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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
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Quelle: commons
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[725]

No. 50. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Heimath des Mutterherzens.



Mein Mütterlein hat mir verkündet,
Als ich gefragt dereinst als Kind,
Wozu die Sterne angezündet
Des Nachts am dunklen Himmel sind:

5
Daß für ein jedes Menschenwesen,

Das auf der Welt gesehen wir,
Als Wohnung sei dort auserlesen
Ein Stern, wenn’s erst gestorben hier,
Und selig soll’ es dann von drüben

10
Herüberschau’n mit treuem Blick

Auf all’ die Herzen, die geblieben
Noch auf der Erde sind zurück.
Und wenn ein Mensch, das Aug’ voll Thränen,
Noch nicht vollbracht den dunklen Lauf,

15
Da soll sich seine Seele sehnen

Nach seiner Lieben Heimath auf.

Manch’ liebes Haupt hab’ ich verloren
Und Leid darum gehegt und Schmerz,
Manch’ treues andre Herz erkoren,

20
Jedoch – kein zweites Mutterherz.

Ob ich in Aengsten und Gefahren
Mit Wog’ und Stürmen auch gekämpft,
Ob Glück und Heil mir widerfahren,
Nie ward die eine Lust gedämpft,

25
Die Lust, den Blick hinauf zu lenken

Zum Sternenhimmel, licht und klar,
Und eines Wesens zu gedenken,
Das hier mein Ein und Alles war.
Denn, wie das Kind erfüllt vor Jahren

30
Der Mutter Deutung einst mit Lust,

Hab’ ich die Kunde zu bewahren
Der Sternenheimath stets gewußt.

So wurde denn das schönste Feuer,
Das hoch am nächt’gen Himmel kreist,

35
Der Liebe Stern mir ewig theuer,

Weil ihn bewohnt der Mutter Geist,

U.


Der verwandelte Schmuck.

Novelle von Ernst Willkomm.
(Fortsetzung.)

„Ich bin überzeugt, daß ein großartiger Betrug dahinter steckt,“ fuhr der Domcapitular fort. „Es ist ermittelt, daß der regierende Fürst einen für nicht legitim erachteten Halbbruder vor längeren Jahren zu entfernen, Andere sagen, in die Verbannung zu schicken wußte und seitdem nie wieder mit ihm in Berührung kam. Dieser aus dynastischen Gründen Verstoßene hat sich später in morganatischer Ehe vermählt, aus welcher ein Sohn entsproß, der als einziger männlicher Erbe des fürstlichen Geschlechts lebt. Einer uralten Familientradition zufolge gilt die Vermählung eines Sprößlings jenes Fürstenhauses nicht einmal für rite vollzogen, wenn die Braut am Tage ihrer Vermählung den Familienschmuck nicht trägt. Auch die kostbaren goldenen Tafelaufsätze dürfen bei dem Banquett nicht fehlen. Liegt nun im Hinblick auf diese Verhältnisse die Vermuthung nicht nahe, ja gewinnt sie nicht sogar an Wahrscheinlichkeit, daß der verbannte Fürst, um seinem eigenen Sohne die Rechte auf den Thron zu wahren, zu einem verzweifelten Mittel gegriffen hat?“

„Entwendung oder Raub setzen die Bestechung sehr einflußreicher Personen voraus,“ erwiderte Graf von Weckhausen, „eine solche Bestechung wäre aber im vorliegenden Falle nur dann denkbar, wenn deren Urheber über ungewöhnliche Mittel verfügen konnte. Verbannte, Verstoßene, Enterbte pflegen aber eher Mangel als Ueberfluß an den zur Ausführung solcher Plane erforderlichen Mitteln zu haben. Und aus diesem Grunde bleibe ich bei meiner Theorie.“

„Die Theorie eines Thoren!“ rief unwillig der Domcapitular.

„Ich gehe noch weiter, verehrter Herr Oheim,“ fuhr Aurelio in übermüthigster Laune fort, „ich erkläre mich zu einer Wette bereit.“

„Daß unsichtbare Geister die fürstlichen Schätze unvermerkt aus festverschlossenen Truhen entführen?“

„Auf das Wie kommt es nicht an,“ fuhr der Graf fort, „wenigstens kümmert mich das nicht bei der Wette, die ich Ihnen anbieten [726] will. Ich behaupte, daß jenes Verschwinden von werthvollen Kostbarkeiten aus der Schatzkammer der Fürsten von X. sich wiederholen wird, falls nicht in Bälde über das Verbleiben der bereits unsichtbar gewordenen Gegenstände etwas Bestimmtes ermittelt werden kann.“

„Welche Tollheit!“ sprach der Domcapitular. „Wüßte ich nicht, daß nur der Hang, eine absonderliche Meinung für sich allein zu haben, Sie zu einer so absurden Behauptung veranlaßt, ich wäre wahrhaftig im Stande, an Ihrer vollen Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln.“

„Von meinem körperlichen Wohlbefinden können Sie sich überzeugen, wenn Sie meinen Puls fühlen wollen,“ versetzte Aurelio, „und daß ich nicht an geistiger Ueberspanntheit leide, will ich Ihnen beweisen, wenn Sie mich auf die Probe stellen wollen. Aber geben Sie Acht, ich behalte. Recht, immer angenommen, daß der Schleier des Geheimnisses nicht gelichtet wird.“

„Eine solche Wette halte ich für sündhaft,“ sagte Rütersen verdrießlich.

„Ich finde sie spaßhaft,“ versetzte der Graf, „und den Gegenstand ganz zum Wetten angethan, weil wir Beide gerade gar nichts wissen, der Eine also gerade so viel Recht hat oder haben kann, als der Andere. Wetten wir deshalb der bloßen Unterhaltung wegen! Wir sind ja nicht betheiligt, wir kennen nicht einmal die Namen der Personen, um die es sich handelt, wenigstens sind mir Name und Schauplatz ein verhülltes Bild von Sais.“

Der Domcapitular wendete sich schweigend ab, da er dem Manne seiner Nichte, den er so hoch achtete, keine zu unfreundliche Antwort geben mochte.

„Ich mache Ihnen einen annehmbaren Vorschlag,“ fuhr Aurelio von Weckhausen fort. „Werden binnen einem Jahre die Urheber des unbegreiflichen Verschwindens der bewußten, uns jedoch unbekannten Schätze ermittelt und sind dies Menschen von Fleisch und Bein, so verzichte ich zu Gunsten der milden Stiftung für unvermählt gebliebene Töchter unbemittelter Beamter auf jenen Erbschaftsantheil, den Sie vor Abfassung des letzten Codicills zu Ihrem Testamente derselben bestimmt hatten. Tritt dagegen der von mir angedeutete Fall ein, so machen Sie sich anheischig, den alten Schmuck, welchen ich meiner lieben Rosaura schenkte, auf Ihre Kosten anders fassen zu lassen. Sie dürfen dies, weil man Juwelen, welche Sie einem Juwelier einhändigen, nicht so genau betrachten wird, wie von andern Personen überbrachte. Rosaura wünscht diese Fassung schon längst, ich weiß es, und ich bin genöthigt, ihr diese kleine Freude zu versagen, weil ich eine unbezwingliche Scheu habe, mich von Juwelieren, von Menschen, welche Handel in ganz gewöhnlichem Sinne treiben, wenn es ihnen gerade einfällt, examiniren lassen zu müssen.“

Die scherzhafte Art, wie der Graf diesen Vorschlag machte, versöhnte den Domcapitular mit demselben. Es schien ihm nicht wahrscheinlich, daß der von Aurelio für möglich gehaltene Fall sich ereignen könne. Auf der andern Seite hatte man es ihm schon mehrmals verdacht, daß er in einem Anfall von Verdruß der erwähnten Stiftung eine Schenkung wieder entzog, die seine Nichte bei dem bekannten Reichthum des Grafen recht gut entbehren konnte. Endlich hörte er die Stimme Rosaura’s im Nebenzimmer, die ihn jederzeit willfährig stimmte. Er mußte Aurelio in Bezug auf Rosaura Recht geben, auch konnte er den Widerwillen des Grafen gegen Ausfragen Unbefugter sehr wohl begreifen. Dies Alles zusammengenommen brachte Rütersen auf andere Gedanken. Er reichte Aurelio die Hand und sagte:

„Der jungen Gräfin zu Liebe will ich ausnahmsweise einmal Thor mit Thoren sein. Ich nehme Ihre Wette an, Herr Neffe, aber halten Sie nun auch die Augen offen, daß man Ihnen nicht etwa ein X für ein U macht! Verlieren Sie, so sind Sie das Capital, das Ihrem dereinstigen Erben zu Gute kommen sollte, gewiß und wahrhaftig los!“

„Und Sie, mein gnädigster Herr Oheim,“ bemerkte der Graf. „Sie sollen, wenn ich gewinne, gewiß und wahrhaftig mir einen Schmuck einhändigen, wie ihn noch nie ein Mann seiner glücklichen Frau zum Geschenk überbrachte.“




5. Ein Rechtsfall.

Rosaura, die sich in ihrem Zusammenleben mit Aurelio sehr glücklich fühlte, erfuhr nichts von diesem Abkommen. Der jungen, von Hunderten beneideten Gräfin vergingen die Tage in immer gleicher Heiterkeit und geselliger Zerstreuung. Der Graf selbst sah am liebsten ebenfalls Gesellschaft um sich, und da er gegen seine Gewohnheit diesmal Monate lang daheim blieb, nur der Gesellschaft, seiner Frau und dem Umgange mit den Musen lebend, so erweiterte sich der Kreis der Gäste, welche in dem gräflichen Hause verkehrten, bedeutend. Dieses war überhaupt nach und nach der Mittelpunkt gesellschaftlicher Zusammenkünfte geworden, da es mehr Räumlichkeit darbot als die Wohnung des Domcapitulars. Auch besaß Rosaura in ihrer ausgesucht glänzenden Häuslichkeit eine größere Anziehungskraft für Einheimische und Fremde, als der unbeweibte, zwar höchst zuvorkommende, aber bisweilen doch etwas stumpf werdende Domcapitular.

In dieser Zeit schlossen sich dem engern Gesellschaftscirkel des Grafen von Weckhausen mehrere neue Mitglieder an, unter denen eins der aufgewecktesten und durch seine Stellung im Staate einflußreichsten der Obergerichtsrath Bornstein war. Durch Rütersen in das Haus seiner Nichte eingeführt, fand der Graf sehr bald Gefallen an diesem kenntnißreichen Manne. Bornstein unterhielt sich seinerseits wieder gern mit Aurelio, weil er ein scharfes Urtheil in ihm entdeckte. Die vielen Reisen des Grafen und dessen Kenntnisse von Ländern und Nationen machten längere Gespräche mit ihm zu belehrendem Genuß auch für höher Gebildete.

„Weshalb treten Sie nicht in den Staatsdienst, Herr Graf?“ sagte eines Tages, wo man sich auf eine Discussion über politische Gegenstände tiefer eingelassen hatte, der Obergerichtsrath. „Es ist unrecht, daß Sie Ihr Pfund vergraben, anstatt zum Besten des Allgemeinen damit zu wuchern. Eine Ihren Fähigkeiten angemessene Carriere wäre Ihnen gewiß.“

„Ich liebe die Unabhängigkeit über Alles,“ erwiderte Aurelio mit verbindlichem Lächeln, „und ich muß aus voller Ueberzeugung mit Marquis Posa ausrufen: Ich kann nicht Fürstendiener sein!“

„Das ist sehr edel von Ihnen gedacht, Herr Graf,“ warf Bornstein ein, „indeß ist man nicht eigentlich Diener, wenn man regiert. Man gewinnt durch scheinbare Unterordnung unter einen höher Gestellten Gewalt über diesen und gebietet eigentlich, wo man nur Wünschen nachzukommen vorgibt. Das aber ist eine Wirksamkeit, mit der sich auch der unabhängigste Charakter befreunden kann.“

„Meine auswärtigen Geschäfte, meine Verbindungen, die sich ohne großen Nachtheil für mich nicht würden lösen lassen, gestatten mir die Uebernahme eines Amtes durchaus nicht,“ meinte der Graf.

„Ich bedaure das,“ sagte der Obergerichtsrath, „namentlich auch deshalb, weil ich fürchte, Sie könnten uns eines Tages für immer verlassen.“

„Unmöglich ist dies allerdings nicht,“ entgegnete Graf von Weckhausen. „Meine Frau dringt ohnehin fortwährend mit Bitten in mich, ich solle sie doch endlich einmal mit nach Spanien nehmen. Lange, das fühle, ich, kann ich diesen Bitten nicht mehr widerstehen; sieht aber Rosaura erst dies wunderbare Land, athmet sie die balsamische Luft von Cadix und Malaga, dann wird es ihr schwer fallen, für immer von dieser herrlichen Natur Abschied zu nehmen.“

„In Geschäften zu reisen, auch wenn man eher das Bedürfniß nach Ruhe als nach den Unregelmäßigkeiten eines unbequemen Lebens in Gasthäusern fühlt, muß doch auch seine Unannehmlichkeiten haben,“ warf der Obergerichtsrath ein.

„Für nicht daran Gewöhnte ist es ohne Zweifel lästig,“ sagte Aurelio, „mich zerstreut und erfrischt es.“

„Sie haben aber, wie der Herr Domcapitular einige Male andeutete, nicht selten auch Verdruß und sind bisweilen sogar harten Verlusten ausgesetzt.“

„Romantische Schlagschatten, die nur dazu beitragen, die Lichtseiten eines von Aufregungen mannichfacher Art bewegten Lebens zu erhöhen.“

„Ist Ihnen die fürstliche Familie O* bekannt?“ fragte der Obergerichtsrath, von dem eigentlichen Gesprächsthema abspringend. „Sie muß, wenn ich nicht irre, in der Nähe Ihrer Quecksilbergruben Besitzungen haben.“

„Diese Annahme beruht auf einer Verwechselung,“ versetzte der Graf, „Die Herzöge von O** sind es, deren Ländereien mit meinen Besitzungen grenzen.“

[727] „So, so, ich wußte das nicht,“ sagte Bornstein. „Aber Sie kennen die Fürsten von O*?“

„Nur dem Namen nach.“

„Dann werden Sie demnächst Näheres von denselben hören und sich wahrscheinlich mehr für sie interessiren, da ein Proceß höchst seltsamer Art die Augen der ganzen gebildeten Welt auf dieses uralte Fürstenhaus, dessen Stammbaum bis in die ersten Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung hinaufreicht, auf sich ziehen dürfte.“

„Ein Proceß? Kennen Sie die Veranlassung desselben?“

„Diese gerade ist es, die durch den Proceß an den Tag kommen soll.“

„Man muß aber doch vorher wissen, weshalb man überhaupt einen Proceß anfängt.“

„Allerdings. Ein Gegenstand zum Streit ist auch vorhanden, oder richtiger, der Gegenstand, um den der Proceß angestellt werden soll, wird vermißt, und eben dies Nichtvorhandensein desselben treibt die beiden streitenden Parteien zu gerichtlicher Vermittelung.“

„Das verstehe ich nicht,“ sagte Graf von Weckhausen. „Wie kann es vernünftigen Menschen einfallen, einen Proceß um etwas überhaupt nicht Vorhandenes zu beginnen! Das Gericht kann sich auf eine derartige, dem Tollhause entstammende Angelegenheit gar nicht einlassen.“

„Sie werden sich der Aufforderung in den Zeitungen erinnern, Herr Graf,“ versetzte der Obergerichtsrath, „die vor einiger Zeit so großes Aufsehen machte. Jetzt hat man dieselbe wohl meistentheils schon wieder vergessen. Im Stillen jedoch stellte man fortwährend Nachforschungen an. Diese haben nun zwar zu keinem wirklichen Resultate geführt[WS 1], aber doch so viele Indicien geliefert, daß eben die Einleitung eines Processes, den man gleichsam im Beisein des ganzen Publicums verhandelt, gerechtfertigt erscheint.“

„Sollte dieser wunderliche Handel etwa mit dem Verschwinden gewisser Kostbarkeiten aus einem fürstlichen Schatze zusammenhängen?“ fragte Aurelio. „Mein Herr Oheim hat uns seiner Zeit recht interessante, wenn auch wenig glaubwürdige Details darüber mitgetheilt.“

„Es ist dieselbe Angelegenheit,“ sprach Bornstein, „und ich glaubte, die Familie O*, welche den bekannten Verlust erlitten, sei dieselbe, deren Besitzungen mit den Ihrigen grenzen.“

„Hat man denn etwas über die verschwundenen Schätze in Erfahrung gebracht?“ sagte der Graf.

