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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1860
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[401]

No. 26. 1860.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Der Letzte seines Stammes.
Aus den Papieren eines *schen Beamten.
Herausgegeben von J. F–e.
(Schluß.)


So waren fünf Jahre seit der Entfernung des Freiherrn verflossen. Auf einmal, seit etwa acht Tagen, hieß es, der Freiherr Dietrich von Lengnau sei zurückgekehrt und habe ungeheure Reichthümer mitgebracht. Er gehe damit um, Alles, was seine Vorfahren von dem Gute Diburg veräußert hätten, zurückzukaufen, das Schloß prachtvoll auszubauen, und so das Gut Diburg in einem Glanze wieder herzustellen, wie es des alten, stolzen freiherrlichen Geschlechts würdig sei. Wo er in den fünf Jahren gewesen, darüber hatte er mit keiner Sylbe sich ausgelassen. Geändert hatte er sich in der Zeit nicht; sein Benehmen war vielmehr noch roher und wüster als vorher, und sein Aussehen, obwohl er ein hübscher Mann war, so abschreckend, daß die Leute sagten, er müsse ganz besondere Dinge in der Welt getrieben haben und zu Allem in der Welt fähig sein. Er war ganz allein zurückgekehrt; aber schon am zweiten Tage nach seiner Ankunft hatte er befohlen, einige Gemächer im Schlosse zur Aufnahme einer Dame, die er in den nächsten Tagen erwarte, in Stand zu setzen.

Das waren die Nachrichten, die der Gensd’arm mir mittheilte. Er hatte sie theils aus früherer Erinnerung, er war längere Zeit in dem Nachbarkreise stationirt gewesen, und die neueren hatten ihm Gensd’armen jenes Kreises erzählt, mit denen er aus der früheren Zeit noch in Verbindung stand. Wenige Tage nach der Ermordung Bauers war der Freiherr von Lengnau nach Schloß Diburg zurückgekehrt. Er erwartete eine Dame. Drei Meilen von Diburg hatte Antonie Hein, in dem einsamen Gebirgskruge, sich versteckt aufgehalten. Nach Schloß Diburg hin war die Entflohene, nach Verlassung des Wagens, quer durch den Wald geeilt.

Der brave und eben so umsichtige Gensd’arm überließ es mir, die Schlußfolgerung, die er aus dem Allem nur unbestimmt gezogen, genauer und klarer festzustellen. Ich glaubte es zu können. Er vermuthete, daß der Freiherr von Lengnau der Mitschuldige der bereits in Untersuchung befangenen Personen sei. Ich wußte, daß Grote nicht schuldig sein könne, und mir war es klar, daß der eigentliche Schuldige noch im Bereich der Gerichte sein müsse; auch wußte ich, daß Antonie Hein in dem Gebirgskruge den heimlichen Besuch gehabt hatte, und daß Grote dies nicht gewesen sei. Die Hein war im Besitze eines Ringes des Ermordeten.

„Kennen Sie den Freiherrn von Person?“ fragte ich den Gensd’armen.

„Er ist ein großer, wohlgewachsener Mann.“

„Wahrscheinlich rasch in seinen Bewegungen?“

„Gewiß.“

„Sein Haar?“

„Lockig und glänzend schwarz.“

„Und sein Bart?“

„Er trug früher keinen; ob jetzt, weiß ich nicht.“

Aber ich glaubte genug zu haben, um die Merkmale jenes nächtlichen Besuchs, die auf Grote nicht völlig hatten passen wollen, in dem Freiherrn von Lengnau wiederzufinden. Daß Antonie Hein in vornehmer Gesellschaft gelebt habe, ohne zu ihr zu gehören, konnte man ihr wohl ansehen. Konnte, mußte sie nicht in solcher Weise dem Freiherrn angehören? Dann durchflog mich noch eine sonderbare Ahnung in Betreff der Beziehung Grote’s zu dem Freiherrn von Lengnau; aber darüber konnte der Gensd’arm mir keine Auskunft geben. Grote selbst sollte es; auch über Anderes. Vor allen Dingen that die größte Eile noth.

Waren die gemachten Conjecturen richtig, so war Folgendes klar: Die Hein war zu dem Freiherrn geflohen, um einerseits ihn von der Lage der Untersuchung und seiner eigenen Gefahr zu unterrichten, und um andererseits mit seiner Hülfe sicherer aus dem Bereiche der deutschen und überhaupt europäischen Gerichte zu entkommen, als sie ohne den Beistand eines solchen erfahrenen und verwegenen Mannes hoffen durfte. Es war vorauszusehen, daß er sie sobald wie möglich wegschaffen werde. Anzunehmen war, daß er sich zugleich mit ihr entfernen, jedenfalls, daß er auf Grund ihrer Mittheilungen jede noch etwa vorhandene und in seinem Besitz befindliche Spur, die ihn verdächtigen konnte, vernichten oder sonst beseitigen werde. Ich dachte an die Uhr des Ermordeten, den zweiten Ring, etwaige Papiere. Ich traf sofort Anstalten zu der Abreise nach Schloß Diburg.

Das Schloß lag zwar in einem fremden Gerichtsbezirk, und nur der zuständige Richter hätte Durchsuchungen, Verhaftungen und Vernehmungen dort bewirken können. Aber Rücksichten auf Formverstöße wies die Dringlichkeit des Falles zurück. Im Uebrigen hatte ich ausreichenden Grund zu einer gerichtlichen Recherche in dem Schlosse: den dringenden Verdacht, daß die aus den Gerichtsgefängnissen Entflohene Aufnahme dort gefunden habe. Ein Verhör Grote’s sollte mir hoffentlich zu Weiterem Veranlassung geben. Ich ließ ihn wieder vorführen, denn ich mußte ihn sofort fassen.

„Kennen Sie den Freiherrn Dietrich von Lengnau?“

Er erschrak auf den Tod und konnte nicht antworten. Aber leugnen konnte er nach diesem Erschrecken nicht mehr.

[402] „Kennen Sie ihn?“ wiederholte ich.

„Ja,“ stöhnte er hervor.

„Auch seine Schwester?“

Es war, als wenn der Tod ihm an das Herz trete. Er mußte sich auf einen Stuhl niederlassen.

„Ja,“ zitterte es dann über seine bleichen Lippen.

Meine Ahnung war gerechtfertigt; ich kannte das Motiv seines bisherigen Leugnens, warum er selbst unter dem Verdachte, unter der Beschuldigung des schwersten Verbrechens stehen und den wahren Verbrecher nicht verrathen wollte. Sollte die Kenntniß des Motivs mich zu weiteren Entdeckungen führen?

„Wo hatten Sie das Fräulein kennen gelernt?“ fragte ich ihn weiter.

Er hatte sich wieder etwas gesammelt und sann nach, ob er, wie früher, meinen Fragen ein Schweigen entgegensetzen solle.

„Bedenken Sie,“ ermahnte ich ihn, „daß ich Sie hier nach einem Umstande frage, der jeden Augenblick durch Nachfrage an dem Orte, wo das Fräulein war, festgestellt werden kann.“

Er überzeugte sich und nannte einen deutschen Handelsplatz, an dem er früher Commis gewesen war.

„Wie lernten Sie sie kennen?“

„Sie lebte dort bei einer Verwandten.“

„Standen Sie in näherer Beziehung zu ihr?“

Er mußte sich lange besinnen, ob er auch darauf antworten solle.

„Wir liebten uns,“ sagte er dann leise und erröthend.

Die Antwort konnte mich nicht überraschen.

„Wann war das?“

„Vor etwa fünf Jahren.“

„Mußten Sie sich von ihr trennen?“

„Ihr Bruder holte sie ab. Er wollte nie eine Verbindung zwischen uns zugeben, wegen der Standesverschiedenheit.“

„Haben Sie sie seitdem wiedergesehen?“

„Zu jener Zeit nicht; sie war auf dem Schlosse Diburg wie eine Gefangene gehalten.“

„Sie waren also dort?“

„Ich suchte vergebens in das Schloß zu kommen; ihr Bruder drohte mich zu erschießen, wenn er mich treffe. So hatte er auch seinem Jäger befohlen.“

„Trauten Sie ihm eine Verwirklichung seiner Drohung zu?“

„Ich mußte es nach seinem heftigen und gewaltthätigen Charakter.“

„Sie haben sich jetzt wieder in der Gegend aufgehalten und wollten mir bisher Ihren Zweck nicht angeben?“

„Ich kann es nun. Der eigentliche Grund meiner Auswanderung nach Amerika war, mir schnell ein Vermögen zu erwerben, um dann dennoch Sophien von Lengnau meine Hand anbieten zu können. Ich eilte nach meiner Rückkehr zu ihr. Da war auch ihr Bruder nach langer Abwesenheit zurückgekommen und brachte seinen ganzen unbeugsamen Familienstolz mit. Sophie liebte mich noch. Ich suchte sie zu einer Flucht mit mir zu bereden. Darüber wurde ich verhaftet.“

„Wo haben Sie zuerst den Freiherrn kennen gelernt?“

„Schon in jener Handelsstadt, als er die Schwester abholte.“

„Haben Sie ihn seitdem oft wiedergesehen?“

„Bei meinen Versuchen, Sophie in Diburg zu sprechen.“

„Außerdem nicht?“

„Nein,“ antwortete er, aber wieder mit jenen untrüglichen Zeichen, daß er die Unwahrheit spreche. Sie waren für mich ein neuer Beweis für die Schuld des Freiherrn. Ich sagte ihm das, und er schwieg; aber sein Blick sagte mir desto deutlicher, warum er schwieg, warum er schweigen mußte, konnte er den Bruder der Geliebten unter das Beil des Henkers liefern? Das war das Räthsel seines ganzen Benehmens und der Schlüssel der Auflösung. – Ich hatte Grund und Pflicht zu jedem Einschreiten auf Schloß Diburg und reiste dahin ab. Es war am zweiten Tage nach der Flucht der Hein. Der Gensd’arm war mit seinen Nachrichten erst gegen Mittag des Tages zurückgekommen, und erst nach Mittag konnte ich abreisen. Das Schloß Diburg war an sechs Meilen entfernt. Der Weg ging durch das Gebirge und war schlecht. Vor dem späten Abend konnte ich das Schloß nicht erreichen; freilich auch nur bei Nacht durfte ich dort ankommen, wenn ich einen Erfolg erzielen wollte.

Waren der Freiherr und die Hein noch da, so mußte ich schon mitten im Schlosse sein, ehe sie nur den Versuch machen konnten, durch den geheimen Ausgang des Schlosses zu entfliehen. Daß sie noch da seien, davon mußte ich ausgehen. Es war auch Wahrscheinlichkeit vorhanden. Der Freiherr wußte durch die Hein, daß in der Untersuchung bisher nicht einmal sein Name genannt war. Die Hein mußte in den ersten Tagen nach ihrer Flucht auf allen Wegen Steckbriefe und Gensd’armen in ihrer Verfolgung wissen.

Es war längst dunkler Abend, als ich unter Führung des Gensd’armen an einem einzelnen Hause anlangte, das noch etwa eine halbe Meile von Diburg entfernt lag. Es lag schon in dem jenseitigen Kreise. Ein ehemaliger Schulze wohnte darin, ein zuverlässiger, mit allen Persönlichkeiten und Verhältnissen der Gegend vertrauter Mann, ein alter Bekannter des Gensd’armen. Er sollte die noch erforderliche Auskunft geben; bei ihm und mit ihm sollte das Weitere berathen werden. Ich war auf Umwegen hingefahren, und die Gensd’armen und Executoren, die ich noch mitgenommen, hatten auf anderen Wegen hinreiten müssen, alle so einzeln und still und verborgen wie möglich, alle bewaffnet, aber nicht in Uniform.

Bei dem alten Schulze, welchen wir zu Hause antrafen, kamen wir zusammen. Er war ein erfahrener und kluger, schon bejahrter, aber noch außerordentlich rüstiger und kräftiger Mann. Er hatte früher als Schulze sich für Alles interessirt und mußte jetzt noch Alles wissen. Mit ihm beriethen wir, aber er stellte meine Aufgabe fast als verzweiflungsvoll dar.

Das Schloß Diburg hing wie ein Krähennest an einem steilen Bergabhange und war nach allen Seiten mit Mauern umgeben; selbst durch eine Belagerung war es nur von einer Seite zu nehmen, und während es dort genommen wurde, gingen die Belagerten von der anderen Seite ruhig und sicher an dem jähen Abgrunde auf verdeckten Schleichwegen hinunter, die nur ihnen bekannt und nur ihnen nicht gefährlich waren. Dazu die Persönlichkeit des Besitzers. Er war schon vor seiner Auswanderung in der ganzen Gegend als einer der verwegensten und gewaltthätigsten Menschen gefürchtet. Es steckte der echte, nichts achtende und nichts schonende Raubritter des Mittelalters in ihm. Seit seiner Rückkehr sollte er noch wilder und unbändiger geworden sein; er hätte zugleich den rohesten Uebermuth des Geldes mitgebracht. In Schloß Diburg hatte er seine alten Genossen um sich versammelt, den Auswurf der unteren Stände der Gegend: verkommene Jäger, bestrafte Wilddiebe, verliederlichte Bauerbursche. Mit ihnen führte er ein Leben, so roh und gemein, wie die Menschen selbst, mit denen er es führte. Wie sie mit ihm roh und gemein waren, so waren sie auch mit ihm verwegen und gewaltthätig. Große Hunde dienten ihnen zur Jagd, zu ihren rohen Späßen, zur Sicherheit. War jetzt die entflohene Hein da, war sie die Genossin des Freiherrn, so war die wüste Gesellschaft des Schlosses nicht nur möglichst auf der Hut vor einem Ueberfalle, sie mußte auch immer bereit sein, ihren Herrn und Meister gegen jeden Angriff auf das Aeußerste zu vertheidigen. Daß die Hein angekommen sei, davon wußte der alte Schulze nichts. Nach der Schwester des Freiherrn mußte ich noch fragen.

Der alte Mann schüttelte traurig den Kopf. „O, das ist eine unglückliche Geschichte. Das Fräulein ist ein Engel mitten in der Höllenwirthschaft da. Sie hat nur noch eine Hoffnung, daß der Himmel sie bald erlösen werde, Sie hatte sich vor vielen Jahren mit einem braven jungen Manne verlobt; aber er war ein Bürgerlicher, und der Freiherr wollte die Verbindung nicht zugeben. Sie fürchtete den Zorn des Bruders und unterwarf sich seinem Willen. Seitdem zehrt sie da oben ab, still und leidend, und ohne andere Hoffnung, als auf den Himmel.“

Bruder und Schwester waren die letzten Sprossen des alten und einst stolzen und mächtigen freiherrlichen Geschlechts von Lengnau auf Schloß Diburg.

„Ist Dienerschaft im Schlosse?“ erkundigte ich mich noch.

„Das Fräulein lebte früher mit einer alten Magd da. Ob der Bruder sie als Zeugin seines wüsten Treibens da gelassen hat, weiß ich nicht. Ein alter Diener ist sicher geblieben,“ antwortete mir der Schulze.

„Woher entnehmen Sie diese Sicherheit?“

„Der Mann ist ein altes Familienstück des Hauses; er ist uralt und war schon ein Greis, als ich noch ein Knabe war. Er ist der einzige ehrliche Mann im Schlosse. Der Freiherr haßt ihn, weil er ehrlich ist und ihn von früh her zum Bessern ermahnt hat, aber ihn aus dem Schlosse zu werfen, hat er nie gewagt. Er ist der Schutzengel des armen Fräuleins.“

[403] Die Berathungen mußten zu einem Entschlusse führen, vielmehr zu der Ausführung eines Entschlusses. Denn daß ich in das Schloß hinein mußte, um dort weiter für die Zwecke der Untersuchung zu handeln, war für meine Pflicht keine Frage. Es kam nur darauf an, wann und wie vorangegangen werden sollte. Ein sofortiger, nächtlicher Ueberfall erschien nach Allem das Rathsamste. Er allein bot die Chance einer Ueberraschung, auf die Alles ankam. Er war dafür mit persönlicher Gefahr verknüpft. Bei Tage und wenn ich, ohne überfallen oder überraschen zu wollen, offen im Namen des Gesetzes Einlaß in das Schloß verlangte, war eine Widersetzung, wenigstens eine thätliche, bewaffnete, nicht wohl zu befürchten. Es stand dann aber auch den Verfolgten sicheres Entkommen und sicheres Vernichten aller Beweisstücke frei. Ich glaubte keine Wahl zu haben. Auf Gefahr, auf einen Kampf, auf einen erbitterten Kampf sogar mit den rohen Gesellen war ich gefaßt und brach sofort auf. Der alte Schulze schloß sich an mich an, eben so noch ein in der Nähe stationirter Gensd’arm des Kreises, den einer von meinen Leuten unterdeß herbeigerufen hatte.

