er fühlte seinen Finger leicht von ihrer Hand gefaßt und führte diese in rascher Aufwallung an seine Lippen. „Wäre ich denn nicht selbst zu glücklich, Ihnen folgen zu dürfen, Miß Harriet?“ sagte er, die Hand festhaltend, die einen leichten Versuch sich zu befreien machte, „kann ich Ihnen denn aber von den Verhältnissen sprechen, welchen der Neuling hier im Lande unterliegt, so daß er zu dem Nächsten, Besten greifen muß, weil ihm jeder andere Weg zu einer Existenz verschlossen ist –?

„Sie sollen Ihre volle Existenz haben, vertrauen Sie mir!“ unterbrach sie ihn eifrig. „Sie gehen mit uns nach Tennessee – aber ich kann nichts thun, wenn Sie noch einen Strich zum Tanz spielen. Sind Sie nun muthig genug, einen Entschluß zu fassen, selbst wenn er gewagt wäre?“

Er fühlte einen Druck ihrer Hand, er sah ihre leuchtenden Augen gespannt auf sich ruhen, und eine eigenthümliche Erregung begann sich seiner zu bemächtigen. „Ich wage es, ich werde gehorchen,“ sagte er, „und sollte sich auch selbst Ihr guter Wille getäuscht haben –“

„So ist es recht, und jetzt kommen Sie!“ erwiderte sie mit hell auflebendem Gesichte; „tragen Sie Ihren Namen in’s Fremdenbuch ein, trennen Sie sich von den Menschen, mit denen Sie kamen, und merken Sie: Alles, was Sie bis jetzt gethan, war nur eine tolle Laune!“ Sie that einen Schritt vorwärts, strauchelte aber über eins der Schlinggewächse und ward von Reichardt’s Arme aufgefangen. Sie wollte sich rasch aufrichten, aber er hielt sie fest und bog sich nach ihr nieder. „Trotz aller Worte habe ich noch kein Pfand Ihrer Ehrlichkeit, Miß,“ sagte er, „aber ich nehme nur ein freiwillig gegebenes!“ Sie sah mit einem vollen Lächeln zu ihm auf und heiß legten sich seine Lippen zwei, drei Mal auf die ihren. Dann aber schnellte sie geschmeidig aus seiner Umschlingung in die Höhe. „Jetzt weg von hier,“ sagte sie seinen Arm fassend, „und wenn wir uns wiedersehen, nicht noch einmal im Dunkeln!“


Da, wo die große Straße von Nashville nach Memphis die erste scharfe Ecke macht, liegt eins der schmucken Landstädtchen, wie sie sich im Innern der südlichen Staaten so oft finden und dem Reisenden mit ihren breiten Verandahs und geschmackvollen Portico’s, ihren von breitästigen Akazien beschatteten Straßen und ihren hellen, in elegantem Style gebauten Landhäusern, die sich durch dunkele Landpartien zum Kranze verbunden um den Ort ziehen, wie lebendige Bilder des Comforts und Ueberflusses entgegen treten.

Es war ein heller Septemberabend, und eine Lust, so weich und mild, wie sie nördlichere Gegenden niemals kennen lernen, ruhte auf der Landschaft, als Reichardt, auf dem Verdecke der Postkutsche sitzend, dem Orte entgegenrollte. In sanfter Neigung führte die Straße von der letzten Anhöhe hinab und gestattete dem Reisenden den vollen Blick über das ansprechende Bild, welches Stadt und Umgebung in der abendlichen Beleuchtung boten; trotzdem aber schien es die oft erprobte Wirkung auf den jungen Mann zu verfehlen; in seinen Augen, welche jede Einzelnheit vor sich musterten, drückte sich eher eine stille Besorgniß und leise Spannung, als ein Gefühl der Befriedigung aus, und erst als der Wagen in die Hauptstraße einbog und vor das stattliche Hotel rollte, schien er seine inneren Regungen unter einem gleichgültigen Aeußern zu verbergen.