„Es liegt nichts vor, als der Brief eines Juweliers, der, wahrscheinlich aus Furcht, einer ganzen Reihe von Verhören sich unterwerfen zu müssen, seinen Namen verschwiegen hat.“

„Und dieser Brief, was enthält er?“

„So viel man bis jetzt in Erfahrung gebracht hat, die Mittheilung, daß, mache man sich anheischig, nach dem Namen des Schreibers erwähnten Briefes keine weiteren Nachforschungen anzustellen, dieser den Schlüssel des Geheimnisses zu erhalten Aussicht habe.“

Aurelio konnte sich eines satirischen Lächelns nicht enthalten.

„Wenn dieser vorsichtige Mann kein Dieb ist, so würde ich vorschlagen, für ihn eine Stelle unter den Weltreisen offen zu halten.“

„Der an die regierende Familie der Fürsten O* gerichtete Brief dieses Unbekannten,“ fuhr der Obergerichtsrath Bornstein fort, „soll so abgefaßt sein, daß daraus ersichtlich wird, der Verfasser desselben müsse von dem Verbleiben jener Schätze Kenntniß haben. Ferner wird behauptet, es sei höchst wahrscheinlich, daß die bloße Bekanntmachung des Schreibens die Entdeckung des Geheimnisses fördern helfe. Die processualische Verhandlung soll daher auch nichts Anderes bewirken, als die Feststellung eines zu fassenden Entschlusses. Hat man sich über diesen Entschluß geeinigt, so beginnt der eigentliche Proceß erst vor der Welt.“

„Nun in der That, das ist so neu als originell,“ sagte der Graf, „und ich gestehe, daß ich höchst gespannt auf den Beschluß bin, welchen die Kronjuristen des Fürsten von O* fassen werden. Dürfte noch längere Zeit darüber vergehen?“

„In der nächsten Woche schon findet die entscheidende Berathung statt.“

„So werde ich meine Abreise noch um einige Tage länger verschieben,“ sprach Aurelio. „Ich habe ohnehin, von meiner Frau hingehalten, diesmal schon weit über die gewöhnliche Zeit meine Geschäfte vernachlässigt. Empfangen Sie meinen Dank für Ihre interessante Mittheilung, die mich wie Alle, welche die Veranlassung kennen, in wirklich ungewöhnliche Spannung versetzt.“

Aurelio ließ sich nichts von dem merken, was zwischen ihm und dem Obergerichtsrath verhandelt worden war. Rosaura hatte wahrscheinlich keine Kunde davon, auch der Domcapitular schien noch ununterrichtet zu sein. Der alte Herr freute sich, daß der Graf wider Erwarten ihm so lange Gesellschaft geleistet hatte, und richtete, als dieser ihm anzeigte, daß der Tag der Trennung nunmehr schnell heranrücke, die Bitte an ihn, er möge diese Trennung möglichst abkürzen. Aurelio versprach es und traf die nöthigen Vorkehrungen für seine Abreise.

Diese letzte kurze Zeit verbrachte Graf von Weckhausen fast ausschließlich mit Rosaura. Gesellschaft sah das gräfliche Ehepaar nicht bei sich, auch machte es keine Besuche. Nur der Domcapitular kam und ging nach alter Gewohnheit in dem Palais des reichen Mannes seiner Nichte aus und ein.

„Sie werden Ihre Wette verlieren,“ sagte eines Mittags, als er sich mit Aurelio allein sah, der Domcapitular zu dem Grafen. „Obergerichtsrath Börnstein hat mir so eben ein Billet geschrieben, worin er mir die Mittheilung macht, daß der Beschluß der Kronjuristen der Fürsten von O* Veröffentlichung des anonymen Briefes verlangt, von dessen Vorhandensein Sie unterrichtet sind. Die Fürsten O* sind eben jene Herrscherfamilie, deren Schatzkammer auf so unerklärliche Weise, wie ich Ihnen erzählte, von unsichtbaren Händen geplündert wurde. Kein Mensch zweifelt mehr, daß sich das sonderbare Verschwinden der so außerordentlich werthvollen Kleinodien ganz natürlich erklären werde und daß diejenigen, die sich zu diesem Taschenspielerkunststück verleiten ließen, ihren verdienten Lohn erhalten.“

Aurelio hatte lächelnd den Domcapitular aussprechen lassen. Jetzt sagte er ihm Dank für seine Mittheilung, fügte aber hinzu, daß er gleich anfangs vermuthet habe, nur den Fürsten O* könne jenes seltsame Unglück zugestoßen sein. „Uebrigens,“ fuhr er fort, „bin ich jetzt meiner Sache mehr als gewiß, und Sie werden sehen, daß Sie doch verlieren!“

„Dann müßten Wunder geschehen!“ rief der Domcapitular. „In wenigen Tagen schon läuft der Brief des anonym gebliebenen Juweliers durch alle Zeitungen, er wird Gemeingut Aller, und es kann gar nicht fehlen, daß auf irgend eine Weise dadurch Thatsachen offenbar werden müssen, die das geheimnißvolle Verschwinden der vermißten Schätze natürlich erklären.“

„Wir werden ja sehen,“ sagte der Graf. „Uebrigens hält mich jetzt nichts mehr hier fest. Den sonderbaren Brief, dem man solche Zauberkräfte zuschreibt, kann ich ja wohl überall lesen. Darum lasse ich mich dem Herrn Obergerichtsrath Bornstein bestens empfehlen uns verabschiede mich gleichzeitig auch von Ihnen. Hören wir nicht früher von einander, so geschieht es doch jedenfalls, sobald ich das Vergnügen haben werde, Ihnen anzeigen zu können, daß ich meine Wette gewonnen habe.“

Der Domcapitular überließ sich einem herzlichen Lachen über diese tolldreiste Behauptung des zuversichtlichen Grafen, denn der Einsturz des Himmels hatte eben so große Wahrscheinlichkeit für sich, als die Behauptung Aurelio’s, das Verschwinden noch anderer Kleinodien aus dem Schatze der Fürsten von könne O* sich wiederholen.




6. Beunruhigende Entdeckungen.

Bald nach des Grafen Abreise erschien der anonyme Brief in allen Zeitungen, von dessen Bekanntwerden sich die fürstliche Familie von O* eine so große Wirkung versprach. Er ward von Jedermann gelesen, von Vielen kritisirt, von den Tiefsinnigsten gleich, einem alten Codex oder einem Palimpsest studirt. Und wirklich forderte das Schreiben sowohl die Kritik wie den Scharfsinn der Denker heraus. Man mußte zwischen den Zeilen zu lesen verstehen, wenn diese ganz allgemein gehaltenen Wendungen den Schlüssel zur Lösung eines Räthsels, dem man schon so lange nachspürte, enthalten sollten. Fragen, welche Einer dem Andern über diesen Brief vorlegte, wurden mit sehr geheimnißvollen Mienen beantwortet, weil Keiner gestehen wollte, daß er gerade so klug sei, wie zuvor.

Auch der Domcapitular gab eine sehr vorsichtige Antwort, als der Obergerichtsrath Bornstein seine Meinung zu hören wünschte.

[728] „Sie halten also dafür, daß gerade das Nachdenken über den Brief den gewünschten Erfolg haben kann?“ sagte Letzterer auf die Antwort des alten Herrn.

„Mir scheint es so,“ erwiderte Rütersen.

„Es ist mir lieb, dies von Ihnen zu hören,“ fuhr Bornstein fort. „Was mich betrifft, so pflichte ich Ihnen vollkommen bei, ja ich bin sogar im Stande, Ihnen eine Entdeckung zu machen.“

„Eine Entdeckung, die sich auf die Wirkung des Briefes bezieht?“

„Ich kenne den Verfasser desselben.“

„Wirklich? Und Sie dürfen ihn nennen?“

„Nur gewissen Personen, Herr Domcapitular.“

„Zu denen ich gehöre?“

„Ich glaube, Sie werden es mir später Dank wissen.“

„Kenne ich ihn etwa?“

„Simonides hat den Brief geschrieben.“

Der Domcapitular sah den Obergerichtsrath geraume Zeit verwundert an, dann sagte er: „Glauben Sie denn wirklich, daß Simonides um das Verschwinden der vermißten Schätze weiß?“

„Das wohl schwerlich, aber er hat einzelne Stücke derselben gesehen, ja sogar in Händen gehabt.“

„Gekauft? von wem?“

„Das eben ist noch ein Geheimniß. Simonides erhielt vor Monaten schon eine Zusendung von Edelsteinen, die von einem Schreiben ohne Namensunterschrift begleitet war. Die Edelsteine hatten einen hohen Werth, und der Juwelier war sehr geneigt, auf das Geschäft, das man ihm anbot, einzugehen. Nur die Anonymität des Einsenders machte ihn bedenklich. Indeß glaubte er bei einiger Vorsicht doch den Versuch einer Anknüpfung mit dem unbekannten Einsender machen zu dürfen. Der Brief enthielt einige Zeichen, deren Simonides sich bedienen sollte, wenn er die Absicht habe, die ihm angetragenen Juwelen durch Kauf zu erwerben. Ein Billet, mit diesen Zeichen versehen, sollte in eine leere Flasche gelegt und diese, fest verkorkt, in den Strom geworfen werden. Befolge Simonides – hieß es weiter – diesen Wink, so werde in nicht gar langer Zeit ein zuverlässiger Mann bei ihm erscheinen, sich durch Ueberreichung des von dem Juwelier herrührenden Billets als befugter Unterhändler ausweisen und das Geschäft mit ihm abschließen.“

„Ging Simonides auf diese seltsamen Weisungen ein?“

„Gerade die Seltsamkeit reizte ihn,“ sagte der Obergerichtsrath. „Er sah keine Gefahr bei dem wunderlichen Handel, aber er fürchtete mit keinen ehrenwerthen Leuten in Verbindung zu kommen. Wie oft sind schon Juwelen entwendet worden, und wie unendlich schwer ist es, sind sie erst von Hand zu Hand gegangen, sie ihrem rechtmäßigen Eigenthümer wieder zu verschaffen! Simonides wollte sich deshalb sicher stellen, um nicht später einmal einer unredlichen Handlung geziehen werden zu können. Er wendete sich an mich und theilte mir vertrauensvoll die sonderbare Zumuthung mit, zugleich sich meine Ansicht darüber und meinen Rath erbittend. Auch die Edelsteine zeigte er mir. Es waren Smaragden von ungewöhnlicher Schönheit und einige wenige schlecht geschliffene, aber sehr werthvolle Diamanten. Seiner Behauptung nach mußten dieselben zu einem außerordentlich kostbaren Schmuck gehört haben, dem man sie entnommen hatte. Mich interessirte diese Mittheilung, ich behielt eine sehr genaue Copie des Briefes und der Zeichen, und forderte Simonides auf, die Weisung buchstäblich zu vollziehen. Obwohl ich im Geheimen Anstalten traf, das ganze Flußufer in der Gegend, wo der Juwelier die Flasche den Wellen anvertrauen sollte, zu überwachen, wurde doch nichts Verdächtiges bemerkt.“

„Hatte diese sonderbare Procedur Erfolg?“ fragte der Domcapitular, der mit wachsender Spannung der Erzählung Bornstein’s lauschte.

„Es vergingen mehrere Wochen, ohne daß irgend eine Nachfrage erfolgte,“ fuhr der Obergerichtsrath fort, „und Simonides glaubte schon, die Flasche mit seinem Zettel sei verloren gegangen. Da meldete sich Abends ein Mann bei ihm, der seiner Sprache wie seiner Gesichtsfarbe nach südeuropäischer Abkunft zu sein schien, und legitimirte sich durch den Zettel, welchen der Juwelier in die Flasche legte.“

„Haben Sie den Mann nicht festnehmen lassen?“

„Dazu hatte ich weder ein Recht noch eine Veranlassung. Simonides kaufte dem Fremden die Juwelen ab und bewahrte sie sorgfältig auf. Dieser schien erfreut zu sein, einen guten Handel gemacht zu haben, und versprach in einiger Zeit wieder zu kommen.“

„Natürlich ist er ausgeblieben?“ meinte der Domcapitular.

„Im Gegentheil, er stellte sich ein zweites Mal bei Simonides früher ein, als dieser erwartet hatte. Ich wußte um den Fremden, denn der Juwelier hielt ihn beim ersten Besuche so lange fest, daß es mir möglich wurde, ihn beobachten zu lassen. Er hat sich zwischen diesem ersten und zweiten Besuche stets in unserer nächsten Nähe aufgehalten. Sie selbst kennen ihn und haben mit ihm gesprochen.“

„Ich … mit Ihrem Unbekannten?“

„Es ist der Marchese Oruna.“

„Das ist unmöglich!“

„Mitunter nennt er sich auch einfach blos Oruna und hat dann die Liebhaberei, als Tabuletkrämer das Volk und seine Sitten zu studiren.“

„Der Marchese Oruna war ja dem Grafen von Weckhausen empfohlen,“ sagte der Domcapitular, „meine Nichte gab ihm zu Ehren eine Abendgesellschaft, der Sie nur deshalb nicht beiwohnten, weil Sie leider in Dienstangelegenheiten verreist waren. Sie sehen also, Ihre Behauptung beruht auf einem Irrthume!“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Ritt in die Niederungswälder des Dnjepr.

Von Dr. Wilhelm Hamm.
Der Dnjepr. – Ritt in die Steppe. – Der Eintritt in den Wald. – Im Urwald. – Das Gethier des Urwalds. – Der sächsische Schatzgräber.

Weit her aus dem Norden kommend, den Wolchonskischen Hügeln entsprungen, die auch die Wiege seiner mächtigen Schwester Wolga sind, fließt der gewaltige Dnjeprstrom gen Süden, dem schwarzen Meere zu. Wenn er in tollen Sprüngen über die granitnen Treppenstufen bei Nikopol zum letzten Mal den Jugendübermuth gebüßt hat, so wallt er in der breiten und stattlichen Gemächlichkeit rüstigster Manneskraft dahin durch ein gar anmuthiges Thal. Von allen Seiten rieseln und rennen ihm Flüsse, Flüßchen und Bäche zu, ihr silbernes Band windet sich durch frischgrüne Wiesenflächen, dunkle Wäldchen, zerstreutes Buschwerk, da und dort weiße Häuschen hübscher Dörfer und in ihrer Mitte die golden flimmernde Kuppel der Kirche – das Alles gibt ein gar liebliches Bild. Doppelt gewinnt dies, wenn der Wanderer aus der baumlosen, braunen Steppe des Südens kommt und von Nova Woronzofka aus zum ersten Mal hinabschaut in die prächtigen Plawni oder Niederungswälder, die als meilenbreite Verbrämung den riesigen Strom begleiten. Mit welchem unaussprechlichen Vergnügen sieht er sich nach monatlangem Braten unter der fast scheitelrechten Sonne wieder umfangen von schattiger Waldesnacht; wie oft hat er vorher davon geträumt, wie wahr ist ihm das Wort erschienen, daß der Wald ein Bedürfniß des gebildeten Menschen sei! Daher war auch eine der ersten Bitten, die ich dem Freund aussprach, dessen Dach für mehrere Tage mir deutsche Gastlichkeit verheißen hatte, die um einen Ausflug in den grünen Wald, und bereitwillig ward sie mir gewährt, denn auf ihn sind seine Anwohner stolz und freuen sich des Eindrucks, den seine Hallen auf die fremden Besucher machen.

