Die Gartenlaube (1860)/Heft 27
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No. 27. | 1860. |
Unter den vielen seltsam schönen Meerbusen, welche die westliche Felsküste Norwegens zerspalten, ist der Moldefjord zwar keiner der größten, aber einer der berühmtesten durch die romantische Herrlichkeit seiner Ufer und deren Umgebungen. Der Fjord hat zwei schmale Eingänge. Wasserpässe, zwischen denen die fruchtbare Insel Otteröe liegt; sobald der Reisende diese im Rücken hat, öffnet sich vor ihm ein meilenbreites großes Seebecken, an welchem zur Rechten grüne Weiden und Waldgebiete sich erheben, zur Linken die freundliche Stadt Molde liegt, vor welcher während des größten Theils des Jahres eine Anzahl Briggs, Schooner und Yachten ankern, um Holz bis Holland und getrocknete oder gesalzene Fische bis in die europäischen Südländer zu führen. Der Fjord aber dringt mit zahlreichen Armen und Buchten tief in’s Land; wechselnd und prächtig sind seine Ufer. Zuweilen steigen sie steil in nackten Felsmassen auf, und hinter ihnen liegen die wilden Wäomelandsfjellen aufgethürmt voll zackiger, wunderbarer Klippen; an anderen Stellen leuchten diese Ufer sanft und grün, und manche große und kleine Höfe liegen dort mit ihren Fruchtfeldern und Fruchtgärten, die gar lieblich anzuschauen sind. Dies tritt noch mehr hervor, wenn man die schwarzen Felsmassen dicht dabei betrachtet, welche zuweilen mitten aus den Fluthen des Fjord wie senkrechte Mauern emporsteigen. Zwei- oder dreihundert Fuß tief geht es an solchen Wänden in’s Salzwasser hinab und ebenso hoch zu Spitzen und Wipfeln hinauf, wo nur Meergänse, Alken und Möven hinfliegen und ihre Nester bauen. An einigen dieser Felsen sind alte Runenzeichen in den Stein gehauen, die Siegesdenkmale von Schlachten und Königen, von denen keine Geschichte Kunde gibt. Gewiß ist, daß an diesen Fjorden bis nach Trondhjem hin immerdar kühne nur unternehmende Männer wohnten, ein abgehärteter, die Meere durchschwärmender Menschenschlag, nach Krieg und Beute lüstern. Aber es ist auch richtig, daß hier und auf den Inseln, welche diese Küste begleiten, noch jetzt viele Familien leben, die ihren Ursprung von berühmten Helden aus den Zeiten König Harald Harfagar’s und seines Geschlechtes herleiten.
Und wunderbar sieht es aus, schön und wunderbar, wenn man in die Tiefe dieser Fjords blickt, auf den weiten Halbkreis zahlloser seltsamer Felsen und Hörner, die ihn einschließen. Ein einziger Weg führt durch diese gigantische Mauer, ein schmaler Spalt, den das Thal Romsdalen bildet; wäre er nicht vorhanden, so würde diese Welt unersteiglich verschlossen sein. Unzählige senkrechte Massen voll Zinken und Zacken thürmen sich dort empor, umschimmert von schneeigen Halsbändern, und wenn die Abendsonne darauf glüht und funkelt, kann man solch’ prächtiges Panorama kaum irgend noch wieder finden.
Am Eingänge des Fjord, der Stadt Molde fast gegenüber, springt das Ufer weit vor und südlich biegt es in eine tiefe Bucht ein, die der Torsfjord heißt. Auf der Spitze liegt die Kirche von Besnies, der Pfarrer wohnt nicht weit davon, und über die Halbinsel zerstreut liegen die Höfe und Hütten der Gemeinde. Das Land umher ist grün, es wächst Gerste auf den kleinen Feldern, und in den Gärten werden die Kirschen reif, wenn der Sommer warm ist und die Bäume geschützt stehen. Am Ufer hin wohnen Fischer, denn Fischfang ist doch auch hier die menschliche Thätigkeit, welche die Meisten ernährt, denen nur ein kleines Erbe zu Theil wurde, oder nichts als ihre rüstigen Hände. Drüben in der Stadt Molde wohnen Leute, welche Fische immer brauchen können und auch bezahlen. Frische Fische, wie das Meer sie reichlich hat, sammt Krabben, Krebsen und allerlei Gethier essen die Stadtleute täglich gern mit ihren Familien, aber die Kaufleute schließen auch Contracte mit den Fischern, wenn die Heringsschwärme von Trondhjem herunter kommen und der Segfisch hinauszieht nach seinen Laichplätzen. Dann fahren die Fischer hinaus in die Canäle vor den Außeninseln und in’s offene Meer, und wer ein vierrudrig oder sechsrudrig Boot besitzt, oder wohl gar zwei, und Stellnetze und Angeln dazu, der ist ein wohlangesehener Mann und kann, wenn das Glück mit ihm ist, auch ein Stück Geld verdienen und in seiner Art wohlhabend heißen.
Seitwärts von dem Pfarrhause, das ziemlich hoch und frei lag, senkte sich das Land zum Strande nieder, und dort auf dem Vorsprunge stand eine Fischerhütte, die Einem gehörte, der als ein solcher Glücksvogel galt. Denn zwei große Boote und mehrere kleine schaukelten sich an den Pfählen im Wasser, wo sie befestigt lagen; mehrere lange Netze hingen an den Steinen zum Trocknen ausgespannt. Das Haus war auch nicht ganz klein, sondern, lang gestreckt, stand es auf starken Kreuzbalken, hatte mehrere Fenster, freilich nicht eben hoch und breit, doch helle Scheiben darin und dahinter Vorhänge von rothem Kattun. Ueberhaupt sah es ordentlich und reinlich aus, und obwohl es, wie alle Häuser und Hütten im Lande, ganz aus Holz gebaut war, zeichnete es sich doch vor manchen anderen aus, denn es hatte einen röthlichen Anstrich und die Fensterkreuze waren weiß gefärbt.
Das Pfarrhaus über seinem Kopfe und mancher Gaard der wohlhabenden Bauern umher sahen freilich viel größer und schöner aus; doch wie es da vorn auf dem Vorsprunge stand, frei nach Otteröe hinüberblickte und nach Molde, zur Rechten in den tiefen [418] Torsfjord und gerade aus über das ganze Wasser hin bis auf die Trolltinden von Romsdalen, schien es schöner gelegen, als alle übrigen. Eine liebliche Stelle war es, denn die Felsklippen schützten es von zwei Seiten vor rauhen Winden und schlossen den kleinen Grund hinter dem Hause ein, wo Aepfel- und Kirschbäume beisammen in dem hohen Grase standen.
In diesem Hause, das er vor zehn Jahren neu gebaut, wohnte Gullik Hansen, der Fischer. Von allen Leuten umher wurde er geachtet, als ein ernsthafter, verständiger Mann von großem Fleiß und, obwohl er sich auf seine Vortheile im Handel und Wandel gut verstand, auch von Frömmigkeit und Rechtschaffenheit. Die Kaufleute in Molde machten gern mit ihm Lieferungsgeschäfte, und der Pfarrer, Herr Jöns Bille, sein gelehrter Nachbar, sprach oft mit ihm und hielt gute Freundschaft, obwohl er von seiner Gemeinde als ein stolzer und hochfahrender Mann betrachtet wurde, der es am liebsten mit den Reichen hielt.
Gullik Hansen befand sich an dem Tage, wo diese Geschichte beginnt, nicht zu Hause, aber die Bank neben der Thür, auf welcher er zu sitzen pflegte, war darum doch nicht leer. Denn es saß dort seine Tochter Sigrid, ein achtzehnjähriges Mädchen, neben welcher mancher junge Bursch gern gesessen und ihr geholfen hätte, wenn sie es gelitten. Sie flickte an den Maschen eines alten Netzes, wie dies Fischerkinder thun müssen, und das Netz lag auf ihrem Schooß und auf dem Erdboden zu ihren Füßen; in der Hand hielt sie ein rundes Holz, wie eine lange Nadel, um welche festes Hanfgarn gewickelt war, mit dem sie die neuen Maschen einsetzte. Sigrid war Gullik Hansens einzige Tochter, er hatte jedoch auch einen Sohn, doch dieser war acht Jahre jünger als seine Schwester. Es war ein ziemlich schwächlicher Knabe, des Vaters Liebling, auch deswegen, weil er seiner Mutter ähnlich sah, und diese war gestorben, da er kaum sechs Jahre zählte. Von jener Zeit an hatte Sigrid des Vaters Haushalt geführt und den kleinen Bruder Anders behütet und gepflegt, wie es eine sorgsame Mutter thun würde; dennoch war es ein rothes munteres Mädchen mit hellen großen Augen und braunen Haaren, mit Zähnen, die sie in zwei vollen Reihen zeigte, wenn sie lachte, was häufig geschah, und mit einem Gesicht, in welches die Allermeisten gern hineinschauten, mochten sie jung oder alt sein. Sie war stark und groß; alle Arbeit wurde ihr leicht, und von ihrer Mutter hatte sie Ordnungssinn, von ihrem Vater Ueberlegung und festen Willen geerbt.
Wie Sigrid, mit dem Netze beschäftigt, emsig schaffte, ging die Sonne tiefer an dem Himmel hinab und schien bald nicht mehr weit davon sich in’s Meer zu versenken. Ihr Licht wurde goldig roth und überstrahlte auf’s Schönste den ganzen Fjord und die hohen Trolltinden in den Romsdalsfjellen mit allen ihren wunderlichen Hexenklippen, die bald wie Schlösser der alten Riesenkönige, bald wie versteinerte seltsame Gebilde aussehen, von denen es viele Sagen gibt. Sigrid sah zuweilen hinauf zu den Tinden und einige Male, als sie dies gethan, sah sie auch seitwärts in den Torsfjord hinein, der sich bald zwischen steilen hohen Felsen einbuchtete. Dort aber lag an dem entgegengesetzten Ufer auch ein Fischerhaus unter drei hohen weißen Birken, die ihre langhängenden Zweige auf sein Dach herabträufelten. Die Sonne beschien es eben mit ihrem feurigen rothen Lichte, und es sah sehr schön aus, wie das grüne Geblätter und die weißen Stämme und Aeste davon überglüht wurden. Vielleicht sah Sigrid eben deswegen so lange hin und war in ihren Gedanken so damit beschäftigt, daß sie ihre Arbeit vergaß und ihre Hände in den Schooß legte. Denn viel Anderes zu sehen gab es dort nicht. Das Land umher schien öde und die Hütte selbst unbewohnt, da weder Boot noch Netz zu blicken waren, auch die Läden vor den Fenstern lagen.
Plötzlich aber legte sich eine Hand auf Sigrids Schulter, daß sie erschrocken zusammenfuhr, denn sie hatte Niemand kommen hören. Sie mußte sich ihrem Sinnen ganz hingegeben haben, sonst hätte sie nicht allein die Schritte dessen vernommen, der sie überraschte, sondern auch den Schatten bemerkt, welcher lang über das Gras fiel. Es war ein Mann, der eben nicht ganz leise auftrat, denn er hatte feste Stiefeln an den Beinen, war ein kräftiger Bursch mit breiten Schultern und trug eine blaue Jacke mit Hornknöpfen und einen Glanzhut auf seinem dicken Kopf.
„Du brauchst nicht zu erschrecken, Sigrid,“ lachte er. „Ich bin’s.“
„Ich seh’ es,“ antwortete sie und nahm ihre Nadel wieder auf.
Er zog seine grobe Hand zurück und lachte noch einmal. „Na, na,“ sagte er und setzte sich auf die freie Ecke der Bank, „weh that es Dir nicht. Bist Du ganz allein, Sigrid?“
„Ja, Clas Gorud.“
Clas Gorud nahm seinen Hut ab und strich durch sein struppiges gelbliches Haar, dann setzte er den Hut wieder auf. Darauf sah er seitwärts seine Nachbarin an und fuhr mit den Fingern um seinen Hals zwischen dem blauen bedruckten Tuch. Endlich sagte er: „Ist meine Mutter Grete nicht hier gewesen?“
„Nein, sie ist nicht hier gewesen,“ antwortete Sigrid und arbeitete fort.
„Sie wollte es thun,“ sagte Clas, „es muß ihr was dazwischen gekommen sein.“ Darauf faßte er in seine Tasche, zog eine Dose von Zinn hervor, holte ein Stückchen schwarzen Kautabak heraus, schob ihn zwischen seine Zähne und fing dann wieder an zu lachen. „Geschieht es heute nicht, kann’s morgen geschehen,“ sagte er. „Ich bin noch nicht lange von Molde zurück. Habe mit dem Herrn Schiemann meine Geschäfte in Ordnung gebracht. Das ist ein schneller Mann, Sigrid, er kauft das Holz am ganzen Fjord weg und die meisten Fische dazu.“
„Was hast Du mit ihm?“ fragte Sigrid.
„Gute Dinge,“ antwortete Clas. „Ich soll sein Aufsichtsmann sein beim Handel, und bei mir ist er an den Besten gekommen, denn es kennt Keiner die Sache so wie ich, und die Leute und Stellen dazu.“
„Meinst wohl also, daß Keiner Dir gleich kommt?“ sagte Sigrid spöttisch lachend, und indem sie dies sagte, sah sie wieder nach dem Hause am Torsfjord hinüber.
„Ich denke, es ist so!“ rief Clas, darauf hob er seinen Arm auf und deutete ebenfalls auf das Haus. „Es wird bald in Klunx fallen,“ fuhr er fort, „aber nächstens wird es verkauft.“
„So,“ sagte Sigrid, „wird’s verkauft?“
„Es sind Schulden da, die müssen bezahlt werden. Der leichtsinnige Junge hat dem alten Mann, seinem Vater, ja die letzten Schillinge abgenommen. Noch ein paar Monate vorher, da er starb, mußte er ihm zu Liebe die Stelle verpfänden und hat’s ihm geschickt. Eine Schande war’s, jetzt kommt es danach.“
„Was kommt danach?“ fragte Sigrid.
„Na,“ rief Clas, „daß er ein Lump ist, der nichts mehr hat. Jetzt kann er Soldat bleiben, so lange er lebt, denn hier ist nichts mehr für ihn zu holen. Was der alte Mann sonst noch hinterlassen, ist längst fort, jetzt geht’s an die Stelle. Es wird bald anders aussehen da drüben.“
„Du willst sie wohl gar kaufen?“ fragte Sigrid und sah ihn wieder spottend an.
Clas grinste und nickte. „Warum nicht? ich kann’s brauchen,“ erwiderte er behaglich.
„Weil Du der Erste jetzt bist, mußt Du Dich dort hineinsetzen,“ lachte sie, „wo der saß, der sonst der Erste hieß.“
„Schnack!“ rief er. „Thorkel Ingolf ist nun länger als drei Jahre fort. Damals warst Du noch ein kleines Mädchen. Was weißt Du von ihm?“
„Mehr als Du denkst,“ sagte sie.
„Meinetwegen. Aber der Erste ist er nie hier gewesen. Jetzt soll er nicht einmal der Letzte sein.“ Das sagte Clas mit Spott und dabei sah er sehr häßlich aus, denn sein Gesicht war überhaupt nicht eben wohlgebildet, sein Mund sehr groß, seine Stirn niedrig und seine Nase ging in die Höhe.
Sigrid hörte nicht auf zu lachen, sah ihn jedoch nicht dabei an, sondern knüpfte ihre Fäden. „Kaufe nur die Stelle,“ sagte sie, „wenn Du Geld genug dazu hast. Der Platz ist gut, doch billig wird er nicht sein; Mancher wird danach ausgehen.“
„Es wird sie doch Keiner bekommen, als ich,“ antwortete Clas zuversichtlich. „An den Herrn Schiemann ist sie verpfändet, der hat damals die zweihundert Speciesthaler gegeben, die Thorkel seinem Vater abpreßte, Niemand weiß wozu. Dafür hat Schiemann eine feste Schrift in Händen, daß die Stelle sein ist, wenn nach einem Jahre das Geld nicht zurückgezahlt werden kann. Und jetzt eben ist das Jahr um, Sigrid, und Schiemann will mir den Platz geben und verkaufen. Er will bezahlen, was sonst noch darauf haftet, dann ist sie sein und wird mein werden. Ihm wird so leicht Keiner in den Handel kommen.“
„Daß es ihm nur nicht wieder leid wird,“ lachte Sigrid.
„Hat nichts zu sagen,“ versetzte Clas. „Ich kann ihm gute Dienste leisten, wie sie ihm gefallen.“ – Er zog seinen Hut um [419] den Kopf und grinste und nickte, als Sigrid ihn ansah. „Na,“ fuhr er fort, „da drüben auf Otteröe gibt’s ein Gut, das funfzig oder hundert Mal mehr werth ist, und wenn er das in seine Tasche steckt, kann er mir die lumpige Stelle wohl abgeben.“
„Drüben in Otteröe?“ fragte Sigrid, und indem sich ihre blauen Augen weit aufthaten, fuhr sie fort: „Meinst Du Erik Meldal’s Gut, Clas?“
„Das ist eine richtige Wahrheit!“ sagte Clas. „Erik ist von derselben Art wie Thorkel, darum waren sie auch immer gute Freunde. Und Erik Meldal hat auch nichts mehr, die Schulden haben ihn aufgefressen. Das ganze Gut ist so verschuldet, daß der alte Verwalter Horngreb nichts mehr auftreiben kann, und kann seinem jungen Herrn Erik Meldal, dem Lieutenant, gar nichts mehr schicken. Der muß jetzt also mit seinem Tractement auskommen,“ fuhr er boshaft lachend fort, „das ist ihm gesund; wenn ich aber sein Verwalter wäre, sollte er Geld genug haben. Der alte Horngreb ist ein alter Dummkopf.“
„Was wolltest Du denn machen, Clas?“ fragte Sigrid.