Reichardt wußte kaum selbst, was ihn hierhergebracht, war es nur der Einfluß einer tollen Mädchenlaune, welchem er unterlegen, oder trug sein eigenes leichtes Blut und der Wunsch, sich seiner bisherigen Beschäftigung zu entziehen, die Hauptschuld – die Tage, welche er zwischen heute und seinem ersten Auftreten in Saratoga verlebt, lagen wie ein halber Traum hinter ihm.

Der Wagen entleerte sich seiner Passagiere, welche hier ihr Abendbrod einzunehmen hatten; Reichardt’s Gepäck aber war das einzige, welches abgeladen ward, und ein vergnügtes Grinsen zeigte sich in dem Gesichte des schwarzen Aufwärters, als dieser den glänzenden deutschen Violinkasten in Empfang nahm. Wie ein neugieriges Kind betrachtete er den Bau, das Schloß und die Beschläge und fragte dann mit einer Mischung von Verständniß und Schüchternheit, die sich in dem plumpen schwarzen Gesichte ganz wundersam ausnahm: „Feines Instrument, Sir?“

Das war also wahrscheinlich einer der „zum Tanze fiedelnden Niggers“, ein früherer College von Reichardt, nach Harriet’s Auffassung; trotz des einigermaßen unbequemen Gedankens aber fühlte sich der Angekommene von dem gutmüthigen Gesichte und dem sichtlichen musikalischen Interesse des Schwarzen wohlthuend berührt er konnte hier einen Anknüpfungspunkt für sich finden, der es ihm ermöglichte, die nöthigsten Erkundigungen einzuziehen, ohne sich der Neugierde der Menschen im Hotel preiszugeben. Er nickte dem Fragenden freundlich zu und wandte sich nach der „Office“, um sich ein Zimmer anweisen zu lassen; es drängte ihn, ehe er einen weitern Schritt that, zuerst vollständig mit sich selbst klar zu werden.

Diensteifrig war ihm der Neger nach dem bezeichneten Zimmer [224] vorangegangen, setzte dort Koffer und Violinkasten behutsam nieder und blieb dann, die Hände reibend, an der Thür stehen. Reichardt bemerkte ihn erst wieder, als er sich seines Rockes und Halstuches entledigt hatte. „Noch etwas?“ fragte er, in das zu einer Art scheuer Freundlichkeit verzogene Gesicht des Wartenden blickend.

„Würde es Ihnen viel Mühe machen, Master, wenn ich einmal die Violine sehen könnte?“ war die halbverlegene Antwort.

„Werdet nicht viel daran sehen – wie heißt Ihr?“

„Bob, Sir!“

„Well, Bob,“ erwiderte Reichardt, den Kasten öffnend, „die feinsten Instrumente sehen oft am schäbigsten aus, man muß sie hören! – Ihr spielt wohl selbst?“ fuhr er fort, als der Schwarze mit einer Art Andacht in das mit rothem Sammt gefütterte Innere des Kastens blickte.

„Hab’s früher gethan, Sir, bei Tanzpartien und so – Master wollte es aber nicht mehr leiden, ist ein Methodistenprediger, wissen Sie, und hat mich hierher in’s Hotel vermiethet, wo es keine Zeit dafür giebt; aber,“ fuhr er mit einem halbängstlichen Grinsen nach der Thür blickend fort, „die Lust kommt mir noch immer in die Finger, wenn ich was Apartes von einer Geige sehe!“

„Well, Bob,“ lächelte Reichardt, „Ihr sollt mir jedenfalls zeigen, was Ihr könnt. Ich muß einige Tage hier bleiben, und so wird sich die Zeit dazu schon finden. Jetzt aber mögt Ihr mir gleich eine kurze Auskunft geben. Kennt Ihr Mr. Burton?“