Es waren unser im Ganzen zehn Personen. Zwei Gerichtsexecutoren und vier Gensd’armen hatte ich mitgebracht; dazu der Schulze und der Gensd’arm des Kreises; endlich mein Secretair und ich. Der Secretair war ein alter Mann. Ich wollte ihn einer Gefahr nicht aussetzen und ließ ihn in der Wohnung des Schulzen zurück. Wir neun Andern machten uns auf den Weg. Wir waren sämmtlich bewaffnet. Fünf von uns gingen zu Fuß. Ein Executor und drei Gensd’armen blieben zu Pferde; für den Fall, daß eine schleunige Verfolgung Noth thue. Unser Operationsplan stand vorläufig nur im Allgemeinen fest. Ein Theil von uns sollte Einlaß in das Schloß suchen, der andere unterdeß thunlich die Ausgänge des Schlosses besetzen. Das Einzelne konnte erst Angesichts des Schlosses festgestellt werden.

Es war ein dunkler Octoberabend. Kein Stern am Himmel. Ein heftiger Westwind zog über das Land. In dem Walde hörte man ihn brausen. Das Haus des Schulzen lag in einer Bergschlucht. Der Weg zu dem Schlosse Diburg führte eine Zeitlang durch die Schlucht, dann einen Berg hinan, der mit Wald bedeckt war. Oben auf der Höhe, sagte der Schulze, liege das Schloß. Wir stiegen immer hinan, fast eine ganze Stunde lang. Der Wald verließ uns nicht. Anfangs gingen wir in einem schmalen, sich den Berg hinauf windenden Fahrwege. Bald verließen wir seine Krümmungen. Der Schulze führte uns in geraderer Richtung auf keinem gebahnten Wege, aber sicher unter den Bäumen weg. Er war hier überall bekannt. Wir hatten so den doppelten Vortheil, schneller an unserem Ziele anzulangen und Niemandem zu begegnen. Wir begegneten wirklich Niemandem und hörten auch kein Geräusch. Der Wind strich mitunter heulend durch die Bäume; das war der einzige Ton, der an unser Ohr schlug. Wir erreichten die Höhe des Berges, das Ende des Waldes. In der Dunkelheit lag eine dunkle Fläche vor uns. Sie lief hinten spitz zu. An der Spitze war eine Erhöhung.

„Das Schloß Diburg,“ sagte der Schulze. „Es liegt auf einem Felsen; es ist fast in den Felsen hineingebaut. Auf seiner anderen Seite ist unmittelbar jäher Abgrund; Fels und Mauern reichen steil hinein. Dort sind die verborgenen Ausgangspfade, die nur der Schloßherr kennt. Unten ist wieder dichter Wald.“

Wir hatten Halt gemacht. Wir konnten etwa zehn Minuten von dem Schlosse entfernt sein. Ein Licht war nicht darin zu sehen, Geräusch nicht zu hören. Wir gingen weiter, auf das Schloß zu. Wir waren auf ehemaligem Waldboden. Die Bäume, die dort gestanden, hatte der Schloßherr wohl schon vor Jahren zu Gelde gemacht, vielleicht schon der Vater des jetzigen. Der Grund war dann unbebaut liegen geblieben. Nach ein paar Minuten kamen wir an einen Weg. Er führte in gerader Linie auf das Schloß zu. Von diesem konnte man jetzt die Umrisse erkennen. Wir waren bis dahin beisammen geblieben. Es mußte nun zunächst, und zwar mit der größten Vorsicht, recognoscirt werden.

Ich ging mit dem Schulzen allein weiter, nach dem Schlosse hin. Wir blieben in dem Wege. Er führte bald zwischen Land, das Spuren einer Bebauung zeigte. Aber wie alt mußte diese sein! Es war einst ein Park hier gewesen, der Schloßpark. Man sah jetzt nur Verfall, Verwüstung. Wir kamen näher an das Schloß selbst. Seine Umrisse zeigten sich trotz der Dunkelheit deutlicher. Es war kein weites Gebäude. Der Felsenvorsprung, auf den und in den hinein es gebaut war, hatte eine weite Flächenausdehnung des Baues nicht zugelassen; man hatte es dafür höher gebaut, mit Spitzen und Thürmen, mit Erkern und Giebeln. Es war ein alterthümlicher Bau. Aber es war kein stolzer Bau mehr. Früher gewiß. Früher hatte auch ein stolzes, blühendes freiherrliches Geschlecht darin gewohnt! Aber wohnten nicht noch ein Freiherr und ein Freifräulein darin? Gewiß. Aber das Freifräulein war arm, elend und abgezehrt und hatte seit Jahren keine andere Hoffnung als auf den Himmel. Und der Freiherr war ein Räuber und Mörder. Ich hätte beinahe auflachen müssen. Waren seine mittelalterlichen Vorfahren nicht dasselbe gewesen? Und hatte das nicht ihren Ruhm, ihren Stolz, ihren Glanz ausgemacht? Warum war es denn jetzt nicht mehr so?

„Es erben sich Gesetz’ und Rechte
Wie eine Krankheit fort!“

Doch wohl nicht immer! – Es war still in dem alten, hohen Schlosse. Es lag wie todt da, kein Licht und kein Laut drang herüber. Nur der Wind pfiff um Mauern und Thürme. Wir gingen unmittelbar heran und standen an einer hohen Mauer. In ihr befand sich ein fest mit Eisen beschlagenes Thor, welches verschlossen war.

„Die Mauer,“ sagte der Schulze, „umgibt das Schloß nach beiden Seiten bis an den Felsenabhang. Das Thor ist der einzige Eingang. Ein Ausgangspförtchen auf der Rückseite ist noch da; man kann aber nur aus dem Innern des Schlosses hingelangen.“

Es war zehn Uhr Abends.

„Sollten die Bewohner des Schlosses schon schlafen?“

„Ich glaube kaum,“ meinte der Schulze. „Sie zechen gewöhnlich bis in die Nacht.“

„Aber man hört nichts.“

„Sie können auf jener Seite sein, und der Wind kommt von dieser. Zudem, wenn sie schliefen –“ Der Schulze unterbrach sich. „Was war das?“

„Hörten Sie etwas?“

„Da, jenseits des Thors. Ich wollte gerade sagen, daß während der Nacht, wenn sie im Schlosse zu Bett sind, ein Paar der großen Hunde zur Wache hinausgelassen werden, und da –“

„Und da?“

In demselben Moment ertönte ein lautes Hundegebell, dicht neben uns, unmittelbar an der anderen Seite des verschlossenen Thors.

„Sollten sie doch schon schlafen?“ sagte der Schulze.

„Die Hunde werden uns verrathen,“ sagte ich.

„Das haben sie schon, und die Thiere werden nicht wieder aufhören.“

„Also, es bleibt nur noch ein rascher Entschluß.“

„Nichts Anderes,“ bestätigte der Schulze.

„Voran! Ich poche an das Thor. Sie, Schulze, eilen zu den Andern und rufen sie herbei.“

Er war schon fort. Die Hunde – es waren ihrer zwei bellten in rasendem Geheul. Ich pochte inzwischen mit einem Stock an das Thor. Der Wind schlug, um die Wette mit den Hunden heulend, an die Mauern, Erker und Zinnen des Schlosses. Die Wetterfahnen auf den Thürmen flogen schrillend hin und her. Es war die gräulichste Katzenmusik in dem Dunkel der Nacht, auf dem einsamen hohen Berge, an dem alten, verfallenen Schlosse. In dem Gebäude selbst regte sich nichts.

Der Schulze kehrte zurück. Die Gensd’armen und Executoren kamen mit ihm. Es konnte doch noch ein Plan gemacht werden. Der Gensd’arm des Kreises kannte den Weg, der von der Anhöhe hinunter in die Schlucht jenseits des Schlosses führte. Dort mußte der verborgene Ausgang aus dem Schlosse münden. Wo? wußte Niemand. Aber der Zufall konnte Glück bringen. Ich ließ den Gensd’armen mit zwei anderen und einem Executor den Weg hinunter sprengen, die Schlucht zu besetzen und auf Flüchtlinge Wache zu halten. In dem Schlosse war es noch immer still. Nur die Hunde heulten fort, und nur das Wetter tobte fort.

„Man will uns nicht hören! So kann man uns die ganze Nacht warten lassen.“

Darauf waren wir nicht vorbereitet gewesen, wohl aber der alte Schulze.

„Ich kenne das alte Thor,“ sagte er. „Es sieht nur fest aus. Mit einem alten Baumstamm, der in dem alten Park noch zu finden sein wird, rennen wir es ein. Pochen wir vorher noch einmal.“

[404] Wir pochten noch einmal. Die Hunde hörten auf zu bellen. Sie knurrten nur noch. Irgend etwas mußte ihnen Ruhe geboten haben. Eine menschliche Stimme ließ sich jenseits des Thors vernehmen.

„Wer ist da draußen?“ Es war eine weibliche Stimme.

„Die alte Magd,“ sagte der Schulze. „Warum mag keiner von den Männern kommen? Ich bin da, Anne Liese!“ rief er dann durch das Thor, „der Schulze Erdmann. Oeffnet.“

„Aber was wollt Ihr am späten Abend?“

„Ich habe Geschäfte im Schlosse.“

„Ich werde es melden.“

Wir hörten sie sich entfernen. Die Hunde blieben still. Sie knurrten nur noch leise. Wir warteten. Uns klopfte doch das Herz.

„Wenn man uns sicher machen und überfallen wollte!“ meinte selbst der Schulze. „Die Menschen da drinnen sind zu Allem fähig. Seien wir auf unserer Hut.“

Und was gilt einem verfolgten Raubmörder ein Menschenleben mehr? mußte ich in Erinnerung an so manches Verbrechen denken. Es wurde hell jenseits des Thors. Man konnte es an einem flackernden Scheine sehen, der an den Mauern des Schlosses hinanstieg. Ein Schritt nahte sich dem Thore; nur ein einzelner. Es mußte Jemand sein, der eine Laterne trug. Er kam nicht bis ganz an das Thor.

„Kommt!“ rief eine Stimme den knurrenden Hunden zu. Es war eine männliche Stimme.

„Der alte Diener!“ sagte der Schulze. „Warum muß der alte Mann herauskommen? In der Nacht? In diesem Wetter? Was mag das sein?“

Der Mann mit der Laterne entfernte sich wieder von dem Thore. Die knurrenden Hunde folgten ihm. Nach einer Weile kehrte er ohne die Hunde zurück; er hatte sie fortgeschafft. Das Thor wurde von innen geöffnet. Ein schneeweißer, von vielen Jahren tief gebückter, von noch mehr Sorgen tief gebeugter Greis stand in dem Scheine der Laterne vor uns. Er sah so ehrlich aus, der alte Mann. Er war der einzige ehrliche Mann in dem alten Freiherrnschlosse. Er sah uns, alle die fremden Gesichter, ruhig, aber traurig genug an.

„Was wünschen die Herren?“

„Einlaß, im Namen des Gesetzes!“ antwortete ich.

Er seufzte nur schwer auf.

„Folgen Sie mir.“

Ich ließ ihn das Thor verschließen und die Schlüssel an mich abgeben. Ein Gensd’arm mußte als Wache an dem Thore zurückbleiben. Mit meinen anderen Begleitern folgte ich dem Greise zu dem Gebäude. Wir überschritten eine Brücke, die früher eine Zugbrücke gewesen war, und kamen in einen schmalen Hofraum. Vor uns lag das Schloß. Ein hohes Eingangsthor stand offen. Der Greis führte uns dahin. Das Gebäude lag dunkel vor uns und eben so still. Dunkel und Stille waren so unheimlich. Was sollte jetzt gleich darauf folgen? Hatte der trotzige, gewaltthätige Herr des Schlosses, der verfolgte Raubmörder, in diesem alten Raubneste uns einen Hinterhalt bereitet? Einen Hinterhalt, um noch seinem gewaltthätigen, trotzigen Sinne ein Opfer zu bringen, um noch Rache zu nehmen für die Behandlung seiner Geliebten, für seine eigene Verfolgung, und dann für immer das Land, den Welttheil zu verlassen, in dem er als geächteter, dem Henker verfallener Verbrecher erkannt war? Der greise Diener sah ehrlich aus. Er konnte selbst getäuscht sein. Wir traten in das hohe Portal, in eine weite Halle. Es war kein anderes Licht da, als das der Laterne des Dieners.

„Führen Sie mich zu dem Schloßherrn,“ sagte ich zu dem Greise.

„Der Freiherr ist nicht da.“

„Er ist verreist?“

„Er ist fort.“

„Seit wann?“

„Seit dem Beginn des Abends. Es können vier bis fünf Stunden sein.“

„Wer ist noch im Schlosse?“

„Das gnädige Fräulein.“

„Und außerdem?“

„Eine alte Magd und ich.“

„Weiter Niemand?“

„Kein Mensch weiter.“

Der alte Mann log nicht. Ich war zu spät gekommen. Ich konnte doch noch eine Aufgabe in dem Schlosse haben. Es war möglich, daß der Entfliehende in der Eile ein verdächtigendes Beweisstück zurückgelassen habe. Jedenfalls war festzustellen, ob die Hein dagewesen sei.

„Führen Sie mich in das Zimmer des Freiherrn.“

Er führte mich durch die Halle in einen breiten Gang, aus diesem in einen zweiten, schmaleren. An dessen Ende schloß er eine Thür auf. Wir waren zu ebener Erde geblieben. Ich trat in ein geräumiges, hohes gewölbtes Gemach. Es hatte ein einziges breites und hohes Bogenfenster. Wie der Bau des Zimmers, so waren auch die Möbel darin alterthümlich. Aber Alles war solide. Zu seiner Zeit war es kostbar, vielleicht prachtvoll gewesen. Daß ein wüster Mensch dort gehauset habe, zeigte sich nirgends. Ich traf zunächst Anordnungen, daß die verschiedenen Theile des Schlosses durch Gensd’armen und Executoren besetzt wurden, um Vertragungen, Collusionen und dergleichen zu verhüten. Den alten Schulzen behielt ich bei mir in dem Gemache. Dann befragte ich zuerst den Diener.

„Wohin ist der Freiherr verreist?“

„Er hat mir nichts darüber mitgetheilt.“

„Wann wird er zurückkehren?“

„Ich glaube nicht, daß er jemals wiederkommen wird.“

„Sprach er davon?“

„Zu mir nicht. Aber seine letzten Worte, als er das Schloß verließ, waren ein Abschied für immer von hier.“

„Nahm er Sachen mit?“

„Wenige. Nur sein Reiseportefeuille.“

„Ging er allein?“

„Eine fremde Dame begleitete ihn.“

„Eine Fremde?“

„Sie war vorgestern in der Frühe hier angekommen.“

„Beschreiben Sie sie.“

Der Diener beschrieb Antonie Hein.

„Hatten Sie die Dame schon früher gesehen?“

„Niemals.“

„Wie kannte sie Ihren Herrn?“

„Sie war sehr vertraut mit ihm.“

„Hat Ihr Herr Ihnen keinen Auftrag hinterlassen?“

„Nein.“

„Kann ich das Fräulein, die Schwester des Freiherrn, sprechen?“

„Ich werde Sie melden.“

„Ich stelle dem Fräulein anheim, wo sie mich empfangen will.“

Der Greis ging. Ich sah mich näher in dem Gemache um. Außer den Tischen und den alten, hohen, gepolsterten Lehnsesseln fielen besonders mehrere alte Wandschränke darin auf. Sie waren von Eichenholz, mit künstlichem Schnitzwerk. Das Alter, vielleicht das Alter von Jahrhunderten, hatte sie dunkelbraun gefärbt. Einige standen ganz offen, in andern steckte der Schlüssel. Jene waren leer. Einen der letztern schloß ich auf. Es hingen alte Kleidungsstücke darin. Ich drückte gegen diese, um zu fühlen, ob sich in oder hinter ihnen noch etwas Anderes befinde. Auf einmal war es, als wenn die Wand des Schranks hinter den Kleidern nachgäbe. Ich schob diese auseinander und blickte in einen dunkeln Raum. Der Schrank hatte keine Rückwand. Die Mauer, an der er stand, bildete diese. Und in der Mauer war eine Oeffnung. Ich theilte meine Bemerkung dem Schulzen mit.

„Wohin mag die Oeffnung führen?“

„Ein Versteck,“ meinte er. „Man findet sie oft so in alten Häusern.“

Ich wollte trotzdem näher untersuchen, als die Thür des Gemachs geöffnet wurde. Der alte Diener trat wieder ein, mit Lichtern. Eine Dame folgte ihm, eine feine, schöne, leidende Gestalt. Es war das Fräulein Sophie von Lengnau, die Schwester des Freiherrn, die Geliebte des Commis Wilhelm Grote. Ich hatte sie so Vieles zu fragen, ich hatte ihr so Vieles mitzutheilen. Sie konnte es ahnen, sie sah es mir an. Der Diener hatte sofort das Zimmer wieder verlassen. Sie warf einen Blick auf den Schulzen, dann einen bittenden auf mich. Ich ließ auch den Schulzen hinaustreten.