„Verpachten wollte ich das gute Land an Colonisten,“ versetzte Clas, „zu ganz anderen Preisen, als es jetzt geschieht. Und dann hat der Gaard noch einen schönen Wald, alte große Bäume, die sind jetzt viel werth, man findet sie selten mehr so. Weiden liegen dabei, die allerbesten, die man sich denken kann. Dreimal so viel Vieh kann gehalten werden, und dazu kommt die Fischerei in der großen Bucht, die kommt dem Gute allein zu, sammt den Mühlen an der Elf. Es darf nur ein Mann da sein, der die Sache versteht, so fällt alles von selbst in seine Hand; und der Mann ist da und hält die Hand schon auf.“
Sigrid sah lachend auf die mächtigen Hände, welche Clas dabei ausstreckte. „Sind’s Deine Hände, so halt’s fest,“ sagte sie.
„Nehmen sollt’ es mir Keiner,“ antwortete er, „doch dazu gehört, was ich nicht habe.“
„Was?“ fragte sie.
„Geld! Das hat er genug.“
„Wer?“
„Klein Sigrid,“ sagte Clas belustigt, „frag nicht so dumm. Herr Schiemann, wer sonst? Alle Schulden hat er aufgekauft, ganz in der Stille und wie ich es ihm auskundschaftet. Vieles hat er billig gekriegt, denn die Leute waren froh, Geld zu sehen, von dem Schuldenmacher erwarten sie doch nichts mehr.“
„Erik Meldal war kein Schuldenmacher,“ versetzte Sigrid. „Ich habe gehört, daß sein Vater keine gute Wirthschaft hielt, und daß die schlechten Zeiten dazukamen.“
„Alle die Leute aus den alten Familien wollen vornehm hinaus,“ sagte Clas. „Der alte Meldal gehörte auch zu denen, die obenan standen, und weil er Oberst gewesen im Kriege gegen die Schweden, meinte er, er sei der Höchste im Lande. Es ist einerlei, wer die Schulden gemacht hat, jetzt heißt es bezahlen! Also wird’s dem Jungen gehen, wie dem Thorkel, denn die Acten liegen schon beim Landrichter, die Klage ist schon angebracht, und so wie es damit seine Richtigkeit hat, ist Hochzeit!“
„Hochzeit?“ fragte Sigrid. „Wer macht Hochzeit?“
„Zweie,“ lachte Clas, „oder viere. Erstens Herr Peter Schiemann mit Pastor Jöns Bille’s Tochter Else Mary, bei der er eben sitzt, denn ich habe ihn von Molde mit herüber gebracht, und zweitens ein gewisser Clas Gorud mit Gullik Hansen’s Tochter Sigrid, bei der ich eben sitze.“
Und indem er dies sagte, legte er seinen linken Arm um ihren Leib und faßte mit seiner rechten Hand nach ihrer Hand. Aber Sigrid bog sich rasch zurück und rief: „Ich glaub’s nimmermehr,“ und so wie sie diese Worte lustig ausschrie, geschah etwas, das Clas noch weit mehr überraschte. Denn das Netz, das am Boden lag, hob sich plötzlich in die Höhe, und ein ungeheurer Rachen voll weißer Zähne kam darunter hervor und schnappte nach Clas Gorud’s Arm und Hand, daß er mit genauer Noth beide in Sicherheit bringen konnte. Erschrocken sprang er auf und ein paar Schritte zurück, während Sigrid ein schallendes Gelächter anstimmte und ihre Augen sich mit übermüthigem Spott füllten.
In der nächsten Minute sah Clas, mit wem er es zu thun hatte. Es war ein großer grauer Seehund, der auf seinen kurzen Beinen sich aufgehoben und mit seinen glänzenden Augen ihn anstierte. Voll Wuth und Aerger griff Clas nach einem Steine, der vor ihm lag, und schrie wild auf: „Ich will dich zerschmettern, du Teufelsvieh, du sollst deinen Lohn haben!“
„Thue ihm nichts! Du sollst ihm nichts thun!“ schrie Sigrid eben so laut, indem sie ihre Arme über den Kopf des Thieres legte, und damit zugleich rief Jemand hinter dem Hause: „Was gibt es denn da? Heidu! wirf den Stein fort und sei kein Narr!“
Clas Gorud sah sich um und ließ seinen Arm wirklich sinken, aber Antwort gab er nicht, auch wurde sein Gesicht nicht freundlicher. Es sah einen Mann, den er nicht kannte oder, wenn dies der Fall, nicht kennen wollte. Der Fremde trug einen Soldatenrock von einem der Jägerregimenter, und als er vor ihm stand, rief er lustig: „Das ist Clas Gorud, der hat sich nicht verändert. Er ist noch so ein häßlicher Kerl, wie er immer gewesen.“ Darauf flogen seine Augen zu dem Fischermädchen und gleich streckte er beide Hände nach ihr aus.
„Du bist Sigrid!“ rief er. „Die kleine Sigrid; doch wie groß und schmuck bist Du geworden! Kennst Du mich denn nicht mehr, lieb Sigrid?“
„Du bist Thorkel Ingolf,“ sagte sie und gab ihm ihre Hand.
„Das bin ich, Sigrid.“
„Sei willkommen, Thorkel,“ fuhr sie fort.
„Vielen Dank!“ antwortete er. „Ist Dein Vater zu Haus?“
„Nein,“ sagte sie. „Woher kommst Du?“
„Quer durch’s ganze alte Norge, Sigrid. Ich komme von Frederikshall, wo ich in Garnison gestanden das letzte Jahr.“
„Bleibst Du hier, oder willst Du wieder fort?“
„Das soll Gott wissen,“ antwortete er. „Vom Regiment bin ich entlassen, es war meine Zeit zwar noch nicht um, doch geschah es so auf meine Bitten; denn capituliren möcht’ ich nicht, das wußten sie, und mein Oberst wollte mir wohl. Da nun mein Vater gestorben ist, der Mutter nach, wollte ich sehen, wie es mit mir geschehen soll; habe aber schon genug gehört von den Leuten, was traurig machen kann.“
„Ich mag Dir wohl nichts Besseres sagen können,“ sprach Sigrid.
„Ich muß es nehmen, wie es ist,“ erwiderte er. „Aber sieh hier, sieh! Es kennt mich doch noch Einer.“
Der Seehund war zu ihm herangekrochen und stieß ihn mit seinem dicken Kopfe an. Da er seine Hand ihm hinstreckte und ihn streichelte, leckte das Thier seine Finger und ließ ein winselndes Knurren hören, als Zeichen seiner Freude.
„So ist er noch am Leben, der arme gute Kerl!“ rief Thorkel. „Als ich fort mußte und ihn Dir schenkte, hast Du es freilich versprochen, ihn nicht zu verstoßen. Aber ich glaubte es kaum.“
„Das war nicht recht,“ sagte Sigrid. „Wir haben ihn Alle lieb, er geht nicht von uns. Auch thut er Niemandem ein Leid, wenn’s nicht Einer ist, der Böses im Sinne hat.“
Sie sah dabei schelmisch nach Clas hin, und der Soldat folgte ihren Blicken. Clas hielt den Stein noch in der Hand festgepackt und sah sauertöpfisch aus, ohne sich zu rühren; da aber Thorkel ihm nun auch die Hand hinhielt und freundlich sprach: „Laß die arme Creatur in Frieden, Clas. Du hast ihm sicher wohl einen Stoß gegeben, daß er Dich beißen wollte!“ ließ er den Stein fallen, kam näher und sagte: „Solche Beester gehören nicht ins Haus, doch sei Du willkommen, Thorkel, bist lange fortgewesen.“
„Viel zu lange, Clas. Komm’ aber doch wohl noch zur rechten Zeit,“ erwiderte Thorkel.
„Meinst, weil Dein Haus noch nicht verkauft ist?“ fragte Clas.
„Ich mein’s mancher Dinge wegen,“ war die Antwort. „Jetzt erzählt mir doch, wie es hier gegangen. Es gibt Vieles, was ich von Dir hören möchte, lieb Sigrid.“
So saßen sie alle drei nun auf der Bank, und Thorkel erzählte ebensowohl von seinem Soldatenleben, wie er nach allen Leuten umher fragte. Clas gab ihm Bescheid, und Sigrid setzte ihre Arbeit fort und mischte sich lange Zeit wenig in das Gespräch der beiden Männer. Es war von Dingen die Rede, welche Thorkel Ingolf nicht mit Freuden vernehmen mochte, aber Clas machte keine Umstände mit ihm. Ein norwegischer Bauer ist ein harter Mann. Gewöhnlich kurz von Worten, und man merkt nicht, was in seinem Innern vorgeht. Mag’s ihn auch wie mit Messern schneiden, sein Gesicht verräth es selten, und in Leidenschaft geräth [420] er nur, wenn’s zum Letzten kommt. So hörte auch Thorkel ohne Zeichen einer Bewegung an, wie sein Vater hinfällig geworden und rasch gestorben sei, und wie das kleine Mädchen, das er im Hause gehabt, ihn eines Morgens todt gefunden hatte.
„Ich hatt’s nicht so nahe geglaubt,“ sagte er vor sich niederblickend, „denn es war ein fester Mann.“
„Nun,“ fuhr Clas fort, „sie sagen, er hat sich gegrämt, das soll wohl sein.“
Sigrid sah auf. Thorkel saß stumm und hielt seinen Kopf noch tiefer. Clas zuckte mit den Achseln. „Da er todt war,“ fuhr er fort, „kamen Lensmann und Voigt, es kamen aber auch Leute, die zu fordern hatten. Endlich wurde verkauft, was sich vorfand, es blieb aber doch noch Mancher unbefriedigt übrig.“
Wieder sah Sigrid auf und wieder sah sie die Beiden. Clas schielte nach ihr hin und verzog seine Lippen. „Es hatte Keiner gemeint, daß es so schlecht stand,“ sagte er. „Aber da kam zuletzt auch der Herr Schiemann aus Molde und legte den Schuldschein vor über die zweihundert Thaler, für die ihm die Stelle verpfändet wurde. So kam der Landrichter und faßte zu.“
Sigrid drehte sich rasch um. Thorkel’s Gesicht hatte Farbe bekommen; es war, als ob seine Augen zitterten. Clas stieß sie leise an, es flog ein hämischer Zug über seinen dicken Mund, doch Thorkel schien es nicht zu beachten. Er sah eine Minute lang hinüber nach der Hütte am Torsfjord, und fuhr dann mit seiner Hand über Stirn und Haar, daß sie eine Minute lang sein Gesicht bedeckte. Sein Haar war von schöner brauner Farbe, fein und weich, und sein Gesicht sah männlich, fest und wohlgebildet aus, und als er hinüber schaute, schien es dunkler und fester zu werden. Darauf sagte er ruhig: „Das ist Alles wahr, und zu ändern ist nichts. Morgen werde ich zu dem Herrn Schiemann nach Molde gehen und mit ihm sprechen.“
„Du thust recht!“ sagte Clas, „könntest es aber heut gleich noch näher haben, wenn Du wolltest, könntest ihn beim Pastor finden.“
„Bei dem Herrn Bille?“ antwortete Thorkel, und er sah nach dem Pfarrhofe hinauf, dessen Gartenseite er sehen konnte, denn der Garten stand auf einem Felslager, das steil wohl dreißig Fuß tief abfiel, und indem er hinaufschaute, erblickte er hinter dem Gitter, das eine Brustwehr bildete, ein Frauenzimmer in hellem Kleide, und neben ihr einen Herrn, der sie begleitete.
Da sein Blick an Beiden hängen blieb, lachte Clas auf. „Nun,“ rief er, „bleib lieber, Du möchtest ihn stören, er ist in guter Gesellschaft. Aber wie geht’s denn dem Erik Meldal, dem schmucken Lieutenant? Kommt er nicht auch bald einmal nach Haus?“
„Das könnte wohl sein,“ sprach Thorkel, noch immer hinaufschauend.
„Warst wohl mit ihm zusammen in Frederikshall, nicht wahr?“ fuhr Clas fort.
„Sicherlich, ja,“ sagte Thorkel.
„Und hast ihn dort gelassen?“
„So wird’s sein, Clas.“
„Bringst keine Aufträge von ihm mit?“
„Möglich wär’s.“
„Oho,“ lachte Clas, „der alte Horngreb soll Geld schicken. Nicht?“
„Geld kann Jeder brauchen. Ich auch.“
„Glaub’s Dir gerne,“ sagte Clas ärgerlich, „Ihr habt aber Beide nichts. Hast nicht auch im Pfarrhause eine Bestellung?“
„Wie geht’s der Jungfrau Else droben?“ fragte Thorkel, indem er sich an Sigrid wandte.
„Es geht ihr lustig!“ rief Clas, ehe Sigrid antworten konnte, „überall heißt’s, daß bald Hochzeit sein wird.“
„Mit dem Herrn Schiemann wohl gar?“ fuhr der Soldat heraus.
„Mit wem sonst?“ versetzte Clas.
„Glaubst Du es?“ fragte Thorkel Sigrid.
„Nein,“ erwiderte sie.
„Ich auch nicht,“ lachte Thorkel, „ich glaub’s so wenig, als wenn Clas schwöre, er wollte Dich nehmen.“
„O Du Donnerkerl!“ rief Clas und lachte ebenfalls, indem er beide Fäuste in seine Jackentasche steckte und seine Beine ausstreckte. „Warum wolltest Du es nicht glauben?“
„Warum? Weil der Seehund Dich gleich am ersten Tage zerreißen und auffressen würde. Nimm Dich vor ihm in Acht, er bringt Unglück über Dich!“
Und indem er dies sagte, strich er der Robbe über den glatten Kopf, und es war, als ob das Thier ihn verstände; denn es sperrte seinen Rachen auf und zeigte dem Clas sein weißes Gebiß mit einer solchen Angriffsmiene, daß der Bedrohte nochmals hastig von der Bank aufsprang. Sigrid schlug vor Vergnügen in ihre Hände, und Thorkel war nicht weniger belustigt; Clas aber gerieth in Wuth über den Spott und über das nichtswürdige Vieh, dem er schlimme Titel zuschrie. Noch ehe er jedoch auch den damit bedenken konnte, der die meiste Schuld daran hatte, trat Einer hinzu, der allen weiteren Zank verhinderte.
Sigrid’s Vater kam nach Hause und führte seinen Sohn Anders an der Hand. Er war ein untersetzter Mann von dem knochenstarken Bau der norwegischen Küstenleute. Harte Gesichtszüge und mächtige Kopfmuskeln, kalte Augen voll Bedächtigkeit und eine unbewegliche Ruhe beim Sprechen sowohl, wie in Allem, was er that, ließen sich gleich an ihm erkennen. Als er auf Clas zuschritt, wurde dieser still, dann drehte er den Kopf nach der Bank, und das Lachen hatte ein Ende.
Thorkel sprang auf. „Gottes Friede in Dein Haus, Gullik Hansen,“ sagte er, „ich habe Dich lange nicht gesehen.“
Gullik Hansen änderte seine ernsthafte Miene nicht, nahm aber doch die Hand an, die der Soldat ihm bot, und sagte nur: „Ich auch nicht, Thorkel.“
„Es geht Alles gut bei Dir?“ fuhr Thorkel fort.
„Mag’s auch bei Dir so sein!“ antwortete Gullik.
„Ja, bei mir, bei mir!“ rief der junge Mann. „Es ist Manches geschehen, das nicht gut ist.“
„Mach’s bester,“ sagte Gullik und drehte sich um, indem er Sigrid ansah. „Bist Du fertig mit dem Netze?“ fragte er.
„Ja, Vater.“
„Gut, ich kann’s morgen brauchen. Es kommt Hering von Trondhjem herunter. Weißt Du es, Clas?“
„Ja, ja!“ antwortete Clas, „ich kam, um mit Dir zu sprechen. Herr Schiemann hat mir Auftrag gegeben. Er nimmt Alles, was Du fängst.“
„Und Du, mein kleiner Anders,“ rief Thorkel den Knaben an, der sich über den Seehund geworfen hatte, der ihn mit großer Zärtlichkeit empfing. „Kennst Du mich denn auch noch?“
Das Kind hob den Kopf zu ihm auf. Es sah kränklich aus.
„Es ist ja Thorkel Ingolf, Anders,“ sagte Sigrid.
Da wurde der Knabe freundlich. „Sei Du willkommen,“ sagte er. „Sigrid hat oft von Dir gesprochen. Du hast uns den Hund geschenkt.“
„Und Du hast ihn lieb, Anders?“
„Ja, und ich habe Dich auch lieb.“
Otto von Wittelsbach und die päpstlichen Legaten zu Besançon.
Als Karl der Große, vom Papste gegen die Longobarden zu Hülfe gerufen, zuerst das römische Patriciat, dann die abendländische Kaiserwürde annahm, welche der griechische Hof nicht länger zu behaupten vermochte, gab Papst Leo III. seine Zustimmung und setzte ihm „aus göttlichem Rechte“ die Krone auf. Aber schon unter Karls Nachfolgern führten die römischen Päpste eine höhere Sprache, und Karl’s Sohn, Kaiser Ludwig der Fromme, war der Erste, den die gallischen Bischöfe zur Kirchenbuße verurtheilten. – In dem hochfliegenden Geiste des gewaltthätigen Hildebrand (als Papst Gregor VII.) reifte der Gedanke, die Kirche oder vielmehr
[421][422] das Papstthum von der Abhängigkeit der Kaiser frei zu machen und zur ersten Macht der Erde zu erheben, zur bedeutungsvollen That; Kaiser Heinrich IV. mußte barfuß, im wollenen Bußgewand, drei Tage bei strenger Januarkälte (1077) nüchtern vom Morgen bis Abend innerhalb der zweiten Ringmauer der Burg Canossa stehen, bis sich der Papst bequemte, den Bann zu lösen, den er über ihn ausgesprochen; und der Papst erreichte sein Ziel; er stand jetzt neben dem Kaiser; fortan galt es, die letzte Stufe zu ersteigen und sich kühn und herrschend über ihn zu stellen.