„Ja, warum soll ich Mr. Burton nicht kennen?“ war die Antwort. „Er wohnt oben am Hügel. Die ganze Familie ist aber im Osten, ich habe noch heute Morgen mit einem von den Dienstboten gesprochen!“

„Also noch nicht zurück!“ nickte Reichardt. „Kennt Ihr auch Mr. Ellis?“

„Den episcopalischen Prediger? Natürlich! Er wohnt das nächste Haus von seiner Kirche.“

„Und habt Ihr wohl eine Idee, ob die beiden Familien nahe mit einander befreundet sind?“

Der Schwarze schüttelte langsam den Kopf. „Ich weiß nur,“ erwiderte er, „daß Miß Harriet Burton in die Episcopalkirche geht und Mrs. Burton in die methodistische, zu meinem Master, Mr. Curry.“

Reichardt nickte gedankenvoll. „Ich danke vorläufig, Bob,“ sagte er, „es bleibt dabei wegen der Violine!“ Als aber der Neger das Zimmer verlassen, warf er sich auf das Bett, die Hände über dem Kopfe faltend. Er wollte seine Gedanken ordnen, aber bald verfolgte er nur die Bilder der letzten Tage, wie sie an seinem Geiste vorüberzogen.

(Fortsetzung folgt.)



Erklärung. Das in Leipzig erscheinende, wie ich höre, officiöse Kreis- und Verordnungsblatt des Kreisdirectionsbezirks Leipzig vom 6. März d. J. behauptet, daß die angeblichen Urkunden und Briefe, mit denen ich meinen kürzlich von mir in der „Gartenlaube“ und vor einigen Tagen in dem Buch „Frei bis zur Adria, eine Leidensgeschichte des italienischen Volkes unter östreichischer, päpstlicher und bourbonischer Herrschaft,“ veröffentlichten Artikel „die Anwendung der Folter in den Polizeigefängnissen von Neapel und Sicilien“ verbrämt hätte, von sehr zweifelhaftem Werthe seien, mit denen ich, wenn man mich auch nicht zu denjenigen zählen wollte, welche derartige Schriftstücke erfänden, in Italien getäuscht worden sei.

Das Leipziger Kreisblatt erdreistet sich, eine solche mich verdächtigende Behauptung aufzustellen, ohne für diese Behauptung irgend ein Beweismittel anführen zu können, als eine von Herrn Petrucelli della Gattina im Indipendente von Neapel veröffentlichte und in deutsche Zeitungen übergegangene Notiz, daß der Baron Carlo Poerio, Minister des Königs Ferdinand von Neapel, eine Erfindung der englisch-französischen Presse sei, dessen Leiden Mr. Gladstone in seinen bekannten Briefen an Lord Aberdeen theils erfunden, theils übertrieben, und daß der Baron Poerio an diesem beispiellosen Betruge Theil genommen habe Alles einzig und allein zu dem Zwecke, um Europa gegen die Bourbonen von Neapel aufzureizen, und spricht sein Bedauern darüber aus, daß die Redaction der Gartenlaube sich zu solchen Berichten hergebe.