„Mein Herr,“ sagte sie dann zu mir, mit einer großen, edlen Fassung, aber mit einer Stimme, die zum Herzen drang. „Ich weiß den Zweck, der Sie hierher führt. Mein Bruder ist außer dem Bereiche Ihrer Gewalt. Darf ich Sie gleichwohl bitten,

[405]

Menageriebilder.
Nr. 1.

Eine Löwenmutter.
Nach der Natur gezeichnet von H. Leutemann.

[406] mich mit Fragen zu verschonen, die ich Ihnen nie beantworten dürfte, die dennoch das Herz der Schwester zerreißen müßten?“

Sie sah mich flehend an. Ich mußte sie doch fragen.

„Sie würden mir auch dann nicht antworten, wenn von Ihren Antworten das Schicksal eines Unschuldigen abhinge, der des Mords verdächtig in Untersuchung und Haft ist?“

Darauf war sie nicht gefaßt gewesen. Sie zuckte zusammen und wurde bleicher. Sie suchte nach einer Antwort, nach einem Entschlusse.

„Der verhaftete Unschuldige, mein Fräulein, heißt Wilhelm Grote.“

„Ewiger Gott!“ schrie sie auf. „Ich hatte es geahnt!“

Ich mußte sie zu einem der alten Lehnsessel führen. Dann fuhr ich fort:

„Ich ermesse den schweren Kampf, den Sie kämpfen müssen, mein Fräulein. Gestatten Sie mir vor der Hand einige Fragen, die ihn nicht berühren.“

„Fragen Sie, mein Herr.“

„Vorgestern ist eine fremde Dame hier im Schlosse eingetroffen?“

„Vorgestern in der Frühe.“

„Sie hat mit Ihrem Bruder das Schloß verlassen?“

„Heute Abend.“

„In welchem Verhältnisse stand sie zu Ihrem Bruder?“

„Mein Herr, die Fremde war eine Verworfene. Aber mein Bruder –“

„Ihr Bruder, mein Fräulein?“

„Er war, er ist in ihren Fesseln, mit einer blinden, wilden Leidenschaft, ganz, wie sein Charakter wild und unbändig ist.“

„Dürfen Sie mir sagen, was Ihr Bruder mit der Fremden verhandelt hat?“

Sie machte schweigend eine abwehrende Bewegung.

„Und Wilhelm Grote?“ fragte ich noch.

Ihre innere Aufregung drängte einen Strom von Thränen in ihre Augen. Sie stand auf.

„Verabschieden Sie mich, mein Herr, ich bitte Sie darum; ich muß mich sammeln und in Ruhe mit mir zu Rathe gehen. Morgen früh, wenn ich bitten darf, oder, wenn Sie nicht so lange bleiben können, in einer Stunde. Schlafen werde ich in dieser Nacht nicht.“

Ich verließ sie. Die Arme! Die Unglückliche! Ihr Schicksal ging mir tief zu Herzen. Sie hatte so viel, so lange gelitten, und der schwersten Stunde ihres Lebens ging sie jetzt entgegen. Den Geliebten oder den Bruder, wen sollte sie zum Mörder machen? – Ich mußte mit dem Suchen nach Ueberführungsstücken fortfahren, eigentlich damit beginnen. Etwas durfte ich zu finden hoffen, wenn auch nur irgend ein verlorenes oder vergessenes Stück Papier, das Aufklärung über frühere Beziehungen des Freiherrn gab. Es konnte weiter daran angeknüpft werden.

Der Schulze kam nicht in das Gemach zurück. Er sah wohl nach den verschiedenen Posten, die im Hause umhergestellt waren. Ich suchte auf den Tischen umher, fand aber nichts, ging wieder zu den alten Wandschränken und schloß einen von ihnen auf, einen andern, als den, in dem ich vorhin die Oeffnung entdeckt hatte. Es war ein großer, tiefer, mächtiger Schrank. Auch in ihm hingen Kleidungsstücke, die ihn füllten. Es waren alte Herrenkleider, von denen die ältesten Jahrhunderte alt sein mochten. Sie repräsentirten die Mode von Jahrhunderten, doch nicht auch den Glanz. Wo eine Gold- oder Silberstickerei gewesen war, war sie abgetrennt, abgerissen. Die stolze Pietät der Vorfahren hatte hier von Geschlecht zu Geschlecht das Prunkgewand des Vaters, ihn und sich ehrend, aufbewahrt. Der letzte Sprosse des stolzen Geschlechts hatte sie beraubt. Auch so vergeht der Glanz und der Stolz alter Geschlechter!

Die frevelnde Hand war vielleicht nicht einmal zurückgebebt, als sie den Raub beging. War sie doch später selbst vor einem Raubmorde nicht zurückgebebt! So beginnt der Verbrecher seine Laufbahn. Ich sah die alten stolzen Freiherren vor mir. Wie mochten sie gezürnt haben, als jener Frevel gegen sie verübt wurde! Ueber den Raubmörder verhüllten sie die stolzen, edlen Gesichter, in Scham, in Trauer. Ich wandte mich ab von dem Schranke.

Da – es war mir, als wenn ich unmittelbar vorher ein leises Geräusch vernommen hätte. Ich hatte nicht darauf geachtet. Der Schulze wird zurückkehren, hatte ich gedacht. Da stand eine wirkliche Gestalt vor mir. Kein edles, kein in Scham und Trauer verhülltes Gesicht. Aber ein stolzes, wie von wilder Leidenschaft verzerrtes. Der Freiherr Dietrich von Lengnau! Er mußte es sein. Seine Gestalt glich der Wilhelm Grote’s. Er trug denselben Vollbart, dasselbe lockige Haar. Beide waren nur dunkler, schwärzer, glänzender.

Er war durch jene Oeffnung des alten Wandschranks hereingekommen. Jene Oeffnung mußte durch einen verborgenen Gang zu dem geheimen Ausgang des Schlosses führen. Ich hatte es in dem Momente combinirt, da ich ihn sah. Ich hatte es combinirt, während zugleich das Blut in den Adern mir zu Eis gerinnen wollte. Warum war er zurückgekehrt? Was wollte der wilde, unbändige, gewaltthätige Mensch hier? Welche Leidenschaft mußte in ihm erwachen, da er einen Fremden in seinem Zimmer fand, wühlend unter seinen Sachen! Nein – denn auch er mußte im Moment combiniren – keinen Fremden, aber den Criminalbeamten, der ihn verfolgte, vor dem er geflohen war, der ihn dem Beile des Henkers überliefern sollte!

Er stand stolz vor mir. Sein Gesicht war verzerrt. Er sah mich finster an, mit einem Ausdrucke wachsender Wildheit. Ich erwartete einen Angriff von ihm, einen Angriff für sein Leben. Ich wollte mich für mein Leben wehren und griff nach einem Pistol, das ich auf der Brust trug.

„Sie rühren sich nicht!“ rief er mit gedämpfter Stimme.

Ich konnte mich schon nicht mehr rühren. Seine Rechte hatte mein Handgelenk mit riesiger Gewalt umspannt. Mit seiner Linken zog er ruhig ein gespanntes Pistol hervor.

„Wenn Sie einen Laut von sich geben, sind Sie des Todes.“

Ich war in seiner Gewalt. Was sollte folgen? Er sah sich langsam in dem Zimmer um. Dann wandte er sich wieder zu mir.

„Sie sind Criminalrichter, mein Herr?“

„Ja.“

„Sie suchten mich hier?“

„Ja.“

„Dann nach Beweisen gegen mich?“

„Ja.“

„Wissen Sie, mein Herr, wo Sie hier sind?“

„In Ihrem Gemache. Ihr Diener hat mich auf mein Verlangen hierher geführt.“

„Sie sind auch in dem Gemache meiner Vorfahren.“

Ich schwieg.

„Und es ist gut, daß Sie hier sind. Ich brauche keinen andern Zeugen herbeizurufen, nicht den greisen Diener.“

Wozu wollte er einen Zeugen? Der Ausdruck der Verzerrung in seinem Gesichte ließ nach. Aber es wurde ruhiger, es wurde beinahe edel stolz.

„Hören Sie mir zu, mein Herr,“ fuhr er fort. „Ich stamme aus einem edlen Geschlechte. Ich bin der Letzte dieses Geschlechts und bin ein Verworfener. Alter Same artet aus. Ich bin entartet und meinte, ich könnte es ertragen. Als ich aber heute dem Schlosse meiner Väter den Rücken gewandt hatte, für immer, da fühlte ich, mein Herr, daß ich Alles könne, aber Eins nicht. Ich bin der Mörder, mein Herr, den Sie suchen. Ich habe meinen Namen, mein Geschlecht, meine Ahnen entehrt. Hier, in meinem, in ihrem Schlosse, in dem Gemache, in dem ich, in dem sie gelebt haben, hier, wo ihre edlen Geister mich umschweben, hier bin ich ihnen, hier bin ich mir die Sühne schuldig. Bezeugen Sie es der Welt, mein Herr, und meiner armen Schwester.“

Er ließ meinen Arm los. Er setzte das Pistol an seine Stirn. Ich wollte aufschreien, aber er war rascher als ich, und seine Hand drückte ab. Ehe ich mich besinnen konnte, lag eine Leiche vor mir. Der alte, greise Diener des Hauses war der letzte ehrliche Mann in dem Schlosse der stolzen Freiherrn von Lengnau. Der letzte Sproß des stolzen Geschlechts hatte sich doch ein stolzes Herz bewahrt. Er hatte sich als den Mörder bekannt, den ich suchte. Er war todt.

Willhelm Grote legte ein volles, offenes, nicht mehr Geständniß, aber Zeugniß ab. Er hatte den Freiherrn von Lengnau in Californien wiedergetroffen, aber erst in der letzten Zeit seines dortigen Aufenthalts, als er schon im Begriff gestanden, nach Europa zurückzukehren. Grote selbst hatte damals sich schon sein Vermögen erworben. Der Freiherr hatte in dem Goldlande sich zehnmal etwas erworben und es zehnmal wieder verloren, durch einen leichtsinnigen, wilden, wüsten Lebenswandel, durch liederliches Herumtreiben mit verworfenen [407] Abenteurern und noch verworfeneren Abenteurerinnen. Als Grote ihn traf, besaß er wieder gar nichts; dennoch stand er im Begriffe nach Europa zurückzukehren. Ein Grund zu dieser Rückkehr war für Grote nicht ersichtlich. Der Freiherr selbst gab keinen an. Grote stand übrigens in keinem Verkehr mit ihm. Der Freiherr zog sich auch in dem fremden Lande ebenso stolz von ihm zurück, wie er in der Heimath die Bewerbung des Bürgerlichen um seine Schwester hochmüthig und roh zurückgewiesen hatte.

Der Freiherr lebte zusammen mit einer ebenso schönen, wie verschmitzten Person, einer Tänzerin oder Schauspielerin, die er von einem Winkeltheater in San Francisco zu sich genommen hatte, für die er eine wahrhaft wilde Leidenschaft fühlte, und die eine unbegreifliche Gewalt über ihn ausübte. Es schien Grote, als wenn sie ein Verlangen habe, nach Europa zurückzukehren, und als wenn der Freiherr nur ihrem Willen folge. Den wahren Grund der Rückkehr Beider sollte er erst in Europa gewahr werden.

Bei seiner Ankunft in Antwerpen traf er dort Franz Bauer, den er in Californien kennen gelernt hatte. Bauer war am Tage vor ihm in Antwerpen angekommen. Sie sprachen über Bekannte, und er erzählte Grote, daß er mit Langner und dessen Frau die Ueberfahrt gemacht habe – Langner hatte der Freiherr sich in Amerika genannt, und seine Geliebte hatte er auch früher für seine Frau ausgegeben –; er werde auch mit Beiden, da sie denselben Weg wie er hätten, weiter zu der Heimath reisen. Er bat Grote, sich ihnen anzuschließen, soweit auch er den nämlichen Weg habe. Grote hatte keine Lust, mit dem Freiherrn zusammen zu reisen; am Tage vor der Abfahrt aber theilte Bauer ihm mit, Langner müsse noch mehrere Tage zurückbleiben, seine Frau werde allein vorausreisen, und Langner habe ihn gebeten, bis zu seiner Heimath sie zu begleiten, und er habe sich dazu bereit erklärt. Jetzt war auch Grote bereit, sich dem Bekannten anzuschließen.

Bauer, Grote und die Hein, oder wie die Geliebte des Freiherr eigentlich heißen mochte, reisten zusammen auf der Eisenbahn von Antwerpen ab und blieben zusammen bis zu der letzten Eisenbahnstation. Die beiden Männer nahmen dort für ihre Weiterreise einen Miethwagen. Als sie einstiegen, war auch die Hein wieder da, die mit ihnen fuhr, zufällig, wie sie behauptete. Sie fuhren in dem Miethwagen ab: Bauer wollte bis zu einem Punkte der Landstraße fahren, wo der Weg in seinen Heimathsort abging; Grote wollte nach Schloß Diburg, Sophie von Lengnau zu sehen, bevor ihr Bruder zurück sei.

Wohin die Hein wollte, hatte sie nicht gesagt. Sie kamen an dem Wege an, der zu der Heimath Bauer’s führte. Es war Abend, und Bauer stieg aus, den Weg zu Fuße zu machen. Mit ihm stieg Grote aus. Er hätte noch zehn oder zwölf Minuten weiter fahren können, wo dann auch für ihn ein Seitenweg, aber in entgegengesetzter Richtung, abging. Er wollte jedoch nicht den Wagen zweimal halten lassen. Die Hein fuhr allein weiter. Bauer und Grote nahmen von einander Abschied, und Ersterer ging links, einer Waldung zu, in die sein Weg hineinführte.

Grote ging langsam auf der Landstraße weiter, und er hatte beinahe den Seitenweg erreicht, den er zu nehmen hatte, als er auf einmal durch die Stille des Abends einen Schuß fallen hörte. Der Schuß fiel hinter ihm, in der Richtung, die Bauer genommen hatte. Er stutzte, und es fiel ihm heiß auf das Herz. Warum war der Freiherr von Lengnau zurückgeblieben? Warum hatte er Bauer um die Begleitung der Hein gebeten? Die Hein, die schon auf der Eisenbahnstation Abschied von ihnen genommen hatte, war bald nachher durch einen so seltsamen Zufall wieder mit ihnen zusammengetroffen. Sie hatte unterwegs sich so angelegentlich um ihn, Grote, bekümmert, ihn offenbar an sich zu ziehen gesucht, und als er zugleich mit Bauer ausgestiegen war, hatte sie ihn zurückhalten wollen. Eigenthümliche Blicke, die sie zuweilen auf Bauer geworfen, fielen ihm hinterher ebenfalls auf.

Eine ungeheure Angst befiel ihn, und er eilte, er lief zurück; er lief in den Weg, den Bauer genommen hatte, und kam in die Waldung, in die Gegend, in der seiner Meinung nach der Schuß gefallen sein mußte. Er ging vorsichtiger, leiser, blieb manchmal stehen, um zu horchen. Da hörte er endlich in der Tiefe des Waldes, weit seitwärts von dem Wege, ein Geräusch, es kam ihm vor, als wenn etwas auf dem Waldboden geschleppt werde. Er flog hin, eilig, aber leicht, leise, kaum hörbar.

Das Geräusch hatte aufgehört, er drang aber dennoch weiter. Er war bewaffnet und drang mit gespanntem Revolver vor. Ein Schuß fiel durch die Finsterniß, kaum zehn Schritte vor ihm, und eine Kugel schlug unmittelbar neben seiner Brust in die Zweige der Bäume. Er sprang zu der Stelle, an der er das Feuer des Gewehres hatte aufblitzen sehen, und – er stand vor dem Freiherrn von Lengnau, welcher im Begriff war, einen zweiten Hahn seines Doppelpistols zu spannen. Eine Leiche, Bauer’s Leiche, lag zu seinen Füßen.

Grote sprang auf den Mörder zu, ihm die Mordwaffe zu entreißen. Sie rangen darum. Während des Ringens entlud sich das Gewehr; das war Grote’s Rettung gegen den wüthend gewordenen Mörder, dem in diesem Augenblicke das zweite Menschenleben weniger war, als das erste. Grote konnte entfliehen, und was konnte er mehr? Das Verbrechen war vollendet.

„Klage den Bruder Deiner Geliebten an!“ höhnte der Mörder dem Entfliehenden nach.

Konnte er es? Der Mörder hatte sich selbst anklagen müssen, er hatte sich aber auch selbst seine Strafe gegeben. Mit sich hatte er in seinem Portefeuille die geraubte Summe zurückgebracht, welche der Familie Bauer’s übergeben wurde.

Wilhelm Grote und Sophie von Lengnau wurden nach Jahr und Tag ein Paar. Von der Antonie Hein wurde nie wieder etwas gehört.




Menageriebilder.
1. Eine Löwenmutter.
(Mit Abbildung.)