Inmitten des Kampfes jener zwei die Welt bewegenden Mächte, des Kaiserthums und des Papstthums, treffen wir jedoch von Zeit zu Zeit auf Männer, die sich mit kühnem Muthe dem päpstlichen Herrschergelüst entgegenwerfen und für die Oberhoheit und Herrlichkeit des deutschen Reichs mit kräftigem Wort, mit tapferer That zu wirken suchen. Es sei uns vergönnt, aus dem unerquicklichen Jammer der deutschen Gegenwart, wo nur die Feder der Diplomaten leichte und ruhmlose Siege erkämpft, den Lesern der Gartenlaube ein solches Bild deutschen Männermuthes vor Augen zu führen, das durch den Pinsel eines geistvollen Künstlers (Herrn Plüddemann in Dresden, dessen großes Oelbild auf den deutschen Ausstellungen verdientes Aufsehen erregte) vielleicht Manchem, wenn auch nur im Allgemeinen, bekannt sein dürfte.
Friedrich I., der Hohenstaufe, war nach König Conrad’s Tode von den zu Frankfurt versammelten deutschen Fürsten am 4. März 1152 einstimmig auf den deutschen Königsthron berufen worden. Seine Thaten sind bekannt. Seine äußere Erscheinung erinnert an die alten Deutschen, welche vor zwölfhundert Jahren die Verwunderung und den Schrecken der Römer erregt hatten. Er war nicht eben von hohem, aber von schlankem Wuchse; die Brust hoch gewölbt, der Bau des ganzen Körpers straff und stark, so daß er so leicht als kräftig einherschritt und die größten Anstrengungen leicht zu ertragen vermochte; das Gesicht fein und frisch, die Augen blau, das Haar an Haupt und Kinn roth und kraus: deswegen hat man ihn den Rothbart beigenannt. In diesem Körper aber wohnte ein gewaltiger Geist. Was die Natur für einen Menschen zu thun vermag, das hatte sie für ihn gethan. Er hatte die Fähigkeit, Alles zu erreichen, was menschlichen Kräften zugänglich ist: einen tüchtigen Verstand, ein rasches Urtheil, einen scharfen Blick und ein so ausgezeichnetes Gedächtniß, daß er einen Jeden, der ihm einmal bekannt geworden war, nach sehr langer Abwesenheit sogleich wieder bei seinem Namen zu begrüßen vermochte. Und wenn er diese geistigen Kräfte allzumal am meisten auch nur in kriegerischen Dingen und für kriegerische Dinge ausgebildet hatte, und wenn er sich auch in anderen wissenschaftlichen Kenntnissen versäumt haben mochte, so wußte er doch Mancherlei und suchte selbst als Kaiser so weit als möglich gut zu machen, was gut zu machen war. Vor Allem liebte er, in diesem Stücke Karl dem Großen gleich, die Geschichten früherer Tage zu lesen oder sich lesen zu lassen, wohlerkennend, daß ein Mensch, er mag ein Fürst sein oder ein Gemeiner, welchem die Vergangenheit verschlossen ist, nothwendig ein Fremdling in der Gegenwart bleibt. Auch verstand er mit vieler Anmuth in der vaterländischen Sprache zu reden, und durch diese Anmuth im Besondern gelang es ihm leicht, die Herzen zu gewinnen, an deren Gewinnung ihm gelegen war.
Hatte dieser tüchtige, ausgezeichnete Mann auch seine Schattenseiten, war er nicht immer Herr seiner Leidenschaften, und bewies er in der Befolgung derselben eine Beharrlichkeit, eine Stärke des Willens, die Schauder und Angst erregt, war er namentlich furchtbar in seinem Hasse, der keine Verzeihung, keine Milde kannte: so war er doch bei alledem ein guter Deutscher, dem die Macht und das Ansehen seines Vaterlandes sehr warm am Herzen lag.
Ein Mann mit solchen Gesinnungen und Gefühlen konnte natürlich die Uebergriffe des Papstthums, sobald sie seine Herrscherrechte berührten, nicht ungestraft geschehen lassen. Zunächst galt es jedoch, sich die Gunst des Papstes zu erhalten, denn Friedrich’s Hauptstreben ging dahin, aus des Papstes Hand die Kaiserkrone, das Zeichen der höchsten Würde dieser Welt, zu empfangen. Aber erst im Juni 1155 konnte er vor Rom erscheinen, woselbst jetzt Hadrian IV., ein Mann, der in vielen Stücken das Andenken an Gregor VII. aufruft, den päpstlichen Stuhl bestiegen hatte.
Wir übergehen es, die vielfach erzählte Steigbügelscene im Lager von Sutri nochmals vorzuführen. Zu stolz, das Geschäft des Reitknechts zu besorgen, versäumte der Kaiser beim Erscheinen des Papstes, die Bügel demüthig zu halten, und erklärte, als ihm vom heiligen Vater der Friedenkuß verweigert und er auf die von allen seinen Vorgängern den Aposteln Petrus und Paulus bewiesene Ehrfurcht aufmerksam gemacht wurde, mit stolzen Worten, ein König der Deutschen sei zu solchen Dingen nicht verpflichtet. Schon wollten Papst und König in voller Aufregung das Lager wieder verlassen, als es den Bemühungen der deutschen und italienischen Fürsten noch gelang, den König zu bewegen, der Form nach den Ansprüchen des stolzen Hirten von Rom zu genügen, worauf die Versöhnung stattfand und Friedrich in Rom zum Kaiser gekrönt ward.
Der alte Groll aber blieb im Herzen des Kaisers sitzen, und weniger nachgiebig, als bei dieser Gelegenheit, zeigte er sich zwei Jahre später gegen die Abgeordneten, die Papst Hadrian zu ihm nach Besançon gesandt, wo er eben die Huldigung der burgundischen Großen empfing.
Der Erzbischof Eskyl oder Eskild von Lund war auf der Rückreise von Rom nach Schweden in Burgund von einigen Edeln überfallen, ausgeplündert und in irgend einer Burg gefangen gehalten, damit er seine Freiheit durch ein großes Lösegeld erkaufe. Ueber diesen Frevel war, wie von Andern, so von dem Papste selbst, bei dem Kaiser Beschwerde geführt worden. Friedrich aber hatte nichts gethan, um dem Priester die Freiheit wieder zu verschaffen, und noch weniger, um die Verbrecher zu bestrafen; vielmehr hatte er sich um die Sache gar nicht bekümmert und sich mit der Versicherung begnügt, daß er nichts von derselben wisse. Ob diese Versicherung des Kaisers in der Wahrheit begründet gewesen, ob er Bedenken getragen habe, gegen Vasallen in den neuerworbenen Ländern aufzutreten wegen Vorgängen, an welche sie gewöhnt sein mochten, oder ob er aus Verdrießlichkeit und um die Geistlichen zu kränken, auf diese Weise gehandelt habe, muß unausgemacht bleiben. Der heilige Vater hielt aber jedenfalls sein Wort für heuchlerisch und glaubte wohl mit desto größerer Zuversicht, bei dieser Gelegenheit gegen den Kaiser auftreten zu dürfen, je fester er voraussetzte, daß er alle Geistliche, und gewiß auch viele weltliche Herren, auf seiner Seite haben mußte. Also ordnete er die beiden ersten Männer der römischen Kirche als Gesandte an den Kaiser ab, den Cardinal Roland, Kanzler der römischen Kirche, Cardinal Bernard, der sich nicht weniger als jener durch seinen Reichthum auszeichnete, durch seine Jahre und seine Gelehrsamkeit; und diesen Gesandten übergab er ein Schreiben an den Kaiser, das sie demselben darbringen und dessen Inhalt sie durch ihre Beredsamkeit und durch ihr persönliches Ansehen unterstützen sollten.
Umgeben von getreuen Fürsten des Reichs und den burgundischen Großen, empfing der Kaiser die päpstlichen Gesandten vor dem versammelten Reichstage in der Hauptkirche zu Besançon. „Euch grüßen,“ so nahm der Cardinal Roland das Wort, „unser heiliger Vater und die Gesammtheit der Cardinäle der römischen Kirche; jener wie ein Vater, diese wie Brüder.“ Wohl erregte diese auffallende Anrede den Unwillen des Kaisers, doch kämpfte er denselben nieder und nahm das päpstliche Schreiben aus der Hand der Cardinäle, das, nachdem es lateinisch vorgelesen worden, auf des Kaisers Aufforderung sofort durch seinen Kanzler Rainald (nachmaligen Erzbischof von Cöln) also verdeutscht wurde: „Schon einmal schrieb ich Deiner kaiserlichen Majestät über jene schreckliche, verruchte, in Deutschland bisher unerhörte Frevelthat gegen den Erzbischof von Lund, und ich muß sie Dir nochmals in’s Gedächtniß zurückrufen, weil Du das Schwert, welches Dir durch Gottes Gnade zum Schutz der Guten und zur Bestrafung der Bösen anvertraut worden ist, keineswegs gehörig gebraucht, ja den Frevlern nicht einmal Veranlassung gegeben hast, ihre Unthat auch nur im Geringsten zu bereuen. Ganz unbekannt und unbegreiflich ist mir der Grund dieses Verzuges, dieser Nachlässigkeit; denn mein Gewissen zeihet mich keines Fehls, womit ich Deiner Ehre zu nahe getreten wäre, vielmehr liebte ich Dich stets als meinen theuersten Sohn und als den christlichsten, zum Schutze des apostolischen Stuhles berufenen Fürsten. Du solltest Dich erinnern, ruhmwürdiger Sohn, wie gnädig und freudig Deine Mutter, die hochheilige römische Kirche, Dich aufgenommen, mit welcher Herzlichkeit sie Dich behandelt, welche Fülle von Würde und Ehre sie Dir ertheilet, und wie gern sie, die kaiserliche Krone Dir übertragend, den Gipfel Deiner Erhabenheit in ihrem segensreichen Schooße zu verherrlichen sich bemüht hat, ja wie sehr wir uns freuen würden, wenn Deine Vortrefflichkeit noch größere Beneficia aus unserer Hand empfangen könnte.“
[423] Bei diesen frechen Worten brauste ein Sturm des Unwillens durch die weiten Hallen der Kirche; mit Zornesblicken faßte manche Faust nach dem Griff des Schwertes, und nur der gebietende Blick des Kaisers vermochte die tobenden Gemüther zu besänftigen. Rainald las zu Ende:
„Jetzt aber, da Du jene Unthat, die zur Schmach der Kirche und des ganzen Reichs begangen ist, vernachlässigst und verdeckst, so ahne und besorge ich, daß Dein Gemüth durch Einflüsterung verwerflicher Menschen (die nur üblen Samen säen) hierzu verführt und gegen Deine gütige Mutter, die heilige römische Kirche, und gegen mich selbst mit Argwohn und Zorn erfüllt sei. Um dieser und anderer Gründe willen habe ich zwei der besten und liebsten meiner Brüder, welche durch Religion, Klugheit und Ehrbarkeit gleich ausgezeichnet sind, an Dich abgesandt und bitte Dich dringend, daß Du sie milde und ehrenvoll empfangest und Alles, was sie Dir zu Ehren Gottes und der Kirche, sowie zur Erhöhung des Reiches in meinem Namen vortragen, ohne Bedenken anhören und berücksichtigen mögest.“
Kaum hatte Rainald seine Verdeutschung beendigt, als der verhaltene Grimm mit aller Macht hervorbrach. Die Kaiserkrone war von dem Papst ein Beneficium genannt worden. Und dieses Wort schien in seiner allgemeinen Bedeutung: Wohlthat, Vergünstigung, sehr anstößig, weil die Anhänger der deutschen Könige die Krönung derselben zu römischen Kaisern gern zu einer Pflicht des Papstes gemacht hätten, obgleich dieselbe häufig genug bald versagt, bald verzögert worden war. Aber das Wort war auch seit der Entstehung des Lehnswesens im Besondern von jedem Lehen gebraucht worden und im Gebrauch geblieben bis diesen Tag. Wenn daher der Papst die Kaiserkrone ein Lehen nannte, welches durch seine Hand ertheilt werde, und wenn die Könige das Kaiserthum erst durch die Ertheilung der Kaiserkrone empfingen, so war auch unleugbar nach der Behauptung des Papstes das Kaiserthum selbst ein Lehen des apostolischen Stuhles, und der Kaiser war ein Vasall des römischen Papstes.
„Wohl erinnern wir deutschen Fürsten uns,“ donnerte Heinrich der Löwe in dem wilden Tumult, „daß man in Rom die verwegene Behauptung gewagt, die deutschen Könige hätten das römische Kaiserthum und das italische Reich als eine Schenkung der römischen Bischöfe besessen. Deutsches Eisen und deutsches Blut hat euer Reich erobert. Unser Kaiser ist der rechtmäßige Besitzer von Rom. Wer dem Hercules die Keule zu entwinden vermag, der thue es.“
„Nur Zwietracht und Streit ist uns von Rom gekommen,“ zürnte Herzog Welf von Braunschweig. „Hat nicht schon bei des Kaisers Anwesenheit in Italien Papst Hadrian jenes Gemälde vertilgen lassen wollen, worauf König Lothar den Papst Innocenz II. um die Krone bittet und dessen Umschrift lantet:
Der König harrte vor dem Thor,
Bis er das Recht der Stadt beschwor;
Des Papstes Lehnsmann ward er drauf,
Der setzt dafür die Kron’ ihm auf.
Es existirt jetzt noch. Wehe dem, durch welchen Aergerniß kommt! Wer das kaiserliche Ansehen beeinträchtigt, bricht auch den Frieden der Kirche, weil diese vor Allem durch die von Gott gegründete Macht des Kaisers beschützt wird.“
Dann erhob sich Rainald, der deutsche Kanzler: „Wer da behauptet,“ rief er, „der Kaiser habe die Krone vom Papst als ein Lehen empfangen, widerspricht den göttlichen Vorschriften wie denen des heiligen Petrus und ist der Lüge schuldig. Rom, bestimmt, der Sitz der Tugend und Frömmigkeit zu sein, hat sich, wie so viele Bischöfe selbst bezeugen, in eine Räuberhöhle verwandelt und ist der Sitz der Gottlosigkeit und Habsucht geworden. Anstatt demüthig Christi Kreuz zu tragen, will der Papst Kronen vertheilen und den Kaiser spielen. Aber vor der Macht dessen, den in Italien, ja in Rom Jeder verlacht, wird sich am wenigsten ein deutscher Kaiser fürchten, und wenn der Papst von den dummen, zum Gehorsam bestimmten Deutschen redet, so wird es ihm das herrliche, unwiderstehliche Volk beweisen, daß es nicht zum Gehorsam, sondern zum Befehlen geboren ist.“
Von allen Seiten angegriffen, ließ sich jetzt der Cardinal Roland zu solcher Heftigkeit fortreißen, daß er die Frage herausstieß: „Von wem hat denn der König das Reich (imperium, abermals ein zweideutiges Wort, das ebenso das Reich wie das Kaiserthum bedeutet), wenn nicht vom Papste?“
Wie ein Blitz schlug diese Frage in die Versammlung ein. Kaum war das Wort den Lippen des Cardinals entfallen, als der Zorn der deutschen Fürsten von Neuem losbrach. Von ihren Sesseln aufspringend, schlugen sie empört an ihre Waffen und Pfalzgraf Otto von Wittelsbach, sich durch die übrigen Fürsten vordrängend, zog das Schwert. Mit den Worten: „Unverschämter Pfaffe,“ zischte das Schwert durch die Luft, um dem Cardinal den Kopf zu spalten. Es entstand eine furchtbare Verwirrung, die Legaten wichen erschrocken hinter die umgeworfenen Sessel zurück und suchten Schutz hinter dem Kaiser. Zwar hielt der Kaiser den erhobenen Arm des Wittelsbachers zurück und besänftigte durch sein Ansehen den wachsenden Sturm, aber auch ihn ergriff der Unmuth über die römische Anmaßung, sodaß er dem Cardinal Roland die Worte zuschleuderte: „Wären wir nicht in der Kirche, ihr solltet erfahren, wie scharf die deutschen Schwerter schneiden.“
Er besänftigte hierauf die zornglühenden Fürsten und ließ die Legaten des Papstes unter sicherer Bedeckung in ihre Wohnung bringen. Hier wurden ihre Sachen untersucht, und man fand unter denselben nicht nur viele Abschriften von dem Briefe des Papstes, welchen sie dem Kaiser übergeben hatten, sondern auch unbeschriebene, mit dem päpstlichen Siegel versehene Blätter, auf welche sie folglich schreiben sollten und durften, was sie in Deutschland schnell zu verbreiten für gut fanden. Unter diesen Umständen glaubte Kaiser Friedrich diesen gefährlichen Männern kein längeres Verweilen in den Ländern des Reichs verstatten zu dürfen. Er gab ihnen am andern Morgen den bestimmten Befehl, alsobald abzureisen und auf dem geradesten Wege, weder zur Linken abweichend, noch zur Rechten, nach Rom zurückzukehren, woher sie gekommen waren.