An einem herrlichen Morgen zog eine stattliche Cavalcade durch die Pforte des Landsitzes, und schon ihre Zusammensetzung versprach den Genuß des Jagdritts zu erhöhen. Denn um das Nützliche mit dem Angenehmen zu vereinen, oder vielmehr, um das Letztere zu steigern, waren die Doppelflinten umgeschnallt und den Thieren des Waldes der Krieg erklärt worden. Den Mittelpunkt, den strahlenden, der Gesellschaft, bildete eine Dame. Im eleganten Amazonenhabit, den wallenden Federhut auf den kastanienbraunen Locken, kühn thronend auf einem windschnellen Tscherkessenrappen, wäre Fräulein Soninka eine reizende Erscheinung gewesen überall, nicht blos hier auf der Steppe. Sie war die Führerin

[729] 

In den Sümpfen des Plawni.

[730] des Zugs, und eine verwegene, heldenmüthige dazu; durch Dick und Dünn ihr zu folgen, war Lust, nicht blos Gebot. Galant hielt sich ihr möglichst treu zur Seite der Onkel, ein alter, kleiner Herr mit weißem Bart und Haar, aber mit heißem, rothem Blut, ein Jäger und Fischer, ein Kräuterkenner und Pädagog, ein Schachspieler und Reiter, wie Wenige – die Jahre hatten scheinbar ihm den Zoll erlassen und ein bewegtes Leben war über ihn hinweggegangen, ohne mehr als äußere Spuren zu hinterlassen. Er hatte vieler Menschen Stätten gesehn und Sitten erkannt, war gewesen in Island und in Madeira, in Paris und in Archangel; an Norwegens Küste rettete er einst im Schiffbruch nur das nackte Leben, und bei Sebastopol pfiffen die Kugeln um sein ehrwürdiges Haupt. Wie er so da saß, in eigenthümlicher, selbsterdachter Ausrüstung auf dem muthigen Steppenklepper, gemahnte er mich an den Hawk-eye des Cooperschen Romans, der die Fremdlinge sicher durch die Schrecken der Wildniß leitet. Dann kam der Hausherr, ein junger, kräftiger Mann, echt deutschen Geblüts, ein großer Landwirth, der hier in reizender Umgegend und im Schooß der liebenswürdigsten Familie sich ein kleines Paradies geschaffen hatte. Ein trefflicher Reiter und Stallmeister tummelte er geschickt einen hohen Rapphengst edler Zucht, der unsere kleinen Thiere überragte, wie ein Koloß. Ich selbst ritt einen trefflichen tatarischen Paßgänger. Ein Reitknecht auf einem Doppelpony folgte der Gesellschaft.

Ueber die Steppe reitet man nicht, wie daheim auf den Stadtpromenaden. Die weite, flache Ebene scheint einzuladen, zu drängen zum flüchtigsten Rosseslauf, es überkommt den Reiter eine Hast und ein Streben in die Ferne, deren er sich sonst nicht bewußt ist. Und so flogen wir denn auch bald dahin im gestreckten Galopp, wetteifernd um den Vorrang. Den aber ließ unsere holde Herrin sich nicht streitig machen, weit voraus uns Allen trug sie ihr unvergleichlicher Zelter, und ihre weiße Feder flatterte triumphirend an der Spitze, trotz der lebhaften Stimulationen, mit welchen der Onkel sein Pferd ihr zur Seite zu halten trachtete. Nebenher sprangen und kläfften lustig die Hunde – verwundert standen die grauen Rinder auf aus dem thauigen Gras, um dem wilden Rennen Platz zu machen, die Zieselmäuse schossen wie rothe Pfeile in ihre Erdlöcher vor dem „Donnergepolter des Hufschlags“ – was freilich eine poetische Licenz ist in Betracht des weichen Steppengrunds – und immer näher traten die dunklen Massen der Plawni uns entgegen.

Zwischen den ersten hohen Bäumen erschienen da und dort graue Strohdächer, zerstreute Häuschen des großen Dorfes Gruschewko, dessen Wohnungen in der Steppe auseinander liegen, wie die Körner von des Säemanns Wurf. Hier hinderte der Fluß Skarwna, ein kleiner Vasall des Dniepr, den Weiterritt. Fräulein Soninka rieth zwar kurz, auf gut Glück hinüberzusetzen, und schon war sie bereit zur That, als zur rechten Zeit noch der Ruf des Oberförsters dem Wagniß ein Ziel setzte. Dieser wohnt dicht am Ufer und kam, die Gesellschaft zu begrüßen. Er rieth ihr, von den Pferden zu steigen und sie von dem Reitknecht hinüber führen zu lassen; so geschah es, und es war ein Glück. Denn kaum hatte der Bursche mit zwei Handpferden einige Schritte in dem Wasser zurückgelegt, als plötzlich die Thiere in dem Schlammgrund versanken bis an die Sättel; hoch auf spritzte das getrübte Element, die scheuen Rosse suchten sich aus des Führers Hand zu befreien, dabei sanken sie immer tiefer, es war ein angsterregender Anblick. Aber er dauerte nicht lange: der Reitknecht, obgleich bis an die Hüften im Wasser, hielt sich wacker und ließ nicht los, ein paar Schritte weiter kam festerer Grund, und dann war bald das jenseitige Ufer erreicht. Mittlerweile ward auch die rechte Furt gefunden, die der Grundherr stolz durchritt, während des Försters ältester Knabe die anderen Mitglieder der Gesellschaft einzeln in einem schmalen Nachen hinüberruderte. Endlich waren Alle wieder beisammen; das Intermezzo hatte keine weiteren Folgen, als ein paar nasse Sättel, aber die trockneten bald bei dem ferneren scharfen Ritt.

Noch ein zweiter Nebenfluß war zu passiren, die Potpilna, breiter und reißender, als der erste. Hier ging aber eine regelrechte Fähre. Diese sind in Rußland durchgängig der Art eingerichtet, daß ein gewaltiges Tau über das Wasser gespannt ist, längs dessen der Fährmann fein Schiff hinzieht. Hat er Bauern eingenommen, so läßt er die für ihn eintreten bei der harten Arbeit; uns erzeigte er die Ehre selber.

„Betrachten Sie den Kerl!“ sagte der Onkel, „würden Sie nicht geschwind zum Revolver greifen, wenn Sie ihm allein auf der weiten Steppe begegneten?“

In der That, es konnte kaum ein wilderes, thierischeres Gesicht geben, wie das des athletischen Mannes; die langen, gelben Haare hingen ihm zottig über die kleinen Schlitzaugen, aus denen es manchmal hervorblitzte, wie beim lauernden Wolfe, der sich nicht getraut, eine willkommene Beute anzufallen. Viele ähnliche Gesichter hab’ ich in Rußland gesehen, und es schauderte mir unwillkürlich, wenn ich ihren Ausdruck zu entziffern versuchte!

Aber da ist der Wald, da steigen die grünen Massen des Gebüschs aus der moorigen Erde, dort rauschen die Wipfel himmelhoher Bäume. Auf einmal befanden wir uns eng eingeschlossen auf schmalem Pfad. Rechts und links wucherte das saftige, windendurchflochtene Schilfrohr bis über Reitershöhe empor, gleich einer festen Mauer, das Spiel des Windes darin glich dem Rauschen der See, kleine, zierliche Sänger wiegten sich hoch oben auf den grauen Fahnen und lieblich klang ihr feines Lied in die Melodie des frischen Morgens. Hier und da lag eine freie Wiese inmitten des Röhrichts, da war großes Getümmel und rege Arbeit, denn die Heuernte fand statt, obgleich im August. Nur in diesem besondern günstigen Jahr fiel sie so früh, gewöhnlich erst in den September. Denn sobald im Frühjahr der Schnee zu schmelzen beginnt, so steigt von Tag zu Tag der Dnieprstrom in ganz außerordentlichem Maße. Im Mai hat er seine flachen Ufer zu beiden Seiten viele Meilen weit überschritten, die Plawni sind zu einem unermeßlichen See geworden, aus welchem die Bäume sonderbar hervorragen; zwischen den Kronen derselben fährt man im Boot hoch über dem Grund, auf dem wir jetzt gemächlich reiten; der Ochsenbauer verwandelt sich in einen Kahnführer, jeder Verkehr findet nur zu Wasser statt. Häufig genug unterwaschen die andringenden Fluthen die lehmgekneteten Häuschen der Bauern, oder ergießen sich zur Ueberraschung der Bewohner in die halbunterirdischen Semlanken (Erdwohnungen), obgleich die Ansiedler sich möglichst erhöhte Gründe ausgesucht haben. Allein dennoch ist die jährliche Ueberschwemmungsperiode ihre liebste Zeit. Dann erst auch wird die Landschaft zu einem wahrhaft großartigen Bild, zu einem stillen blauen Meer, aus dem unzählige grüne Inseln auftauchen. Mit Beginn des Monats August fangen die Wasser endlich an wieder abzulaufen, aber trotz der brennenden Sonnenhitze dauert es doch lange genug, bis Menschen und Thiere sich wieder in die Plawni wagen dürfen. Und die Ersteren müssen noch häufig dafür bittere Strafe leiden, denn aus dem schwammigen Boden quillt ein Fieberdunst hervor, der von dem Neuling unfehlbar Tribut fordert. In diesem heißen Jahr lagen die Plawni ausgetrockneter da, als seit Menschengedenken; die Betten vieler Flüsse zeigten ihren schwärzlichen nackten Grund, von Millionen Rissen klaffend, kläglich lagen die geborstenen Kähne darauf; abscheuliche Miasmen entströmten den verwesenden Muschelschichten und anderen Organismen der verlorenen Wasserwelt.

Die Männer stiegen von den Pferden, die dem Reitknecht anvertraut wurden, unter dessen Geleit unsere Dame lustig weiter ritt, während wir, die Flinten zur Hand, in’s Dickicht drangen. Mit jedem Schritt ward es nunmehr urwäldlicher; mächtige Wurzeln krochen über die Erde, üppiges Gestrüpp schoß seine Loden dicht empor, dazwischen rankten sich Dornen und Schlingpflanzen, und bei jedem Schritt brach der Fuß ein in den morschen Boden. Da durfte man wohl an Brasilien denken und wünschte sich eine Axt in die Hand, statt der unbequemen Flinte. Wenn man halb kriechend, halb gleitend endlich in freieres Bereich zu kommen wähnte, da war es ein schwarzer, dampfender Tümpel, den man umgehen mußte; und schlimmer noch, das Durchbrechen des Gesträuchs jagte zahlreiche Schwärme wilder Enten vielerlei Art, Becassinen, Bläßenten, Reiher und andere angenehme Wasserfreunde auf, die meistens schon weit waren, ehe man das Gewehr an den Backen bringen konnte. Nur der ernste und ehrenfeste Bugai, welchen die Kleinrussen nach seinem Geschrei Quack nennen, unsere Rohrdommel, blieb neugierig, aber in hinreichender Entfernung, auf einem abgestorbenen Ast sitzen und lugte mit vorgestrecktem Hals nach den fremden Eindringlingen in den Waldfrieden. Dagegen schoben Dutzende von Schildkröten ihr getäfeltes Haus und sich selbst in Sicherheit, das heißt, in das schlammige, froschgefüllte Wasser, so schnell sie konnten, und drollig sah es manchmal aus, wenn sie dabei übereinander hinweg zu fliehen strebten, ein sonderbarer Knäuel.

Endlich, keuchend, Gesicht und Kleider zerrissen, die Extremitäten [731] mit schwärzlich-grüner Kruste gepanzert, durch und durch in Schweiß gebadet, kamen wir aus dem verwünschten Unterholz des Sumpfes heraus. Gern hätte ich die Andern ausgelacht, wie sie mich, aber ein überraschender Anblick fesselte meine ganze Aufmerksamkeit. Der Hochwald der Plawni trat uns entgegen in seiner ganzen Majestät, Schönheit und Eigenthümlichkeit. Seinen Hauptbestand bilden Weiden, aber Weidenbäume wie es in der ganzen Welt nicht mehr gibt. Ihre ungeheueren Stämme, verknotet, verwachsen, auseinander gerissen, verkrüppelt und verschränkt, wie es die wildeste Phantasie des Künstlers nicht zu denken, geschweige denn darzustellen wagt, sahen allem Andern ähnlich, nur nicht Pflanzengebilden, und wäre nicht die Krone der hellgrünen Blätter gewesen, man hätte sie für Versteinerungen oder für barocke Götzenbilder untergegangener Riesenvölker halten können. Die ältesten, umfangreichsten dieser vielhundertjährigen Bäume waren alle hohl; von ihrer Größe mag man sich dadurch einen Begriff machen, daß nicht selten ein Reiter zu Pferd in der Höhlung sich bergen kann. Viele davon sind schwarz ausgebrannt, denn wie allenthalben in der Welt, zünden auch hier die Mäher und Hirten ihr Kochfeuer an in der bequemen, zuggeschützten Hütte; aber nichtsdestoweniger grünten die obenstehenden Aeste lustig fort. Gebrochene Stämme lagen überall unbenutzt am Boden, bis sie verfaulten; zuweilen hatten sie in der Rinde wieder ausgeschlagen, und dann sah der graue Stamm aus wie ein Felsen, aus welchem Gebüsch zum Licht emporschoßt. Zwischen den Weiden, sie hoch überragend, baueten mächtige Schwarzpappeln ihre zackig verworrenen Kronen in den Himmel, von dem sie freilich nur hier und da ein blaues Stückchen gewahren ließen. Was ihren Stämmen an Umfang abgeht, das ersetzen sie durch gewaltige Höhe; indem sie aber allenthalben die niedrigern Weiden überdachen, bildet sich ein Waldgewölbe von großartiger malerischer Wirkung, wie man es von diesen sonst gering geachteten Bäumen kaum erwarten würde, die freilich bei uns auch selten in Wäldern zusammen stehen. Den Boden zwischen ihnen bedeckt theils ein prächtig grüner, moosiger Rasen, jetzt gerade von den Heuern kurz geschoren, theils Schilf und Buschwerk mancherlei Art, fast undurchdringlich verflochten mit Kletterpflanzen und Dornranken; hier und da schimmerten die Spiegel trüber Lachen zwischen dem Grün hervor.

Auf einem prächtigen, reichbeschatteten Freiplatz erwartete uns die schöne Amazone und das Frühstück; ich glaube, das letztere zog in diesem Augenblick unsere Gefühle weit energischer an, als die Erstere! Und das wird man uns abgematteten Jägern eben so gern verzeihen, als sie uns verzieh! Wie hübsch einladend sah die weiße Serviette auf dem grünen Rasen aus, und wie unendlich hübscher noch alle die guten Sachen, welche malerisch darauf gepflanzt waren! Mit Waidmannslust begann sofort die Vertilgung derselben, den Beginn machte natürlich der unerläßliche Magenschlüssel Wodka, mit dem der Onkel niemals aufschloß, ohne dabei sein Lieblingsmotto, sein goldenes Wort auszusprechen: „Es gibt, keinen schlechten Schnaps!“ Allmählich aber traten Pausen ein, die sich immer öfter wiederholten und von bedenklichen Drehungen des Halses begleitet waren. „Wo ist der Wein?“ fragte endlich auf einmal unser Gastherr. O weh, er war vergessen worden, der wohlversehene, mit nassen Tüchern umhüllte Flaschenkorb war stehen geblieben, wo er stand, und wir mußten den Durst mit Wasser löschen. Glücklicherweise war dieses wenigstens mitgenommen worden; es befand sich, nach kleinrussischer Sitte, in einem eigenthümlich gestalteten Fäßchen, dessen Handhabung Geschicklichkeit erforderte, denn es mußte die Spundöffnung über den zum Himmel gerichteten Mund gehalten werden. Da gab es vielen Scherz, wenn dem Ungeschickten die Fluth über Bart und Brust schoß!