Obgleich seit mehr als zwanzig Jahren ein leidenschaftlicher Besucher von Menagerien, war doch mein sehnlichster Wunsch, eine Löwin mit ihren Jungen sehen und beobachten zu können, unerfüllt geblieben, denn der Fall, daß dieses Thier im Käfig Junge wirft, kommt so selten vor, daß er selbst in großen und lange bestehenden Menagerien ein Ereigniß ist. Zwar hatte ich früher als Kind junge Löwen mit ihrer Mutter gesehen, aber diese Erinnerung ist viel zu schwach, und ich weiß blos noch, daß die kleinen Thiere, wenn sie sich spielend herumkollerten, ganz reizend aussahen.

Endlich sollte nun mein Wunsch in Erfüllung gehen.

Einst am frühen Morgen, beim Eintreten in die große Kreuzberg’sche Menagerie, bemerkte ich, daß die Wärter (in der Menageriesprache ganz prosaisch Knechte genannt) einen leeren Käfig vor dem Behälter eines noch ziemlich jungen Löwenpaares aufstellten. Das Männchen dieses Paares war mir immer sehr interessant gewesen. Es gehörte zu den „arbeitenden“ Thieren der Menagerie und spielte bei den Vorstellungen, welche der Besitzer der Thiere mit den Bären, Hyänen, Leoparden und diesem Löwen in einem Käfig gab, die Hauptrolle. Denn während die andern Bestien sich entweder balgten, oder ihrem Herrn und dessen gefürchteter Nilpeitsche auszuweichen suchten, bestand seine Vorstellung in einem fortwährenden Auflehnen gegen die Zumuthungen desselben, und wer häufig diese Vorstellungen besuchte, konnte fast immer Zeuge der erregendsten Auftritte sein. Vielleicht läßt sich davon später einmal erzählen, jetzt haben wir es mit der Löwin zu thun, welche bald das anziehendste Thier in der Menagerie werden sollte.

Heinrich, der eine Wärter, hatte behauptet, daß diese Löwin bald Junge werfen würde, und deshalb, neben dem Versprechen eines Trinkgeldes für den Fall der Bestätigung, den Auftrag erhalten, das Thier abzusperren, damit es dann ungestört von dem männlichen Löwen sei. Es geschah dies, indem der leere Käfig dicht vor den mit den beiden Löwen gerückt wurde, vorher aber der Löwe durch eine eingeschobene Zwischenwand von der Löwin getrennt worden war. Dann wurden die beiden aneinander stehenden Eisengitter aufgezogen, und indem man die Löwin durch ein [408] Stück Fleisch in den neuen Käfig lockte, ließ man gleichzeitig das Gitter fallen, und der Umzug war geschehen. Schwierig ist zwar immer noch, den jetzt viel schwereren Käfig an seinen neuen Platz einzureihen, doch die Hauptsache ist dann geschehen. Auf diese oder die umgekehrte Weise geschieht stets der Wohnungswechsel in Menagerien.

Von Tag zu Tag wartete ich nun, daß die Prophezeiung des Wärters sich erfüllen sollte, und jeden Morgen eilte ich zuerst an den Käfig der Löwin. Vergebens. Der Tag nahte heran, an welchem die Menagerie abreisen sollte, und da schon einige Wochen seit der Absperrung der Löwin verstrichen waren, so stiegen leise Zweifel bei mir auf, ob nicht ein Irrthum vorliege. Aber der Wärter ließ sich nicht irre machen und behauptete, daß das Anschwellen der Euter ein untrügliches Zeichen sei. Er mochte allerdings Erfahrung haben, denn er hatte von Jugend auf in Menagerien gedient, während die meisten andern Wärter als gerade unbeschäftigte Handarbeiter und dergl. solche Dienste annehmen und sie gelegentlich wieder verlassen.

Die Menagerie ging zuletzt wirklich ohne junge Löwen nach Dresden ab, kam aber doch mit solchen dort an. Gerade die kurze Reise sollte ereignißvoll werden, denn während eine der schönen Giraffen, welche schon seit Jahren die Zierde der Menagerie waren, durch das Anstoßen ihres hohen Behälters an eine Ueberbrückung der Eisenbahn getödtet ward, warf die Löwin unterwegs ihre Jungen, und als nach der Ankunft die Käfige geöffnet wurden, lag die Alte ruhig bei ihren Kleinen, sie eifrig beleckend.

Absichtlich wartete ich einige Wochen, ehe ich nach Dresden reiste, um die kleinen Löwen mehr entwickelt und sehend vorzufinden. Auch waren sie in der ersten Zeit dem Publicum nicht gezeigt worden. Der Anblick war in der That ein reizender. Mit mütterlichem Behagen und Stolz zugleich lag die Alte auf ihrem Strohlager, kein Auge von ihren Kindern verwendend. Diese waren bereits so gewachsen, daß sie nicht mehr durch das Gitter herausgenommen werden konnten, wie dies noch einige Tage vorher geschehen war. Die Farbe war die der Alten, nur trugen sie überall schwache bräunliche Flecken, welche auf Scheitel und Rückgrat zu schwarzen wurden. Mit ihren dicken runzligen Köpfen, den kleinen spitzen Schwänzchen sahen sie gar niedlich aus, wenn sie, oft über die eignen ungeschickten Beine fallend, ihre Ausgänge, d. h. von ihrer Mutter bis vor an das Gitter unternahmen. Keine Bewegung entging der Alten, aber der Ausdruck ihres Gesichts hatte dabei etwas so Zufriedenes, so mütterlich Glückliches, daß man eben so gern auf sie selbst, wie auf die Kleinen sah.

Meine Erwartung, die Löwin durch die Menge der Zuschauer beunruhigt und aufgeregt zu sehen, bestätigte sich nicht, im Gegentheil, sie lag fast stets ruhig im Hintergrund ihres Käfigs, sodaß die Jungen fortwährend Gelegenheit hatten, ihren Durst zu stillen, was diese auch fleißig benutzten. Auch dabei blickte sie fast fortwährend nach diesen hin, sich oft niederbeugend, um sie zu lecken. Durch Letzteres gab sie überhaupt ihre mütterliche Liebe am meisten zu erkennen, und manchmal nahm sie wohl auch eins der Jungen zwischen ihre Tatzen, um es recht von Herzen zu lecken, wobei das Kleine um und um gewendet wurde, so sehr es auch strebte auf den Beinen zu bleiben. Der Gebrauch ihrer Beine war den Kleinen offenbar noch nicht recht geläufig, weshalb denn auch ihre Versuche zu spielen stets mit Umfallen endigten, wobei die Alte gleichfalls behaglich zusah. Trotz dieser Unbehülflichkeit entwickelte sich aber doch schon die wilde Natur, denn komischerweise versuchten sie mehrmals beim Herankommen an das Gitter dem Publicum die Zähne zu zeigen, die sie noch gar nicht hatten.

Ich hatte mir einige Skizzen der ganzen Gruppe bereits entworfen, wünschte nun aber auch die jungen Löwen selbst etwas genauer zu zeichnen, was bei dem dichten Strohlager, in welchem sie sich bewegten, nicht gut möglich war. Ich bat daher Heinrich, den Wärter, der allein so Etwas wagen durfte, mir dazu Gelegenheit zu geben. Ohne Weiteres streckte er seinen muskulösen Arm durch das Gitter, packte den nächsten jungen Löwen und hielt ihn empor. Zu meiner Verwunderung blieb die Löwin ganz ruhig, in ihrem Winkel liegen, behielt aber ihr Kleines unverwandt im Auge. Ein einziges Mal richtete sie ihr Auge auf mich und zeigte mir dabei die sehr ungemütlichen Zähne, ohne aber dieses Compliment auch dem Wärter zu machen, auf so vertrauten Fuß stand sie mit diesem. Als ich aber nun in aller Eile meine Zeichnung vollendet hatte und das Junge losgelassen war, wurde dieses von der Alten mit solcher Energie und Ausdauer von allen Seiten beleckt und umgewendet, als sollten damit alle Spuren der ungeweihten Berührung vertilgt werden.

Nur ungern trennte ich mich nach einigen Tagen, als die Menagerie nach Warschau abgehen sollte, von dem schönen Schauspiel, und immer noch denke ich gern an dasselbe zurück.

Es ist bekannt, daß die Löwinnen nicht immer zwei Junge werfen, sondern meistens nur eins, am seltensten drei. Schon die in Freiheit gebornen kommen nicht Alle auf in Folge des Vielen verderblichen Zahnens, noch seltener ist dies natürlich in der Gefangenschaft der Fall. Wie verderblich übrigens eine häufigere Vermehrung sein würde, ergibt sich daraus, daß nach der Behauptung Gerard’s, des berühmten Löwenjägers in Algier, ein Löwe, welcher 35 Jahre lebt, den Heerden für 50,000 Thaler Schaden zufügt. Wie diese Summe steigt, wenn eine ganze Löwenfamilie zusammenlebt, ist daraus leicht zu schließen. Es ist daher auch in den Gegenden Nord-Afrika’s, wo sich Löwen aufhalten, die Abgabe, welche die Araber dem Löwen gleichsam zu entrichten haben, eine vielfach größere, als die von der Regierung geforderte. Daß man bei diesem gewaltigen Schaden und bei dem Muthe der Araber nicht häufiger sich zu Jagden auf das Thier entschließt, ist eben nur die Furcht vor dem so häufig gefährlichen Ausgang dieser Jagden, und der Löwe wird daher gewiß noch lange Zeit vor Ausrottung, selbst in den bevölkerten Theilen Afrika’s, geschützt sein.

L–n.


Schamyl in Kaluga.

Sie haben in der Gartenlaube bereits früher (Nr. 15) einige Mittheilungen über den jetzigen Staatsgefangenen Rußlands, einstigen Chef der Tscherkessen, geliefert; erlauben Sie mir, daß ich heute darin fortfahre. Das Wesen Schamyl’s ist so interessant und bietet auch jetzt noch in der Gefangenschaft so viel Eigenthümliches und Charakteristisches, daß authentische Mittheilungen darüber sicher alle Leser Ihrer Zeitschrift interessiren dürften.

Schamyl war nach der Abreise seines bisherigen Begleiters, des Herrn v. Boguslawsky, sehr verstimmt und ging lange Zeit wie ein Tiefsinniger umher, obwohl wir uns auf alle Weise bemühten, ihn aufzuheitern. Auf meine ängstlichen Anfragen, wie diesem drückenden Zustande ein Ende zu machen sei, erwiderte Chadshio, Schamyl’s und mein alter Freund, das einzige und sicherste Mittel, das er kenne, sei die Musik, welche Schamyl leidenschaftlich liebte, und später Besuche in den öffentlichen Gesellschaften, für die er jetzt „noch nichts tauge“.

Kaum hatte mir Gramoff, Schamyl’s Dolmetscher, diese Worte übersetzt, so rief ich einen Diener und gab ihm Befehl, zum folgenden Tage eine Orgel, welche in einem Privathause verkauft wurde, in Schamyl’s Gastzimmer zu schaffen.

Als Chadshio von Gramoff erfuhr, wovon die Rede sei, äußerte er das lebhafteste Vergnügen und schien zugleich sehr gerührt. Wahrscheinlich unter dem Einflusse dieser Rührung gestand er mir, daß Schamyl außer der Besorgniß um seine Familie auch noch einen besondern Grund zur Traurigkeit habe. Er fühle sich nämlich tief ergriffen vom Gefühl der Dankbarkeit gegen den Kaiser für so viele unerwartete Beweise von dessen Freundlichkeit, und suche nach Mitteln, um dem Kaiser thatsächliche Beweise seiner Dankbarkeit und Ergebenheit geben zu können.

Ich äußerte ihm meine Zufriedenheit mit Schamyl’s dankbaren Gesinnungen und setzte hinzu, ich habe von ihm nichts Anderes erwartet, da er in der That eines ganz andern Empfanges gewärtig gewesen sei, und daß gewiß auch Schamyl’s Gefährten, von Gunib bis Petersburg und Kaluga, dessen Ansichten und Wünsche jetzt theilten; daß endlich er selbst, Chadshio, allem Anscheine nach, nunmehr nicht mit derselben Meinung über Rußland, mit welcher er den Kaukasus verlassen, dahin zurückkehren werde.

„O!“ rief er aus, „Du sollst bald erfahren, was ich gesagt habe, sobald ich wieder in meinem Karata bin.“

„Wohlan, was wirst Du sagen?“ fragte ich, besonders deshalb [409] neugierig, da Chadshio einer der reichsten und geachtetsten Familien Karata’s angehört, und als ehemaliger Murid und Schamyl besonders nahe stehend, eine einflußreiche Persönlichkeit in seinem Lande vorstellt.

„Ich werde sagen: Schamyl sprach – das ist schwarz, und ich werde sagen – das ist weiß; Schamyl sprach – das ist weiß, und ich werde sagen – das ist schwarz. So werde ich sprechen.“

„Warum aber wirst Du so sprechen? Vor Kurzem noch dachtest Du anders.“

„Nein, schon längst dachte ich so – Kasü-Mahomed dachte auch nicht anders; noch viele unserer Brüder haben gleiche Gesinnung, und jetzt meint es selbst Schamyl wie wir.“

„Wenn ihr aber schon längst so dachtet, warum nanntet ihr dann nicht früher schon das weiß, was Schamyl schwarz nannte?“

„Schamyl verstand so gut zu sprechen. – Das ganze Volk hatte den Schamyl auserwählt, um uns zu vertheidigen … Schamyl ist ein kluger Mann, ein sehr kluger Mann, und dabei sehr gut, so gut, daß er nicht besser sein kann. Dagegen aber, wenn Kasü-Mahomed strafbar geworden wäre, so hätte er ihm auf der Stelle den Kopf abhauen lassen. – Deshalb liebten und achteten wir aber auch den Schamyl über Alles.“

„Warum glaubst Du aber, daß Schamyl sich irrte, als er sagte, dies sei schwarz und jenes weiß?“

„Deshalb, weil er 65 Jahre alt ist, und weil er sein ganzes Leben hindurch keine Vergnügungen kannte, sondern nur betete.“

„Nun, und also?“

„Und deshalb verbot er uns, Tabak zu rauchen und die Frauen anzusehen, oder mit ihnen zu sprechen. Aber ist das wohl möglich?“

„Freilich, das ist nicht möglich,“ entgegnete ich lachend. „Aber Du weißt auch, zu was für Helden er euch im Kampfe gegen die Russen machte.“

Auf Chadshio’s Gesichte malte sich das Lächeln der Selbstzufriedenheit. „Das ist wahr,“ sagte er – „und eben deshalb liebten und achteten wir ihn … Nun aber ist das nicht mehr nöthig,“ fuhr er fort, als fiele ihm plötzlich etwas ein … „Schamyl sagte, in den Büchern stände geschrieben: wenn der Muselmann in ein Haus gehet, wo Weiber mit entblößten Schultern und unverhüllten Gesichtern sind, oder wo man tanzt und Gelage hält, über diesem stürzt das Dach zusammen und zerschmettert ihn. Ist das wahr? Wir sind ja in den Theatern gewesen und haben dergleichen Frauen gesehen, und dennoch ist das Dach nicht über uns zusammengestürzt, und wir sind, Allah sei gelobt, noch gesund. Deshalb glaube ich, Schamyl sagte uns das, nicht weil es in den Büchern so geschrieben steht, sondern weil er alt ist und ihm das nicht mehr Freude macht, was den jüngeren Männern gefällt.“

Schamyl.
Nach einer in Kaluga aufgenommenen Photographie.

„Also meinst Du, Schamyl habe sich auch damals geirrt, als er noch in Dargo war?“

„Nein, damals hatte er Recht. Zum Beispiel, das Tabakrauchen verbot er uns keineswegs darum, weil der Rauch übel riecht, wie er es denen sagte, die ihn in Rußland deshalb befragten, sondern blos darum, weil unser Volk arm ist, selbst keinen Tabak baut, sondern denselben kaufen muß. Aber Tabak kaufen statt Brodes, wenn man am Brode Mangel leidet … und doch gibt es bei uns solche Leute … Deshalb verbot er uns auch, zu tanzen und mit den Frauen Umgang zu haben, nicht weil es Sünde ist, sondern damit unsere jungen Leute sich nicht einfallen ließen, statt des Nachts auf der Lauer zu stehen, irgendwo zu tanzen und den Mädchen nachzugehen: Du selbst weißt ja, wie wenig unserer sind. Wenn wir uns so lange gegen euch gehalten haben, so verdanken wir das nur unserer strengen Lebensart und weil wir jede Art von Vergnügen für Sünde hielten. O, Schamyl ist ein großer Mann!“

Jetzt hörten wir Schamyl’s Stimme, der im Nebenzimmer geruht hatte. Er rief Chadshio. Mein Freund stand auf, verabschiedete sich und eilte zu seinem Schamyl.