Ein so kräftiges Auftreten schüchterte den heiligen Vater ein; er bedurfte der Freundschaft und Unterstützung des Kaisers, und so beeilte er sich, ein „mit Ruhe und Ergebung abgefaßtes“ Schreiben an den Kaiser zu senden, worin sich die hochmüthige Sprache rasch in eine demüthige umwandelte und die dem Kaiser unangenehmen Ausdrücke des ersten Briefes entschuldigt und in der mildesten Weise ausgelegt wurden. Die Kirche war darnach wieder die „bescheidene Magd des Reiches“. –
Siebenhundert Jahre sind inzwischen vorübergerauscht; die Herrlichkeit des heiligen römischen Reiches deutscher Nation ist verschwunden, aber das Sehnen nach Einheit und alter Macht und kräftigstem Handeln zurückgeblieben im Herzen des deutschen Volkes! Möchte doch, wenn die vielleicht nicht ferne Stunde schlägt, wo es einzutreten gilt für des Vaterlands Ehre und Recht, für Deutschlands Ansehen und Freiheit, derselbe Geist der Kraft und des Muthes, welcher den Ahnherrn trieb, auch die Nachkommen jenes Otto von Wittelsbach und die übrigen deutschen Fürsten beseelen; am Volke wird’s wahrlich nicht fehlen!
Engländer aller Stände, vom gemeinsten Taschendiebe bis herauf zu dem parlamentarischen Könige Großbritanniens, dem hohen Siebenziger Palmerston, wurden neuerdings geradezu begeisterungswahnsinnig durch die gesetz- und polizeiwidrige That eines ehemaligen Maurergesellen, des Preisboxers Tom Sayers. Palmerston lobte ihn im Parlamente vor den Gesetzgebern, die für ihn zweihundert Pfund Sterling gesammelt hatten. Der Rechtsschutz und höchste Gesetzwächter der City, der Lord-Mayor, hielt ihm eine Lobrede und schenkte ihm einen Sack voll Goldstücke. Die Herren der Londoner Stockbörse ließen ihn kommen, schenkten ihm einen Sack voll Goldstücke und beteten ihn an. Die großen Zucker- und Rosinenmänner von Mincing Lane in der City von London thaten desgleichen. Lords und Barone des Reichs – über funzig an Zahl – schickten ihm Anweisungen von 10 bis 150 Pfund. In Liverpool ward er von vielen Tausenden mit wahnsinnigem Jubelruf empfangen und von Menschen im Triumphwagen nach dem ersten Hotel gezogen, wo ihn die begeisterten Tausende öfter herausriefen auf den Balcon, um ihm ihren Enthusiasmus zuzubrüllen. [424] Die Börse von Liverpool schenkte ihm einen Sack voll Gold und betete ihn an.
Weshalb? Er war in einem gesetzlich streng verbotenen und jedem menschlichen Auge widerlichen Preis-Box-Kampfe von seinem amerikanischen Gegner fünfundzwanzigmal der Länge lang auf den Rasen hingeworfen und vor bleibender Niederlage nur durch eine gemeine List und Brutalität gerettet worden. Deshalb? Welch ein Räthsel! Dem entscheidenden Kampfe, welchen der Amerikaner forderte, entging er durch einen Friedens-Vertrag, der in einer bisherigen Reiterbude, dem Alhambra-Palaste (dem bankerotten „Panoptikon“) mehrere Abende hintereinander vor dem Publicum, das 1 Guinee oder 7 Thaler à Person Entrée bezahlt hatte, gefeiert ward.
Der Engländer Sayers ist „Champion“ oder mit dem Preisgürtel des Landes gekrönter erster Preis-Boxer und als solcher nach dem Box-Faustrecht verpflichtet, jede Herausforderung zum Kampfe um den Gürtel anzunehmen. John Heenan, erster Box-Held Amerika’s, kam herüber, um den Preisgürlel Englands zu kämpfen. Die Boxerei blieb wegen „faulen Spiels“ unentschieden. Der Amerikaner forderte den Entscheidungskampf, den man durch einen Vertrag endlich so umging, daß Sayers von den Amerikanern, Heenan von den Engländern mit einer silbernen Copie des Preisgürtels beschenkt werden sollte. Diese feierlichen Beschenkungsacte wurden im Alhambra-Palaste mehrmals hintereinander à 1 Guinee Entrée wiederholt. Jeder der beiden Helden bekam jeden Abend dafür 100 Pfund Sterling. Der Secundant und der Berichterstatter Heenan’s wurden bei einem Lever der Königin vorgestellt.
Das sind die hierher gehörigen Hauptthatsachen. Sie sehen so räthselhaft, so brutal, so blödsinnig aus, daß man Mühe hat, sie sich zu erklären. Der amerikanische Redner nannte die beiden Boxer in seiner Beschenkungsrede die nach Wellington und Napoleon ersten Helden. Seit Wellington und Napoleon hat’s keine Helden in England gegeben. Sie brauchten lange einen großen Mann, sich an ihm aufzurichten, ein goldenes Kalb oder vielmehr einen muskulösen Ochsen, um sich in ihm selbst zu vergöttern, einen Repräsentanten ihrer Kraft und Unbesiegbarkeit, an welche sie in ihrer Schwäche um so fanatischer glauben. Siehe da Sayers! Hier hatten sie den Helden, den Nationalgott, den fünfundzwanzigmal auf den Boden geworfenen, aber unbesiegt immer wieder auferstandenen. „So sind wir! Das sind wir! Auch uns kann man werfen, zu Boden schmettern, wir stehen unbesiegt immer wieder auf, stärker als vorher.“
So sangen sie in der Presse, so triumphirten sie auf allen Gassen, Spitzbuben und Palmerston, Bettler und Crösus, Bischöfe und Buschklepper, alle – alle, die ganze englische Nation – wahnsinnig vor Freude, daß sie nun doch wieder nach Wellington einen Ersatz haben – Tom Sayers, den ersten, fünfundzwanzigmal geschlagenen, unbesiegten Preis-Boxer.
Andern Völkern fehlt’s freilich auch an Helden und Göttern; aber sicher ist, daß auch im größten Mangel keins rohe, brutale Faustkraft anbeten würde. Das Boxen ist ausschließlich englischnational und volksthümlich und nur erst neuerdings unter den stammverwandten Amerikanern importirter Cultus geworden.
Das Boxen ist in England „die noble Kunst der Selbstvertheidigung“. Andere Völker haben dafür Polizei-Lieutenants, Viertels-Commissarien und sonstige Patriarchen, oder sie helfen sich nur mit Ohrfeigen, Schemelbeinen und sonstigen Cavalierwaffen. Die Engländer haben freie Hände und machen gern Fäuste davon. Duelle mit Waffen sind außerdem verboten. Wer jemanden im Duell tödtet, wird gehängt. Neulich standen zwei Boxer vor Gericht, die beide ihre Gegner mit den Faustkolben todtgeschlagen hatten. Die Todtenrichter erkannten über beiden Leichen auf „Tod durch Mißgeschick“. Den Mördern ward kein Haar gekrümmt.
Jeder Engländer kann boxen und boxt, wenn man ihm persönlich zu Leibe geht oder ihn grob beleidigt. Anderer Völker Leute – mehr an Polizei gewöhnt – schreien beleidigt auf: „Warte, ich sag’s meinem Vater, meiner Mutter, dem Viertels-Commissarius!“ So muß man die englische Box-Popularität als eine Pflanze der Freiheit, wenn auch eine sehr widerliche, betrachten und würdigen lernen. „Die noble Kunst der Selbstvertheidigung“ wird von Allen verstanden und gewürdigt, aber von einer ganz besonderen Species, dem „homo pugil anglicus“, englischen Faustkämpfer von Profession, um ihrer selbst willen und als Lebenslauf ausgeübt.
Der professionelle und Preis-Boxer wird in der Regel niedrig geboren und gar nicht erzogen. Er schlägt sich gleichsam von der Wiege an in’s Leben hinein und durch. Entwickelt er dabei gute Fäuste, so wird sein Talent bald von einem Veteranen entdeckt und ausgebildet. Zunächst lernt er in der Regel kunstlaufen, d. h. die sehr populaire Kunst des Pedestrianismus, und sonstige muskelstärkende Uebungen. Endlich muß er ein Paar furchtbar dicke, mit Pferdehaar gestopfte Fausthandschuhe anziehen, sich selbst halbnackt ausziehen, den linken Fuß über ein halbe Elle weit leicht von dem schwer gepflanzten rechten vorsetzen, den Kopf hoch aufrichten, den rechten Arm einige Zoll von der Brust quer über dieselbe halten und den linken lose herunterhängen lassen, um in dieser Stellung zu lernen, wie man „trifft“, „gegentrifft“, „einschlägt“, „stopft“, „kreuzknüpft“, und wie die Kunstausdrücke sonst heißen.
Hat er das ABC gelernt, so wird er eines Tages eingeweiht. Der Meister ladet einige auserwählte Boxer in seine Wohnung ein: „Bruder-Möpse“ in die „Krippe“, die sich nun mit den Handschuhen gegenseitig behämmern und den Neuling lachend halb todt schlagen. Jetzt ist er aber auch dafür ganz ordentlich „Bruder-Pug“. Er darf jetzt sein Haar ganz kurz geschnitten tragen und die Ohren weit hervorstehend. Auch die Nase hat und behält ihr amtsmäßiges breitgeschlagenes, bläuliches, entstelltes Ansehen. Ist der Nasensattel bereits zerschlagen, desto besser und ehrenvoller. Er spricht von nun an die professionelle Sprache. Herren ohne Box-Ruhm sind schlechtweg „Corinthier“, Collegen „Fancy“ etc. Er selbst hat keinen Kopf mehr, sondern eine „Nuß“, mit einem „Conk“, „Nieser“ oder „Schnüffler“ statt der Nase, „Guckern“, „Ogels“ oder „Goggels“ statt der Augen, „Kartoffelfalle“ statt des Mundes, „Elfenbeinen“ für Zähne, „Breinapf“ (mug) für Gesicht im Allgemeinen, „Daddels“ für Hände und „Mauley’s“ für Fäuste. Unter der Brust hat er einen „Brodkorb“ statt des Bauches. Er geht auf „Nadeln“ oder „Unterständern“, statt auf Beinen. Blut ist „Rothwein, Claret, Ruby“ oder „Carmin“, das durch einen Fußschlag zum Fließen gebracht „vom Zapfen gezogen“ oder „entkorkt“ wird. Kurz, Alles und Jedes hat eine eigene Bezeichnung im Munde des Boxers. Er hat seine eigene Sprache, wie der Jäger, der Gauner und Verbrecher, der Bergmann etc. Er selbst hat immer blos einen einsylbigen professionellen Namen, wie „Bill, Dick, Tom, Ned“, und in indianischer Weise einen ornamentalen Titel, wie „die langbeinige Spinne“ oder „Küchlein“, „Hammer-Gäßchen“ etc.
Hat der junge Pugilist oder Boxer etwas Uebung, Kraft und Vertrauen bekommen, so wird es Zeit, in der Spiel-, Wett- und Boxer-Zeitung: „Bell’s Life in London“ anzuzeigen, daß er wünsche, mit Jemandem „Schlüsse zu versuchen“. In der Regel findet sich bald ein muthiger Gegner zu diesen Versuchen, die darin bestehen, daß Einer den Andern in kunstgerechter Weise mit knochiger Faust möglichst zerdrischt, bis Einer blind, athem- oder kraftlos, mit der Kinnlade auf einer Seite, mit verrenktem Arm etc. genöthigt wird, „ein-“ d. h. nachzugeben. Der Andere heißt dann Sieger und empfängt zu seinen Brauschen und Beulen die Einlagen, Wettgelder oder „stakes“, die Beide gegen einander riskirt haben, denn Niemand kann und darf sich nach den Box-Gesetzen in Gefahr begeben, zur Mumie, zum Klumpen oder Krüppel zerschlagen zu werden, ohne dafür vorher zu bezahlen, d. h. seine Wett-Einlage zu machen. Anfänger thun’s gegenseitig für fünf Pfund à Person, aber alte Meister gehen nicht selten bis 200 Pfund und darüber. Da sie das Geld in der Regel selbst nicht haben, so werden sie von Box-Enthusiasten mit Geld „gebackt“, d. h. Letztere riskiren und geben diese Summen, wozu sich immer eine Menge andere Gentlemen gesellen, die auf den Einen oder den Andern der beiden künftigen Preisboxer wetten.
Diese Preis-Box-Duelle spielen oft Monate lang vorher in den betreffenden Zeitungen eine große Rolle, zumal wenn viele und hohe Wetten darauf gemacht werden. Eben so lange vorher werden die Candidaten des gegenseitigen Zerdreschens von besondern Lehrmeistern oder Trainers vorbereitet. Der Trainer hat seinen Zögling Tag und Nacht in der Cur. Er muß mit aufgehender Sonne aufstehen, mit untergehender zu Bette gehen. Früh wird er zuerst gebadet und mit Pferdehaarbüllen abgerieben, dann muß er eine Stunde laufen, um darauf zu frühstücken. Thee mit Kaffee, Spirituosen und schwächliche Speisen sind ihm gänzlich verboten. Er frühstückt halbrohes Hammel- oder Rindfleisch mit etwas Bier und Brod, eben so zum Mittag um fünf Uhr. Für beide Mahle erhält er anderthalb Nösel Hausbier, sonst nichts während vierundzwanzig Stunden. Extra-Appetit darf nur durch Grütze in [425] Wasser gekocht, ohne Fett, befriedigt werden. Rauchen ist ihm wie Gift verboten. Seine tägliche Beschäftigung besteht in Kunst- und Raschlaufen und Box-Uebungen gegen einen Sack und mit dem Trainer. Hat er durch eine monatelange Schule der Art viel Muskel und Elasticität bekommen, so wird er endlich für reif erklärt, zu „schälen“, d. h. die Kleider abzuziehen, zu preisboxen. Endlich kommt also der Tag, wo er im „Preis-Ringe“, d. h. in einem abgesteckten Viereck von vierundzwanzig Fuß Weite, sich für so und so viel Pfunde zerdreschen und zerstampfen lassen muß, während er dem Gegner Augen auszuschlagen (Hauptziel), Nasen zu zertrümmern und „Rothwein“ abzuzapfen sucht. Unterliegt er, bekommt er gar nichts, als Sieger erhält er nicht selten blos einige Pfunde, da die Hauptgewinne seinem „Trainer“ und „Backer“ zufallen. Diese Preis-Kämpfe sind in der Regel große Affairen mit großen Extra-Eisenbahnzügen, um das ganze wettbetheiligte Publicum zu befördern.
Jeder Boxer tritt begleitet von zwei Freunden in den Ring, dem „Schwammer“ und dem „Flaschenhalter“. Ersterer hat den Schwamm zum Blut- und Wundenwischen, Letzterer Wasser dazu und zum Trinken. Eine fünfte Person ist der Unparteiische, der darüber wacht, daß die Box-Gesetze eingehalten werden, und die „Runden“ oder Gänge bestimmt. Der Boxer wirft zuerst seine „Schalen“, d. h. Kleider in den Ring, dann folgt er selbst. Die Beiden begrüßen sich und schütteln sich unter großem Jubel und Beifall der Umstehenden die Hände, während die Diebe ihr profitabelstes Geschäft machen, da sie wissen, daß der beste Augenblick, einem Herrn die Uhr abzureißen, der ist, wenn er sich sentimentaler Begeisterung hingibt. Die „Corinthier“ vermissen bald ihre Uhren und Taschentücher unter großem Gelächter, während die beiden Boxer durch Werfen eines Stück Geldes entscheiden, wer die „Sonnenseite“ im Ringe haben soll und wer den Schatten im Gesicht. Jetzt binden sie die „Farben“ ihrer Principale an Grenzpfähle des Ringes, stellen sich in Position und schlagen los, so wie „Zeit“ gerufen wird. Jeder bedeutend verletzende Hieb beendigt einen Gang oder eine „Runde“. Sowie der Getroffene, Gefallene oder Ohnmächtige gehörig geschwammt und gewaschen und wieder auf die Beine gebracht ist, beginnt die nächste Runde, die sich bis zu 30–60–100 vermehren können, ehe Einer sich für überwunden erklärt oder gar nichts mehr sagen und erklären kann. Der Entscheidung folgt ein ungeheueres Wandern von goldenen Pfunden oder Verschreibungen aus den Händen der einen in die der andern Partei mit einem nächtlichen Gelage in den officiellen Tabernen des Box-Publicums. Stirbt der Besiegte oder ist er schon todt, so „begegnete ihm ein Unfall“, wie es in der Kunstsprache heißt. Damit ist er abgethan. Der Sieger hat Ruhm und Geld, aber er kann als professioneller Preis-Boxer eben so wenig leben, wie der Dichter von Versen. Preis-Kämpfe gibt’s nicht alle Tage, dann verliert er auch gelegentlich und muß sich Wochen, Monate lang Auge, Arm, Nasenbein etc. curiren lassen. Auch wird er mit der Zeit alt, und Niemand will ihn mehr „backen“. So „macht er sein Leben“ durch verschiedene andere Gewerbe, als Boxlehrer (Trainer), oder als Betrüger mit Karten, als Inhaber eines „Rattentheaters“, wo die kostbaren, häßlichen Hunde verschiedener Herren um hohe Wetten in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Ratten todtbeißen müssen (ein guter Rattenhund wird oft für 100 Pfund ge- oder verkauft), als Erzieher von Kampfhähnen oder gar als Besitzer eines Hahnengefechtbodens, als Wettschwindler bei Wettrennen oder wenigstens als Beamter eines Wett-Bureau’s.
Das Höchste, was er erstrebt, ist ein Public-Haus, worin Bier und Gin getrunken, heimlich gespielt, ratten- oder hahnengekämpft wird, weil dies viel Publicum, viel Nahrung, selbst viel Aristokratie herbeizieht.