Nach einer Stunde bestiegen wir wiederum die Pferde. Ein schmaler Pfad leitete immer tiefer in den Urwald. Näher traten die riesigen Stämme zusammen, Falken und Sperber flogen schreiend von ihren Horsten auf, wilde Tauben girrten im hohen Laub, aber kein Singvogel ließ sich hören. Auch vierfüßiges Wild ist in dieser Jahreszeit selten in den Plawni zu treffen. Zuweilen kommen aus den Lindenwäldern im Norden verirrte Rehe herein, aber die sumpfige Niederung scheint ihnen wenig zuzusagen; öfter trifft man im Spätjahr wilde Schweine, von welchen aber keineswegs gewiß ist, ob es nicht blos verwilderte sind. Diesen aber wird der heftigste Krieg gemacht, weil sie die besten Wiesenstellen durchwühlen und allerlei verderblichen Unfug stiften. Wie in Amerika ließen lange Zeit hindurch die Bauern ihre Schweine, denen die rohen Zeichen ihrer Besitzer aufgebrannt waren, unbedenklich das ganze Jahr hindurch in die Plawni, wo sie sich in erstaunlicher Zahl vermehrten; nur zu gelegentlichem Bedarf wurde hier und da ein Stück geholt. Seitdem aber die Besitzung in strengerer Weise bewirthschaftet wurde, war ein Verbot gegen diesen Gebrauch ergangen. Die Bauern kehrten sich nicht daran. Da wurden eigens zu diesem Zweck mehrere Dutzend Flinten angeschafft und die damit bewaffneten Uprawitels (Verwalter), Prikaschtschiks (Beamten), Vögte und Schäfer führten einen unbarmherzigen Feldzug gegen das halbzahme Rüsselwild. Noch im vergangenen Jahre sind auf diese Weise über zweihundert Schweine in den Plawni getödtet worden. Die erlegten Thiere bleiben unberührt liegen, die Eigenthümer dürfen sie holen. Aber die meisten davon werden eine Beute der Geier, Adler, Krähen, Füchse und Wölfe. Die letzteren stellen sich nur mit dem Winter ein. Dann aber durchstreifen sie in großen Rudeln die Waldung, sie wagen sich bei hartem, andauerndem Frost bis an die Dörfer, und schauerlich klingt ihr wüstes Geheul ganze Nächte hindurch, beantwortet von dem zaghaften Gebell der Hunde, deren jedes Haus eine ganze Anzahl hält zur Bewachung von Menschen und Vieh. Hunderte von Schafen fallen alljährlich den blutdürstigen Bestien zum Opfer, trotz aller Vorsicht und Wachsamkeit der Hirten.

„Hier herum muß jetzt der Schatzgräber hausen,“ sagte der Onkel. – „Der Schatzgräber? Wer ist das?“ – „Sie werden ihn kennen lernen,“ rief unser Führer und setzte seinen Rappen in Galopp, um dem weit vorangeeilten Fräulein nachzukommen. Es war schwer, hier nebeneinander zu reiten. Immer wunderbarere Formen entwickelte der Wald, immer gewaltigere, seltsam gestaltete Bäume drängten sich, eine tiefe Dämmerung lag zwischen ihnen, wie Riesenschlangen liefen ihre verknoteten Wurzeln über den schmalen Pfad, der nicht selten von einem gestürzten Stamm gesperrt war, über welchen die Pferde hinwegsetzen mußten. Sie thaten dies willig und ohne Hülfen zu erwarten, nicht einmal strauchelten die bewundernswürdigen Thiere auf ihren Stahlfüßen; wer hätte auch auf den Weg achten können, da es beständig galt, den Kopf zu schirmen vor den niedrigen Aesten, die sich zu einem undurchdringlichen Dach über uns verschränkten. Da schlug plötzlich in nicht großer Ferne die tiefe Stimme eines Hundes an, lustig antworteten ihm Nero und Hector, unsere Begleiter. „Das ist der Schatzgräber!“ rief der Onkel. Das Dickicht lichtete sich vor uns, ein heller Sonnenschein blendete fast die Augen. Noch lag ein mächtiger Stamm im Wege; lachend flog die kühne Soninka darüber, und wie Diamantenregen sprühte es rings um sie empor – da galt kein Halten und Besinnen – hinüber, und in einem Augenblick befanden wir uns Alle bis zum Sattelknopf im Wasser. Ein schmales Flüßchen schlängelte sich hier träge durch den Wald, eingerahmt von uralten Weiden und haushohem Schilf. Der gefallene Baumstamm hatte es den Augen verborgen, bis es zu spät war, aber lachend und glücklich ging die Passage von Statten. Fast erschrak ich, als am andern Ufer mir plötzlich eine höchst sonderbare Gestalt in’s Auge fiel. Es war ein langer, hagerer, alter Mann, sein gelbes, runzelvolles Gesicht stach eigenthümlich ab gegen das weiße Lockenhaar, die dichten Augenbrauen und den wohlgepflegten, schneeigen Bart, der ihm bis zum Gürtel herabwallte. Auf dem Haupt trug er eine kegelförmige Tatarenmütze aus schwarzem Lämmerfell, damit war auch sein langer, dunkler Talar verbrämt; er stützte sich auf einen Spaten und neben ihm stand ein großer, zottiger Wolfshund. Er kam mir vor, wie ein geheimnißvoller Zauberer aus irgend einem der unbekannten Heidenvölker östlicher Steppen – man denke sich meine Verwunderung, als er uns plötzlich begrüßte im allerbesten sächsischen Hochdeutsch: „Ei scheenen kuten Tag, meine Herrschaften; wo kommen Sie denn her so zeit’g?“ – „Guten Tag, Lehmann!“ rief der Onkel, „was gibt’s Neues? Hast Du nicht wieder einen Schatz gefunden?“ – „Ach, schweigen Sie doch, Sie Spötter,“ entgegnete der in einen Lehmann verwandelte Zauberer, „Sie kriegen mich nicht wieder dran. Aber wollen Sie nicht die Gütigkeit haben, und ein bischen bei mir absteigen? Ich habe guten Quaß und Krebse, so groß wie Schafe!“ Das ließ sich hören, wir folgten der freundlichen Einladung; ich konnte mich immer noch nicht von meinem Staunen erholen.

(Schluß folgt.)



[732]

Friedrich Scherer,

der Apostel der Blinden.
Vom Verfasser der Novelle „Blind und doch sehend.“

Wie einst in einem dunklen Dorfe Frankreichs an ein armes Hirtenmädchen der Ruf des Geistes erging, ihr Vaterland vom Joche der Fremdherrschaft zu erlösen, so schlug in die Seele eines armen blinden Knaben aus einem bairischen Dorfe das Bibelwort: „Thue deinen Mund auf für die Sache Derer, die verlassen sind“, als eine Gottesmahnung, für seine blinden Brüder und Schwestern aufzutreten und ihnen durch Wort und That eine bessere Zukunft zu erkämpfen. Dieser Knabe war der Sohn des wackeren Maurermeisters Leonhardt Scherer in Ehgingen, einem Pfarrdorfe des königl. bairischen Landgerichtes Wasserdrüdingen in Mittelfranken. Im Jahre 1823 gesund und kräftig zur Welt gekommen, hatte der kleine Friedrich schon im zweiten Lebensjahre das Unglück, durch die Schuld eines Quacksalbers, der ihn in einer Kinderkrankheit behandelte, die Himmelsgabe des Augenlichtes und bald darauf auch seinen Vater zu verlieren. Die Mutter hatte Mühe, sich mit ihren vier unerzogenen Kindern und einer alten Großmutter redlich durchzubringen; daher konnte sie dem blinden Knäblein nicht die Sorgfalt widmen, zu der sie ihr Herz wohl trieb. Obgleich seit jener Krankheit immer kränklich, war das Kind dennoch munter und verriet zeitig einen regen, wißbegierigen Geist. Diesem konnte die Mutter im Verein mit der Großmutter nur spärliche Nahrung reichen durch Vorsagen von Sprüchen und Erzählen von Geschichten, die das Knäblein begierig anhörte und so in sein Gedächtniß aufnahm, daß es sie sogleich treulich wiedergeben konnte. Gleichzeitig mit seinem Gedächtniß bildete sich sein Tastsinn aus, und er lernte ohne alle Anleitung Körper in Thon und Holz nachbilden. Ein mächtiger Drang trieb ihn, auch das innere Wesen der Dinge, die ihm unter die Hände kamen, zu untersuchen, und so geschah es, daß er zusammengesetzte Gegenstände auseinander nahm, um ihre Theile und deren Zusammensetzung genau kennen zu lernen. Weil seine Umgebungen muthwilliger Zerstörungslust beimaßen, was nur aus mächtigem Forschungstrieb entsprang, so erntete er dafür oft Schläge.

Als er kaum das sechste Jahr erreicht hatte, genügte ihm der spärliche Unterricht der Mutter und Großmutter nicht mehr, und er drängte sich ohne ihr Wissen zur Schule. Ohne von den Lehrern beachtet zu werden, saß er da unter seinen glücklicheren Jugendgenossen und verschlang jedes Wort, das er hörte. So trieb er es eine geraume Zeit; kein Lehrer beschäftigte sich mit ihm, er war gar nicht als ein lernfähiges Wesen angesehen. Und doch lernte er fast mehr, als alle seine Mitschüler. Das zeigte sich, als er anfing, Fragen der Lehrer, worauf Andere die Antwort schuldig blieben, unaufgefordert zu beantworten, auch wohl verständige Fragen an die Lehrer zu richten. Dadurch erregte er deren Aufmerksamkeit, und nun erst beschäftigten sie sich mit ihm. Einer von ihnen, Namens Hirschmann, nahm ihn mit in seine Wohnung und ließ ihm täglich von seiner Frau und Tochter vorlesen. Während Friedrich so sein Gedächtniß bereicherte und schärfte, übte er zu Hause auch die Geschicklichkeit seiner Hände, und er brachte es im Nachbilden von allerhand Gegenständen bald so weit, daß er sich nicht nur sein eigenes Spielzeug, sondern auch dergleichen zum Verkauf fertigen konnte, wodurch er zum Unterhalt des mütterlichen Hausstandes wesentlich mit beitrug. Er schnitzte vornehmlich Gegenstände der Landwirthschaft, als: Wagen, Pflüge, Eggen, Pferde, Ochsen etc. Uebrigens war er auch ein lebhafter Tummler auf dem Spielplan, am liebsten aber sprang er allein über Bäche und Gräben, oder erkletterte hohe Bäume und wiegte sich an ihren Wipfeln. So kräftigte er Körper und Geist und hatte vor manchem sehenden Kinde das Glück einer naturwüchsigen Entfaltung voraus.

Dieses Glück erfuhr aber eine schwere Trübung, als mit der Confirmation seine Schulzeit schloß und, während seine Altersgenossen zu einem bestimmten Lebensberufe übergingen, er sich ausgeschlossen fand von dem allgemeinen Wettlaufe des Lebens. Für ihn, so wollte es das Vorurtheil und die gedankenlose Gewohnheit, gab es kein Streben, keinen Kampf, kein Leben – bloßes Vegetiren. Mit furchtbarer Wucht drückte dieses Loos auf feinen strebsamen Geist und die Geier des Trübsinns nagten an seinem Herzen. Sich ihnen zu entwinden, nahm er seine Zuflucht zur Musik, und wie Alles, was er anfing, trieb er sie mit Eifer und Ausdauer. Ganz allein suchte er den eine Stunde entfernt wohnenden Musiklehrer auf, und kein Unwetter konnte ihn je davon zurückhalten. In kurzer Zeit erlangte er auch eine solche Fertigkeit auf dem erwählten Instrumente, der Clarinette, daß er mit Tanzmusik machen und dadurch sein Brod verdienen konnte. Allein dies konnte seinen auf Höheres angelegten Geist nicht befriedigen, und da er fühlte, daß er zur wahren musikalischen Künstlerschaft keine Anlage besaß, so sehnte er sich nach einem anderen Felde des Lernens und Thuns. Ihn drängte es, sich hineinzustürzen in den Strom des Lebens und sich in ihm als rüstiger Schwimmer zu edlen Zielen zu bewahren; er fühlte sich erfüllt mit Kräften dazu und sollte am Ufer stehen wie ein hülsloses Kind, weil ihn das Herkommen zu einem solchen stempelte. Das ward die Quelle schwerer Gemüthsleiden, die das Schlimmste für ihn befürchten ließen.

Da erstand ihm ein Retter in der Person seines Arztes, Dr. Segel. Dieser erkannte den wahren Grund seines Leidens und daß dieses nicht anders zu heben sei, als durch Befriedigung des innersten Dranges des talentvollen Knaben. Er erweckte die Herzen anderer Menschenfreunde, insbesondere des Ortspfarrers und des Landrichters von Wasserdrüdingen, welche sich für den Leidenden verwendeten, daß er 1839 in die Blindenanstalt zu München aufgenommen ward.

Die Aussicht auf Mittel und Gelegenheit zur höhern Ausbildung seiner Fähigkeiten wirkte neubelebend auf Friedrich. Aber seine neuen Leiter verstanden auch nicht das innerste Leben des neuen Pflegebefohlenen. Da er bereits diejenigen Schulkenntnisse besaß, welche man in der Anstalt als genügend für die Blinden seiner Lebensstellung betrachtete, so ward er schon nach halbjährigem Aufenthalt daselbst aus der Schulabtheilung in die Beschäftigungsabtheilung versetzt, wo er außer in technischen Arbeiten nur in der Musik noch geübt wurde. So lange er hier zu lernen hatte und mit Erfolg lernte, fühlte er sich allenfalls befriedigt, zumal es ihm unverwehrt blieb, von andern Zöglingen, welche die höchste Schulclasse besuchten, sich das Gelernte mittheilen zu lassen, wodurch er es zu seinem Eigenthum machte. Als er aber die schwierigsten Arbeiten, welche in der Anstalt gemacht wurden, mit Leichtigkeit ausführte, als auch von seinen Mitzöglingen nichts mehr zu lernen war, erzeugte der Stillstand, zu dem er sich nun wiederum verurtheilt sah, neues Unbefriedigtsein in ihm. Oft legte er sich mit Schmerzen die Frage vor: Bis hierher und nicht weiter sollst du können? Und sein empörter Geist rief: Nein! nein! und abermals nein! Seine Entwickelung konnte und durfte noch nicht abgeschlossen sein. Indem er nun fühlte, wie Diejenigen, die sie für abgeschlossen erklärten, für das innere Leben der Blinden gar kein rechtes Verständnis hätten, gewann ein Gedanke, der schon früher in ihm gedämmert hatte, immer mehr Bestimmtheit und Stärke – der Gedanke: daß ein Blinder wohl der beste Lehrer für Blinde werden könne.