Am folgenden Morgen stand die Drehorgel schon in meinem Zimmer. Obgleich ich gegen Chadshio’s Versicherungen gar keinen Zweifel hegte, so gestehe ich offen, daß ich die Wirkung der Musik auf Schamyl keineswegs mit Gleichgültigkeit erwartete. Mustapha, dessen Bestimmung auf Erden, nach Schamyl’s Versicherung, der Gebrauch seiner Stimme war, fing endlich an, seine Stärke auch in der Instrumentalmusik zu versuchen. Es zeigte sich, daß er hierin ungleich stärker war; bei den ersten Tönen, welche er dem Instrumente entlockte, öffnete sich die Thür, und Schamyl trat mit freudestrahlendem Gesicht in’s Zimmer. Er setzte sich neben mich auf das Sopha und lauschte fast eine halbe Stunde lang den Tönen mit der größten Aufmerksamkeit, fast unbeweglich, und warf nur zuweilen einen Blick auf Mustapha, wie der Künstler, der auf seine Lieblingsschöpfung blickt. Dann stand er auf, näherte sich dem Instrumente und untersuchte es in allen seinen Einzelnheiten, weshalb auch die ganze äußere Bedeckung weggenommen werden mußte. Nachdem er seine Neugierde befriedigt hatte, erklärte er, daß ihm in seinen Bergen nie etwas Aehnliches vor Augen gekommen sei. Ich benutzte dies, um ihn zu fragen, warum er dort die Musik verboten hätte.

„Vermuthlich steht auch davon in Deinen Büchern?“ setzte ich hinzu.

„Ja,“ antwortete er, „auch davon steht in unseren Büchern, aber ich meine, die Musik ist dem menschlichen Ohre so süß, daß auch der eifrigste Muselmann, dem es leicht wird, alle Vorschriften des Propheten zu erfüllen, nicht im Stande ist, der Musik zu widerstehen; deshalb verbot ich die Musik, aus Furcht, meine Krieger möchten die Schlachtmusik, die ihnen während des Kampfes in die Ohren tönte, gegen eine andere Musik bei unseren Frauen vertauschen.“

Nach der Besichtigung der Orgel befahl Schamyl dem Mustapha, weiter zu spielen.

[410] Am folgenden Tage, nachdem Schamyl seine neue Wohnung besichtigt hatte, hatten wir uns vorgenommen, dem hochwürdigen Gregorius, Bischof von Kaluga und Borofsk, einen Besuch zu machen. Als ich ihn bedeutete, daß unser Hochwürdigster sich freiwillig das Gelübde des Fastens auferlegt und außerdem allen Familienfreuden entsagt habe, konnte sich Schamyl anfangs von der Wahrheit meiner Worte nicht überzeugen; nach meinen wiederholten Versicherungen aber äußerte er die höchste Hochachtung für einen Mann, welcher, im Besitze einer so hohen Würde, sich habe entschließen können, dem Genusse der höchsten irdischen Glückseligkeit zu entsagen. Er erwartete mit Ungeduld den Abend, um bei seiner Hochwürden zu erscheinen.

Endlich schlug es sechs Uhr, und wir machten uns auf den Weg. Der wohlwollende Empfang, den seine Hochwürden dem Schamyl gewährte, versetzte ihn in freudige Aufregung. Nach den ersten Begrüßungen wurde Thee gereicht, und es entspann sich sogleich ein interessantes Gespräch, welches einerseits den klaren Verstand des Erzbischofs, andererseits die originelle Anschauungsweise des ehemaligen Hauptes der muselmännischen Geistlichkeit im Kaukasus beurkundete, der trotz seiner Würde doch weiter nichts als ein einfaches Kind der Natur war. Seine einfachen Antworten und noch mehr seine naiven Fragen stempelten ihn vollständig dazu.

Die erste Frage, die der Erzbischof ihm vorlegte, war ganz geeignet, der darauf folgenden lebhaften und höchst anziehenden Unterhaltung eine bestimmte Richtung zu geben. Der Hochwürdigste fragte ihn nämlich: „Was ist nach Deiner Meinung Ursache, daß ein und dasselbe Wesen, vor dem sich die ganze christliche und mohamedanische Welt beugt, und welches von Beiden als der Allmächtige und der Allgütige angebetet wird, über die Christen seine volle Güte und Langmuth ausgießt, und von dem Muselmanne nur die strenge Erfüllung des Gesetzes verlangt, indem er die Sünder mit den Strafen der Ewigkeit bedroht, aber keine Hoffnung auf die Wirkungen der Buße zuläßt?“.

Diese dem Anscheine nach etwas schwierige dogmatische Frage löste Schamyl schnell und einfach, wozu vorzüglich Gramoffs Übertragung derselben in das bekanntlich sehr wortarme kumükische Idiom das Ihrige beitrug. Gramoff übersetzte den Gedanken des Erzbischofs in folgender Weise: „Warum haben wir und Ihr einen und denselben Gott, und warum ist er für die Christen so gütig und für die Mohamedaner so streng?“

„Deshalb,“ antwortete Schamyl, „weil Euer Issá (Erlöser) selbst so gütig war, der unsrige dagegen so streng; zudem ist Euer Volk gut, das unsrige hingegen ist bösartig – es sind Räuber (Charamsadàlar), und darum muß auch Gott strenger mit uns verfahren: für jede Sünde gilt es den Kopf.“

Bei diesen Worten lächelte Schamyl und deutete mit der Hand auf den Hals. Auch wir konnten uns bei dieser naiven Antwort des Lächelns nicht enthalten.

Schamyl’s neue Bekannten wurden gar bald gewahr, welch’ ein gutes, gefühlvolles Herz unter so viel rauhem Aeußern schlug. In jedem Hause, wohin er auch kam, hatte er sich noch nicht gesetzt, als sich auch schon die Kinder um ihn drängten und auf seinen Knieen saßen. Schamyl liebkoste sie mit einer solchen Zärtlichkeit, mit so viel kindlicher Gutmüthigkeit, daß auch nicht der geringste Zweifel über die Aufrichtigkeit seiner Gefühle stattfinden konnte. Ebenso viele Gutmüthigkeit zeigte er beim Anblick der geflügelten Gefangenen, für welche die Kalugenser, wie es scheint, eine besondere Vorliebe haben, denn sie unterhalten dieselben schaarenweise und zwar in besonderen, sehr hübschen netzumspannten Käfigen, die gewöhnlich ein oder mehrere Bäumchen im Salon umhüllen. Schamyl blieb häufig vor denselben stehen, betrachtete die Zeisige, die Hänflinge und Kanarienvögel, freute sich ihres Gezwitschers und lockte sie mit den Fingern – eine Idylle eigenthümlicher Art! Schamyl, der drohende Repräsentant des Muridismus und aller Schrecken des Bergkrieges, mit Kindern und kleinen Vögeln spielend! – Wie lassen sich diese Gegensätze vereinigen? Wie läßt sich die Möglichkeit träumen, daß derselbe Mann, der jetzt mit kleinen Kindern wie ein zärtlicher Großvater tändelt und mit den Vögelchen spielt, wie ein junges Mädchen, das eben erst die Schulbänke verlassen hat, daß derselbe Mann so viele Wesen seiner Art des Lebens beraubte, ohne irgend einen Grund als die Anfälle ungezügelter Laune, angeborner Blutgier und seines räuberischen Instinctes?

Unter allen den Eigenthümlichkeiten, die ich bis jetzt an Schamyl bemerkte, ist eine einzige bis zur Schwäche entwickelt, nämlich seine ungewöhnliche Vorliebe für die Bettlerzunft, für die er, wie es scheint, eine wahre Leidenschaft hegt. Jedes Zusammentreffen mit einem Bettler hat für Schamyl einen besondern Reiz; er betrachtet es als eine besondere Gunst des Himmels und beeilt sich, ihm Alles zu geben, was er in Chadshio’s Beutel vorräthig findet, und das beläuft sich zuweilen bis auf zehn Silberrubel und mehr. Einst, als wir zu Fuß umherwanderten, begegneten wir einem ärmlich gekleideten Bauerknaben, der gar nicht daran dachte, um ein Almosen zu bitten, sondern nur beim Anblick von Schamyl’s großer Mütze seine eigene ehrerbietig abzog. Schamyl hielt dies für eine Bitte um Almosen, und warf einen ausdrucksvollen Blick auf Chadshio, erhielt aber von diesem zur Antwort, daß er kein Geld mehr bei sich habe. Es war drollig zugleich und rührend, in diesem Augenblicke Schamyl zu sehen; er befand sich in der äußersten Verlegenheit, näherte sich gleichsam beschämt dem Knaben und blickte ihn mit einem Ausdrucke an, als müsse er ihn eines Vergehens wegen um Verzeihung bitten. Endlich streichelte er ihm die Wangen und sprach: „Ich bitte Dich, verlange jetzt Nichts von mir; ich habe jetzt selbst weniger als Du; aber komm zu mir in meine Wohnung, da will ich mit Dir theilen …“

Nicht selten geschah es, daß ich oder Andere dem Schamyl über diese unzeitige Freigebigkeit Vorstellungen machten, zumal da der Spender seiner Wohlthaten, Chadshio, aus Unvorsichtigkeit diese oft solchen Menschen zuwandte, die derselben ganz unwürdig waren. Auf dergleichen Vorstellungen erwiderte Schamyl gewöhnlich:

„Was geht das mich an, wozu der Arme mein Geld verwendet?“

„Man kann aber unmöglich so viel geben.“

„Also wie viel denn?“

„Einen, zwei, drei, meinetwegen fünf Kopeken.“

Schamyl wollte wissen, wie viel das bedeute und was man dafür kaufen könnte. Als man es ihm erklärt hatte, lachte er.

„Wenn wir dem Armen etwas geben,“ sagte er, „so geschieht dies doch, um ihm zu helfen?“

„Freilich.“

„Was kann ihm aber ein Kopeke nützen?“

„Wenn Du ihm gibst, und ein Zweiter und Dritter, so erhält der Arme so viel, als er zu seinem täglichen Brode braucht.“

„Was gehen mich die Uebrigen an? Von mir verlangt der Arme Hülfe, ich also muß ihm beistehen. Gebe ich ihm zu wenig, so ist es so gut, als spottete ich seiner, und in unsern Schriften steht geschrieben, daß man des Armen nicht spotten, sondern ihm beistehen müsse. Steht das in euren Schriften nicht auch?“

Ich gestehe, daß ich gegen Schamyl’s Logik nicht viel einzuwenden fand. – Bei unserm Besuche beim Archimandriten, welcher Rector des Seminars war, wo wir auch die Bibliothek des Seminars in Augenschein nahmen, wurde Schamyl ein neues Testament in arabischer Sprache (Indshil) gewahr. Er bat, ihm dasselbe auf einige Zeit zu leihen, verschloß sich in seine Zimmer und vertiefte sich in das Lesen desselben, indem er sich zugleich mit einem Haufen von Büchern seines Glaubens umgab. Nach einigen Tagen hatte er das neue Testament durchgelesen und sagte: „Kop jachschi! Dies Buch enthält viel Gutes, Vieles, was ihr nicht erfüllet. Es stehet darin geschrieben, wir sollen unser Almosen mit der rechten Hand geben, sodaß die linke nichts davon wisse. Das habe ich nicht gewußt; das finde ich sehr gut und recht. Tschoch jachschi! Walla jachschi!“ fügte er zum Schluß hinzu.

Bald darauf erfuhr ich, daß Chadshio gewöhnlich nach dem Mittagsmahle in der Nähe unserer Wohnung spazieren ging und dort die Personen, die seiner Meinung nach Arme sein mußten, anhielt, um ihnen Almosen auszutheilen. In der Folge gestand er mir, daß in den drei oder vier Tagen, die er dazu benutzt hätte, es sehr häufig geschehen wäre, daß seine Bettler zu seiner großen Verwunderung nicht nur das Almosen ausgeschlagen, sondern auch noch, anstatt ihm zu danken, über ihn gelacht hätten. Dem wohlthätigen Muriden war es auch nicht selten widerfahren, daß seine Armen nach Empfang des Geldes sich kein Gewissen daraus gemacht hatten, dasselbe vor seinen Augen in den Kabak zu tragen. Eine dieser Scenen half mir, den Muriden und Schamyl von ihrer unüberlegten Wohlthätigkeit zu heilen.

Sehr anziehend waren die Auftritte zwischen Schamyl und den [411] russischen Soldaten, die sich bei ihm in Gefangenschaft befunden hatten und von denen Einige in Kaluga in Garnison standen. Alle baten mich um die Gunst, sie dem Schamyl, „ihrem ehemaligen Wirthe“, vorzustellen. Ich erfüllte ihren Wunsch um so lieber, als auch Schamyl, der von der Anwesenheit dieser Soldaten in Kaluga gehört hatte, sie zu sehen wünschte. Er befragte einen Jeden weitläufig, wo er in der Gefangenschaft gelebt, wie sein Herr geheißen, dem er zugefallen sei, ob man ihn gut genährt habe. Dabei zeigte es sich, daß, je näher die Gefangenen der Festung Dargo gewesen, desto leichter auch ihre Arbeiten gewesen waren, desto menschlicher waren ihre Herren mit ihnen umgegangen, und desto reichlicher hatte man sie genährt. Einer dieser Soldaten hatte sich im Hause des bekannten Naibs Talchika befunden, des Schwiegervaters des verstorbenen Dshemaleddin. In Folge dieser Verwandtschaft brachte man Schamyl’s kleine Kinder häufig zum Besuch zu den Kindern Talchika’s, der in Talchik-otàr, nicht weit von Weden, lebte. Außer seinen gewöhnlichen Verpflichtungen mußte der gefangene Soldat Schamyl’s Kinder gewöhnlich wieder nach Hause bringen. Unterwegs liebkoste er sie und pflegte sie wie eine Wärterin, wofür sie ihn wiederum sehr lieb gewannen. Als Schamyl diesen Umstand aus dem Munde seines ehemaligen Gefangenen vernahm, schien er sehr bewegt, behandelte ihn überaus wohlwollend, beschenkte ihn, nach seiner Gewohnheit, reichlich und forderte ihn auf, wenn seine (Schamyl’s) Familie angekommen wäre, ihn zu besuchen und wieder mit seinen Kindern zu spielen.

Noch interessanter war aber ein Auftritt mit einem andern Soldaten von der 21. Artillerie-Brigade. Dieser war bei Kurkchulü in Gefangenschaft gerathen, hatte sich erst in Daghestan befunden, war dann bei einem Fluchtversuche einem andern flüchtigen Soldaten begegnet, der ihn, aus Unbekanntschaft mit unseren Grenzen, statt nach dem russischen Lager, geradezu nach Weden geführt hatte, von wo aus er in der Folge wieder entfloh. Mit Hülfe seiner Landsleute, die als Deserteure in Weden lebten, gelang es ihm, nicht den Gefangenen, sondern den Flüchtlingen zugezählt zu werden, welche völlig frei waren und große Vorrechte vor den übrigen Gefangenen, selbst vor den Eingeborenen genossen; die Handwerker, die eine ganze Compagnie bildeten, lebten sogar sehr anständig. Dieser Compagnie wurde unser Gefangener zugetheilt, und dadurch hatte er oft Gelegenheit, Schamyl persönlich zu sehen, da dieser ihren Arbeiten große Aufmerksamkeit schenkte und sie reichlich belohnte.

Kaum erblickte dieser Soldat Schamyl, als er auf ihn zueilte, seine Hand ergriff und sie küßte. Dies setzte mich in Verwunderung, da keiner von den übrigen Soldaten dieses gethan hatte. Selbst Schamyl, der doch an dieses Zeichen der Ehrerbietung von seinen Muselmännern gewöhnt war, schien darüber verwundert. Indem er den Soldaten befragte, erfuhr er unter Anderem, daß der Soldat zuerst seinem Herrn in Daghestan und dann auch ihm in Weden entflohen war.

„Warum hast Du mich denn verlassen?“ fragte er ihn; „es ging Dir doch gut in Weden?“

Der Soldat antwortete mit einer Redensart, die soviel bedeutete: „Zu Gaste sei es angenehm, zu Hause aber noch besser, und ein Eid sei keine Kleinigkeit.“

„So muß ein guter Mensch sein,“ sagte Schamyl und benahm sich gegen ihn noch freundlicher, als gegen die übrigen Soldaten.

„Sage mir doch,“ fragte ich den Soldaten beim Weggehen, „warum hast Du dem Schamyl die Hand geküßt, er ist Dein Herr nicht mehr? In den Bergen mag es wohl so Gebrauch gewesen sein, aber wozu hier noch?“

„Nun, Ihro Wohlgeboren,“[1] antwortete der ehemalige Gefangene, „man hat uns nie gezwungen, dem „Schmsl“ die Hand zu küssen; ich habe es aber von ganzem Herzen gethan.“

„Wie so, von ganzem Herzen?“

„Je nun, Ihro Wohlgeboren, weil der Mann es verdient. Nur den Gefangenen ging es gut, welche in seiner Nähe lebten, oder da, wo er durchreiste. Er erlaubte unsern Herren nicht, uns zu mißhandeln, und bei der geringsten Klage nahm er den Gefangenen zu sich, und es traf sich wohl, daß er den harten Herrn noch strafte. Das habe ich selbst oft gesehen.“

„Also war er gütig gegen die Gefangenen?“

„Sehr gütig, Ihro Wohlgeboren, mit einem Worte – herzensgut! Schade, daß er nicht an Christum glaubt, aber ’s ist doch ein braver Mann!“




Scenen aus dem Volksleben in Neu-Orleans.
Von Balduin Möllhausen.