Uebrigens kann ein Preis-Boxer auch im höchsten Unglück des Alters nicht mehr so tief sinken, wie ein Armer gewöhnlicher Art. Seit 1852 gibt’s eine „Pugilisten-Wohlthätigkeits-Association“, welche unfähig gewordene Boxer unterstützt und die noble Art der Selbstvertheidigung unter gesetzlichem Schutze aufrecht und in Ehren zu halten sucht. Sie hat ein besonderes Gesetzbuch entworfen, nach welchem bei allen kunstgerechten Boxereien verfahren und entschieden wird. Auch ließ die Association bereits einem berühmten Mitgliede ein kostbares Denkmal auf sein Grab setzen. Die Boxer sind eine besondere Species von Engländern, ein Reich im Reiche mit einer Reihe glänzender Herrscher, Champion’s oder Inhaber des Preisgürtels. Die Reihe dieser Boxerkönige von Mr. Figg, der 1719 den berühmten Gravesender Pastetenmann besiegle, geht ununterbrochen durch eine Menge großer Namen bis zu Tom Sayers, der Gegenwart – aber von jeher immer polizeilich streng verboten.
Träge geht die Sonne nieder, schon dem Kamm der Berge nah;
Purpurgolden liegt die Landschaft nun im Abendfrieden da.
Leise rauscht es durch die Wälder wie vergang’ner Zeiten Mähr,
Und vom Strome zieht ein Brausen wie verhalt’ne Klagen her.
Wunderherrlich, reich an Segen, dehnt sich das Gelände weit,
Wiese, Wälder, Flur und Gärten, Alles prangt in Ueppigkeit.
Stolzgethürmte Städte spiegeln ihr lebendig Bild im Strom,
Graue Burgen ragen mächtig auf zum blauen Himmelsdom.
Glänzend, eh’ er niedersinket, wirft der Sonne Feuerstrahl
Seine letzten Liebesblicke in das reichgeschmückte Thal.
Und noch einmal glänzt im bunten Abendlicht der Buchenwald,
Wo des Beiles letzte Schläge noch das Echo wiederhallt.
Und noch einmal küßt ein letzter Strahl den altergrauen Stein,
Der da, zweier Länder Marke, finster blickt in’s Thal herein.
Stiller wird’s, und breite Schatten lagern rings sich auf der Au’,
Und des Flusses Nebel steigen, sonnenlos, gespenstisch grau.
Einsam zieht ein später Pflüger durch den abendstillen Plan,
Eilt vorüber leise schauernd an des Forstes dunkler Bahn.
Doch wer müht sich schwanken Schrittes dort den Hügelpfad herauf,
Lehnt sich seufzend, athemsuchend, keuchend auf des Stabes Knauf?
Wankt zum Markstein auf der Höhe, der sich trotzig dort erhebt,
Und er faßt ihn in die Arme: ha, wie da die Brust ihm bebt!
Sieh, jetzt breiten Mondesstrahlen silberfarben bleiches Licht,
Ach, sie ruh’n auf einem gramzerwühlten Menschenangesicht.
Wie das Auge, fast erloschen, schmerzvoll auf zum Himmel schaut,
Während Thrän’ auf Thräne leise auf die Wange niederthaut!
Grau das Haupt, und in dem morschen Leibe tobt des Fiebers Sturm,
Und am Herzen sonder Ende nagt ihm wohl des Kummers Wurm.
Armer Greis! Was starrst Du traurig in das weite Thal hinaus?
Suchst wohl in der Nacht da unten Dein verschollen Vaterhaus?
Wie er breitet nun die Arme weit aus wie in Sehnsuchtsschmerz,
Gleich als wollt’ er all’ die Lande pressen an sein stürmend Herz,
Ringt aus seufzerschwerem Busen sich hervor im Schmerzenston:
„Land der Väter, Du geliebtes, ach, Dein ausgestoß’ner Sohn,
Wieder küßt er Deine Erde, sieht er Deiner Wälder Grün,
Sieht er Deine Städte ragen, Deine Sterne traulich glüh’n.
Seit ich ging, wie viele Jahre rauschten über dieses Haupt!
Nun ich wiederkehre, steh’ ich da ein Stamm, der morsch, entlaubt.
Und doch duldet mich Dein Boden scheu nur in der stummen Nacht,
Weil auf Deiner heil’gen Stätte noch der Feind der Freiheit wacht.
Land der Väter, Du geliebtes, muß Dich trauernd wiederseh’n;
Wird ein Rächer Deiner Schande nie in Deinem Schooß erstehn?
Noch zerspalten und zerrissen liegst Du unter Gottes Fluch,
Armes Land, noch krank an Wunden, die ein Stamm dem andern schlug.
Deine Ströme sind gebunden, Deine Kräfte sind gelähmt,
Und die besten Deiner Söhne, ach! geächtet und verfehmt.
Mich auch haben sie vertrieben, weil im Streit ich zu Dir stand,
Weil mein Denken und mein Streben Deinem Heile zugewandt.
Dorten, wo ein frei Gestade noch bespült der Ocean,
Regt es sich in tausend Herzen, die Dir treulich zugethan.
O, wie hab’ ich oft der Brandung wildem Donner stumm gelauscht,
Ob von Dir ein leises Grüßen mir nicht draus entgegenrauscht.
Ha, wie oft umgab der Tod mich! Wie ich grimmig mit ihm rang!
Denn noch einmal wollt’ ich hören, Muttersprache, Deinen Klang.
Fremdling war ich aller Orten; bin ich Fremdling denn auch Dir?
Ruhe konnt’ ich nirgend finden, Muttererde, gib’ sie mir!
Und so lieg’ ich denn gebrochen, Vaterland, an Deiner Brust,
So an Deinem Herzen sterben, Heimatherd, ist Götterlust.
Mußt’ er, lebend in der Fremde, flüchtig irren, arm und bloß,
O, so gönn’ dem todten Sohne doch ein Grab in Deinem Schooß.“
Sprach’s. Und durch die Lüfte zieht es wie ein leiser, stiller Klang,
Und die Wellen rauschen flüsternd des Gebannten Grabgesang.
Doch der hält den Stein umschlungen, lächelnd und in Todesruh’,
Und ein gold’ner Blüthenregen deckt ihn lind und liebend zu.
Max Holdau.
[426]
Es wird viel geklagt, daß in den großen amerikanischen Städten nicht nur Unverheiratete, sondern auch bereits junge Ehepaare und sogar Leute mit Kindern sich permanent in den großen Gasthöfen einmiethen, infolge welcher Sitte oder Unsitte denn aller häusliche Sinn, der ganze Reiz des geschlossenen, traulichen Familienlebens immer mehr entschwinde, und statt dessen ein neues Nomadenthum, eine Art civilisirte Zigeunerexistenz einreiße.
Die Thatsache verhält sich allerdings so, dagegen aber mag es dahingestellt bleiben, ob die an sie geknüpften Befürchtungen auch durchweg begründet sind, und ob diese neue Form des geselligen Lebens nicht Vorzüge zu entwickeln bestimmt ist, durch welche jene Verluste mit der Zeit reichlich ausgeglichen werden. Wenn in Amerika das Gasthausleben eine immer wachsende Ausdehnung gewinnt und sich in diesen Anstalten auf ganz ungezwungene Weise Fourrier’s Phalanstèren, nur ohne seine Phantastereien, verwirklichen zu wollen scheinen, so macht sich hierin einfach eine Macht geltend, der, wie wir täglich klarer erkennen, Alles im Leben der Menschheit sich beugen muß, nämlich der Vortheil. Er allein ist es, der unsere Sitte bisher entwickelt und geformt hat, und er wird es auch fernerhin thun. Es leidet gar keinen Zweifel, daß die amerikanischen Mittelclassen der großen Städte in nicht ferner Zeit das Führen eigener Wirthschaften gänzlich aufgeben werden, und so ungemüthlich uns der Gedanke auch erscheinen möge, so läßt sich doch mit Sicherheit voraussehen, daß auch unsere Lebensweise eine ganz ähnliche Umwandlung erfahren wird.[1] Man übersieht meist, daß der Begriff der Gemüthlichkeit ein rein relativer ist, und mit diesem Worte nichts weiter bezeichnet wird, als die Wirkung des Gewohnten. Darum erscheint jedem Volke die abweichende Lebensform eines andern verhältnißmäßig ungemüthlich, und ebenso jede kommende Veränderung der eigenen. Dennoch aber macht sich der Uebergang stets sehr leicht: die Jungen, diese berufenen Neuerer, fangen an, gewöhnen sich hinein, werden endlich alt darin, und so ist binnen einem Menschenalter das jetzt Unbegreifliche auf die natürlichste Weise zur allgemeinen Sitte geworden, in der das Gemüth seine vollste Befriedigung findet.
Allein was sollte wohl zum Eingehen auf eine unsern jetzigen Anschauungen so widerstrebende Veränderung bewegen können? Die Antwort ist einfach, man lebt weit besser, und zugleich viel wohlfeiler, zwei Gründe von unermeßlichem Gewicht. Die Association, d. h. ein stilles Compagniegeschäft sämmtlicher Theilnehmer, ohne alles Risico und mit sicherem Gewinn für jeden Einzelnen, bewirkt dieses Wunder. Freilich, wer reich genug ist, sich in seinem eigenen Hause alle jene Bequemlichkeiten zu schaffen, die ihm ein großes amerikanisches Hotel bietet – und dazu gehört viel – bedarf seiner nicht; wo jedoch die gleichen Ansprüche nicht von ähnlichen Mitteln unterstützt sind, da tritt als naturgemäße Aushülfe die zwanglose Verbindung zur gemeinschaftlichen Herstellung des Gewünschten ein, wie sie sich ja bereits in unsern Reisegelegenheiten der allgemeinsten Beistimmung erfreut.
Die nachstehende Schilderung des „American Hotel“ in Boston, die wir dem Reisetagebuch einer hochgestellten Dame entnehmen, wird, sobald man sich eben nur den Einwand der „Ungemüthlichkeit“ durch das „Gewohntsein“ beseitigt denkt, die in Amerika sich anbahnende Veränderung der Lebensweise begreiflich erscheinen lassen, und man kann, was Comfort und Luxus anlangt, dem sachverständigen Urtheil der Berichterstatterin, einer der höchsten Aristokratie angehörigen Hofdame, unbedingtes Vertrauen schenken. Sie erzählt:
„In Boston angelangt, übergaben wir unsere Gepäckmarken dem Commissionair des American House und fuhren nach diesem ungeheuern Hotel. Es war vom Souterrain bis hinauf zur letzten Kammer nächst dem Monde angefüllt und herbergte über siebenhundert Gäste. Nachdem ich den Schlüssel meines Schlafzimmers empfangen, soupirte ich in einer Halle, die auf nicht weniger als vierhundert Gedecke berechnet war. Dann begab ich mich in den Damensalon und fühlte mich unter all den kostbaren Toiletten wirklich nicht ganz am Platze; denn als ich eben einen Brief schreiben wollte, kam ein Diener und sagte mir, daß Schreiben in diesem Salon nicht gestattet sei. „Wieder Freiheit!“ dachte ich. Mich etwas umschauend, mußte ich mir freilich gestehen, daß mein altväterischer Gänsekiel und mein rostig aussehendes Tintenfaß eigentlich nicht hierher paßten. Der reichgemusterte, dicke Sammtteppich des Zimmers machte auch den schwersten Fußtritt unhörbar; die auf vergoldeten Piedestalen ruhenden Tischplatten waren vom feinsten Marmor, und Goldbrocat bedeckte alle Sitze. An einem kostbaren Flügel saß eine elegant gekleidete Dame und sang. Ein Springbrunnen im Rococostyl sandte einen Strahl mit Eau de Cologne vermischten Eiswassers empor, und das Ganze wurde von vier prachtvollen Kronleuchtern erhellt, die sich endlos reflectirten, denn die Wände bestanden aus Spiegeln durch Marmorsäulen getrennt. Der Salon entspruch seiner Bestimmung: Musik, Stickerei, Conversation und Courmachen. Mit einziger Ausnahme des Schreibverbotes im Damensalon, hat ein Bewohner dieser immensen Anstalt vollste Freiheit zu thun, was ihm beliebt, sofern er nur den mäßigen Satz von zwei Dollars (2 Thlr. 20 Gr.) des Tages zahlt. Darin ist, auch in den besten Hotels, Alles inbegriffen, eine prachtvolle Table d’Hôte, ein komfortables Schlafzimmer, Licht, Bedienung und Gesellschaft im Ueberfluß. Von den Dienern erfreut man sich großer Aufmerksamkeit, die jedoch frei ist von aller Unterwürfigkeit und mehr noch von jenem affectirten Diensteifer, der bei der Abreise durch einen grinsenden Bückling zu verstehen gibt, daß er nur nach den Pfunden und Schillingen bemessen war, die der Gast muthmaßlich zu Trinkgeldern disponibel haben mag.
Das American House in Boston, ein gutes Exemplar der besten Hotelclasse in den Vereinigten Staaten, obwohl mehr von Kaufleuten als Lustreisenden frequentirt, ist aus grauem Granit erbaut, mit einer Straßenfronte von hundert Fuß. Das vordere Erdgeschoß nehmen Kaufläden ein, in deren Mitte eine hohe Doppelthüre den Eingang bildet, der überdies noch charakteristischer durch Gruppen rauchender Herren bezeichnet wird. Durch ihn tritt man in eine hohe, weite Halle, auf deren weiß und schwarz gewürfeltem Marmorpflaster sich den Wänden entlang mit Büffelleder bedeckte Divans hinziehen. Mit Ausnahme der Speisestunden ist diese große Halle der Schauplatz eines ewig bewegten Lebens. Zwei- bis dreihundert Herren sind hier stets versammelt, an der Thüre rauchend, in Zeitungen vertieft auf den Divans ruhend, oder in lebhaften Gruppen über Handelsangelegenheiten discurirend. Berge von Gepäck, in denen man bestürzt sein leichtes Reisekofferchen unter einer riesigen Kiste zerquetscht sieht, nehmen die Mitte ein; Lastträger sitzen, Aufträge erwartend, zur Seite; Kommende und Gehende strömen hin und her; ein wirres Babel von Stimmen erschallt beständig die obern Gallerien hinauf, und am Eingange setzen Fuhrwerke nach Art der deutschen Eilwagen fort und fort neue Gäste ab. Daneben aber gibt es noch einen Privateingang für Damen. An einem Comptoir, dem Eingang gegenüber, sitzt der Cassirer mit vier oder fünf Schreibern, an den man sich wegen der Zimmer zu wenden hat. Ich schrieb hier meinen Namen in ein Buch, er setzte eine Zahl daneben und händigte mir einen Schlüssel mit der betreffenden Nummer ein, dann folgte ich einem Diener durch einen langen Corridor hinauf in ein kleines, aber sehr hübsches Zimmer des dritten Stockwerks, wo fortan meine Persönlichkeit allem Anscheine nach in einer bloßen Zahl untergegangen war. Auf der andern Seite der Eingangshalle befindet sich ein schön geschmücktes Zimmer, wo Liebhaber solcher Getränke sich „Toddy, Nachtmützen, Mint-Julep, Gin-sling“ etc. verschaffen können, und der Umstand, daß allein schon Theetotaler (Nur-Theetrinker) an dreihundert verschiedene, nicht spirituöse Getränke bereit finden, mag eine Vorstellung von der hier waltenden Mannichfaltigkeit solcher Genüsse vermitteln. An der Thüre meines höchst niedlichen und comfortabeln Schlafstübchens unterrichtete eine gedruckte Karte über die Hausordnung, die Speisestunden und die Tageskosten. Das Hotel enthält dreihundert Schlafzimmer, darunter nicht wenige so groß und herrlich, wie in irgend einem englischen Privatpalast.
In gleicher Höhe mit dem Eingang steht ein prachtvoller Speisesaal von achtzig Fuß Länge, hauptsächlich für Herren bestimmt, während sich im ersten Stockwerke ein großer, mit eben so viel Glanz als Geschmack möblirter Salon (verschieden von dem [427] bereits geschilderten) mit der Ueberschrift „Speisezimmer für Damen“ befindet, wo Familien wie einzelne Damen und ihre Gäste die Mahlzeiten einnehmen. Das Frühstück beginnt schon um sieben Uhr und bleibt bis neun auf der Tafel; zu Mittag gespeist wird um eins, und der Thee kommt um sechs Uhr. Bei diesen Mahlzeiten wird jede denkbare Delicatesse der Jahreszeit aufgetischt, und der tägliche Speisezettel würde einem fürstlichen Bankett Ehre machen. Der Hauptkoch ist in der Regel ein Franzose, und selbst der erfahrenste Feinschmecker Europa’s fände hier noch Gelegenheit zu neuen Studien. Ueber hundert Aufwärter versehen den Dienst bei Tische, und die Damen werden stets zuerst und mit dem Besten bedient. Man kann auch in einem Privatzimmer speisen, muß jedoch für diese Exclusivitat theuer bezahlen.
Die Salons werden stets durch große Feuer von Anthracitkohlen sehr warm erhalten, und um Dunst zu verhüten, bleiben die Thüren offen. Die Mäßigkeit bei Tische überraschte mich. Nur selten bemerkte ich ein anderes Getränk als Eiswasser. Bequemlichkeiten aller denkbaren Art sind für die Gäste vorhanden. Die Drähte des elektrischen Telegraphen laufen in das Hotel, und ein eigener Telegraphist befördert augenblicklich Botschaften nach allen Himmelsgegenden; Commissionaire sind stets bereit, Aufträge in der Stadt auszurichten; überall in den kleinen Alkoven der Halle und Corridore stehen Tischchen mit Papier, Feder und Tinte; ein Stiefelputzer ist immer zur Hand; und wer die Treppen nicht hinaufsteigen mag oder kann, wird auf einem weichen Sopha sitzend hinaufgewunden. Nicht zu vergessen ist die Vorrichtung, durch welche die Confusion und der Lärm von zwei- bis dreihundert Klingeln beseitigt wird. Alle Drähte der verschiedenen Zimmer laufen an einer Glocke zusammen, die sich in einem Gehäus bei dem Comptoir des Cassirers befindet. An der Rückseite dieses Kastens sieht man durch eine Glastafel den ganzen Mechanismus, während die Vorderseite Reihen von Zahlen trägt. Jede Nummer ist von einem beweglichen Metallplättchen bedeckt, das, sobald in dem betreffenden Zimmer geschellt wird, umschlägt und herabhängt, während die zugleich ertönende Glocke den Schreiber benachrichtigt, der sogleich die offene Nummer sieht, einen Aufwärter nach dem Zimmer schickt und das Metallplättchen wieder emporrichtet.[2]
Alle großen Hotels sind mit Dampfwäschereien versehen. Im American House steht die Waschanstalt unter der Verwaltung eines eigenen Beamten, der alle Details einträgt. Das Linnenzeug wird in eigenthümlichen, durch Dampf bewegten Drehmaschinen gereinigt, in ähnlicher Weise durch Benutzung der Centrifugalkraft – wie in den neuen Berliner Waschanstalten – ausgerungen; heiße Luft trocknet sie vollständig, und in wenigen Minuten ist sie gewaschen und geplättet. Daneben befinden sich warme und kalte Bäder, sowie Barbier- und Frisirstuben.