Die Art und Weise, wie die sehenden Leiter und Lehrer der Blindenanstalt ihr Werk trieben, hatte ihm oft Bedenken erregt; diese Bedenken gestalteten sich jetzt zu entschiedener Berurtheilung, und diese trieb ihn zum Nachdenken über eine bessere Methode der Blindenerziehung, und als er diese gefunden zu haben glaubte, entbrannte er von dem Wunsche, sich selbst zum Blindenlehrer auszubilden. Aber dieser Wunsch fand in der Anstalt keinen Anklang, kein Gehör. Zwar verwendeten ihn die protestantischen Lehrer derselben auf Grund seiner erlangten Kenntnisse als Hülfslehrer, aber es geschah nichts, um ihn weiterzubilden zu dem, was er erstrebte. Er verließ daher im Jahre 1845 die Blindenanstalt und versuchte auf anderm Wege zu seinem Ziele zu gelangen. Kein Fehlschlag konnte ihn entmuthigen, und endlich fand er in München hochgestellte Gönner, die seinen Werth erkannten und ihm hülfreiche Hand boten. Vor Allen war es Professor Hefler, welcher der Bemerkung: „es wäre unrecht, solch ein Talent in seiner Entwickelung nicht zu fördern“, die That auf dem Fuße folgen ließ, indem er [733] ihm in der Person eines Rechtscandidaten Rarches einen Privatlehrer gewann, der sich seiner mit aufopfernder Liebe annahm. Bald gesellten sich zu diesen Beiden Männer wie Hofrath von Schubert, Staatsrath Herrmann, Professor Lindemann, Dr. Kuhn und Dr. von Biarowsky, welche ihn in seinem Streben ermunterten und förderten. Diese empfahlen ihn am Hofe, und der König sowie die beiden Königinnen, ganz besonders aber Prinz Karl fanden sich bewogen, ihm Stipendien zum Besuch der Universität, worauf Scherers feurigster Wunsch zunächst gerichtet war, zu bewilligen. Auch der reiche Ultramarinfabrikant Zeltner in Nürnberg unterstützte den strebsamen jungen Mann. Vier Jahre lang hörte Scherer alle Vorlesungen, die er für seinen Zweck ersprießlich fand. Dabei benutzte er die Ferien, sowie nachher noch ein ganzes Jahr, um die Blindenanstalten in Würtemberg, Baden, der Schweiz und Oesterreich zu besuchen. Längst hatte er als das wahre Ziel der Blinden-Erziehung das erkannt, daß die zwischen den Sehenden und den Blinden bestehende Kluft so weit als möglich ausgefüllt, daß letztere zu vollbürtigen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft in Absicht auf geistige Bildung wie auf Teilnahme an der Arbeit und den Genüssen des Lebens gemacht werden, und er hatte seine Ansichten darüber in einer besondern Schrift „Die Zukunft der Blinden“ ausführlich niedergelegt. Den Anforderungen, die er nach diesen Ansichten an die Blinden-Erziehung machen zu müssen glaubte, fand er keine der von ihm besuchten Anstalten völlig genügend. Daher entstand in ihm die Idee, selbst eine Blinden-Anstalt in’s Leben zu rufen, und kaum hatte er durch ein ehrenvoll bestandenes Lehrer-Examen seine Studien beendet, als er auch an die Verwirklichung dieser Idee ging.

In Nürnberg, der alten edlen, geistig-regsamen Reichsstadt, glaubte er den besten Boden dafür zu finden. Er eilte dahin und begann für seine Idee anzuregen, sowohl durch die Herausgabe der genannten Schrift, als durch das lebendige Wort. Aber welche Vorurtheile und welches Mißtrauen hatte er selbst in dem aufgeklärten und edelsinnigen Nürnberg zu bekämpfen, ehe er sich eine kleine Gemeinde gewann, welche sein Werk in’s Leben rufen zu helfen, den Willen und die Mittel hatten! Erst im Jahre 1854 sah er seine Bemühungen mit Erfolg gekrönt.

Mit sechs Zöglingen und einem sehenden Lehrgenossen eröffnete er in diesem Jahre die Nürnberger Blindenanstalt und arbeitete nun rastlos, um der Welt die Richtigkeit seiner Ansichten durch die That zu beweisen. Und er bewies sie ihr; die öffentlichen Prüfungen, die er mit seinen Zöglingen veranstaltete, lieferten die überraschendsten Resultate, die selbst die heftigsten Widersacher zum Schweigen brachten. Dadurch hob sich die kleine Anstalt so, daß sie im zweiten Jahre ihres Bestehens bereits zehn Zöglinge und ein Vermögen von 30,000 Gulden besaß, wozu Scherer selbst durch seine Bemühungen wesentlich beigetragen hatte. Indessen erhoben sich mit der Zeit zwischen ihm und seinem sehenden Collegen in Bezug auf das Unterrichtswesen und die künftige Lebensstellung der Blinden Meinungsverschiedenheiten, welche ihm das Wirken an seiner eigenen Stiftung verleideten, zumal da es diesem Collegen gelang, die Gönner der Anstalt für seine, im Vergleich zu den Schererschen Gedanken reactionären Ansichten zu gewinnen. Da Scherer’s Geist ohnehin über den engen Wirkungskreis, der ihm hier geboten war, weit hinausflog, da sein Herz nicht blos die zehn Zöglinge der Nürnberger Anstalt, sondern alle seine Leidensgenossen in Deutschland umfaßte, von denen er wußte, daß ihrer 36,000 lebten und davon nur etwa der 36. Theil sich der Wohlthat einer ordentlichen Erziehung erfreute, da sein Gemüth von dem Verlangen entbrannte, allen diesen Unglücklichen eine bessere Zukunft zu erkämpfen, so gab er ohne Kampf seine Stelle in Nürnberg auf und suchte einen neuen empfänglichen Boden für seine Ideen.

Er wandte sich zunächst in das geisteshelle Thüringen, wo er nicht nur die Regierungen für seine Bestrebungen zu gewinnen suchte, sondern auch von Stadt zu Stadt zog, um in öffentlichen Vorträgen die Herzen des Volkes dafür zu entflammen. Zugleich veranstaltete er eine neue, verbesserte Auflage seiner genannten Schrift, sowie die Herausgabe einer Broschüre „über die socialen Leiden der Blinden“, um durch deren Vertrieb einen Fond zum Besten des verfolgten Zweckes zu bilden. Sowohl bei den Regierungen, als bei dem Volke der thüringischen Staaten fand sein Streben den lebhaftesten Anklang, wie die mancherlei Stimmen in der thüringischen Tagespresse darüber bezeugen. Ganz besonders erwies ihm die herzogliche Regierung von Coburg-Gotha Förderung und Aufmunterung.

Die Erfahrungen, die er allenthalben auf seiner Reise in Thüringen machte, überzeugten ihn, daß das Erste und Nothwendigste, was in der von ihm vertretenen Sache zu thun, die Empfänglichmachung der Herzen des Publicums für dieselbe sei, und da Gott seine ersten Versuche, in öffentlicher Rede zu den Herzen zu sprechen, mit Erfolg krönte, so entschloß er sich, durch ganz Deutschland zu ziehen und durch Rede und Schrift die Herzen aller deutschen Stämme für seine Sache zu gewinnen.

So ist er zum Apostel der Blinden geworden, die, so hoffen wir, ihn einst unter ihre größten Wohlthäter zählen werden. Friedrich Scherer steht jetzt in der Blüthe der Männlichkeit, er ist von mittlerer Größe und kräftigem Körperbau, mit angenehmen, gemüthvollen Gesichtszügen. Begabt mit einem volltönigen männlichen Stimmorgan bei warmer Empfindung und lebendiger Darstellungsgabe, die sich zu dichterischem Schwunge erheben kann, sammt einem glücklichen Gedächtniß, versteht er ebenso zum Verstande wie zum Herzen zu sprechen. Am wirksamsten ist freilich seine Begeisterung für seine Sache und seine Ueberzeugung von der Wahrheit seiner Idee. Im geselligen Umgang ist er heiter, gesprächig und witzig. Ein gesunder, gebildeter Humor erhebt ihn über sein trauriges Schicksal, und er beweist so durch sein Leben, daß die Blinden auch glücklich sein können, wenn ihnen die mangelnde leibliche Sehkraft durch Ausbildung der geistigen ersetzt wird.




In der ersten Stunde des neunzehnten Jahrhunderts.

Von Ludwig Storch.

Die letzten Tage des achtzehnten Jahrhunderts gingen zur Neige. In der dänischen Königsstadt wurden großartige Anstalten, namentlich von der Universität, zur würdigen Feier des Jahrhundertswechsels gemacht. Die akademischen Bürger beabsichtigten in der bevorstehenden wichtigen Nacht ein glänzendes, voraussichtlich geräuschvolles und kostspieliges Fest zu geben. Drei den Wissenschaften ergebene junge Männer, wovon zwei Brüder waren, hatten sich verabredet, sich nicht dabei zu betheiligen, theils weil sie überhaupt studentischen Prunk und Lärm nicht liebten und in großen Gesellschaften sich nicht gefielen, theils weil sie ihrer beschränkten Verhältnisse wegen alle Ursache hatten, unnöthige Ausgaben zu scheuen. Beim jüngern der beiden Brüder kam noch eine dritte Ursache hinzu, die er aber als ein stilles Herzensgeheimniß bewahrte und keinem der beiden Andern mittheilte.

Die Brüder, Hans Christian und Anders Sandöe, jener 23, dieser 22 Jahre alt, waren Söhne eines unbemittelten Apothekers in dem unbedeutenden Städtchen Rudkjöbing auf der Insel Langeland, der Dritte, Adam Georg, 21 Jahre alt, der Sohn eines eben so armen Organisten in der Dorfkirche zu Friedrichsberg in der nächsten Nähe von Kopenhagen. Wir unterlassen es aus einem Grunde, welcher dem Leser später klar werden wird, die beiden Familiennamen der drei Jünglinge zu nennen, und begnügen uns einstweilen mit ihren Taufnamen. Ihre Jugendgeschichte war eben so merkwürdig, als interessant.

Zur wissenschaftlichen Ausbildung der beiden Brüder, die sich frühzeitig als sehr talentvolle Knaben erwiesen, fehlten im Vaterhause, wie überhaupt in der Vaterstadt, fast alle Mittel, die materiellen, wie die spirituellen, und der Unterricht, welchen die hübschen Kinder genießen konnten, durfte noch schlimmer als mangelhaft, er durfte armselig genannt werden. Doch wollte es eine jener eigenthümlichen Fügungen des Schicksals, in welchen man gern den Finger der göttlichen Vorsehung erblickt, daß sie von einem in ihrer Nachbarschaft wohnenden Deutschen deutsch sprechen und lesen lernten und mit einigen deutschen Büchern bekannt wurden. Später verfielen die lernbegierigen Knaben, um sich selbst zu helfen, da ihnen von Andern nicht geholfen wurde, auf eine originelle gegenseitige Unterrichtsmethode. Sie wußten sich alte Lehrbücher derjenigen Wissenschaften, von welchen sie besonders angezogen wurden, zu [734] verschaffen, und sobald ihr Lerneifer sich der Elemente bemächtigt, docirten sie sich wechselseitig das Erlernte.

So hatte Hans aus einem schon lange dienstbaren Schulbuche die Anfangsgründe der Mathematik sich angeeignet und spendete seinem Anders den eroberten Schatz, und dieser vergalt dem ältern Bruder mit Geographie und Geschichte. Bei einem Privatlehrer erhielten sie nachher auch einige Einsicht in die Formlehre der lateinischen Sprache.

Aber schon in seinem zwölften Jahre mußte Hans dem Vater als Gehülfe in der Apotheke dienen, und hier machten ihm die chemischen Arbeiten große Freude. Nebenbei verschlang er alle belletristischen und geschichtlichen Bücher, dänische und deutsche, die er in dem armen einsamen Heimathstädtchen auftreiben konnte, während Anders seine sprachliche und philosophische Autodidaxie so gut es gehen wollte, fortsetzte.

Doch der Genius in dem Bruderpaare fühlte seine Schwingen wachsen und drängte kraft des ihm innewohnenden Triebs empor. Ihr einziger Wunsch war, den glühenden Wissensdurst ihrer jugendlichen Geister auf der Universität zu Kopenhagen zu stillen. Sie setzten Alles daran, das Abiturientenexamen zu machen, und es gelang ihnen 1794, die Hochschule der Königsstadt zwar mit schlecht gefüllten Taschen, aber mit begeistertem Drange nach Wissenschaft zu beziehen. Konnten sie den physischen Hunger anfangs oft nur mit einem Stück trocknen Brodes stillen, so schwelgte dagegen ihr geistiger Heißhunger in der lockenden Fülle der literarischen Nahrungsmittel, welche ihnen die Universität bot. Und wie wenig bekümmerte sie die Entbehrung dessen, wonach die Meisten gierig trachten, und wie beglückte sie die Eroberung der Güter, die sich Andere gewöhnlich nur aus niederer Speculation und darum so unvollkommen aneignen! Sie suchten und hatten durchaus keinen Umgang mit andern Studenten und wurden von diesen wegen ihrer kleinstädtischen Unbeholfenheit, Schüchternheit und ihres seltsamen Aufzugs verspottet und mit dem Spitznamen „die Dioskuren“ belegt, weil sie ganz gleich in lange schlichte Ueberröcke, die bis an die Fersen reichten, geknöpft, stets Arm in Arm fest aneinander geklammert auf der Straße einherstelzten, um nicht auf den Ueberfluß ihrer Bekleidung zu treten und zu fallen, wodurch sie denn freilich das Aussehen eines zusammengewachsenen Zwillingspaares erhielten. Aber den wenigen Studenten, die ihr geistiges Wesen näher kannten, glänzten sie wirklich wie das Sternbild der Dioskuren, und auch ältere Gelehrte ahneten bald den in ihnen wohnenden Genius. Und dieser brach – sie waren noch nicht drei Semester akademische Bürger – aus seiner Verpuppung hervor und entfaltete seine prächtigen Flügel.

Durch akademische Preisabhandlungen, die ihnen außer goldenen Medaillen die Achtung ihrer Lehrer einbrachten, durch die beiden ersten Examina, die sie mit Ruhm bestanden, zogen sie die Blicke der Einsichtsvollen auf ihre ungewöhnliche Geistesbegabung und ihren bewunderungswürdigen Fleiß.

Mit einer Unterstützung aus Staatsmitteln und mit dem Ehrensold, den sie als gesuchte und gut bezahlte Privatlehrer erwarben, war ihrer Bedrängniß abgeholfen. Nun ging jeder seine eigene Bahn, dem früh sich kundgegebenen innern Drange folgend; jeder versenkte sich, die übrige Welt fast vergessend, in seine Wissenschaft, Hans in Mathematik, Physik, Astronomie, Chemie und Medicin, Anders in Philosophie und Rechtskunde. Da kam ihnen denn ihre Kenntniß der deutschen Sprache gut zu statten. Der Aeltere studirte die deutschen Physiker, der Jüngere die deutschen Philosophen. Für Jenen hatte Ritter, für Diesen Kant die größte Anziehungskraft. In seinem 19. Jahre hatte Anders sich Kant’s und Fichte’s Systeme ganz zu eigen gemacht. Und so erstarkten sie vorzüglich an den Brüsten der deutschen Wissenschaft. In herzlicher, brüderlicher Liebe und Einigkeit blieben sie aber unzertrennlich, wohnten bei einander und theilten sich auch jetzt noch, wie sie gleichsam von Kindheit an gewohnt gewesen waren, die Resultate ihrer verschiedenen Studien mit, so daß der Eine immer auch in die Disciplinen des Andern eingeweiht wurde. Selbst als die Spötter verstummten und der Dioskurenname zum Ehrenprädicat geworden war, suchten sie keinen Umgang, sondern lebten, von der Welt fast abgeschlossen, nur ihren Studien. Die Universität hatte noch nie zwei so eng und eigenthümlich verbundene Studenten gesehen, die alle Zerstreuungen der Jugendlust mißachtend, nur am Wissenschaftsleben Freude hatten. In ihrem seelischen Leben bildeten sie einen überraschend schönen Gegensatz. Wie der Jüngere eine ernste, ruhige, fast tiefsinnige Forschernatur, ein echter Philosophengeist, so war Hans eine leichtbewegte, etwas unruhige, enthusiastische und geschmeidige Dichterseele. Für alles Schöne und Erhabene in Wissenschaft und Kunst schnell erglühend, hatte er die Eigenthümlichkeit, die aus der Wissenschaft gewonnenen Resultate in kleine leicht und anmuthig versificirte Gedichte zu bringen. So faßte er die Perlen und Edelsteine der Wissenschaft in den goldenen Arabeskenschmuck der Poesie. Seine dichterische Begabung war durchaus keine großartige, allumfassende, aber sie war eine liebliche und reizende.