„Komm, laß uns den Kampf der Jenny Lind mit dem General Kossuth ansehen; das Wetter ist herrlich, eine kühlende Seebrise weht vom Golf herauf, und die Fahrt auf dem Mississippi ist allein schon einen halben Dollar werth.“ So rief mein Freund, als er eines Sonntags Nachmittags zu mir in mein Logirzimmer im Tchoupitoula-Hotel trat, den breitrandigen Panama-Hut in die eine Ecke, den leichten Rock in die andere Ecke und sich selbst auf das bequeme, rohrgeflochtene Sopha warf.

„Also findet der Kampf heute bestimmt statt?“ fragte ich.

„Natürlich,“ antwortete mein Freund, ein beweglicher junger Creole, „und zahllose Menschen strömen schon nach den Fährbooten, um sich zur rechten Zeit einen Platz in dem Circus zu sichern, der dieses Mal auf dem jenseitigen Ufer errichtet ist. Auch hohe Wetten sind schon eingegangen worden.“

„Auf wessen Seite wird am höchsten geboten?“ fragte ich weiter.

„Bis jetzt ist kaum ein Unterschied zu bemerken,“ fuhr der Creole eifrig fort; „man traut freilich dem Kossuth mehr Kraft zu, doch soll Jenny Lind um so größere Gewandtheit besitzen. Ich selbst möchte auf letztere wetten, schon deshalb, weil sie vor drei Wochen erst den Präsidenten Fillmore im redlichen Zweikampfe besiegte und ihn mit ihren scharfen Zähnen und den langen Krallen so zurichtete, daß derselbe heute noch als Patient betrachtet werden muß.“

„Ich denke, Fillmore hat der Lind einen so furchtbaren Rippenstoß versetzt, daß sie lahm geworden ist?“

„Es war nur ein Streifstoß, der ihr kaum die Haut ritzte, und die Jenny ist jetzt wieder so rüstig wie jemals; genug, ich wette auf sie, so hoch Du nur willst.“

„Und ich wette unbesehenn auf Kossuth,“ gab ich zur Antwort, „vorausgesetzt, daß er nicht mit stumpfen Waffen kämpft.“

„Angenommen! doch was gilt die Wette?“

„Drei Flaschen von dem Bewußten.“

„Hier ist meine Hand! aber nun vorwärts.“

Fünf Minuten später saßen wir auf dem Verdeck eines vollgepfropften Omnibus und rollten lustig die Tchoupitoula-Straße entlang, bis dahin, wo eine Querstraße nach dem Mississippi hinunter führte. Nicht ohne Gefahr für unsere Glieder kletterten wir dann von dem erhöhten Sitz, schlossen uns dem Menschenstrom an, der sich der Fähre zubewegte, und befanden uns bald darauf im Gedränge vor dem Schlagbaum eines Dampfbootes, wo Mann für Mann gegen Entrichtung von zehn Cent, zur Fahrt über den „Vater der Flüsse“ zugelassen wurde.

Die Fähr-Dampfer, deren Eigner mit an der Speculation des Kampfspiels betheiligt waren, hatten zu dieser Gelegenheit ein festliches Kleid angezogen: zahlreiche Flaggen zierten Tauwerk und Schornstein; riesenhafte Anschlagezettel, die eben so bunt waren, wie die dortige Bevölkerung, bedeckten jede Wand, auf welcher sich ein ebener Flächenraum von nur zwölf Quadratfuß befand; aber hoch oben, an der äußersten Spitze des Mastes, da flatterten die lustigen Sterne und Streifen der Vereinigten Staaten, die jedem echten Amerikaner voranleuchten müssen, sei es nun zur Schlacht und zum Sieg oder zu harmlosem Spiel und Faschingscherz. – Nach vielem Drängen und Stoßen gelangten wir endlich mitten auf’s Boot, welches sich inzwischen wieder in Bewegung gesetzt hatte, und zwar gerade vor ein Zwillingspaar der gigantischen Papierfelder, die, das eine feuerroth, das andere himmelblau, die Bildnisse der Kämpfer, deren Namen und die Beschreibung ihrer hervorragendsten Tugenden und Eigenschaften zur Schau trugen.

Auf dem rothen Grund prangte ein prächtiger Stier, und unter demselben las man: „General Kossuth!!! Einer der wildesten Stiere [412] der Atacapas, der bei seiner Gefangennehmung einen Menschen und vier Pferde tödtete, sechs Menschen und fünf Pferde verwundete, wird dem Riesen-Bären Jenny Lind im tödtlichen Kampfe begegnen: seine Hörner sind zu diesem Zwecke spitz gefeilt worden.“

„Also mit scharfen Waffen,“ sagte mein Freund, indem er mich anstieß.

„Ja, mit scharfen Waffen,“ gab ich zur Antwort, „und die Wette gilt.“

Der himmelblaue Zettel zeigte einen aufrecht stehenden Bären, der sich ein Pferd über die Schulter geschwungen hatte. Unter diesem stand: „Jenny Lind, der schreckliche kalifornische Gebirgsbär, zwölfhundert Pfund schwer, der lange eine Geißel der Goldgräber am obern Sacramento-Flusse gewesen ist, und zu dessen Habhaftwerdung eine ganze Compagnie der gewandtesten Arrieros aufgeboten werden mußte, ist bereit, sich mit dem wüthendsten Stier der Atacapas im Kampf auf Tod und Leben zu messen.“

„Eine naive Art, die Namen bekannter Persönlichkeiten zu feiern!“ bemerkte ich zu meinem Freunde.

„Aber ganz den Verhältnissen, sowie auch den Eigenthümlichkeiten der Nation entsprechend,“ erhielt ich zur Antwort; „glaube mir, es würde Mancher nicht über den Mississippi fahren, um dort seinen halben Dollar los zu werden, wenn die Kämpfer, anstatt die hier so populairen Namen zu tragen, ganz einfach Sokrates und Penelope hießen. Der Name thut sehr viel hier, und die wirklichen Eigner von Namen, welche auf diese Weise ihren Weg unter’s Volk, ja unter die Thiere finden, haben gewiß keinen Grund, sich darüber zu beklagen, daß man ihrer nicht freundlich gedenke. Ich bin überzeugt, man würde sogar einen räudigen Hund nicht mit dem Namen eines Mannes zu belegen wagen, der durch ein Bündniß mit fremden Nationen zum Verräther an seinem Vaterlande zu werden trachtete, denn nicht nur der unglückliche Hund würde sehr bald todtgeschlagen werden, sondern sein noch unglücklicherer Herr liefe auch Gefahr, bei der ersten besten Gelegenheit gefedert und getheert zu erscheinen. Dagegen fand ich einst in einer Menagerie die Namen aller Präsidenten, vom General Washington bis herab zum General Pierce, ja, europäische Namen, die laut genug gesprochen wurden, um auf dieser Seite des Oceans verstanden zu werden, waren bei der Bezeichnung von Thieren verwendet worden, und im Grunde genommen ist ein stattliches Thier solcher Ehre ebenso würdig, als ein Berg oder gar ein Dampfboot.“

Unter solchen Gesprächen gelangten wir über den Strom, und halb getragen, halb geschoben von einem lachenden, wettenden, auch wohl fluchenden Menschenknäuel, erreichten wir glücklich das Ufer, wo eine Anzahl der verschiedenartigsten Fuhrwerke bereit stand, die Angekommenen gegen gute Bezahlung nach den eine englische Meile weiter gelegenen Schranken zu schaffen. Wir wählten einen Einspänner, zahlten den geforderten Preis, und zehn Minuten später hielten wir vor dem Circus, der, von rohen Bretern amphitheatralisch errichtet, Sitze für etwa viertausend Personen bot und eine Arena einschloß, die gegen hundert und funfzig Fuß im Durchmesser haben mochte. Wir überreichten unsern halben Dollar und traten ein, fanden die obern Bänke aber schon so gedrängt voll, daß wir es vorzogen, unten zu bleiben und uns hinter die fünf Fuß hohen Schranken zu stellen, von wo aus wir, wenn auch stehend, das zu erwartende Schauspiel vortrefflich übersehen konnten.

Mein erster Blick fiel auf den Bären, der an einer zwanzig Fuß langen, starken, aber sehr geschmeidigen Kette in der Mitte des Circus lag. Es war ein mächtiger Bursche, der wohl seine tausend Pfund wiegen mochte, und gewiß gehörte ein ausgesuchter Stier dazu, um einem so grimmigen Feinde die Spitze zu bieten. Von dem Stier war indessen noch nichts zu sehen, denn wohlweislich hatte man denselben in einen dunkeln Breterverschlag gebracht, um ihn später, das Blenden der Sonne benutzend, mit größerer Leichtigkeit in den Bereich des Bären bringen zu können. Trotzdem nun ein starkes Musikcorps auf geräuschvolle Weise zu unterhalten strebte, so scheiterten seine Bemühungen doch gänzlich an der Ungeduld, mit welcher der Beginn des Kampfes erwartet wurde; ja, man vermochte oft kaum das Trompetengeschmetter vor den donnernden Zurufen zu vernehmen, mit welchen abwechselnd neue Ankömmlinge begrüßt, dem Bären ein Hurrah gebracht und das Erscheinen des Stiers verlangt wurde. Immer dichter füllten sich die schwankenden Bogengerüste; und immer lauter erdröhnte das Holzwerk von herausforderndem Stampfen und Klopfen; selbst der Raum hinter den Schranken füllte sich auf eine Weise, daß wir wie in einem Schraubestock eingepfercht standen. Da endlich ertönte ein lauter Tusch, begleitet von einem Dutzend Musketenschüssen, und weit öffnete sich die Thüre, hinter welcher der Stier so lange verborgen gestanden hatte.

„Hurrah für General Kossuth,“ brüllte die Menge; und wohl verdiente das Thier ein solches Hurrah, denn in die Arena schritt langsam und bedächtig ein junger rothbrauner Stier, den man mit Recht als das Urbild physischer Kraft hätte bezeichnen können. Der kurze, gedrungene Hals schien von Eisen und Stahl zu sein. Der abgerundete Kopf mit den spitzen Hörnern und den großen glänzenden Augen, stand im Verhältniß zu der mächtigen Gestalt, unter deren glänzender Haut sich die vorspringenden Muskeln geschmeidig hin und her schoben. Es war eine Freude, dieses Thier zu beobachten, als es, wie im Bewußtsein seiner Kraft, dumpf brüllend der Mitte des Circus zuschritt.

Kaum vernahm nun der Bär die tiefen Töne, welche der Brust seines Feindes gleichsam entrollten, als er sich blitzschnell auf die Hinterfüße aufrichtete, den Kopf etwas zur Seite neigte und mit komischer, neugieriger Geberde den Stier betrachtete. Ein Beben seines Unterkiefers bewies indessen, daß er lange gefastet haben mußte und lüstern einem Kampfe entgegensah, der ihm eine gute Mahlzeit einzubringen versprach. Durch die helle Sonne geblendet, hatte der Stier seinen Feind noch immer nicht erkannt; als er aber das leise Wimmern desselben vernahm, hemmte er plötzlich seine Schritte, seine stolze Haltung verschwand wie durch Zauberschlag, und ängstlich schnaubend, mit emporgehobenem Haupte, die Blicke fest auf den Bären geheftet, suchte er rückwärts gehend seinen Stall wieder zu erreichen. So leichten Kaufs sollte er indeß nicht davonkommen, denn noch ehe er bis in die Nähe des Breterverschlags gelangte, fielen ihm, von geschickter Hand geschleudert, von beiden Seiten Schlingen um die gespreizten Hörner, und mehrere Leute versuchten es dann, ihn mit Gewalt in den Bereich des nunmehr eilfertig auf- und abtrabenden Bären zu zerren. Eben so leicht hätte man eine Eiche entwurzelt, als das erschreckte Thier von der Stelle gebracht. „Schäme dich, Kossuth! Schäme dich!“ brüllte die ungeduldige Menge; lautes Pfeifen und Zischen erschütterte die Luft, die Wetten auf den Bären wurden verdoppelt, selbst mein Gefährte rief mir mit schlauem Lachen zu: „Zweimal drei ist sechs!“ worauf ich aber nicht einging.

Der Stier verharrte indessen unerschütterlich in seiner Stellung, obgleich der seinen Mundwinkeln entströmende Geifer von der aufsteigenden Wuth zeugte; als aber mehrere an langen Riemen gehaltene Hunde ihn mit scharfem Zahn anfielen, und in demselben Augenblicke die gelösten Lassos von seinen Hörnern glitten, da sprang das ergrimmte Thier mit zwei mächtigen Sätzen vorwärts, und sich dann schnell umwendend zeigte es, mit den Hufen den Rasen aufwühlend und hoch emporschleudernd, das krause Haupt seinen nächsten Feinden, den Hunden zu, welche, von den Schranken aus gehalten, ihren Angriff nicht weiter fortsetzen konnten.

Der Lärm der Zuschauer war plötzlich verstummt, denn Jeder erkannte, daß der Stier mit den Hinterfüßen in dem Kreise stand, welchen der Bär an seiner Kette zu beschreiben vermochte. Doch auch dem Bären war dieser Umstand nicht entgangen; seine Ohren legten sich dicht an den breiten Schädel, und mit der Gewandtheit einer Katze durchmaß er den Raum, der ihn von seinenn Opfer trennte, und sich plötzlich aufrichtend, versetzte er demselben mit der kralligen Tatze einen solchen Hieb über die Hüfte, daß das Blut hoch aufspritzte und ein breiter Lappen der losgerissenen Haut herunterhing. „Hurrah für Jenny Lind!“ donnerte es von den Tribünen, doch der Ruf war noch nicht verstummt, als der auf hinterlistige Weise verwundete Stier sich wie ein Wirbel auf derselben Stelle umwendete und in blinder Wuth keuchend und schnaubend seinen Feind auf den Boden zu spießen trachtete. Der Bär war aber auf seiner Hut, denn sich abermals aufrichtend, wich er dem furchtbaren Stoße aus, und als er sich dann auf den vorbeistürmenden Stier werfen wollte, war derselbe schon wieder seinem Bereich entschlüpft.

Nach diesem ersten Zusammenstoß begann ein Scharmützel, welches für beide Theile weniger gefährlich war. Fast eine Viertelstunde lang schritten die beiden wüthenden Bestien im Kreise neben einander hin. So oft der Stier seine Hörner senkte, hob sich der Bär auf seine Hinterfüße, und suchte jener ihn dann zu umgehen, so folgte dieser nicht nur mit den Augen, sondern auch [413] mit dem ganzen Körper jeder Bewegung seines Feindes. Das Publicum wurde ungeduldig, die Gerüste bebten unter dem Stampfen und Klopfen, die Musik erschallte, noch lauter als diese aber der allgemeine Ruf: „Schämt Euch, ihr feigen Memmen!“ Noch einmal suchte Kossuth seinen Stall zu erreichen und wie früher wurde er von den bissigen Hunden zurückgetrieben, worauf er, ohne letztere weiter zu beachten, sich mit fürchterlichster Wuth auf den Bären stürzte.

Der Zusammenstoß war heftig, trotz seiner Gewandtheit hatte der Bär nicht schnell genug ausweichen können, und in einen Haufen rollten die beiden erbitterten Streiter zusammen. Man gewahrte ein Verschlingen mächtiger Glieder, der Sand wirbelte empor, ein ersticktes, dumpfes Brüllen ertönte, und als es dann stille ward, erblickte man eine Gruppe, die, obgleich von der Grausamkeit der Menschen zeugend, doch nicht prachtvoller gedacht werden kann, und welche würdig genug darzustellen wohl kaum einem Maler, einem Bildhauer gelingen möchte.

Kossuth im Kampfe mit Jenny Lind.