Ehe ich die Geheimnisse dieser Hotels kannte, wunderte ich mich jedesmal, wenn ich Amerikaner auf Reisen gehen sah, ohne auch nur eine Reisetasche mitzunehmen; allein es zeigte sich bald, daß sogar das Mitführen von Rasirmesser und Zahnbürsten überflüssig wäre und der Besitzer eines einzigen Hemdes ganz eben so gut daran ist, als hätte er ein halbes Dutzend; denn während er ein Bad nimmt, stellt ihm die magische Waschanstalt den Gegenstand in seiner ganzen Herrlichkeit von blendender Weiße und Stärke wieder her. Kurz, der Comfort und Luxus des American House, wie aller Hotels derselben Classe, läßt seinen Bewohnern nichts zu wünschen übrig, und es kann daher gar nicht überraschen, wenn immer mehr Ledige wie Verheirathete ihren dauernden Aufenthalt in diesen Prachtpalästen nehmen, deren mannichfache Bequemlichkeiten sie in Privathäusern sich nicht um den zehnfachen Preis verschaffen könnten.“
Diese rührende Inschrift begrüßt uns beim Eintritt in das Asyl der Unglücklichen. Alt und Jung huscht an uns vorüber, in jener unstäten Hast, die den Sehelosen eigen, stolpert oder schleicht die Treppe hinauf, fast ohne das Geländer zu berühren, und verliert sich in die dunkeln Gänge des Hauses. Diese summen ein Lied vor sich hin. Jene verzehren mit bestem Appetit ihr Vesperbrod, wenige stehen still in sich gekehrt – doppelt unser Mitleid in Anspruch nehmend –, im Gegentheil geht es hier so lustig und ungebunden zu, daß man sich fragen möchte: sind das Menschen, denen der Himmel seine schönste Gabe verweigerte?
Eine fröhliche Melodie tönt aus der Ferne. Wir treten in einen hellen, geräumigen Saal, und gegen neunzig Sänger empfangen uns mit einem Lied an den Frühling, den sie nie sahen. Diese Stimmen sind rein und unschuldig, dieser Gesang athmet Frohsinn und Heiterkeit, und dennoch empfanden wir nie tiefer die Strophe des englischen Dichters: „Ihr munteren Sänger, ihr brecht mir das Herz noch“, als er sein Lied schrieb „vom armen geblendeten Finklein“. Meist Kindergesichtern, oft dem zartesten Alter angehörend, begegnet unser Blick; die Hände wie zum Gebet gefaltet, sitzen sie da, vom Kleinsten bis zum Größesten, immer in derselben Haltung stiller Ergebenheit und Duldung.
Am häufigsten erscheint die Blindheit unter den Kindern der Armen, und so ist fast auch allen diesen Gesichtern der Stempel der Armuth aufgedrückt, den selbst die sorgfältigste Ausbildung des Geistes und Herzens nie ganz zu verwischen vermag. Das sind die gleichen dürftigen Gestalten mit den großen, spitz zulaufenden Köpfen, den niedrigen Stirnen, den stumpfen oder überlang gestreckten Nasen, wie man sie in dem sächsischen Erzgebirge findet, welches auserkoren scheint, vor allen übrigen Districten des Landes bei Weitem die größte Zahl dieser Armen zu liefern. Auffallend genug, haben hingegen die Meisten feine, wohlgebildete Hände, oft mit den schönsten Nägeln versehen, weil diese Hand ängstlich geschont werden muß, die ihnen, da sie ja betasten müssen, was sie kennen und verstehen wollen, die Stelle des Auges vertritt. Man sieht hier Hände, wie sie in den Kreisen der höchsten Aristokratie nicht schöner anzutreffen sind – ein Beweis, wie Schönheit nicht immer angeboren ist, sondern zum großen Theil anerzogen werden kann. Unter dem weiblichen Theile der kleinen, sich durchschnittlich auf hundert Köpfe belaufenden Gesellschaft finden sich natürlich meist glücklichere Physiognomien, als unter dem männlichen; und wir würden auf manchem Gesicht mit innigstem Gefallen weilen, starrte uns nicht jener todtleere Ausdruck des verschleierten Auges entgegen, oder wäre es nicht auf immer geschlossen, während der Körper noch auf der Erde wandelt. Doch wir dürfen uns auch hier um so weniger gegen die Ordnung der Dinge auflehnen, als die Natur in ihrem hohen Vergeltungs- und Gerechtigkeitsprincip statt des einen fehlenden Sinnes die andern bis in’s Unendlichste schärfte – ja um so weniger, als dies Unglück großentheils durch die Menschen selbst, durch Vernachlässigung und Unreinlichkeit, hervorgerufen wurde, indem es bewiesen ist, daß Kinder selten blind geboren werden!
[428] Unter der freundlichen und lehrreichen Führung des Directors der Anstalt, Dr. Georgi, besuchen wir nun die übrigen Lehr- und Unterrichtssäle, und ein Bild des geschäftigsten Treibens, der unermüdlichsten Thätigkeit und Geschicklichkeit entrollt sich vor unsern Blicken. Wahrlich, hier hat der menschliche Scharfsinn, gepaart mit der erhabensten Geduld und Humanität, Alles gethan, die armen Mitgeschöpfe auf möglichst gleiche Stufe mit uns Vollsinnigen zu stellen, hier ist Nichts unterlassen, Nichts unberücksichtigt geblieben, dem Blinden ein geistiges Auge zu erschließen, mit dessen Hülfe er arbeitet, lernt und strebt, als ob er den Verlust des körperlichen nicht zu beklagen hätte. Dieses geistige Auge, leuchtend aus finsterer Nacht, regiert seine Hände, schärft sein Gehör, Gefühl und seine Gedächtnißkraft in einem Maße, daß diese Wesen die ganze Größe ihres Unglücks kaum ahnen, sondern sich in ihrer kleinen Welt vielleicht glücklich und zufrieden fühlen. Das Seelenleben der Blinden ist gleich geheimnißvoll wie die letzten Momente Sterbender – aber gewiß haben sie Phantasiegebilde, Erscheinungen und Träume so holder Art, wie Gesunde sie niemals schauen werden.
Dr. Georgi war u. A. so gütig, in unserer Gegenwart geographische Uebungen mit einigen blinden Mädchen vorzunehmen. Diese standen alsbald vor einer großen Karte, deren Länder erhaben gearbeitet waren, die Hauptstädte durch Metallknöpfe bezeichnet, das Ganze aber überzogen mit Quadraten aus Messingdrähten. Nun ging es an ein Fragen der bekanntesten, wie entferntesten Städte, nach Seen, Meerengen, Gebirgen und Canälen, und kaum war die Frage ausgesprochen, so glitten die zarten Finger der Mädchen in erstaunlicher Schnelligkeit von Süd nach Nord, von Ost nach West, und bezeichneten die fragliche Stelle.
Director Georgi, eine Autorität in Deutschland und weit über dessen Grenzen hinaus, ein Mann des gründlichsten Wissens und der ausgebreitetsten Erfahrungen, zeigte hier wie später die glücklichste Umgangsweise mit seinen Zöglingen. Wo es passend schien, flocht er ein gütiges Wort, sogar einen leichten Scherz ein, und man sah immer ein leises, gückliches Lächeln auf den Gesichtern der armen Blinden, so oft eine scherzhafte Bemerkung von den Lippen dessen floß, der wie ein Vater unter seinen Kindern stand und durch heitere Worte und milde Reden Balsam in ihre liebebedürftigen Herzen streute. Wenn wir daher unsern Lesern das Bild dieses Mannes vorführen, dessen ebenso bescheidenes, als mühevolles Wirken Jeden mit Achtung erfüllen muß, glauben wir nur einer Pflicht genügt zu haben.
Der Schreib- und Leseunterricht ist jedenfalls der mühsamste für Lehrer und Schüler. Zu diesem Zweck hat der Franzose Louis Braille[WS 1] eine Punktirschrift erfunden, welche die Blinden in Stand setzt, sowohl unter sich, wie mit ihren Lehrern in schriftlichen Verkehr zu treten. Zu unserer Abbildung geben wir folgende kurzgefaßte Erläuterung: der blinde Zögling hat eine Zinktafel vor sich, deren Oberfläche von gleichlaufenden, wagerechten Linien durchfurcht ist, sodaß das Ganze einem sorgfältig gepflügten Felde gleicht. Quer über die Tafel legt er eine messingene Schablone, die zu beiden Seiten sich dem Holzrahmen der Tafel genau anschmiegt und über denselben herumgreift, sodaß sie bequem herauf und herunter geschoben werden kann, ohne aus ihrer winkelrechten Lage zu kommen. Die Schablone ist ungefähr ein Zoll breit und durch dieselbe eine Doppelreihe länglicher Vierecke geschlagen. Ein jedes dieser Vierecke ist so hoch, daß es drei Furchen oder Linien erscheinen läßt, in welche, nachdem unter die Schablone ein Blatt starkes Papier gelegt wurde, mit einem mäßig spitzen Griffel hineingedrückt und somit das Papier durchstochen wird. Jedes der Vierecke läßt Raum für zwei nebeneinander stehende Punkte, weshalb jede der Oeffnungen sechs Punkte zuläßt, aus welchen Baille durch die mannichfachsten Variationen ein Alphabet zusammensetzte und seine Punktirschrift erfand. Noch ist zu bemerken, daß [429] der schreibende Blinde von rechts nach links anfängt, seine Buchstaben zu stechen, weil er, nach vollendeter Schrift, das Papier umkehren muß, indem sich dann die Punkte erhaben zeigen. Sodann liest (oder vielmehr tastet) er von links nach rechts, wie jeder sehende Lesende.
Um die Blinden über die Benutzung, Hervorbringung und Einrichtung der Dinge belehren zu können, müssen sie vor Allem die Gestalt der Körper ohne Rücksicht auf ihren Stoff, sowie den Stoff und die Bestandtheile derselben ohne Rücksicht auf ihre Form kennen und unterscheiden lernen. Deshalb hat man ein sogenanntes „Allerlei“ angelegt, das aus den nur erdenklichsten Gegenständen besteht, um den Tastsinn zu üben und zu schärfen. Sorgfältig nachgebildete Thiere aller Gattungen, Fabrikate, Metalle, Gewebe u. s. w., kurz man findet hier eine Weltausstellung im Kleinen.
Wir verlassen nun den Schulunterricht, um uns zu den älteren Blinden zu begeben, die mit Korbmachen, Rohrstuhlflechten und Seiledrehen beschäftigt sind. Man sieht hier Geflechte vom ordinairsten Weidenkorbe bis zum kleinsten Luxuskörbchen, Schiffstaue, wie die feinsten Schnuren, und Netze, Matten und Decken aus dem gröbsten, heimischen Roggenstroh, wie aus dem Bast der fernen Cocosfrucht. Die Turnanstalt mit den umfassendsten Apparaten, wie die Seilerei befinden sich in dem Garten, der mit seinen vorzüglichen Anlagen das stattliche Gebäude umgibt. Eine immer frische Luft weht von den nahen Bergen herüber, deren Quellen die Anstalt mit dem gesündesten Trinkwasser versehen.
Der Zweck, die Grund-Tendenz der Anstalt, ist die Erziehung und Ausbildung erblindeter Personen zur Erwerbsfähigkeit; denn die größere Abhängigkeit von der Hülfe Anderer, die Hülfsbedürftigkeit des Blinden macht sein Unglück aus. Je weniger hülfsbedürftig also, desto weniger unglücklich ist er. Dies war der leitende Gedanke, der im Jahre 1809 den Privatgelehrten Immanuel Gottlieb Flemming, im Verein mit seiner Gattin, bewog, eine kleine Privatblindenanstalt zu gründen, die sich noch nicht über den Kreis einer Familie ausdehnte. Diese kleine Anstalt, von Jahr zu Jahr sich ausdehnend und an Bedeutsamkeit gewinnend, ging 1830 als Landesanstalt an die Staatsregierung über. Sie hat bereits ihr fünfzigstes Jahr vollendet und gehört unter die älteren in Deutschland, indem ihr nur die Anstalten in Wien vom Jahre 1804, in Berlin von 1806 und in Prag von 1808 vorangehen. Sie ist lediglich Bildungsanstalt für unheilbare (einheimische) Blinde; Heilung von blos augenkranken und vorübergehend blinden Personen, oder lebenslängliche Versorgung von hilfsbedürftigen, namentlich bildungsunfähigen Blinden schließt sie daher aus. Ihr ganzer Organismus ist auf Erziehung und Ausbildung unheilbarer Blinder zur Erwerbsfähigkeit berechnet.[3]
Es besteht demnach in der Anstalt eine Elementarschule, in welcher blinde Kinder bis zur Confirmation in den gewöhnlichen Elementarfächern, so wie im Lesen und Schreiben fühlbarer Schrift unterrichtet werden. Für alle diese Unterrichtsgegenstände sind die nöthigen Hülfs- und Versinnlichungsmittel vorhanden und werden mit einem Erfolge in Anwendung gebracht, welcher die aus der Schule austretenden befähigten Zöglinge, soweit dies Blinden überhaupt erreichbar ist, an geistiger Bildung den aus den hiesigen Elementarschulen hervorgehenden Katechumenen als gleichstehend erscheinen läßt! Höhere wissenschaftliche oder künstlerische Bildung wird nicht angestrebt. Die Zöglinge treten daher nach Abschluß des Schulunterrichts in eine Arbeitsanstalt über, welche in eine Korbmacher-, Seiler- und Schuhmacherwerkstatt und eine Unterrichtsanstalt für weibliche Arbeiten sich spaltet. Für alle diese Beschäftigungen sind die nöthigen Lehrkräfte und Beschäftigungs-Apparate vorhanden. In diese Anstalt werden auch ältere, [430] nicht in derselben erzogene Blinde in der Absicht aufgenommen, sich durch einen oft nur wenige Monate währenden Aufenthalt einige technische Erwerbsfähigkeit anzueignen. Dieser Arbeitsunterricht bezweckt, die Pfleglinge in den Stand zu setzen, durch selbstständigen Betrieb eines der genannten Handwerke ihr Fortkommen zu suchen und hierdurch in die Lage zu kommen, der Unterstützung ihrer Heimathgemeinden und der Beihülfe der Barmherzigkeit entbehren zu können.
Musik und Gesang erlernen fast alle Zöglinge, soweit irgend eine Befähigung dazu vorhanden ist. Virtuose Ausbildung hingegen wird nicht angestrebt. In der Regel lernen die Blinden mehr als ein Instrument spielen, um sich künftig als brauchbare Mitglieder einem kleinen Musikchore anschließen zu können. Solche Blinde aber, welche ihre musikalische Geschicklichkeit für eine bettelhafte, umherschweifende Lebensweise mißbrauchen, Jahrmärkte und sonstige Volkslustbarkeiten bereisen, und als Bänkelsänger oder musicirende Bettler der Barmherzigkeit zur Last fallen, treten durch diese unangemessene, auch die Sittlichkeit gefährdende Beschäftigung außer Verbindung mit der Anstalt und verlieren den Anspruch auf ihre Unterstützung. Dagegen erscheint das Anleiten der musikalisch befähigten Blinden zum Pianoforte-Stimmen als sehr nützlich, und es wird daher denen, die sich durch besondere Schärfe des musikalischen Gehörs auszeichnen, der nöthige Unterricht hierin ertheilt.
Die Erzeugnisse der Hausmanufactur sind in einem eigenen Saale zum Verkaufe ausgestellt, und der Ertrag davon, der sich jährlich auf 3–500 Thaler beläuft, wird zu dem Fond für Entlassene geschlagen, welcher theils durch Beiträge oder Hinterlassenschaft mildthätiger Privaten, theils durch Staatszuschuß gegründet wurde. Denn die Erfahrung hat es gelehrt, daß Bildung allein in den meisten Fällen doch nicht ausreicht, dem Blinden eine selbstständige Stellung in der bürgerlichen Welt zu erringen. Man sah oft die besten Früchte der Erziehung wieder verloren gehen. Sich selbst überlassen in einer ihnen fremden Welt, scheiterten nicht selten die besten und arbeitstüchtigsten Blinden an der einfachen Schwierigkeit, daß ihnen nach ihrem Austritte aus der Anstalt die leitende Hand fehlte, die ihnen mit Sachkenntniß und Liebe über scheinbar oft geringe Schwierigkeiten hinweghalf. Sie verfielen in Muthlosigkeit, versanken in Unthätigkeit, verlernten aus Mangel an Uebung die mühsam errungenen Geschicklichkeiten und vermochten, wie früher, nur unter dem Beistande der Barmherzigkeit ein verkümmertes Dasein zu fristen.