Die Brüder wohnten auf Ehlersens-Collegium und hatten ihren Mittagstisch bei einer bemittelten Wittwe, ihrer Tante, Frau Möller, die nach dem Tode ihres Mannes das einträgliche Färbereigeschäft desselben mit Fleiß und Umsicht fortbetrieb.

Im Herbste 1797 nahm ein eben beim königlichen Hoftheater engagirter junger Schauspieler bei dieser Frau Möller Wohnung und Kost und wurde so der Tischgenosse und bald genug der Freund der beiden Brüder.

Dieser Jüngling war der anfangs erwähnte Adam.

Der Vater desselben, ein Schleswiger, einst als armer Schulamtscandidat nach Kopenhagen gekommen, um Brod und Stelle zu erwerben, hatte durch Protection des bekannten, damals allmächtigen Ministers Grafen Adam Gottlob Moltke die ärmliche Organistenstelle in Friedrichsberg erhalten und gab aus Dankbarkeit seinem Sohne des Grafen beide Taufnamen. Zwölf Jahre später wurde der arme Organist zum Castellan des königlichen Lustschlosses Friedrichsberg befördert, dessen Gevollmächtigter er schon eine Zeit lang gewesen war. Seine Frau, unseres Adams Mutter, war die Tochter auch eines Deutschen und Gevollmächtigten eines königlichen Schlosses.

Drittehalb Jahre nach der Geburt des Sohnes schenkte sie ihrem Gatten eine Tochter, welche Sophie genannt wurde. Beide Kinder wuchsen in dürftigen Verhältnissen auf. Der eigenthümlich lebhafte und doch wieder so seltsam träumerische Knabe zeigte schon in frühester Zeit bedeutende Anlage zur Dichtkunst, fertigte im zwölften Jahre bereits ein von Sachverständigen belobtes geistliches Lied und schrieb Dramen, die er mit seiner Schwester und seinen Cameraden im Speisesaale des Schlosses aufführte. Sein Talent zum Zeichnen veranlaßte ihn, die Akademie zu besuchen, um Maler zu werden, er gab aber dieses Vorhaben wieder auf und widmete sich dem Kaufmannsstande. Dabei machte er immer Verse und schrieb Komödien.

Endlich in seinem 18. Jahre entschlossen, Schauspieler zu werden, wurde er auf Betrieb seines Vaters beim Hoftheater angestellt, und betrat unter der Leitung des bedeutenden mimischen Künstlers Rosing die Bühne. Ohne Talent für diesen Beruf, ein schlotternder Knabe, linkisch und mit den Toilettenkünsten unbekannt, wollte er gleich große Rollen spielen und mußte mißfallen; da aber doch Manches von seinen poetischen Leistungen verlautet war, so nannten ihn die Schauspieler spottweise „den Mann mit den verborgenen Talenten“. Bald genug fühlte er sich unbehaglich in seinem Wirkungskreise, wurde noch scheuer, zog sich zurück, und sein kindisches Wesen gefiel sich allein in der Nachahmung mittelmäßiger deutscher Dramen und Romane. Mit Kruse, dem nachherigen deutschen Romanschreiber, bekannt geworden, schrieb er in ein von diesem herausgegebenes fast nur Uebersetzungen enthaltenes Blatt sehr viel und zwar ohne Honorar, und da er lustige Gesellschaft nicht liebte, so war seine einzige Freude, einigen Freunden seine unbedeutenden poetischen Erzeugnisse vorzulesen.

Diese Zerfahrenheit hätte wahrscheinlich zu einem schlechten Ziele geführt. Sein Glücksstern brachte ihn am Mittagstische der Frau Möller mit den beiden Brüdern Hans und Anders zusammen, die bald einen entscheidenden Einfluß auf sein späteres Leben ausübten. Besonders Hans’ kindliche, ungemein freundliche, mittheilsame, wohlwollende und anschmiegende Dichternatur fand sich von Adams edlem ebenfalls kindlichem Wesen angezogen. Die verwandten Geister folgten einem Naturgesetz, indem sie sich innig aneinander anschlossen. Beide von der Natur mit ihrem schönsten Geschenke, einer poetischen Weltanschauung bedacht, war ihre seelische Eigenthümlichkeit ganz der Art und Weise gleich, wie sie diese Anschauung in Worte kleideten. Hans war überdies liebenswürdig und geschmeidig, den kleinen Kreis um sich mit Gründlichkeit erforschend und mit Liebe ausfüllend, und dann vorsichtig weiter gehend auf das Große und Allgemeine.

Es war natürlich, daß Hans den Grund der Schwermuth [735] und stillen Verzweiflung des Freundes bald entdeckte. Er rieth ihm, die Bühne wieder zu verlassen, das lateinisch-juridische Vorbereitungsexamen zu machen, dann Jura zu studiren, um Advocat zu werden; Anders solle ihn einweisen, sodaß er in ein paar Jahren fertig sei. Adam schöpfte neuen Muth, nahm das freundschaftliche Anerbieten an, und begann unter Anders’ Leitung, 19 Jahre alt, mit Eifer wissenschaftliche Studien. Neben diesen ernsten Beschäftigungen lernte er Horaz kennen und versenkte sich in Goethe’s und Schiller’s Dichtungen, wodurch seine Neigungen einen noch höhern Schwung erhielten. Zugleich verliebte er sich in ein schönes, etwas jüngeres Mädchen als er, Tochter einer angesehenen Familie, und verlobte sich mit ihr mit Zustimmung ihres Vaters.

Seit diesem Wechsel waren nun zwei Jahre verflossen. Adam hatte, von Anders tüchtig unterrichtet, ziemliche Fortschritte in der Rechtskenntniß gemacht, noch größere aber im Studium der deutschen Dichter, Shakespeares und der Alten. Er hatte geistreiche und wohlwollende Freunde gewonnen und lebte im süßanregenden Umgange mit seiner Braut und deren trefflichen Geschwistern ein glückliches Leben. Nur Geld hatte er blutwenig. Hans und Anders waren seine innigsten Freunde und täglichen Tischgenossen bei Frau Möller. Dieses Zusammenleben der drei Jünglinge war ein schönes und echt poetisches und entwickelte ihre Geister durch gegenseitige Anregung, Wetteifer und Streben zu immer reicherer Genialität. Ihr Blüthenstaub hatte sich schon so gegenseitig befruchtet, daß die Frucht bereits in vielversprechender Fülle schwoll. Nur sie selbst schienen es nicht zu wissen, wozu der Geist der Weltgeschichte sie bestimmt hatte. Es hat wohl nie einen so herrlichen Jünglingsbund weiter gegeben, als den dieses ausgezeichneten Kleeblatts, dessen Mitglieder wenige Jahre später der Stolz ihrer Nation werden sollten. Hans war 1799 Doctor der Philosophie geworden und hielt seit der Zeit an der Universität Vorlesungen über Chemie und Naturmetaphysik. Die letztere war seine Lieblingswissenschaft, von seiner poetischen Natur mit der ganzen Hingebung ihrer Innigkeit betrieben und durchdrungen. Vor einigen Monaten hatte er auch die Verwaltung einer Apotheke übernommen.

Anders hatte sich als Rechtsdocent bei der Universität habilitirt.

In ihren Erholungsstunden waren die drei Jünglinge oft nach Schloß Friedrichsberg hinausgewandert, um sich an Sophie’s hochsinnigem, edlem Wesen, an der derben Gemüthlichkeit des alten Castellans und an der prachtvollen Umgebung des Schlosses zu ergötzen, das auf einem Hügel im italienischen Styl sich erhebend, eine entzückende Aussicht, vorzüglich auf die nahe Königsstadt gewährt. Sophie waltete da still und sorgsam in dem kleinen Haushalte; denn die reichbegabte, tiefgefühlvolle Mutter der beiden Geschwister war vor zwei Jahren in der Blüthe des Lebens gestorben. Es waren Sophie’s glücklichste Stunden, wenn Bruder Adam mit den beiden Freunden kam. Sie lebte sehr häuslich und zurückgezogen, las gern ein gutes Buch und horchte mit innigem Vergnügen der wissenschaftlichen Unterhaltung der drei Jünglinge, ihr dann stets Stoff zu tagelangem Nachdenken gab.

Ganz im Stillen und von den Andern unbemerkt, hatte sich ein Herzensverhältniß zwischen ihr und dem ernsten Anders angesponnen, das mit der Zeit an Tiefe und Innigkeit gewonnen hatte. So hatte sich denn Gleiches zu Gleichem hingezogen gefühlt, und wie die Geschwister auf beiden Seiten sich herzlich liebten, so hatten sich doch die poetischen und die philosophischen Naturen über’s Kreuz verbunden: Hans und Adam, Anders und Sophie, eine Doppelverbindung edler und nach den höchsten Gütern strebender Seelen, wie nicht leicht eine zweite gefunden werden wird. Diese stille und heilige Liebe Anders’ zu der hohen ernst-schönen Sophie war der vorhin angedeutete verschwiegene Grund, weshalb der junge Philosoph das neue Jahrhundert auf Schloß Friedrichsberg im Kreise der ihm theuersten Menschen anzutreten wünschte. Sophie theilte natürlich diesen Wunsch, und von den Jünglingen benachrichtigt, traf sie ihre Vorbereitungen.

Die drei Freunde fuhren Nachmittags in einem Schlitten hinaus, von Vater und Tochter auf’s Herzlichste empfangen.

Der Alte hatte sich für den Abend seinem gewohnten Cirkel zugesagt. Die drei Jünglinge und die Jungfrau waren allein. Sophie hatte eins der schönsten Cabinete mit der Aussicht auf Kopenhagen heizen lassen. Dort speisten sie ungemein heiter und in einer gehobenen Stimmung zusammen. Muntere Gespräche kürzten die Zeit, und als Sophie endlich mit der dampfenden Bowle hereintrat und die Gläser mit dem süßduftenden Gebräu ihrer Hand füllte, fing die Unterhaltung an, sich zu beflügeln, und die Charakter- und Temperamentseigenthümlichkeit der Versammelten trat in ihren Aeußerungen immer schärfer hervor. Die Stimmung wurde feierlich. Adams schönes Auge leuchtete von hoher Begeisterung, Hans lächelte selig, Anders erhob den edlen Platonskopf zu Sophien, die ihm mit einem innigen Blick begegnete.

„Das erste Glas,“ rief Adam, der in großen Gesellschaften so schüchterne und schweigsame Jüngling, mit sonorer Stimme und gewinnender Beredsamkeit, „gelte dem Genius des scheidenden Jahrhunderts! Die Lebensbühne, als er sie betrat, war ein dumpfer, lichtloser Kerker des Menschengeistes, in welchem jener französische König, der sich in unbewußter, die Nemesis selbst repräsentirender Selbstironie „Louis le grand“ nannte, seine Affen und hündischen Schmeichler mit despotischer Laune und Willkür schalteten und walteten, wie der Fabelgott Zeus und seine Sippschaft auf dem Olymp. Der Genius des achtzehnten Jahrhunderts hat den Kerker zerbrochen und die Ketten gesprengt, womit Selbstsucht, Herrschsucht, Pfaffentrug, Wahn und Aberglaube seine Wiege umgürtet hielten. Im hochtragischen Zorne hat er die niedergeworfenen Schranken mit Blut besprengt, aber er hat auch die besudelte Schwinge im Morgenrothe der neuen Geistesära rein gebadet. Er hat, einst ein gemißhandeltes, geknechtetes Kind, scheidend als freier Riese, eine so herrliche Saat in die Geister ausgestreut und dem Acker frische Luft, helles Sonnenlicht, freien Himmel gegeben, daß sein Nachfolger davon goldene Früchte ernten wird. – Freunde, wir sind in einer großen Zeit geboren, in einer Periode, wie die Weltgeschichte kaum noch eine gesehen, gekennzeichnet durch ein gewaltiges Ringen der Geisteskräfte nach oben. Mag der Geist, sich selbst befreiend, manchen Fehlgriff gethan haben, im Ganzen und Großen hat er mit Kraft und Würde einem erhabenen Ziele zugestrebt. Mitten in diesem großartigen Ringen und Kämpfen, das uns mit staunender Ehrfurcht erfüllt und auch unsere jugendlichen Kräfte anspornt, und beim großen Chorus der Geister zu beteiligen, mitten in diesem Brausen und Gähren tritt er ab von der Bühne und übergibt seinem lichten Nachfolger Schild und Schwert. Bringen wir dem scheidenden, so mächtig erstarkten Genius mit diesem Glase unsern Dank!“

„Gesegnet sei sein Andenken in der Weltgeschichte durch Aeonen!“ rief Hans mit leuchtenden Augen. „Wir, seine späten Söhne, wollen seiner würdig sein im Kampfe für Wahrheit und Recht!“ sagte Anders.

„Und für Licht und Liebe!“ setzte Adam hinzu.

Sie leerten die Gläser.

„Wahrlich, der nach Freiheit ringende Geist des achtzehnten Jahrhunderts hat in der zweiten Hälfte die Menschengeister wunderbar befruchtet,“ fuhr Adam fort, „aber nirgend hat er den Acker besser bestellt und nirgend ist die Frucht reicher aufgegangen, als in Deutschland, dem auch wir geistig angehören. Dort zumeist ist mancher große Wurf gethan: Faust und Guttenberg, Luther und Zwingli, Leibnitz und Kant, Goethe und Schiller haben den Diskos mit glänzendem Erfolge im großen Kampfspiele geschleudert.“

„Vergessen wir nicht die gewaltigen Wurfschützen anderer Nationen!“ fiel Hans ein. „Franklin und Galvani, Grey und Dufay, die Entdecker der Elektricität, Voltaire und Rousseau, die Förderer der Humanität. Es haben auch viele außer Deutschland große Würfe gethan.“

„Lassen wir alle Söhne des scheidenden Jahrhunderts leben,“ warf Anders ein, „welche die Arbeit des Geistes durch einen großen Wurf gefördert.“

„Zuerst die, welche das Jahrhundert mit einem großen Wurf würdig beschließen,“ nahm Adam wieder das Wort. „Es ist ein herrliches Hoffnungszeichen für das neue Jahrhundert, daß das alte mit solchen Glanzwürfen abtritt. Hier seht dieses Manuscript! Es ist eine erhabene Tragödie, eine unvergleich großartige Trilogie Schillers, die er in diesem Jahre zum würdigen Schluß des Jahrhunderts vollendet hat. Hier ist die Geschichte mit jenem philosophisch-idealen Hauch verklärt, der die wahre schöpferische Aufgabe der Poesie ist.“

„Was ist’s?“ rief Anders überrascht und griff nach dem Buche, indem er las: „Wallenstein, Tragödie von Schiller.“

„Ihr kennt die wohlthäterische Theilnahme, welche der Herzog von Augustenburg und der Graf Schimmelmann dem großen deutschen Dichter gewähren. Zum Dank für die thätige Hülfe überschickt [736] er ihnen seine neuen Werke im Manuscript. Durch die Verbindungen meines Vaters habe ich dieses Manuscript vor wenig Tagen erhalten, gelesen und zur Feier dieser Nacht bestimmt. Das ist ein Wurf, meine Freunde! Mit solchem Werke schließt man ein Jahrhundert würdig. – Und hat nicht auch Goethe den Schluß des Jahrhunderts mit „Wilhelm Meister,“ dessen Schicksal dem meinigen so ähnlich ist, und mit „Hermann und Dorothea“ goethisch-würdig gefeiert? Wahrlich auch ein großer Wurf!“

(Schluß folgt.)