Regungslos stand der Stier, mit der ganzen Schwere des Körpers nach vorn drängend; tief hafteten die Hufe im Sande, und den Kopf niederwärts beugend, kniete er auf seinem Feinde und suchte mittelst seiner Hörner denselben auf dem Boden festzuhalten. Der auf dem Rücken liegende Bär schien indessen, trotzdem sein linker Vorderschenkel von dem spitzen Horn aufgespießt war, Sieger zu bleiben, denn die ganze Schnauze des Stiers befand sich in seinem weitgeöffneten Rachen zwischen den furchtbaren Zähnen, während sich die langen Nägel der rechten Vordertatze tief in seines Feinden fleischigen Hals eingegraben hatten, und die rechte Hintertatze dessen Rippen von Fleisch und Haut entblößte. Der Jubel war endlos, und zum Ergötzen des Publicums ließ man die grimmigen, von Blut überströmten Kämpfer wohl zehn Minuten lang in dieser Stellung verharren, ehe man einschritt. Mehrere Arrieros sprangen alsdann in die Schranken, ließen einige Augenblicke die Lassos in der Luft kreisen und ihren geübten Händen entgleitend, legten sich die festen Schlingen mit unglaublicher Genauigkeit fast zu gleicher Zeit um den gehobenen Huf des Stieres und die freie Tatze des Bären, worauf eine bereit gehaltene Feuerspritze, mit Heftigkeit bewegt, die beiden erbitterten Kämpfer mit einer ganzen Ladung kalten Wassers überschüttete. Die Wirkung war augenblicklich; die Thiere ließen in ihren Griffen nach, die Leute zogen an den Leinen, und unterstützt von immer neuen Wasserstrahlen, gelang es ihnen endlich, dieselben ganz von einander zu trennen. Der blutende Stier wurde alsdann zurück in den Stall gezerrt und die Thüre hinter ihm geschlossen; der Bär dagegen, sobald ihm der Anblick seines Feindes entzogen, schüttelte seinen triefenden Pelz, legte sich nieder, leckte seine stark blutende, aber anscheinend leichte Wunde und nahm dann, wie um seine heiße Zunge zu kühlen, die eiserne Kette zwischen die Zähne, wobei er, den Unterkiefer in bebender Bewegung haltend, durch lautes Wimmern und Knurren seine Unzufriedenheit über das ganze Verfahren zu erkennen gab.

Der Kampf war beendigt, das Publicum aber noch lange nicht zufrieden gestellt, denn da noch nichts entschieden war, so schwebten auch noch alle Wetten. – „Kossuth heraus!“ tobte die aufgeregte Menge. „Der Kampf muß beendigt werden!“ brüllten Einzelne, „Betrügerei!“ riefen Andere, bis zuletzt durch Stampfen, Klopfen, Zischen und Pfeifen jedes andere Geräusch übertäubt wurde.

Die Unternehmer des Kampfspiels schienen indessen nicht geneigt, das Leben ihres kostbaren Bären weiter auf’s Spiel zu setzen, ohne vorher noch einige ähnliche einträgliche Geschäfte mit demselben gemacht zu haben, wenn ihnen auch an dem leichter zu ersetzenden Stier weniger gelegen war. In Folge dessen nahm aber der Lärm und das Toben dergestalt zu, daß ich mich ernstlich aus dem Menschenknäuel fortwünschte, in welchem ich förmlich eingekeilt stand. – Da, als das Getöse den höchsten Grad erreicht hatte, vernahm man plötzlich den Ausruf der Angst von mehreren Hundert Menschen; ein Augenblick nur, und ein jäher Schrecken bemächtigte [414] sich meiner, als ich das gegenüber liegende Gerüst wanken und sich zur Seite neigen sah; ein lautes Krachen folgte, und Menschen, Breter und Balken stürzten in einen Haufen zusammen.

Alles verstummte, nur aus dem Trümmerhaufen erschallte Lechzen, Schreien, Stöhnen und Fluchen. Kaum aber war der erste Schrecken verflogen, als Jeder das Freie zu gewinnen trachtete, und wie im Umsehen leerten sich die noch stehenden Gerüste und Schranken. Ich war von meinem Freunde getrennt worden, und da ich keine Neigung fühlte, mich in das dichte Gewühl neugieriger Leute zu mischen, welche zu Hunderten die Verunglückten umgaben, zugleich aber vernahm, daß die Folgen nicht so böser Art seien, wie man anfangs befürchtete, so ging ich zurück nach dem Landungsplatze der Fährboote, um an einem schon verabredeten Punkte mit meinem Gefährten wieder zusammenzutreffen. Derselbe langte bald nach mir an und theilte mir mit, daß, außer einigen Arm- und Beinbrüchen, Quetschungen und Verrenkungen, kein Unglück stattgefunden habe, daß die Unternehmer ein außergewöhnlich gutes Geschäft gemacht hätten, und Kossuth als der verlierende Theil betrachtet werden müsse. Nach unserer Ankunft in Neu-Orleans sträubte ich mich daher nicht länger gegen die Entrichtung der drei Fläschchen von dem Bewußten, die zur kühlen Abendstunde unter der reizenden Veranda des Tchoupitoula-Hotel gemeinschaftlich getrunken wurden.

Als ich am folgenden Morgen nach gewohnter Weise über den so prachtvoll und reich besetzten Markt im Creolenviertel schritt, bemerkte ich vor einer Schlächterbude neben einem dort ausgestellten blutigen Stierkopfe ein Placat, auf welchem, das Fleisch des im Kampfe mit dem grauen Bären gefallenen Kossuth angepriesen und zum Verkauf ausgeboten wurde.

Der böse Leumund wollte zwar wissen, daß der eigentliche Kampfstier dunkleres Haar gehabt habe, als der ausgestellte Kopf, und sich sogar auf dem Wege der Besserung und auf dem Wege nach einer fetten Weide befinde; ich habe es aber nicht geglaubt, bezweifle auch nicht, daß von dem 1800 Pfund schweren Stier wenigstens 3000 Pfund Fleisch als „Kossuthfleisch“ zu erhöhtem Preise verkauft wurden.




Die Jugendspiele in ihrer gesundheitlichen und pädagogischen Bedeutung.
Von Dr. med. Schreber in Leipzig.

Die Heilkunde hat die hohe Aufgabe, die körperlichen und geistigen Uebel und Gebrechen der Menschheit nach Möglichkeit zu verringern, und zwar nicht blos am einzelnen Menschen, sondern als sociale Heilkunde am ganzen Geschlechte. Denn will sie wirklich radical eingreifen und als Wissenschaft und Kunst sich die Krone der echten Humanität verdienen, so darf sie nicht von hinten anfangen, darf nicht blos oder hauptsächlich die Heilung des eingetretenen Uebels, sondern muß die Verhütung des voraus zu berechnenden Uebels an die Endspitze ihrer Perspective stellen. Sie soll dahin wirken, die Entwickelung des menschlichen Culturlebens in die naturgemäßen Bahnen zu leiten, Alles zu entfernen, was Mangel gründlicher Erkenntniß der menschlichen Natur und ihrer daraus hervorleuchtenden Bestimmung, was Rohheit, Schlaffheit, Weichlichkeit und Sinnlichkeit, was finstere Dummheit, was niedrige Sonderzwecke der Herrschsüchtigen an naturgesetzwidrigen Schattenseiten, an Giften des körperlichen und geistigen Lebens der Cultur aufgeimpft haben. Ja, hätten die praktischen Staatsmänner, Theologen, Pädagogen und Schulmänner das Studium der Menschennatur zur Grundlage ihrer Berufsthätigkeit gemacht, oder wäre von erleuchteten Aerzten nur ein Theil der unermeßlichen Mühe und Sorgfalt, welche seit Jahrhunderten schon allein auf den Ausbau der zu 7/8 unfruchtbaren Arzneimittelchen verwendet wird, auf den Ausbau der socialen Gesundheitslehre verwendet worden, – so stände es wahrlich besser um das Wohl der Culturvölker.

Diese Anschauung scheint auch in der heutigen Heilkunde mehr und mehr vorwaltend zu werden und eine praktische Richtung zu gewinnen. Bei aller Höhe und Würde, welche in dieser Aufgabe der Heilkunde liegt, bleibt danach ihr Wirkungskreis doch immerhin ein mehr negativer.

Nächst dieser muß man eine noch höhere und, wenn irgendwo, so zunächst von hier aus zu erfüllende positive Aufgabe der socialen Heilkunde zuerkennen, nämlich die: die Menschheit in den verschiedenen Stadien der allgemeinen Culturentwickelung nicht nur immer wieder auf die naturgesetzlichen Grundbedingungen hinzuweisen und zurückzuführen, sondern sie von da aus auch auswärts zu führen und von Generation zu Generation zu veredeln, dahin zu wirken, daß aus der menschlichen Natur mehr und mehr das gemacht werde, was aus ihr zu machen ist nach Maßgabe des in ihr dargelegten schöpferischen Gedankens (nach Maßgabe der in ihr liegenden Fülle von edlen Kraftanlagen und Entwickelungsmöglichkeiten), wie dieser als erfüllbar sich herausstellt im Zusammentreffen mit den einem Lande, einem Volke und dem Einzelnen gegebenen unabänderlichen Lebensverhältnissen.

Manchem wird vielleicht eine solche Auffassung zu ideal erscheinen. Aber ich glaube doch, daß auch der nüchternste Denker schließlich darin übereinstimmt, daß allen menschlichen Bestrebungen, die auf Höherentwickelung abzielen, ein entsprechendes Ideal zu Grunde liegen muß, daß die je höchstmögliche Fortschrittsstufe, das wirklich Erreichbare nur zu erreichen ist durch das Streben nach dem kaum oder nicht erreichbaren Höchsten. Jedes menschliche Streben nach edlen Zielen bleibt schließlich hinter dem Ziele des Strebens zurück, und – nur erst mit seinen Zielen wächst der Mensch. Wer vorwärts will, muß ideale Ziele fest im Auge behalten.

Dies ist der Gesichtspunkt, von wo aus wir die Bedeutung der Jugendspiele für körperliche und geistige Gesundheit, für die gesammte Entwickelung des kindlichen Lebens, einer näheren Betrachtung unterwerfen wollen.

Von dem Zeitpunkte an, wo das Kind zur ersten Stufe der Selbstständigkeit gelangt ist, wo es die Fähigkeit in sich fühlt, nach Willkür sein eigenes Wesen zu handhaben, und mit Willkür auch auf die Außenwelt einzuwirken und mit ihr in Wechselverkehr zu treten, drängt der natürliche Trieb (die sich anhäufende Summe körperlich-geistiger Kraft) zur Thätigkeit, zur Aeußerung und Verwendung der Kraft.

Die Befriedigung dieses Triebes gewährt zunächst das Spiel, und zwar in dem Alter zwischen zwei und sieben Jahren das Spiel ausschließlich, gleichviel, ob es ein stilles (ein Alleinspiel), oder ein gemeinschaftliches Spiel ist. Beide Gattungen des Spieles sollen in richtiger Abwechselung die Zeit in diesem Alter ausfüllen. Das Kind liebt und sucht das Spiel also nicht etwa als einen passiven Genuß, um sich dadurch unterhalten zu lassen, sondern vielmehr deshalb, um daran seinen eigenen Thätigkeitstrieb zu befriedigen und in dieser natürlich-angenehmen activen Erregung seine Unterhaltung zu finden. Daraus erhellt die hohe, noch viel zu wenig erkannte Wichtigkeit einer entsprechenden Wahl der Spielmittel und einer verständigen Ueberwachung des Spieles selbst. Wie das Kind spielt, so wird es auch einst sein, leben und arbeiten. Die Spielzeit ist die Elementarclasse der Lebensschule.

Verlangt nun auch der natürliche Thätigkeitstrieb in dem Alter der Schulreife ebenso dringend die Beschäftigung mit ernsten Dingen zur Bereicherung des Wissens und Könnens, so bleibt doch nicht weniger auch hier das Spiel, die entsprechende Abwechselung desselben mit den ernsten Beschäftigungen, ein wahrhaftes und unentbehrliches Bedürfniß, sowohl zur körperlichen und geistigen Auffrischung überhaupt, als auch zur Gewinnung von Kraft, Lust und Ausdauer für die ernsteren Beschäftigungen insbesondere.

Dieser Punkt, die Bedeutung der Spiele des reiferen kindlichen Alters, der Knaben- und Mädchen-Spiele für körperliches und geistiges Leben und die Nothwendigkeit ihrer Beachtung von Seiten der Schulerziehung, ist es, worauf wir hier besonders unsere Aufmerksamkeit richten wollen. Es wird sich dabei herausstellen, daß hierin nicht nur eine wichtige Aufgabe der elterlichen, sondern auch der Schulerziehung liegt.

Das, was von den Jugendspielen die Schule besonders unter ihr Auge zu nehmen hat, sind die gemeinschaftlichen, also meistens im Freien geschehenden Spiele. Daß auch der Schulerziehung diese Pflicht mit zufällt, liegt in der allgemeinen Aufgabe der Schule. Diese besteht darin, das Kind auf eine höhere Lebensstufe zu heben, es lebenstüchtig und menschenwürdig auszubilden. Da sich aber die menschliche Natur nicht halbiren oder halbirt behandeln läßt, so muß da, wo der Geist gebildet werden soll, auch der Körper soweit möglich mit gebildet und entwickelt werden, denn [415] letzterer ist die Wurzelhälfte des ersteren. Insofern nun die Jugendspiele, wie wir bald näher darlegen wollen, nicht nur körperliche Kräftigungs- und Entwickelungsmittel, sondern zugleich sehr wichtige direct geistbildende Erziehungsmittel sind, so haben sie doppelte Berechtigung, in den Kreis der Schulpflege mit aufgenommen zu werden.

Wenn der gesellige Umgang mit seines Gleichen dem Menschen im Allgemeinen die ergiebigste Quelle geistiger Nahrung, das naturgemäßes Mittel geistiger Belebung, Läuterung, Verjüngung, Veredlung, daher ein wesentliches Lebensbedürfniß ist, so gilt dies im höchsten Grade vom Kinde. Unter seines Gleichen fühlt sich das Kind erst ganz heimisch und behaglich. Durch diesen Wechselverkehr und Wetteifer wird jeder noch so verborgene Funke der geistigen Individualität der Kinder geweckt und entzündet. Leben entzündet sich an Leben, wie Flamme an Flamme. In dieser belebenden Wirkung liegt der angenehme Reiz, welcher dem natürlichen Bedürfnisse des Kindes so ganz entsprechend ist. Erfindungsgabe, Witz, Entschlossenheit, Muth beziehen aus dieser Quelle ihre Hauptnahrung. Der diesem Alter ohnedies eigene Nachahmungstrieb ist in solchen Momenten am lebendigsten. Die Pforten des geistigen Lebens sind für alle Arten der Einwirkung geöffnet. Daher die Nothwendigkeit einer das Verderbliche fernhaltenden und auf Veredelung gerichteten Ueberwachung gemeinschaftlicher Spiele. Darüber später.

Ferner besteht ein wichtiger praktischer Nutzen der gemeinschaftlichen Spiele der Kinder darin, daß sich der Eigenwille an einem gleichberechtigten anderen Willen bricht. Das Kind lernt seinen Willen mit dem Willen Anderer in Einklang bringen, wobei, wenn nur das überwachende Auge Gerechtigkeit walten läßt, unbeschadet der individuellen Selbstständigkeit, manches Schroffe, manches Scharfe und Eckige ganz von selbst sich glättet und rundet. Ein großer Gewinn für’s Leben!

Mit dieser Eingrenzung des Eigenwillens fällt die Abschleifung des Eigensinnes, die Umdämmung des Uebermuthes und die Herabstimmung der allzugroßen Reizbarkeit, Launigkeit und weichlichen Empfindelei zusammen. Mit etwas Takt begabt, wird die Oberleitung ihre Aufgabe, Alles im richtigen Geleise zu erhalten, hier leichter erfüllen können, als wenn sie es mit dem einzelnen Kinde zu thun hat. Nur muß jeder Gifttropfen von Ungerechtigkeit, ernster Kränkung, des Spottes, Hohnes, Neides, bösartiger Neckerei und Schadenfreude ein für allemal aus dem Kreise verbannt werden. Munterkeit und Frohsinn sollen ungetrübt walten, Scherze und Neckereien in den Grenzen voller Harmlosigkeit bleiben. Durch Consequenz und Takt der Oberleitung gewinnen die Kinder überaus schnell selbst so viel natürlichen Takt, daß dem überwachenden Auge fast nur noch eine passive Rolle übrig bleibt. Nur muß man es verstehen, in ihnen, wie überall, so auch hier das Ehrgefühl für ein richtiges Benehmen rege zu erhalten.

Zur Entwickelung und Veredelung des Willens, der Thatkraft und des Gefühles, also zur Bildung des Charakters, der ja den ganzen moralischen, aber auch praktischen Werth des Menschen bestimmt, ist nur das Thatleben geeignet. Der Charakter kann nur im Thatleben sich bewähren, kräftigen und reifen, nicht aber im gewöhnlichen Schulleben, welches fast nur in aufnehmender, empfangender Thätigkeit besteht. Das ernste, schaffende Thatleben steht dem Kinde fern, und doch soll und muß letzteres darauf vorbereitet und gebildet werden, um seine dereinstigen Lebensaufgaben erfüllen zu können.

Die Jugendspiele sind daher fast die einzige Sphäre, in welcher sich das Thatleben der Kindheit, das selbstständige, freie, von innen heraus sich gestaltende Leben und Wirken entfalten kann. Gerade die gemeinschaftlichen Jugendspiele haben den hohen Werth, daß sie das Ich mehr oder weniger vergessen, es irgend einem allgemeinen Zwecke sich unterordnen lassen, daß sie spielend vorbereiten auf das Leben und Wirken für gemeinschaftliche Zwecke, daß sie Gemeinsinn wecken und fördern, daß sie dabei Entschlossenheit, Muth und selbstschaffende Thatkraft, Erfindungsgeist, körperliche und geistige Frische und Gewandtheit bringen. Das begabtere Kind reißt das weniger begabte aufwärts und mit sich fort. Eins hebt das andere, und schließlich heben sich Alle durch Alle.