So weit irgend möglich, wird daher jeder Blinde vor seiner Entlassung mit allen Nothwendigkeiten des Lebens, auch mit einigem Gelde ausgestattet. Für die ersten Jahre wird hierdurch der Blinde der wichtigen Sorge für seinen Anzug fast gänzlich enthoben. Sodann wird Sorge getragen, ihn mit den nöthigen Handwerkszeugen und einigem Arbeitsmaterial zu versehen. Zu diesem Behufe werden die Zöglinge von Kindheit an sorgfältig zur Sparsamkeit angehalten und in ihrem Gebahren mit Gelde überwacht. Dadurch, daß ihnen von ihren Arbeiten ein Fünftheil des Reingewinns bei monatlicher Ablieferung der von ihnen gefertigten Waaren als Taschengeld baar ausgezahlt wird, ist ihnen die Gelegenheit geboten, den Werth und Gebrauch des Geldes kennen zu lernen und sich in der Sparsamkeit zu üben. Nicht selten erlangt auf diese Weise ein Zögling, wenn ihm nebenher noch kleine Geschenke von diesem oder jenem Gönner zufließen, eine Baarschaft von zwanzig Thalern, Mancher aber fünfzig und sechzig Thaler, eine Summe, welche in den meisten Fällen genügt, ihrem Besitzer den selbstständigen Betrieb eines kleinen Geschäftes zu sichern.
Vor der Entlassung aus der Anstalt nun bemüht sich die Direction, an dem künftigen Wohnorte des Blinden einen gebildeten Menschenfreund zu ermitteln, welcher es auf sich nimmt, seinen Schutzbefohlenen liebreich zu bevormunden, seine fernere Verbindung mit der Anstalt brieflich zu vermitteln und von Zeit zu Zeit über das Befinden, Verhalten, die etwaigen Bedürfnisse und Wünsche seines Pfleglings an die Anstalts-Direction zu berichten. Alljährlich unternimmt auch der Director eine Reise in den einen oder andern Landestheil, um sich durch eigenen Augenschein von den Verhältnissen der entlassenen Zöglinge zu überzeugen und ihnen sowohl, als ihren Ortsobrigkeiten und Vormündern rathend und helfend an die Hand zu gehen.
Die gewöhnlichste Form, unter welcher schließlich nach erfolgter Entlassung Unterstützungen an Blinde ertheilt werden, ist in der Hauptsache folgende. Die Gewinnung eines guten und wohlfeilen Arbeitsmaterials hat für die Blinden, besonders auf dem Lande und in kleinen Städten, immer große Schwierigkeiten. Theils können sie immer nur in geringen Quantitäten kaufen und kaufen also theuer, theils müssen sie sich hierbei, da sie die Waare mit dem Tastsinn nur unvollkommen zu erproben vermögen, fast ganz der Redlichkeit der Verkäufer überlassen. Es besteht also die Einrichtung, daß die Blinden in allen Theilen des Landes ihr Arbeitsmaterial jederzeit in der Blinden-Anstalt kaufen können. Zu diesem Zwecke werden hier die Materialien aus erster Hand im Großen erkauft, und in den kleinsten Quantitäten zu den Einkaufspreisen an die Blinden wieder abgelassen. So erhalten dieselben unter Garantie der Anstalt nicht blos ein gutes, sondern auch sehr wohlfeiles Arbeitsmaterial, und dies hat dann in vielen Fällen schon allein die nothwendige Folge, daß auch die blinden Arbeiter bei Fleiß und Mäßigkeit von dem Ertrage ihrer Thätigkeit leben und, weil ihnen an ihren Fabrikaten ein höherer Gewinnantheil verbleibt, als den gewöhnlichen Handwerkern, die Concurrenz mit ihnen bestehen können. Diese erfreuliche Erfahrung aber erhält ihre Lust zur Thätigkeit rege und treibt sie zur emsigsten Benutzung ihrer Zeit. Auf diese Weise wird es möglich, einen geschickten blinden Arbeiter mit einem geringen Opfer von jährlich wenigen Thalern ohne jede weitere Behelligung der öffentlichen Wohlthätigkeit zu unterhalten, ohne ihm die Freude am selbstständigen Schaffen zu verleiden, oder ihn zum bloßen Empfänger demüthigender Barmherzigkeit hinabzudrücken.
Und so laßt uns scheiden von dieser Anstalt – doch nicht gleichgültigen Herzens. Sie ist eine Stätte der aufopferndsten Liebe, der unendlichsten Sorgfalt. Sie gleicht einer guten Mutter, welche das kranke Kind am zärtlichsten liebt.
Von Arnold Schloenbach.
Während die geheimnißvollen elektrischen Drähte von Baden-Baden aus den Cabineten Europa’s die Geschicke der nächsten Zeit wenigstens insoweit verkünden, als die Diplomatie jetzt noch Geschicke bestimmen und leiten kann, wird in der freien Residenz des freiesten deutschen Landes ein Fest gefeiert, dessen Idee der Entstehung und dessen Geist der Ausführung jene Zusammenkunft in Baden-Baden hauptsächlich mit veranlaßt hat: die immer mächtiger waltende Idee von der endlich Thatsache werden sollenden Einheit des Vaterlandes; der neu und mächtig erwachte Geist der Nation, in immer größerem Bewußtsein, immer energischerem Wollen. Diese Idee, dieser Geist haben erschreckend, ermahnend, hoffentlich auch anfeuernd und kräftigend die Höfe Europa’s, namentlich aber Frankreichs und Deutschlands, bewegt und in Baden-Baden die Fürsten, in Coburg die Vertreter der deutschen männlichen Jugend zusammengeführt. Und das ist es, was unserm Feste eine so ernste, hohe, nationale Bedeutung gibt. Das ist auch die Thatsache eines moralischen Sieges, den die Nation sich errungen hat, der ihr auch wohl nicht mehr verkümmert werden kann. Von diesem nationalen Standpunkt aus betrachtet, ist unser Fest ein großer historischer Moment deutscher Geschichts-Entwickelung; es verdient daher eine genauere Beschreibung. – Zu weit würde es indeß für diese Blätter führen, wenn die Debatten und Reden hier nachgedruckt werden sollten; das sei Aufgabe eines besondern Gedenkwerkes, das die Festleiter erscheinen lassen werden; hier brauchen nur die eigentlichen Thatsachen zu gelten: zunächst die Vorlagen, um die es sich handelte, und wie dieselben zum Abschluß kamen; dann die Hauptpunkte der größeren Reden und der Geist, mit dem sie aufgenommen wurden. – Die Namen der Debattirenden [431] und Sprechenden mögen ebenfalls jenem Gedenkbuche einverleibt werden.
Am Abend des 16. Juni waren der erwählte Festpräsident, Georgii aus Eßlingen, und Kallenberg aus Stuttgart, der den ersten Anstoß zu dem Feste gegeben hatte, bereits in der letzten Sitzung des Coburger Festcomité’s anwesend und nahmen die Berichte über die Thätigkeit der 11 Ausschüsse des Comité’s dankend und anerkennend entgegen. Wohl hatte dasselbe solche Anerkennung durch ebenso umsichtige als rastlose Thätigkeit verdient, und Fürst, Behörden und Bürgerschaft hatten in Unterstützung und Forderung derselben gleichsam gewetteifert. So fanden denn die fremden Festleiter alles Nothwendige gründlich vorbereitet, und es bedurfte nur noch einer, aber auch einer sehr interessanten, ja bedeutungsvollen Verhandlung über die Ordnung des Festzuges. Zwei Vorschläge wurden debattirt: 1) Ordnung nach Städten, als Symbol allgemeiner Einheit, in Verwischung aller Landesfarben, 2) Ordnung nach der alten Stammes-Eintheilung, als Symbol einer Darstellung der natürlichen Grenzen im Vaterlande. Diese wurde mit 13 Stimmen gegen 11 angenommen. Den Schluß dieser Sitzung machte eine im Auftrage des Herzogs gegebene Mittheilung, daß derselbe, dem Rufe seiner Pflicht für das Vaterland folgend, nach Baden-Baden abgereist sei und schwerlich schon am Montag Morgen zum Callenberg zurückkehren könne; daß der Herzog aber gewiß noch zeitig genug anwesend sein werde, um die Festleiter noch begrüßen und dem Schlusse des Festes beiwohnen zu können. Es wurde daher die auf dem bekannt gewordenen Programme fixirte Turnfahrt zum Callenberg, die eine Ovation für den gastfreien Landesherrn sein sollte, von Montag Morgen auf Dienstag Morgen verlegt. Es sei hier auch noch bemerkt, daß die vier auswärtigen Leiter des Festes: Georgii, Kallenberg, Goetz aus Leipzig und Angerstein aus Berlin, im herzoglichen Residenzschlosse, als Gäste des Herzogs, Wohnung empfangen hatten.
Der Morgen des 16. Juni verkündete den ersten schönen Tag nach langer, besorgnißvoller Regenzeit, und er hielt Wort. Immer klarer und sonniger entfaltete sich der erste Tag, der uns die Gäste bringen sollte. Nachmittags drei Uhr kamen in langem, langem Eisenbahnzuge die Turner aus Schwaben, Baden und Baiern; fast gleichzeitig mit ihnen die Thüringer und Nordfranken, vom „Wald“, aus dem Lausche-, Lichte- und Saalthal; festlich empfangen vom Coburger Festcomité und Turnvereine, mit Fahne und Musik. Nun gab es den ersten Zug, hin durch die stattliche Ehrenpforte am Eingange der Stadt zur Festhalle der Reitbahn, reich geschmückt mit Wappen und Fahnen, turnerischen Emblemen, Guirlanden, Kränzen, Ampeln und Maien. Wahrlich, ein schöner, alle Herzen und Sinne anregender Empfang!
Nachdem die Angekommenen sich durch den berühmten Coburger „Stoff“, dem zu diesem Feste noch eine ganz besondere Anziehungskraft verliehen war, gestärkt hatten, wurden sie riegenweise in die Theaterhalle zur Empfangnahme der Karten und Einquartierungsbillets, dann durch die Zöglinge der Turnerschaft und deren jüngste Mitglieder in die Quartiere geführt. – Abends 7 Uhr kamen neue Turnerzüge aus Mittel- und Norddeutschland. Um 8 Uhr ging es in freien Vereinbarungen hinauf zur „Veste“, einem der schönsten, anmutvollsten Punkte Deutschlands, mit weitem Blick hinein nach Franken, Hessen und Thüringen. An ihren Mauern brachen sich einst die Kräfte des allbezwingenden Wallenstein; in ihren Mauern saß der Mann, an dessen Gewalt sich Rom brach: Luther. – Jetzt ist der merkwürdige Bau durch den herzoglichen Hofmaler und Baurath Rothbart artistisch und baulich vortrefflich und geschmackvoll restaurirt, und an diesem Festabende war der innere, architektonisch höchst malerisch sich gestaltende Hofraum mit farbigen Lampenflammen, Transparenten, Fahnen und Maien köstlich ausgeschmückt, und bot – belebt durch viel hundert Jünglinge deutscher Gaue - ein Bild seltenster und schönster Art dar. Vaterländische Gesänge schallten hinunter in das anmuthvolle Thal, dessen Höhen besäet waren von zu- und abwandelndem Publicum. Es ertönte der erste Festgruß voll deutscher Kraft und Gesinnung, und hob die schon gehobene Stimmung noch höher und freier. Bis tief hinein in die warme, klare Nacht wogte und schwellte diese Feier des Vorabends.
Am 17. früh 5 Uhr elektrisirte die Turner-Reveille Stadt und Umgebung, und wirbelte Hunderten und Hunderten zu, daß der herrliche Festtag angebrochen sei. Es war ein ganz eigenthümliches Gefühl, das durch diese Reveille in den Herzen fast Aller erweckt wurde. Um 7 Uhr die erste Festversammlung auf dem großen Markt oder Rathhausplatze. Der vortrefflich geschulte Coburger Sängerkranz, im Verein mit dem „Singsang“ des Coburger Turnvereins, an der Spitze die Triumvirn der herzoglichen Oper, sang durch die tiefe Stille laut und andachtsvoll das wohlgewählte Lied: „Dies ist der Tag des Herrn“. Eine feierliche Stimmung ergriff die lautlose Menge. Auch dies war ein echtes Sonntagsgebet, war ein Gottesdienst nationaler Andacht! – Nun brachte der Bürgermeister der Stadt, im Namen dieser, der Versammlung ein herzliches, echt vaterländisches Willkommen dar, was der Festpräsident im Namen der Turner dankend entgegennahm. – Ein Gruß für den Veteranen deutscher Turnkunst, Maßmann, und dessen Dank, dann noch ein Lied beschlossen diese Frühstunden des Festes. – Um 9 Uhr ging es zum großen Ernst der turnerischen Berathung in der Festballe. Die Anzahl der Turner hatte sich noch spät Abends vorher und Morgens um einige Hunderte vermehrr, und wahrlich, es war eine stattliche Versammlung, die sich zu den beginnenden Verhandlungen einstellte. Dieselben wurden eröffnet mit Absendung eines ehrfurchtsvollen Dank- und Festgrußes an Se. Hoheit den Herzog per Telegramm nach Baden-Baden. Nun erfolgte einstimmige Annahme der Wahl Georgii’s als Festpräsident, der sich dann Goetz aus Leipzig zum Stellvertreter und Angerstein aus Berlin zum Schriftführer erwählte, seinen Festgruß der Versammlung und der Stadt Coburg darbrachte, Telegramm-Grüße aus Graudenz, Insterburg und Thorn mittheilte und schließlich die Tagesordnung der zu berathenden Vorlagen feststellte.
Der Geist der nun folgenden vierstündigen Verhandlungen war zwar – das ist nicht zu leugnen – kein so geschlossener, Grenzen und Antipathien vergessender und absorbirender, als man nach dem Wehen und Wesen der Zeit wünschen sollte, als manche in national-idealer Erwartung und Anforderung beanspruchten; es gaben sich noch scharfe Risse innerer und äußerer Natur, sowohl in Stammes- als in Gesinnungs-Verschiedenheiten, kund; es trat bei Manchen eine beängstigende Aengstlichkeit für ein „Zuweit“ oder „Zufrüh“ und bei allen Fragen, wo es sich um Centralisation turnerischer Bestrebungen, Kräfte und Arbeiten handelte, ein energisches Gegenwirken namentlich preußischer und auch wohl sächsischer Turnervorstände hervor. Aber im Allgemeinen – also in der Hauptsache – kann man als historische Thatsache feststellen: der Geist jener Berathungen war ein echt deutscher und freisinniger, ebenso gesund und resolut, als ideal und hoffnungsstark, und war man auch nicht einig über alle Mittel, so doch im Ganzen über den Zweck: über die körperliche und geistige, freiheitliche und einigende Aus- und Heranbildung einer großen deutschen Jugendkraft zum Heile des Einen großen Vaterlandes! – Das ist als ein unschätzbarer Gewinn in den Annalen unserer Gegenwart einzutragen. – Gehen wir nun über zu den einzelnen Vorlagen der Geschäftsordnung.
1. Antrag: Einführung des Turnens in allen, namentlich auch den Volksschulen, als wesentlicher Theil des Unterrichts und der Erziehung, wurde ohne Debatte einstimmig angenommen. – Ueber das Wie solcher Einführung nach einiger Debatte folgender Beschluß: Eine von zu wählender Commission abzufassende Denkschrift, die jeder Verein seiner Regierung wie seiner Ständekammer übergibt und auch der „sechsten Großmacht“, dem Volksbewußtsein, an’s Herz legt. Sie soll zwar frei und selbstständig für sich sein, doch in den Hauptpunkten Rücksicht nehmen auf die bekannte Denkschrift des Berliner Turnvereins.
2. Förderung des Turnens auf der bisherigen Grundlage der Turnvereine: Soll – laut Beschlußfassung nach langer Debatte – geschehen: a. durch einen öffentlichen Aufruf zur Gründung neuer Turnvereine; abzufassen von der Commission für die Denkschrift; b. durch persönliches Wirken aller Vereins-Mitglieder; c. durch Feststellung eines kurzen allgemeinen Leitfadens der Turnei für sämmtliche deutsche Turnvereine, auszuarbeiten von der Commission.
3. Gründung eines allgemeinen deutschen Turnerbundes. Namentlich bei diesem höchst wichtigen Antrag kamen diejenigen Elemente zum Vorschein, die vorher leider angedeutet werden mußten. Sie bewogen denn auch wohl den Antragsteller (Kallenberg), seinen Antrag zurückzunehmen, „weil das Volk noch zu eingeschüchtert sei“. Ausdrücklich als thatsächliche Berichtigung zu dem, was über diesen Antrag factisch falsch berichtet wurde, sei noch einmal bemerkt: Ueber den Antrag wurde nicht abgestimmt: er darf also auch nicht als „abgelehnt“ bezeichnet werden. Im moralischen Sinne freilich geschah dies eclatant, thatsächlich aber nicht, weil der Antragsteller ihn zurückzog, ehe die eigentliche Abstimmung erfolgte.
4. Regelmäßige Wiederkehr des großen deutschen Turnfestes; ob alle zwei oder drei Jahre; ob zunächst im Herbst 1861 auf der Hasenhaide bei Berlin, zur Feier der fünfzigjährigen Gründung dieses Turnplatzes durch Vater Jahn, oder im Jahre 1863, zur Jubiläumsfeier der Schlacht bei Leipzig. Es wurde kein Beschluß gefaßt, sondern das Weitere den kommenden Ereignissen, dem sich herausstellenden Bedürfniß und den etwaigen speciellen Anregungen überlassen.