Eine Fahrt im Luftschiff von Amerika nach Europa.

Schon in Nr. 41 d. Bl. ist erzählt worden, daß der Amerikaner Lowe die Absicht hat, in einem Luftballon über das Weltmeer zu schiffen und uns in Europa einen Besuch zu machen. Er ließ sich zu diesem Zweck den größten Ballon fertigen, den er „die Stadt New-York“ nannte, der einen Durchmesser von 130 Fuß, eine Höhe von 200 Fuß, ein Gewicht von 70 Centnern hat, über 400 Centner tragen und 725,000 Cubikfuß Gas fassen kann. Zu diesem Riesenballon wurden sechstausend Ellen Zeug verwendet. Um ihn her liegt ein Geflecht von Flachsstricken; von diesen hängt ein Korb herab und unter dem letztern ist noch ein Boot angebracht. Der Korb (von dessen Innern wir eine Ansicht geben) ist von spanischem Rohr gebaut und mit Leinwand überdeckt. In ihm läuft rund an den Seiten herum eine Art Sopha und darüber sind nicht nur Pflöcke u. s. w. zum Aufhängen von Instrumenten und Kleidungsstücken, sondern auch Fenster mit Glas angebracht. Geräumige Kisten enthalten die nothwendigen Lebensmittel. Selbst ein Ofen fehlt nicht darin, der aber nicht durch Kohlen oder Holz geheizt werden soll, sondern durch ungelöschten Kalk und in dem sich auch ein Kochapparat befindet. In der Mitte des Korbbodens endlich ist eine Fallthüre angebracht, durch welche man auf einer Strickleiter in das darunter hängende Boot steigen kann. Dieses ist ein neuerfundenes Rettungsboot, 30 Fuß lang, 7 Fuß breit und 4 Fuß tief, und hat eine Decke von Kautschuk, unter welche die kühnen Reisenden sich flüchten können, wenn sie ihr Boot in das Meer hinablassen müssen. Zu diesem Zweck ist es auch mit einer Ericson’schen Wärmemaschine von vier Pferdekräften versehen, die, mit feinen Kohlen und Spiritus geheizt, das Boot ziemlich rasch durch die Meerfluth treiben kann. Der Gebrauch von Feuer in Geräthen an einem Ballon ist etwas ganz Neues, da bisher kein Luftschiffer dasselbe zu benutzen wagte, weil Alle sich vor der Gefahr fürchteten, das Feuer könne sich dem Gas mittheilen und eine Explosion verursachen. Lowe hat dagegen das feste Vertrauen, ohne Gefahr Feuer in seinem Ofen und seiner Maschine führen zu können.

Lowe’s Ballon mit dem Rettungsschiff.

Die wunderlichen Anhängsel, die man an dem Boote sieht, sind erstens ein Ruder, das aus einem acht Fuß langen und vorn drei Fuß breiten dünnen Holze besteht, und zweitens ein Treibrad von 8 Fuß im Durchmesser, das zur Leitung des Ballons dienen soll. Aus Fürsorge werden die Reisenden ein zweites ähnliches, aber kleineres Rad mit sich nehmen.

Das Boot soll durch die Lebensmittel und durch Wasser – genug für zehn Personen auf sechs Monate – die nöthige Schwere erhalten. Für den Fall, daß es nöthig würde, den Ballon abzuschneiden und sich in das Boot zu begeben, ist dieses auch mit einem Anker von 100 Pfund versehen.

Eine neue Vorrichtung will man benutzen, um die verschiedenen Luftströmungen zu prüfen. Es ist dies ein sehr langer Strick mit einem Bleigewicht am Ende und mit Flaggen an verschiedenen Punkten. Der Strick wird herunterhängen und die Richtung der Fähnchen daran die Richtung der Luftströmungen angeben, so daß die [737] Reisenden diejenige Strömung zu wählen im Stande sind, welche sie für die vortheilhafteste halten.

Um mit Schiffen oder Städten in Verbindung treten zu können, wird der Ballon hundert kleine Fallschirme und eben soviel Kautschuksäcke mit Briefen und Zeitungen mit sich nehmen und dieselben auf große Schiffe und auf Städte hinablassen, über die man hinfährt. Daß es dem neuen Fahrzeuge an den verschiedensten Instrumenten nicht fehlt, versteht sich von selbst, da mehrere Naturforscher die Reise mit zu machen und allerlei Experimente anzustellen gedenken.

So viel man von den Regionen weiß, welche die kühnen Reisenden durchschiffen wollen, gibt es eine Luftströmung, die unveränderlich, in einer gewissen Höhe, von Westen nach Osten geht. Das Hauptbestreben wird also zunächst sein, diese Strömung zu erreichen und zu benutzen. Gelangen sie gleich im Anfang dahin und bleiben sie auf der ganzen Fahrt darin, so würden sie Spanien schon nach drei Tagen erreichen. Sollte die Luftströmung abweichen oder der Ballon aus derselben herausgetrieben werden, so gedenkt man entweder im Norden, in England oder Frankreich, oder im Süden, in Spanien, Portugal oder Afrika, zu landen.

Die Stube im Korbe.

Damit es der Reise auch an einer ausführlichen und getreuen Beschreibung nicht fehle, wird die Expedition ein New-Yorker Journalist begleiten, und um nichts zu versäumen, was von dem Fortgang der Reise etwa Nachricht geben kann, nimmt man auch eine Anzahl Brieftauben mit, die mit Reiseberichten von Zeit zu Zeit losgelassen werden sollen.

Es bleibt nur noch zu erwähnen, daß Carlincourt Lowe, der Unternehmer, ein junger Mann von siebenundzwanzig Jahren ist, der Chemie studirte und sehr bald der Luftschifffahrt sich widmete. Bereits hat er sechsunddreißig glückliche größere und kleinere Luftreisen gemacht, und die Vorbereitungen zu der Fahrt über den Ocean beschäftigen ihn seit länger als einem Jahre. Sein großer Ballon mit der ganzen fertigen Einrichtung ist gegenwärtig in New-York ausgestellt, die Zeit der Abfahrt aber noch nicht fest bestimmt.




Wunderdoctoren und Magnetiseure.[1]

Der Arzt Paracelsus. – Sein Mumiensaft. – Bereitung der Waffensalbe aus Menschenschädelmoos. – Wie zwei Personen mittelst eines sympathetischen Alphabets correspondiren können. – Die Besessenen. – Besessene Weiber. – Mesmer, der Begründer des thierischen Magnetismus.

Der wunderbare Einfluß der Einbildungskraft bei der Heilung von Krankheiten ist eine bekannte Sache. Eine Bewegung der Hand oder ein Blick des Auges versetzt einen schwachen und leichtgläubigen Patienten in Schweiß oder Krämpfe, und eine Brodpille bewirkt, wenn sie mit genügendem Glauben eingenommen wird, eine Cur, besser als alle Heilmittel, welche die Pharmakopöe aufzuweisen hat.

Bei der Belagerung von Breda curirte der Prinz von Oranien alle seine Soldaten, die zu Dutzenden am Scorbut starben, durch eine philanthropische Charlatanerie mit Vorwissen der Aerzte, als alle anderen Mittel sich als fruchtlos erwiesen hatten. Der Prinz schickte nämlich den Aerzten zwei oder drei kleine Phiolen, die einen Absud von Kamillen, Wermuth und Kampher enthielten, und befahl ihnen, vorzugeben, es sei eine Medicin, die mit ungeheuren Kosten und unter vielen Gefahren aus dem Orient herbeigeschafft worden, und so stark, daß zwei bis drei Tropfen davon einer ganzen Kanne Wasser unfehlbare Heilkraft mittheilten. Die Soldaten hatten Vertrauen zu ihrem Commandanten, nahmen die Medicin mit freudiger Zuversicht und genasen in kurzer Zeit. So oft sich der Prinz sehen ließ, umringten sie ihn in Gruppen von zwanzig und dreißig Mann auf einmal, lobten seine Geschicklichkeit und überhäuften ihn mit Betheuerungen ihrer Dankbarkeit.

Dergleichen Beispiele ließen sich zu Hunderten erzählen, besonders aus der Geschichte des Hexenwesens.

Zu der Zeit, als die Goldmacherei und Alchymie überhaupt allmählich in Verfall kam und sich immer mehr Stimmen dagegen zu erheben begannen, trat plötzlich ein neuer, auf die eben besprochene Macht der Einbildungskraft gegründeter Schwindel zu Tage und fand thätige Apostel unter den Alchymisten. Die meisten derselben gaben ihr altes Gewerbe auf und wurden Magnetiseure.

Diese neue Charlatanerie erschien erst in der Gestalt des mineralischen und später des animalischen Magnetismus, unter welchem letztern Namen sie sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat und noch fortwährend Tausende hinters Licht führt. Den mineralischen Magnetiseuren gebührt als den würdigen Vorgängern der Charlatane unserer Zeit zunächst unsere Aufmerksamkeit.

Die für Paracelsus in Anspruch genommene Ehre, daß er der erste der Rosenkreuzer[2] gewesen sei, ist mehrfach bestritten worden, dagegen läßt sich schwerlich bezweifeln, daß er der erste der Magnetiseure war. Paracelsus war Arzt, wie fast alle hervorragende Adepten, und behauptete, nicht blos Gold machen und Unsterblichkeit verleihen, sondern auch alle Krankheiten heilen zu können. Er war der Erste, der in dieser letztern Hinsicht dem Magnet verborgene und geheimnißvolle Kräfte zuschrieb. Anscheinend von der aufrichtigen Ueberzeugung beseelt, daß der Magnet der Stein der Weisen sei, welcher, wenn auch nicht Metalle verwandeln, doch alle menschliche Leiden lindern und den Fortschritt der Hinfälligkeit hemmen könnte, reiste er viele Jahre lang in Persien und Arabien, um den Magnetberg aufzusuchen, von welchem in orientalischen Fabeln so viel erzählt wird.

Während er als Arzt in Basel prakticirte, gab er einem seiner Geheimmittel den Namen Azoth. Es war dies ein Stein oder Krystall, der, wie Paracelsus behauptete, magnetische Eigenschaften hatte und Epilepsie, Hysterie und andere in das Gebiet der Krämpfe [738] gehörende Krankheiten heilte. Es dauerte nicht lange, so fand der Wunderarzt zahlreiche Nachahmer. Sein Ruf verbreitete sich immer weiter, und auf diese Weise ward der erste Keim zu jenem Irrglauben gelegt, der sehr bald Wurzel faßte und im Laufe der Zeit geradezu unausrottbar geworden ist. Dies muß trotz des Leugnens moderner Verehrer und Ausüber des Magnetismus als der eigentliche Ursprung desselben betrachtet werden, denn wir finden, daß schon vor Mesmer eine ununterbrochene Reihe von mineralischen Magnetiseuren aufeinander folgt, bis Mesmer selbst erschien und dem Schwindel eine neue Gestalt gab.

Paracelsus rühmte sich, daß er im Stande sei, Krankheiten mittelst des Magnets aus dem menschlichen Körper in die Erde zu verpflanzen. Er sagte, es gäbe sechs Methoden, auf welche dies bewirkt werden könne. Eine davon wird als Probe vollkommen hinreichend sein.

„Wenn Jemand,“ sagt er, „an einer örtlichen oder allgemeinen Krankheit leidet, so versuche man das folgende Mittel. Man nehme einen mit Mumiensaft getränkten und mit fetter Erde gemischten Magnet. In diese Erde säe man einige Samenkörner, die eine gewisse Gleichartigkeit mit der Krankheit haben. Dann lasse man diese gut durchgesiebte und mit Mumiensaft gemischte Erde in ein irdenes Gefäß bringen und den darein gesagten Samen täglich mit einem Absud begießen, in welchem das kranke Glied oder der Körper gewaschen worden ist. Auf diese Weise wird die Krankheit von dem menschlichen Körper auf den in der Erde befindlichen Samen übergetragen. Nachdem dies geschehen, verpflanze man den Samen aus dem irdenen Gefäß in den Boden und warte, bis er Halme oder Blätter zu treiben beginnt. So wie diese wachsen, wird die Krankheit sich vermindern und, wenn sie ihre volle Größe erreicht haben, ganz und gar verschwinden.“

Da in dem vorstehenden Recept von Mumiensaft die Rede ist, so wird es angemessen sein, zur Belehrung des Lesers einige Worte hierüber hinzuzufügen.

Es gab Mumiensäfte von verschiedenen Arten, die alle bei magnetischen Medicinen häufig in Anwendung kamen. Paracelsus zählt sechs Arten von Mumiensäften auf. Die ersten vier, welche sich blos in der Mischung, deren sich verschiedene Völker zur Bewahrung ihrer Todten bedienten, von einander unterscheiden, sind die egyptische, die arabische, die pisasphaltische und die libysche. Der fünfte, ganz besonders kräftige Mumiensaft ward aus gehängten Verbrechern bereitet, „denn bei diesen,“ sagt Paracelsus, findet eine langsame Austrocknung statt, welche die wässerige Feuchtigkeit entfernt, ohne die ölige und geistige zu zerstören, die von den Himmelskörpern genährt und durch den Impuls der himmlischen Geister fortwährend gekräftigt wird, weshalb man ihn mit Recht den himmlischen Mumiensaft nennen kann.“ – Die sechste Art Mumiensaft ward von „aus dem lebendigen Körper ausstrahlenden Atomen oder geistigen Ausflüssen“ bereitet, obschon wir in dieser Beziehung und namentlich hinsichtlich der Art und Weise, auf welche diese Atome aufgefangen worden, aus dem, was der große Wunderdoctor darüber sagt, nicht haben klug werden können.

Kircher, der bekannte gelehrte Jesuit, durch dessen Streit mit den Alchymisten viele Betrügereien derselben entlarvt wurden, glaubte dennoch fest an die medicinische Wirksamkeit des Magnets. Als zum Beispiel ein mit einem Bruche behafteter Patient bei ihm Hülfe suchte, befahl er dem Manne, einen kleinen pulverisirten Magnet zu verschlucken, während er gleichzeitig einen aus Eisenfeilspänen bereiteten Umschlag auf die äußerliche Geschwulst legte. Er erwartete, daß auf diese Weise der Magnet, wenn er inwendig an die entsprechende Stelle käme, das Eisen und mit diesem die Geschwulst nach innen ziehen und rasch und ohne Schmerzen beseitigen würde.

So wie diese neue Theorie des Magnetismus Verbreitung gewann, fand man, daß mit irgend einer metallischen Substanz beigebrachte Wunden durch den Magnet geheilt werden könnten. Im Laufe der Zeit ging dieser Wahn so weit, daß man glaubte, man brauche ein Schwert nur zu magnetisiren, um jede von diesem Schwert herrührende Verletzung zu heilen.