Ich erkläre den betreffenden Correspondenten des Leipziger Regierungsblattes für einen beispiellos dreisten und frivolen Verleumder, weil er wider besseres Wissen und in der traurigen Absicht, die Sache Italiens zu verdächtigen und zu beschmutzen, ohne irgend eine Kenntniß der italienischen Verhältnisse diesen Artikel fabricirt hat. Ich habe ein Recht dazu, dieses zu thun, weil derselbe sich, bevor er seinen Artikel fabricirte, bei Lesung meines Aufsatzes in der Gartenlaube und meines Buches überzeugen mußte, daß ich mich darin auf das Zeugniß der ehrenwerthesten Schriftsteller Italiens, z. B. Herrn Michael Amari’s und des Baron Ventura bezog, daß ich mich auf die amtlichen Erlasse des frühern Polizeipräfecten Liborio Romano vom 9. Juli 1860 in Betreff der geheimen Polizeigefängnisse und der Polizeiminister Ajessa und Carretto vom 1. December 1841 und vom 11. Juli 1843 in Betreff der Anwendung der Stockprügel bei politischen Gefangenen, weß Ranges, Standes und Geschlechts der Gefangene auch sein möge, ferner auf ein von englischen Officieren, Consularbeamten und Regierungsmitgliedern unterzeichnetes Document vom 14. Januar 1848, auf die mir mündlich gemachten Mittheilungen des Herrn Massari, des Baron Poerio und mehrerer Officiere in der Garibaldischen Armee, als Augenzeugen, berief. Ich habe um so mehr ein Recht zu dieser Erklärung, als ich ausdrücklich gesagt habe, daß ich statt aller Thatsachen, welche ich über die Anwendung der Folter bringen könnte, nur solche Thatsachen erzählen wolle, welche aus Veranlassung der englischen Regierung einer genaueren Untersuchung Seitens der englischen Consularagenten in Sicilien unterzogen worden seien und bei denen die amtliche Antwort gelautet habe, daß sie vollkommen wahr seien. Hätte der betreffende Correspondent des Leipziger Kreisblattes die von mir citirten Stellen in den Schriften Amari’s und Ventura’s nachgeschlagen, hätte er sich Einsicht in die officiellen Regierungszeitungen von Neapel verschafft: so würde er darin die von mir angezogenen Urkunden und behaupteten Thatsachen gefunden baben und wissen, daß ich meiner Darstellung noch eine nur zu matte Färbung gegeben habe.

Den Baron Poerio habe ich die Ehre persönlich zu kennen. Ich kenne ferner die Familie des Baron Poerio, auch seinen Schwager, Herrn Imbriani, Minister des öffentlichen Unterrichts in Neapel. Alle haben mir die Leiden des berühmten Märtyrers wörtlich geschildert, wie ich sie beschrieben habe. Ich habe mich im Bagno von Nisida, in dem Baron Poerio gefangen gehalten wurde, erkundigt. Die Leiden Poerio’s sind mir in Neapel auf jeder Straße, wo ich wollte, von denen erzählt worden, welche ihn in Ketten vorüber führen sahen. Doch wozu bedarf es noch eines Zeugnisses nach Mr. Gladstone’s Briefen an Lord Aberdeen? Aber ich will diesem traurigen Correspondenten des Leipziger Blattes noch in wörtlicher Uebersetzung eine Stelle des Briefes vorhalten, den Baron Poerio vom 16. März 1859 nach seiner Befreiung aus Queenstown schrieb. Der Brief liegt mir im Original vor. Die Stelle lautet: „Sind wir einmal zusammen, so wirst Du erfahren, wie sehr ich gelitten habe, und mit mir die Ueberzeugung theilen, daß mir nur von Gott die Kraft kommen konnte, die mich befähigte, jene langsame Marter sowohl des Leibes als des Geistes zu ertragen. Mein Gesicht hat sich derartig verändert, daß ich nicht mehr zu erkennen bin. Ich bin kahl geworden, und die wenigen mir übrig gebliebenen Haare sind weiß. Ein Auge habe ich gänzlich verloren, das andere ist gefährdet. Ich habe so viele Krankheiten, daß ich mir wie der Inbegriff eines Krankenhauses vorkomme. Aber die Seele ist immer fest, kräftig, vertrauensvoll, wie in den ersten Jahren meiner Jugend, und ich hoffe, den Rest meines Lebens dem Triumph der Principien der politischen Freiheiten des italienischen Vaterlandes widmen zu können, von dem ich ein nicht unwürdiger Sohn zu sein mir bewußt bin … .“