Von all diesem bietet das Leben im Familienkreise fast nichts, das Leben auf den Schulbänken gar nichts. Und doch fällt es der Schule mindestens zum gleichen, wenn nicht größeren Theile zu, die Jugend für das spätere große Leben, für das Leben in und mit der Welt, für die Tüchtigkeit im Staatsbürgerleben nach Möglichkeit vorzubereiten.

Ich habe bisher von dem eigentlichen gesundheitlichen Werthe der Jugendspiele geschwiegen. Nun, er ist so einleuchtend, daß eine nähere Auseinandersetzung desselben überflüssig erscheint. Ein öfteres Austummeln in freier Luft schafft besser Gewandtheit, Kraft und Jugendmuth, macht und erhält besser vertraut mit Klima und Jahreszeit, verschafft überhaupt einen viel, unaussprechlich viel gedeihlicheren Genuß der freien Luft, als eine jeweilige steifbeinige Familienpromenade. Man braucht sich, um von der Dringlichkeit allgemeiner Begünstigung und Förderung der Jugendspiele recht überzeugt zu sein, nur daran zu erinnern, wie unsere Jugend theils durch die steigenden Anforderungen des gewöhnlichen Schullebens, theils durch ganz mißverstandene Begriffe von Sitte und Anstand immer mehr und mehr eingesperrt und von diesem Lebenselemente des kindlichen Alters zurückgehalten wird.

Besonders ist es die Jugend der größeren und in neuester Zeit reißend schnell anschwellenden Städte, welche daran darbt und unter diesem Mangel schwer leidet. Weder Schule noch Haus kümmern sich darum. Die Jugend würde sich wohl selbst helfen, wenn sie könnte. Aber nicht genug, daß Schule und Haus nichts dafür thun, arbeiten sie vielmehr dagegen: die erstere durch fast völlige Beschlagnahme der Zeit, das letztere durch modische Ablenkung und Vernichtung des kindlichen Sinnes, durch weibische Aengstlichkeit und Weichlichkeit oder durch blasirte Vornehmthuerei. Die Gemeindebehörden, anstatt für passende, gut eingerichtete und überwachte Spiel- und Tummelplätze der Jugend besorgt zu sein, geizen mit dem Platze und denken bei dessen Verwendung an Alles, nur nicht an die Jugend. Wenn nicht einzelne Kinder – und wie selten ist dazu die Gelegenheit! – etwa in größeren Gärten zum Spiele sich zusammenfinden können, so haben sie außerdem gewöhnlich fast nichts der Art, sondern werden, wenn sie ja einen verstohlenen Versuch auf irgend einem freien Plätzchen machen wollen, als polizeiliche Sträflinge behandelt. Daher sind auch eine Menge hübscher Spiele, an denen wir, die wir früheren Generationen angehören, in unserer Jugend uns ergötzten und erfrischten, aus den jetzigen jugendlichen Kreisen vollständig verschwunden.

Die Turnplätze und Turnanstalten bilden allerdings eine wichtige, ganz unentbehrliche Bedingung namentlich unseres gegenwärtigen Culturlebens. Nur schade, daß ihre Verbreitung noch viel zu gering und auch da, wo solche bestehen, ihre Benutzung noch viel zu wenig allgemein ist. Aber selbst wenn dies auch anders wäre, würden die Turnanstalten an sich, wenn nämlich nicht zugleich mit ihnen große freie Spielplätze verbunden sind, die eigentlichen Spiel- und Tummelplätze, wie sie der Gesammtentwickelung der Jugend nothwendig sind, doch nicht ersetzen können. Wie schon oben bemerkt, das Spiel als solches, die Gemeinschaftlichkeit, das innerhalb gewisser Grenzen freie Gebahren der Jugend, hat einen zu wichtigen selbständigen Werth.

England ist in dieser Beziehung schon etwas voraus. Obgleich das Turnwesen des Continents (Mitteleuropa’s) hier noch wenig Eingang gefunden hat, weil man andere Ersatzmittel dafür zu haben glaubt und sich gegen alles von außen Kommende möglichst lange stemmt: so hat doch hier jede Stadt ihre geräumigen Spiel- und Tummelplätze für die Jugend. Selbst jede Dorfschule und Dorfgemeinde hat ihr Cricket-field, ihren Schlagballspielplatz, wo sich Jung und Alt an dem Cricket-Spiele, das Schnelligkeit, Gewandtheit, Muth und Kraft trefflich übt, erfrischen und belustigen. Dafür ist auch die Bevölkerung Englands im Allgemeinen kräftiger, als die anderer großer Länder, wenn man die Bevölkerung der Fabrikdistricte Englands ausnimmt, welche durchschnittlich ein trauriges Bild der Entwickelung der menschlichen Natur gibt.

Ist man erst von der Wichtigkeit der Sache überzeugt, so wird es auch nirgends an einem dazu tauglichen Platze mangeln, da ja jeder für andere Zwecke bestimmte freie Platz, jede Trift, jeder Exercirplatz etc. dazu mitbenutzbar ist; so wird auch keine Gemeinde die geringen Kosten scheuen, welche die sogleich zu erwähnende weitere Einrichtung verlangt.

Um den Zweck vollständig zu erreichen, ist nämlich die einfache Ueberlassung eines Platzes an die Jugend, wie dies in England der Fall, nicht hinlänglich, sondern der Platz und die darauf vorzunehmenden Spiele müssen auch planmäßig eingerichtet und überwacht sein. Die Eltern aus allen Ständen und Classen der Bevölkerung müssen mit vollem Vertrauen, mit voller Beruhigung darauf blicken können, wenn eine allgemeine Benutzung nicht verfehlt werden soll.

Ich meine nicht etwa eine polizeiliche Ueberwachung im gewöhnlichen Sinne, sondern eine väterliche Aufsicht, um Mißbrauch, [416] Unfug und Rohheit fernzuhalten und auch eine, in aller Weise positiv veredelnde und bildungsförderliche Einwirkung auf das Jugendspiel auszuüben. Dazu würde ein Mann zu wählen sein, der mit gehöriger Bildung Sinn und Liebe für die Sache verbände, für das Leben und Treiben auf dem Platze verantwortlich gemacht würde und die etwaigen Spielgeräthschaften unter seinem Gewahrsam hätte. Selbstverständlich müßte er seine Wohnung auf oder unmittelbar an dem Spielplatze haben. Wünschenswerth würde ein Verheirateter sein, damit die weibliche Jugend auch weiblichen Einfluß genösse. Das Turnlehrer- oder Militairpersonal würde die reichlichste und passendste Auswahl bieten.

Diese Aufsicht müßte besonders darüber wachen, daß bei vollster Freiheit des jugendlichen Treibens doch jedem Einzelnen, wie auch den einzelnen Abtheilungen der Jugend Recht und Ordnung, und dem Ganzen heitere Harmlosigkeit und Sitte gesichert wären.

Von Seiten der Schulbehörden würde dann die leicht auszuführende Obercontrole und zugleich die Einwirkung auf allmähliche Vervollkommnung und Veredelung der Spielgattungen zu übernehmen sein, doch dies Alles, ohne die natürliche und – insoweit sie eine edle oder wenigstens unschuldige ist – selbstschaffende Thätigkeit und Freiheit des jugendlichen Sinnes zu stören.

Nur durch eine solche Einrichtung würde man die vielfachen und in mancher Hinsicht besonders wegen Sittenverderbniß gerechten Bedenken beseitigen können, welche außerdem alle diejenigen Eltern haben würden, die um das körperliche wie geistige Wohl ihrer Kinder zart besorgt sind. Nur bei einer dergestalt gewährleisteten Einrichtung ist kein vernünftiger Grund mehr denkbar, weshalb Eltern ihre Kinder von der Betheiligung an den so heilsamen gemeinschaftlichen Jugendspielen zurückhalten sollten. Diese Betheiligung würde dann ebensowol von Seiten ganzer Schulabtheilungen regelmäßig an bestimmten Tagen und Stunden, als auch nach Befinden von Einzelnen in irgend einem passenden Freistündchen, ein Mal so unbedenklich wie das andere Mal geschehen können.

Die harmonische und kräftige Entwickelung des jugendlichen Organismus legt den Grund für die gedeihliche Durchführung des ganzen späteren Lebens. Sie schafft den Kern, aus dem das spätere Leben Blüthen und Früchte entwickeln soll, von dessen Beschaffenheit die Beschaffenheit der letzteren bedingt wird. Von ihr in erster Instanz hängt Glück oder Unglück ab. Soll aber die körperliche und geistige Entwickelung des Kindes gedeihen, soll es gut und mit dauerndem Erfolge lernen, soll es zum Lernen die organische Kraft und die entgegenkommende Neigung haben, so muß es neben dem Lernen auch spielen können. Das elterliche Haus kann fast nirgends das bieten, was die Schule und eine allgemeine Einrichtung darin zu bieten vermag.

Die Jugendpflege ist ja die fundamentalste Lebensfrage des Staates. Nur der allseitig kräftig und gut entwickelte Mensch kann seine Lebensaufgabe für sich und für die Welt vollständig erfüllen, kann dem Staate sein, was er sein soll. Diese erste und allgemeinste Vorbedingung des ganzen Lebens ist zu wichtig, als daß nicht auch der eben besprochene Gegenstand die volle Aufmerksamkeit aller das wahre Wohl ihrer Kinder erstrebenden Eltern, aller Schul- und Staatsbehörden auf sich ziehen sollte.

Möchten diese Andeutungen nicht erfolglos verhallen!




Blätter und Blüthen.


Ein Stück neapolitanische Wirthschaft. Nach Privatbriefen aus Messina. Das Gerücht, in Palermo sei eine Revolution ausgebrochen, schreibt man uns, regte hier die Gemüther außerordentlich auf, zumal Niemand etwas Sicheres über das Geschehene erfahren konnte, weil die Regierung jede Communication mit Palermo abgebrochen. Am Sonntage mehrte sich der Zusammenlauf von Menschen in den Hauptstraßen, und gegen Abend waren sie dicht gefüllt. Damit jeder Zusammenstoß vermieden werde, hatten einige Bürger aus den höheren Classen die Behörde ersucht, die Polizeiagenten (die Sbirren) zurückzuziehen, denn diese müßten der Volksrache am meisten ausgesetzt sein, und ihre Anwesenheit in den Straßen bei dieser Gelegenheit die Aufregung nur steigern. Mit einem Male schoß, gegen sechs Uhr, eine der zahlreichen Militärpatrouillen, welche die Straßen durchzogen, auf das Volk, weil sie durch einen Betrunkenen (– den die Polizei wahrscheinlich dazu gedungen hatte –) verhöhnt worden sei, und kaum waren diese ersten Schüsse gefallen, so schossen alle Patrouillen ohne Weiteres auf das harmlose Volk. Ohne irgendwie Widerstand zu leisten, entfloh die Menge, die auch da noch durch Schüsse verfolgt wurde. Doch ist, so viel ich weiß, nur ein junger Mann todt auf dem Platze geblieben. Die Stadt wurde in Belagerungszustand erklärt und auf allen Hauptpunkten mit Truppen besetzt. Sie befand sich am nächsten Tage in der größten Bestürzung; Tausende der Einwohner suchten auf’s Land zu flüchten, und die Straßen waren mit bepackten Karren und Eseln bedeckt, welche eilig Habseligkeiten fortschafften. Die Montagsnacht verging ruhig, aber am Dienstag dauerte die Auswanderung fort. In der Dienstagsnacht hörte man plötzlich wieder auf allen Punkten der Stadt und von allen Forts Flinten- und Kanonenschüsse, und die Soldaten schossen nach jedem Balcon etc., wo sie Licht sahen. Am Mittwoch überraschte uns der General mit einer Proclamation, in welcher er für den Fall, daß der Angriff auf die Truppen fortdauere (von dem Niemand etwas wußte), „Bombardement und Plünderung“ ankündigte, „um die guten Bürger und deren Eigenthum vor den Insurgenten zu schützen“. Welches Entsetzen diese „beruhigende“ Proclamation hervorbrachte, läßt sich nicht beschreiben. Alle, die bis dahin in der Stadt geblieben waren, flohen nun trotz des Regens, der in Strömen herabgoß, auf das Land oder auf die Schiffe im Hafen. Es blieben nur einige Fremde zurück und jene, welche zu arm waren, um ihre Wohnung verlassen zu können.

Der General hatte es nicht für nöthig gehalten, seine Proclamation den Consuln mitzutheilen, die bei dem französischen zusammenkamen und dann in corpore zu dem General gingen, um gegen eine Barbarei zu protestiren, eine Stadt mit Bombardement und Plünderung zu bedrohen, obgleich auch nicht ein Schuß von Seiten des Volks auf die Truppen gefallen, während im Gegentheil bewiesen und offenbar sei, daß man den simulirten Angriff in der vergangenen Nacht nur erfunden habe, um die sogenannten Sicherheitsmaßregeln zu solchem Extreme treiben zu können. Man sagte dem General, der nichts darauf zu erwidern wußte, in das Gesicht, jene Bedrohung sei „infam“. Er gab darauf sein Ehrenwort, er würde die Stadt nicht beschießen lassen. Dann ließ er eine andere Proclamation drucken, in welcher er die Bürger aufforderte, nach Hause zurückzukehren; man würde die Rebellen verfolgen, welche die Stadt verlassen und auf dem Lande sich zerstreut hätten. Trotz dieser Worte dauerte die Auswanderung fort, weil man ihm nicht traute. Die erste Proclamation wurde rasch beseitigt. Er habe sie unterzeichnet, ohne sie gelesen zu haben, hatte der General den Consuln gesagt; die ganze Sache sei „ein Versehen“.

In der Donnerstagsnacht wiederholte sich die Komödie der simulirten Angriffe auf die Truppen, und am Freitag früh ließ der General den Consuln sagen, sie möchten ihre Flaggen einziehen, weil dieselben Ursache wären, daß die Gemüther sich nicht beruhigten. Die Consuln kamen nochmals zusammen, um gegen diese Forderung zu protestiren. Uebrigens sind 3000 Mann frischer Truppen angekommen, und Gott weiß, wie es enden wird!




Die wunderbare Musik im Hause Goethe’s (vergl. Nr. 16 der Gartenlaube) findet in folgendem Fall ein Gegenstück, welches den Schlüssel zu manchem ähnlichen Räthsel bieten dürfte. In einem Hause zu R. vernahmen Einwohner und Vorbeigehende im März d. J. eigenthümliche Töne, die mit kleinen Unterbrechungen erklangen und von Manchen mit dem leisen Summen von Orgelpfeifen, von Andern mit den Tönen eines Fagotts, einer Windharfe oder Mundharmonika verglichen wurden. Nach vielen fruchtlosen Nachforschungen in Oefen und Schlöten ergab sich folgender Sachverhalt. In einer Fensterscheibe der Küche war zwischen zwei, im spitzen Winkel zusammenstoßenden Sprüngen eine lange schmale Glaszunge entstanden, deren breiterer Grund im Falze des Rahmens festsaß, während ihre Spitze und Ränder durch das Eis so weit nach außen gedrängt waren, daß sie frei hervorragten. Dieser Glassplitter, welcher vollkommen der Zunge einer Mundharmonika glich, wurde von der kalten zuströmenden Luft in Erzitterungen versetzt, die nur dann aufgehoben wurden, wenn durch Oeffnung der dem Fenster gegenüberliegenden Küchenthür ein Gegenzug entstand. Das Tönen verstummte sogleich, als ein Holzspähnchen in die klaffende Spalte der Glasscheibe eingeführt wurde.
B. S.

Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das zweite Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das dritte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.

In diesem dritten Quartale dürfen wir außer den trefflichen Beitragen von Bock, Schulze-Delitzsch, Beta, Max Ring, Roßmäßler, Sternberg, Kossak, W. Hamm, Temme, Mor. Hartmann, G. Hammer, Lev. Schücking, Frauenstedt etc. etc. folgende bereits vorliegende und später noch eingehende Arbeiten versprechen: Sigrid, das Fischermädcken, Novelle von Th. Mügge – Skizzen und Scenen aus Norwegen (mit Abbildungen) von Alfred Brehm – Amerikanische Bilder von Otto Ruppius – Reisebriefe von Friedr. Gerstäcker – Originalbilder und Schilderungen aus Sicilien und Neapel von Gust. Rasch – Erinnerungen an die Schröder-Devrient (Fortsetzung) – Der Hainbund von Robert Prutz – Die Louisenburg bei Wunsiedel. Erinnerungen an die Königin Louise von Ludw. Storch – Schill und seine Reiterzüge von Schmidt-Weißenfels – Skizzen aus Garibaldi’s Leben.

Auch die

Deutschen Geschichten – und – Bilder aus dem Leben deutscher Dichter, mit Illustrationen

werden fortgesetzt.

Leipzig, im Juni 1860.
Die Verlagshandlung.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Die gewöhnliche Anrede der russischen Soldaten, ihren Vorgesetzten gegenüber