5. Eine gemeinsam Farbe, und zwar das Schwarzrothgold.
6. Ein gemeinsames Bundeszeichen.
7. Unterstützung hülfsbedürftiger Turner.
8. Aufnahme eines Turners in allen Vereinen ohne Eintrittsgeld und ohne Abstimmung.
9. Vermeidung von auffallendem Gebahren, absondernden Zeichen, Trachten und Formen. – Ueber diese fünf Anträge wurde kein bestimmter Beschluß gefaßt; jedem Vereine bleibe es überlassen, danach zu thun, was er für gut halte und was er dürfe. Auch hier als thatsächliche Berichtigung, das schwarzrothgold wurde nicht „abgelehnt“, wie eine Zeitung berichtet hat, sondern, wie angegeben, dem Wollen und Dürfen jedes Vereines überlassen.
10. Zuziehung und Ausbildung der Feuerwehren. Es wurde bestimmt: Turnverein und Feuerwehr sollen überall sich eng verbinden. Wo Turnvereine sind ohne Feuerwehr, sollen sie solche aus ihrer Mitte gründen, und umgekehrt.
11. Der Antrag zum Aufruf für einen allgemeinen deutschen Schützenverein wird vom Antragsteller zurückgenommen; dagegen wird das Ueben der deutschen Turnjugend in Führung der Büchsen als nothwendig anerkannt.
12. Als ein Mittel zur geistigen Anregung und Ausbildung in den Turnvereinen wird die in Leipzig bei Keil erscheinende deutsche Turnzeitung durch den Festpräsidenten empfohlen.
Soweit gingen die Vorlagen der Anträge und wurden hierauf noch diverse Mittheilungen gemacht. Nachdem nun noch zur mehrerwähnten Commission das erste und engere Festcomité erwählt worden, schloß der Festpräsident mit dankendem Gruß diese wichtige, bedeutungsvolle Sitzung des ersten Vereins deutscher Turnvereine. – Im Laufe der Unterhandlungen wurden noch Telegramm-Grüße von nahen und fernen Turnvereinen verkündet, die jedesmal einen hellen Freudenschrei durch den Ernst der Arbeit in die Gemüther warfen und immer als neues Zeichen des großen einheitlichen Geistes, der doch über Allen schwebte, begrüßt wurden. Im Laufe des Morgens waren auch noch neue Züge von Turnern einmarschirt, und so sah man um 2 Uhr auf dem schönen Schloßplatz gegen 1200 Turner, aus circa 125 Städten gesendet, sich um ihre Fahnen versammeln. Um 3 Uhr setzte sich der nach Stämmen geordnete Festzug in Bewegung. Voran die turnfähige Schuljugend Coburgs; ihr schlossen sich, charakteristisch hervortretend, circa siebzig Schüler des Knabeninstitutes von Stoy in Jena an, mit Fahnen, Trommeln und Trompeten diesen schönen Anfang belebend und Zeugniß gebend von der gesunden, kräftigen deutschen Richtung, die jenes Institut verfolgt. – Das alte Reichsbanner der Schwaben, die schwarzrothgoldne Fahne der Staufenkaiser, wehte, wie damals, auch jetzt voran. In tragischer Ironie des Schicksals folgte ihr nach das umflorte Banner des unglücklichen Schleswig-Holstein.
[432] Ebenso tragisch, wenn auch in anderer Weise, war es, daß einige Vereine keine Fahne tragen durften; so kamen sie aus dem Herzen Deutschlands, aus Sachsen, wie ein Bräutigam ohne Strauß, wie eine Braut ohne den Myrthenkranz. Die Turner ohne ihre Fahne! Wahrlich, diese fehlenden Fahnen sprachen ebenso bedeutungsvoll zum deutschen Reiche, wie das schwarzumflorte Banner Schleswig-Holsteins, wie das alte Reichsbanner des einigmächtigen Schwarzrothgold der Schwaben. Doch der Anblick der gewaltigen Kette kräftig-kühner deutscher Jünglinge, durchflochten mit dem köstlichen Schmucke festlich bekleideter schöner Jungfrauen, beschattet von manchem theuern Banner, fröhlich singend und die reichgeschmückte Stadt nach allen Seiten hin grüßend unter dem Rauschen der Musik: das Alles mußte bald jede trübe Stimmung zu stolzer Freude und starker Hoffnung umwandeln. – Auf dem schönsten Turnplatze, der wohl in Deutschland zu finden ist, ebenso geschmackvoll ausgeschmückt als praktisch und tüchtig zum Turnen vieler Hunderte eingerichtet, empfing ein Publicum von Tausenden den gewaltigen Festzug. Die Sänger eröffneten das Fest mit einem turnerischen Gesange; dann begrüßte der Sprecher des Coburger Turnvereins die Versammlung mit gesunden, echt deutschen Worten; noch ein Gesang, und nun begann das Turnen. Da hätten denn Alle wohl hundert Augen haben mögen, um die Menge der Gruppen verschiedenartigster Turnspiele zu sehen. Was ließen sich da für Bilder entwerfen! Der Buchstabe kann sie nicht beschreiben. Nur so viel sei gesagt: man sah die Turnerei auf einer hohen Stufe allgemeinster Ausbildung. Am Reck und in gründlicher Bildung einer strengen Schule trug Leipzig unbestritten den Sieg davon. – Norddeutschland vertrat hauptsächlich die Kraft, Süddeutschland die Gewandtheit. – Nach dem letzten Spiele – dem höchst interessanten Ringen – betrat der Festpräsident Georgii die hoch emporragende Rednerbühne, darüber hin die grünumschmückte schwarzrothgoldne Fahne rauschte. Er theilte zuerst den Dank und Gruß des Herzogs mit, per Telegramm der deutschen Turnei in Coburg eingesandt. Dann folgten noch eine Menge eingegangene Telegramm-Grüße, manche von den fernsten Enden Deutschlands hergeblitzt. Schön und tüchtig war, was der Festredner nun sprach; aber noch schöner und tüchtiger das, was er nicht sprach, sondern schließlich nur andeutete mit der Bitte, daß ein Jeder sein Haupt entblößen und an das Vaterland denken und dabei das denken möge, was er im Herzen trage. Da standen nun Tausende mit andachtsvoll entblößtem Haupte, und wir wollen hoffen, ja glauben, daß die Meisten von ihnen das dachten, was dem Vaterlande einst noch Heil bringen wird. – Die feierliche Stille wurde unterbrochen durch ein unwillkürlich sich bahnbrechendes Hoch auf den Festredner. Er lehnte es ab und rief die Jungfrauen auf zur Bekränzung der Turnerfahnen, mit der Anordnung, daß der fahnenlose Leipziger Turnwart den ersten Kranz persönlich empfangen solle. Und so geschah es: alle Fahnenträger bildeten einen Kreis, in dessen Mitte die Jungfrauen mit ihren Eichenkränzen standen, sie senkten ihre Fahnen den Jungfrauen zu, und im frischen Spiel der Winde rauschte nun oben über jeder Fahne die schöne deutsche Gabe des herrlichen Eichengrüns. Nun ein Gruß an die Jungfrauen Coburgs – ein Gruß an die Jungfrauen Deutschlands – dann ging es in festlichem Zuge frisch, fromm, fröhlich und frei zur Stadt zurück, zur Festhalle, wo die Fahnen aufgestellt wurden, wo ein Turner im Namen der Jungfrauen für die ihnen erwiesenen Ehren dankte und von wo aus jeder Fahnenträger seine Kranzspenderin nach Hause geleitete. – Manch liebes Wort mag dabei gesprochen, vielleicht manches Herz dabei ausgetauscht sein!
Mit einbrechendem Abend kehrten die Turner zurück zum erleuchteten Turnplatz, wo mit Sang und Trank und „ungeheurer Heiterkeit“ dieser denkwürdige Festtag beschlossen wurde. Der zweite Festtag begann Morgens 7 Uhr mit einer Feuerwehrprobe der Coburger Feuerwehr am Rathhaus; ihr folgte eine Schwimmübung unter dem neu erbauten, sehr schön eingerichteten Schwimmhaus. Um 11 Uhr Turnfahrt über die Veste und den dichtbewaldeten Bausenberg in das reizende, parkähnliche Thal der Rosenau, auf dessen weitem, schwellendem Wiesengrund gelagert, gesungen, gesprochen, in Freiübungen aller Art geturnt und manch neuer Telegrammgruß aus dem deutschen Reiche bekannt gemacht wurde. Zu einer wahrhaft ergreifenden Feier gab ein tiefwehmüthiger Brief aus Schleswig-Holstein Veranlassung: die – mit den deutschen Brüdern dieses unglücklichen Landes trauernden – Turner rissen in schmerzlichster Begeisterung ihr theuerstes Symbol, ihre Preisbänder und Embleme, von der hochschwellenden Brust und schmückten damit die schwarzumflorte Fahne und die Brust ihres bis zu erschütternden Thränen gerührten Trägers. Da weinten Viele mit ihm; heilige, echte Mannesthränen waren es, und auf die geflügelte Anrede eines Sprechers traten Alle zusammen mit entblößtem Haupte zu einem stummen Gebet, zu einem elektrisch zündenden Händedruck, zu dem begeisterten Schwur: wegzunehmen die Schmach, die auf dem abgerissenen deutschen Lande liege. Mögen die Geister der Zeit diesen Schwur gehört und ihn hingetragen haben durch alle Gaue des Vaterlandes!
Eine Fortsetzung dieser kurzen, aber denkwürdigen Feier fand Abends nach erfolgter Rückkehr in der Festhalle statt, wie denn überhaupt diese letzte allgemeine Versammlung der Turner moralisch genommen die bedeutungsvollste war; nach manchem befeuernden Lied und Spruch trat der Fahnenträger aus Schleswig-Holstein auf die Tribüne und berichtete mit schmerzlich bewegter Stimme, daß den Turnern ihres Landes keine Fahne erlaubt sei; daß sie erst im großen Vaterlande eine solche angenommen und eingeweiht hätten: sie sei ihnen durch dieses Fest ein Heiligthum geworden. Doch dieses Heiligthum würde ihnen jedenfalls beim Eintritt in die Heimath abgenommen werden; deshalb wollten sie es in Coburg zurücklassen, als Pfand der Treue. Hoch auf schwoll es durch alle Herzen: ehrfurchtsvoll wurde die beflorte Fahne auf die Tribüne gebracht; sie solle, so wurde bestellt, aufgepflanzt werden neben den Triumphzeichen von Eckernförde auf der Coburger Veste, bis sie hingetragen werden dürfe von der deutschen Wehrkraft zu dem befreiten Lande. Ein unendlich wehmuthsvoller Jubel durchdrang Alle; mit nie gehörter Kraft und Begeisterung wurde „Schleswig-Holstein meerumschlungen“ gesungen; dann in Mützen und Hüten eingesammelt für die Vertriebenen und Nothleidenden des armen Landes; an 200 fl. waren in wenigen Minuten zusammen. Wurde nun auch wohl Manchem zu viel von Schleswig-Holstein gesprochen, so muß das von ganz anderer Seite betrachtet werden, gleichsam symbolisch! Schleswig-Holstein war der Ausdruck für noch viele andere zornige Schmerzen, die aber nicht genannt werden durften und in Schleswig-Holstein ihren symbolischen Ausdruck fanden. Sehr merkwürdig und bedeutungsvoll war auch ein Gruß an die deutschen Flüchtlinge in der Schweiz, in England und Amerika! – Wie ein beängstigendes und doch befreiendes, reinigendes Gewitter fuhr er herab von der Rednerbühne in die Menge und – wir dürfen als historisch getreuer Berichterstatter es nicht verschweigen – zündete mächtig, erweckte vielhundertfachen, donnernden Wiederhall. Zwar fehlte es auch nicht an Manchen, die solchem Drange des Augenblicks entgegenwirken wollten, es für Pflicht hielten, dies zu thun, und im engeren Kreise der Turnvertreter platzten die Geister prall auf einander. Doch im Rauschen deutscher Lieder verklangen bald alle Dissonanzen, schlugen alle Herzen wieder zusammen in dem Einen Schlag für das Eine Vaterland, und ein Jeder fühlte, das erste große deutsche Turnfest habe in seinem Haupttheile einen gewaltigen Abschluß gehabt.
Wohl fuhren am dritten Tage, Dienstag, einige hundert Turngäste heim, doch blieb noch ein Stamm von mehrern Hunderten zurück, die trotz der vorigen anstrengenden Tage mit neuer, frischer Kraft unter Liedersang, Trompetenklang und Fahnenwehen eine Turnfahrt zum herzoglichen Sommerschloß Callenberg unternahmen. Das romantisch gelegene, ebenso die herrlichsten Waldpartien, als die weiteste Fernsicht darbietende, neuester Zeit charakteristisch und geschmackvoll vergrößerte und restaurirte Schloß wurde jubelnd begrüßt, und durch das Rauschen des Waldes klang manch altes Turnerlied, manch hoffnungstrunkenes „Gut Heil!“ Der Rückzug zur Stadt wurde ein höchst merkwürdiges Kriegsspiel; die Turner theilten sich in zwei Heere, das eine hatte als Losungswort „Coburg“, das andere „Deutschland“. Coburg zog zuerst rasch vorwärts und verschanzte sich auf einer Anhöhe hinter einem Graben. Hier wurde es von Deutschland angegriffen und nach hartnäckigem Kampfe vertrieben. Nun zog Deutschland sich rasch zurück und war bald dem verfolgenden Coburg verschwunden. Es blieb ihm verschwunden bis an die erste Brücke zur Stadt. Diese hatte Deutschland mit gewaltigem Material von einem naheliegenden Bauplatz verbarricadirt, und Coburg mußte diese Barricade erstürmen, was ihm denn auch nach tapferer Gegenwehr Deutschlands gelang. Fassen wir dieses Spiel symbolisch zusammen, so möge uns daraus der ernste Gedanke entgegentreten: daß Deutschland nicht besiegt werden wird, wenn Coburg an seiner Spitze steht. Die bald wieder lustig und liebevoll vereinten Heere Coburg und Deutschland richteten nun ihren Marsch zum Festplatz zu einem gemeinschaftlichen Essen, belebt durch Musik, Gesang, Toaste, angeregt durch Vortrag eines Briefes von Arndt an Maßmann, zwar vor circa zwanzig Jahren geschrieben, aber für den Augenblick durchaus passend. Großer Jubel erscholl nach der Anzeige, daß der Herzog heute zurückkehren, um 1/28 die Turner auf dem Schloßplatz sehen und die Deputirten der Städte bei sich empfangen, auch Abends den großen Ball im Theater besuchen wolle. Nun noch eine lustige Debatte über die Frage: ob die Turner zu diesem Balle Glacehandschuhe tragen müßten? Sie schloß mit Freistellung dieser Frage an das Belieben jedes Turners, und so ging Alles fröhlich auseinander. Um 1/28 zogen die Turner von der Festhalle aus über den Schloßplatz, an dem Fenster vorbei, auf dessen Balcon der Herzog und die Herzogin standen, gütig dankend den vielhundertfach hinaufschallenden Hochs und dem flatternden Senken der Turnerfahnen. Als der Zug vorüber war, empfing der Herzog in seinem Zimmer die Deputirten der Städte, in deren Namen der Festpräsident ihn mit echt patriotischen, echt deutschen Worten begrüßte. Und echt patriotisch, echt deutsch nahm der Herzog sie auf, erwiderte er dieselben, wünschte er der deutschen Turnei zum Heile des Vaterlandes alles Gedeihen, versprach er ihr für immer seinen fürstlichen Schutz. – An solch erstarkenden, hoffnungsreichen Schluß des Festes – würdig desselben – knüpfte sich nun der lustige, schwebende Schluß des Balles im Theater. Der weite Raum faßte kaum die Zahl der Gäste. Der höchste unter diesen, der Herzog, erschien bald und sprach lange mit jedem einzelnen der Deputirten. „Coburg und Deutschland“, diesem Dioskurenpaare brachte jeder abreisende Turner mit Herz und Mund ein dreifaches „Gut Heil!“ Und mit solchem Gut Heil schließen wir den Bericht über eines der schönsten Feste, das Deutschland seit vielen, vielen Jahren gefeiert hat, feiern durfte. Und wie es nachklingen wird fröhlich und feierlich im Herzen jedes echten Turners bis zu seines Lebens Ende, so mög’ es auch als eine That Thaten zeugen für das einige Vaterland!
gingen bei Unterzeichnetem wieder ein: Aus Graz in Steiermark 20 fl. in folgenden Beiträgen: Carl M. 2 fl. – L. K. 1 fl. – J. U. 1 fl. – G. H. 40 Xr. – L. B. Sch. 1 fl. – J. P. 20 Xr. – C. A. 1 fl. – J. E. 1 fl. – J. O. 1 fl. – K. 30 Xr. – J. S. K. 2 fl. – O. Graf S. 1 fl. – R. S. Vordernberg 1 fl. – A. v. B. 1 fl. – Alfred A. 1 fl. – F. A. 50 Xr. – Jac. R. 1 fl. – Josef K. 1 fl. – H. P. 1 fl. – F. W. 50 Xr. – Hermine und Josefa P. 1 fl. 10 Xr. – 1 Thlr. Alb. Heinitz, Organist in Berlin – 6 Thlr. 15 Ngr. Zweite Sammlung der Lusatia in Zittau – 1 Thlr. Schlicht in Wien – 5 Thlr. S. E. K. aus Rußland (erster Beitrag aus Rußland) – 15 Thlr. Vierte Sammlung der Turnzeitung – 10 Thlr. von Fräulein Fr. Ndr. aus Kurland (zweiter Beitrag ans Rußland).
- ↑ Wir glauben und hoffen das nicht. England und Deutschland werden sich niemals zum Aufgeben des behaglichen Familienlebens – in einem Hotel unmöglich – entschließen können. Die Red.
- ↑ Deutsche Hotels haben sich schon seit Jahren dieser Einrichtung bedient. Die Red.
- ↑ Alle wissenschaftlichen, technischen und administrativen Bemerkungen sind den besten vorhandenen Vorlagen entlehnt.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Baille