Möge das Leipziger Verordnungsblatt nun wissen, wer Herr Petrucelli della Gattina ist, aus dessen neapolitanische Korrespondenzen es sich als einziges Beweismittel beruft, um die ehrenwerthesten Männer Italiens als Lügner und Betrüger und mich wenigstens als Betrogenen zu schildern. Jeder, der nur in Etwas die neuere italienische Literatur und die italienische Presse kennt, weiß, daß Herr Petrucelli, theils aus Liebhaberei, theils um von sich reden zu machen, seit 10 Jahren nach den abgeschmacktesten Paradoxien jagt. Man braucht nur einen Blick auf seine schriftstellerische Thätigkeit zu werfen, um sich davon in überzeugen. Musterstücke sind die Correspondenzen, die er an die vormals Turiner, jetzt Mailänder Unione schrieb; unerreichbar bleibt aber der Artikel, in dem er zu beweisen sucht, daß Victor Hugo ein geborener Neapolitaner sei, und ihn zum Abgeordneten des italienischen Parlaments vorschlägt. Sein Artikel gegen Baron Poerio ist nicht der erste derartige Artikel, wie er überhaupt gegen die besten Bürger Italiens am liebsten schimpft. Fanti, Farini, Ricasoli, Cavour und Liborio Romano, alle hat er schon in ähnlicher Weise zu beschimpfen gesucht. Keiner der Angegriffenen hat ihn je einer Antwort gewürdigt, ob Herr Petrucelli ein „warmer Anhänger Mazzini’s“ ist, wie ihn das Kreisblatt nennt, weiß ich nicht; das aber weiß ich, daß Joseph Mazzini an solchen Erbärmlichkeiten auch nicht den mindesten, nicht einmal indirecten Antheil hat.

Ich ersuche die Redactionen aller deutschen Zeitungen, welche den Artikel Petrucelli’s über den Baron Poerio verbreitet haben, die den Baron Poerio betreffende Stelle meiner Erklärung gegen das Leipziger Kreisblatt abzudrucken; ich bitte darum im Interesse der italienischen Sache und im Interesse der Wahrheit. Von dem Leipziger Verordnungsblatte verlange ich die sofortige Aufnahme dieses Schriftstückes. Ein vollkommenes Recht habe ich aber sowohl, wie die Redaction der Gartenlaube, dem Leipziger Kreisblatt das ausgesprochene Bedauern im reichsten Maße zurückzugeben. Ich thue noch mehr, ich erkläre, daß das Leipziger Verordnungsblatt von der Wahrheit aller von mir über die Anwendung der Folter in Neapel und Sicilien erzählten Thatsachen vollkommen überzeugt ist und dieselben nur in derselben Pflicht und in derselben Tendenz ableugnet, wie kürzlich der General Schmidt die von seinen Soldaten in Perugia verübten namenlosen Greuel mit frecher Stirn leugnete, wie österreichische officielle Zeitungen die im Jahre 1859 allen Cabineten Europa’s durch den Grafen Cavour mitgetheilte Erschießung der Familie Cignola leugneten, wie die päpstlichen Zeitungen die soeben durch die Zuaven des Statthalters Christi auf Erden an der neapolitanisch-römischen Grenze verübten Mordthaten abstreiten, wie überhaupt die ultramontane und reactionäre Presse Europa’s noch heute allen Zeugnissen, Urkunden und diplomatischen Actenstücken zum Trotz alle in Italien seit 44 Jahren ausgetheilten Stockprügel, verübten Morde, Hinrichtungen, Folterqualen und schweren Kerkerstrafen für Erfindungen erklärt, nämlich in der Absicht, um die Wahrheit in der Geschichte zu verfälschen und um die sogenannten legitimen Rechte von Despoten zu behaupten, von denen Michael Amari mit Recht sagt, daß man bis zu den Zeiten eines Nero und Tiberius hinaufsteigen müsse, um ihr Ebenbild zu finden.

Berlin, den 18. März 1861.
Dr. jur. Gustav Rasch.