Dies war der Ursprung der berühmten „Waffensalbe“, welche gegen die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts so viel Aufmerksamkeit erregte. Zur Heilung aller von einer scharfen Waffe herrührenden Wunde, ausgenommen wenn das Herz, das Gehirn oder die Arterien verletzt waren, gab Paracelsus folgendes Recept:

„Man nehme Moos vom Schädel eines am Galgen hängen gebliebenen Diebes, echten Mumiensaft, noch warmes Menschenblut – von jedem eine Unze, Menschenfett zwei Unzen, Leinöl, Terpentin und armenischen Bolus – von jedem zwei Drachmen. Alles dies mische man in einer Reibschale gut durcheinander und verwahre die Salbe in einem länglichen engen Gefäß.“

Mit dieser Salbe sollte die Waffe, nachdem sie in Blut von, der Wunde getaucht worden, sorgfältig eingerieben und dann an einem kühlen Orte verwahrt werden. Mittlerweile sollte die Wunde gut mit reinem Wasser ausgewaschen, mit einem säubern weichen Stück Leinwand verbunden und einmal täglich geöffnet werden, um angesammelten Eiter oder andere Unreinigkeiten zu entfernen. Daß die Behandlung von gutem Erfolg begleitet war, läßt sich nicht bezweifeln, denn unsere geschicktesten Wundärzte befolgen noch gegenwärtig genau dieselbe Methode, blos mit dem Unterschied, daß sie das Bestreichen der Waffe mit Salbe unterlassen,

Uebrigens hielt man es nicht immer für nothwendig, die Waffensalbe anzuwenden, um Heilung einer Wunde zu bewirken. Man brauchte, glaubte man, das Schwert blos mit der Hand zu magnetisiren – es ist dies das erste Aufdämmern der Theorie von dem animalischen Magnetismus – um jeden durch diese Waffe verursachten Schmerz zu heben. Man behauptete, wenn man das Schwert mit den Fingern aufwärts striche, so hätte der Verwundete sofortige Linderung; striche man es dagegen abwärts, so empfände er unerträglichen Schmerz.

Zu derselben Zeit hegte man einen anderweiten sehr eigenthümlichen Begriff von der Macht und den Eigenschaften des Magnetismus. Man glaubte nämlich, es könne ein sympathetisches Alphabet auf das Fleisch gemacht werden, mittelst welches Alphabetes die betreffenden Personen, obschon Tausende von Meilen weit von einander entfernt, mit einander correspondiren und sich alle ihre Gedanken mit der Schnelligkeit der Willenskraft mittheilen könnten.

Zu diesem Zweck ward zwei Personen jeder ein Stück Fleisch vom Arme geschnitten und diese Stücken in noch warmem und blutendem Zustande eins gegen das andere vertauscht. Das auf diese Weise abgetrennte Stück wuchs an dem neuen Arm, auf den es gebracht worden, fest, behielt aber eine so enge Sympathie mit seinem ursprünglichen Gliede, daß sein früherer Besitzer jede Berührung empfand, welche dem früher ihm gehörigen Fleische widerfuhr. Auf diese vertauschten Fleischstücken wurden nun, nachdem sie festgewachsen waren, die Buchstaben des Alphabets tättowirt, so daß, wenn eine Mittheilung gemacht werden sollte, eine oder die andere der beiden Personen, wenn auch das unermeßliche Weltmeer zwischen ihnen wogte, blos ihren Arm mit einer magnetischen Nadel zu berühren brauchte, und der Freund wußte sofort, daß der Telegraph thätig war. Jeder Buchstabe, den er auf seinem eigenen Arme berührte, erzeugte auf der Stelle desselben Buchstabens an dem Arme seines Correspondenten einen augenblicklichen Schmerz.

Viele gelehrte Männer in verschiedenen Theilen Europa’s lenkten ihre Aufmerksamkeit auf das Studium des Magnets, denn sie glaubten, daß er wirklich in vielen Krankheiten mit guter Wirkung angewendet werden könne. Der Magnet, sagte man, zieht Eisen an; Eisen findet sich überall, und folglich steht auch Alles unter dem Einfluß des Magnetismus. Es ist blos eine Modification des allgemeinen Princips, welches unter den Menschen Eintracht oder Zwietracht erzeugt. Es ist dasselbe Agens, in welchem Sympathie, Antipathie und die Leidenschaften ihren Entstehungsgrund haben. Von den Gelehrten, welche sich durch ihren Glauben an den Magnetismus hervorthaten, verdienen Sebastian Würdig und William Maxwell besondere Erwähnung. Würdig war Professor der Medicin an der Universität Rostock und schrieb 1673 eine Abhandlung unter dem Titel „die neue Medicin der Geister“, worin der Verfasser behauptete, daß ein magnetischer Einfluß nicht blos zwischen den himmlischen und irdischen Körpern, sondern zwischen allen lebenden Wesen stattfände. Die ganze Welt, sagte er, stünde unter dem Einfluß des Magnetismus – das Leben werde durch den Magnetismus erhalten und der Tod sei die Folge des Magnetismus (!). – Maxwell, der andere Enthusiast, war ein eifriger Schüler des großen Paracelsus selbst und rühmte sich, er habe das Dunkel aufgehellt, in welches nur zu viele der wunderwirkenden Recepte dieses großen Philosophen gehüllt gewesen seien. Seine Werke wurden im Jahre 1679 zu Frankfurt gedruckt. Aus der nachfolgenden daraus entlehnten Stelle scheint hervorzugehen, daß er den [739] großen Einfluß der Einbildungskraft sowohl bei der Erzeugung als bei der Heilung von Krankheiten recht wohl kannte.

„Wenn man Wunder zu wirken wünscht,“ sagte er, „so abstrahire man von der Materialität der Wesen – man vermehre die Summe der Spiritualität in Körpern – man erwecke den Geist aus seinem Schlummer. Kann man nicht das eine oder das andere von diesen Dingen thun – kann man nicht die Idee fesseln, so kann man auch niemals etwas Gutes oder Großes zu Stande bringen.“ Und in der That, hierin liegt das ganze Geheimniß des Magnetismus und aller Täuschungen ähnlicher Art. Man steigere die Spiritualität – man rüttle den Geist aus seinem Schlummer wach, oder mit andern Worten, man wirke auf die Phantasie ein – man erwecke Glauben und blindes Vertrauen, und man kann Alles thun.

Zu Anfange des achtzehnten Jahrhunderts ward die Aufmerksamkeit Europa’s durch ein merkwürdiges Beispiel von Fanatismus beansprucht, welches die Anhänger des thierischen Magnetismus als einen Beweis für ihre Theorie geltend zu machen versucht haben. Die Convulsionäre oder Besessenen von St. Medardus, wie man sie nannte, versammelten sich in großen Massen um das Grab ihres Lieblingsheiligen, des jansenistischen Priesters Franz von Paris, und lehrten einander in Zuckungen fallen. Sie glaubten, der heilige Franz werde alle ihre Gebrechen heilen, und die Zahl hysterischer Frauen und schwachsinniger Personen aus allen Ständen, welche von nah und fern zu dem Grabmal geströmt kamen, war so groß, daß alltäglich sämmtliche dahinführende Zugänge förmlich versperrt wurden. Sich bis auf den äußersten Gipfel der Aufregung hinaufarbeitend, verfielen diese Personen eine nach der andern in Zuckungen, während einige von ihnen, die sich anscheinend noch im Besitz aller ihrer Geistesfähigkeiten befanden, sich freiwillig Qualen und Martern preisgaben, die unter gewöhnlichen Umständen hinreichend gewesen wären, ihnen das Leben zu rauben. Die Auftritte, welche hier stattfanden, waren eine Schande für die Civilisation und Religion – ein seltsames Gemisch von Obscönität, Widersinnigkeit und Aberglaube. Während Einige vor dem Schrein des heiligen Franz auf den Knieen lagen, kreischten Andere und machten den fürchterlichsten Lärm. Die Weiber strengten sich ganz besonders an. Auf der einen Seite der Capelle sah man ein paar Dutzend derselben alle in Convulsionen, während auf der andern ebenso viele, bis zu einem gewissen Grad von Wahnsinn aufgestachelt, sich die gröbsten Unanständigkeiten erlaubten. Einige von ihnen fanden ein wahnwitziges Vergnügen daran, sich schlagen und mit Füßen treten zu lassen. Eine davon war ganz besonders auf diese sonderbaren Caressen so erpicht, daß nur die empfindlichsten Hiebe sie zufriedenstellen konnten. Während ein Kerl von herkulischer Stärke mit einer schweren Eisenstange aus Leibeskräften auf sie losschlug, forderte sie ihn unaufhörlich zu erneueten Anstrengungen auf. Je heftiger er auf sie losschlug, desto besser gefiel es ihr, und sie rief fortwährend: „So ist’s recht, Bruder; so ist’s recht! O wie wohl das thut! Muth, lieber Bruder, Muth! Schlag derb, immer derber!“

Eine andere dieser Besessenen war womöglich eine noch größere Freundin vom Geschlagenwerden. Carré von Moutgéron, der dies erzählt, war nicht im Stande, sie durch sechzig Hiebe mit einem großen Schmiedehammer zufrieden zu stellen. Später bediente er sich, um einen Versuch zu machen, desselben Werkzeugs mit demselben Grade von Kraft, und es gelang ihm, mit dem fünfundzwanzigsten Hiebe ein Loch in eine steinerne Mauer zu schlagen. Ein anderes Weib, Namens Sonnet, legte sich, ohne eine Miene zu zucken, auf glühende Kohlen und erwarb sich dadurch den Beinamen des Salamanders, während Andere, die nach einem noch großartigeren Märtyrerthum trachteten, sich zu kreuzigen versuchten.

Während eines Zeitraums von sechzig oder siebzig Jahren war der Magnetismus fast einzig und allein auf Deutschland beschränkt. Männer von Verstand und Gelehrsamkeit widmeten ihre Aufmerksamkeit den Eigenschaften des Magnets, und ein gewisser Pater Hell, ein Jesuit und Professor der Astronomie an der Universität Wien, machte sich durch seine magnetischen Curen berühmt. Um das Jahr 1771 erfand er Stahlplatten von eigenthümlicher Form, die er zur Heilung verschiedener Krankheiten dem Patienten auf den bloßen Körper legte. Drei Jahre später theilte er sein System dem damals noch ganz unbekannten Anton Mesmer mit. Dieser bildete die Ideen des Pater Hell weiter aus, stellte eine neue, selbstausgearbeitete Idee darüber auf und ward auf diese Weise der Begründer des thierischen Magnetismus.

Die Feinde dieses neuen Irrglaubens haben Mesmer fast alle als einen gewissenlosen Abenteurer verschrieen, während seine Anhänger und Schüler ihn als Regenerator des Menschengeschlechts bis zum Himmel erhoben haben. Mit beinahe denselben Worten, die die Rosenkreuzer auf die Stifter ihrer Secte anwendeten, hat man ihn den Entdecker des Geheimnisses, welches den Menschen in nähere Beziehung zu seinem Schöpfer bringt, den Befreier der Seele von den erniedrigenden Fesseln des Fleisches und den Mann genannt, welcher uns in den Stand setzt, der Zeit zu trotzen und die Hemmnisse des Raums zu besiegen.

Eine sorgfältige Prüfung seiner Aussprüche und der zur Unterstützung derselben angeführten Beweise wird sehr bald zeigen, welche Meinung die richtigere ist.

Mesmer war im Mai 1733 zu Weil im Thurgau geboren und studirte Medicin auf der Universität Wien. Im Jahre 1766 promovirte er und wählte den „Einfluß der Planeten auf den menschlichen Körper“ zum Gegenstand seiner Inauguraldissertation. Da er dieses Thema ganz nach Art der alten astrologischen Aerzte behandelt hatte, so ward er deswegen, damals sowohl, als auch noch später, vielfach verspottet. Schon in jener frühen Periode seiner Thätigkeit keimten einige schwache Ideen seiner großen Theorie in seinem Geiste. In seiner Dissertation behauptete er, daß Sonne, Mond und Fixsterne gegenseitig auf einander einwirken, daß sie auf unserer Erde Ebbe und Fluth nicht blos im Meere, sondern auch in der Atmosphäre bewirken und auf gleiche Weise alle organisirten Körper durch das Medium einer subtilen beweglichen Flüssigkeit afficiren, welche das Weltall durchdringt und alle Dinge in Harmonie und Wechselwirkung bringt.

Dieser Einfluß, sagte er, werde besonders auf das Nervensystem ausgeübt und erzeuge zweierlei Zustände, welche er Intension und Remission nannte, worin er die verschiedenen, bei mehreren Krankheiten wahrnehmbaren periodischen Umwandlungen erklärt zu sehen glaubte. Als er später Pater Hell kennen lernte, ward er durch die von diesem gemachten Beobachtungen von der Wahrheit vieler seiner eigenen Ideen noch mehr überzeugt und nachdem er sich von Hell einige magnetische Platten hatte fertigen lassen, beschloß er, selbst Versuche damit anzustellen.

Der günstige Erfolg dieser Versuche setzte ihn in Erstaunen. Der Glaube der Träger der Metallplatten wirkte Wunder. Mesmer erstattete von Allem, was er vorgenommen, dem Pater Hell treulich Bericht, und Letzterer veröffentlichte diese Mittheilungen als die Resultate seiner eigenen glücklichen Erfindung, während er von Mesmer als von einem Arzte sprach, der nach seiner Anleitung curire. Mesmer nahm dies sehr übel, denn er hielt sich natürlich für eine weit wichtigere Person, als Pater Hell. Er nahm die Erfindung als seine eigene in Anspruch, beschuldigte Hell eines Vertrauensbruches und erklärte ihn für einen gemeinen Menschen, der von den Entdeckungen eines Andern Nutzen zu ziehen suche. Hell antwortete, und die Folge war ein ziemlich hitziger Streit, der mehrere Monate lang in Wien Gegenstand des Stadtgesprächs war. Hell errang zuletzt den Sieg. Mesmer ließ sich dadurch jedoch nicht entmuthigen, sondern fuhr fort, seine Ansichten zu veröffentlichen, bis er endlich auf die Theorie vom animalischen Magnetismus gerieth.

Einer seiner Patienten war eine junge Dame, welche an periodischen Convulsionen litt, die von Blutandrang nach dem Kopfe und Delirium begleitet waren. Es gelang ihm sehr bald, diese Symptome in sein System von dem Einfluß der Planeten einzupassen, und er glaubte die Perioden des Anfalls und des Rückganges voraussagen zu können. Nachdem er sich so auf ihm genügende Weise den Ursprung der Krankheit erklärt[WS 2], verfiel er auf die Idee, daß er sichere Heilung bewirken würde, wenn er sich vollständig von dem überzeugen könnte, was er schon lange geglaubt, nämlich daß zwischen den Körpern, aus welchen unser Erdball zusammengesetzt ist, eine ähnliche Wechselwirkung bestünde, wie zwischen den Himmelskörpern, vermittelst welcher Wirkung er die vorhin erwähnten periodischen Erscheinungen von Ebbe und Fluth auf künstliche Weise nachahmen könnte.

[740]

Blätter und Blüthen.

Ein Künstlerleben. Es war im Jahre 1841, als in dem ersten Hotel am Alsterbassin in Hamburg ein Gast einkehrte, der sich in dem Fremdenbuch einfach als „Schauspieler“ anführte, obwohl ihn ein ansehnliches Gefolge begleitete. Der schöne athletisch gebaute Herr mit der kräftigen Baßstimme hatte außer einem Secretär, einem Jäger, einem Bedienten und einem Kutscher noch 5 Pferde, zwei große Doggen und eine Unzahl weißer Mäuse bei sich. Sein Name mußte wohl einen guten Klang haben, denn kaum war seine Ankunft bekannt geworden, als alle Journale sein Lob verkündeten. So oft er später auch auftrat, immer wurde er mit Jubel empfangen und sein Ruhm stieg mit jedem Tage und mit ihm seine Einnahmen. Sein Tisch lag täglich voller duftender Billets, von den schönsten Frauenhänden Hamburgs geschrieben, seine Garderobe war die glänzendste, die jemals von den Bietern geblitzt, die die Welt bedeuten, und wenn er als Otto von Wittelsbach seinen Racheschwur gen Himmel donnerte, war seine Hünengestalt von einer Rüstung bedeckt, die über 600 Thaler gekostet. Alles an und um ihn strahlte von Glück!

Achtzehn Jahre später, im November dieses Jahres, starb in einem ärmlichen Zimmer der Josephvorstadt in Wien ein Mann, dem das Schicksal in seinen letzten Tagen so wenig gelassen, daß es einer Collecte unter Freunden bedurfte, um ihm die letzte Labung zu schaffen. Immerhin ein Trost für den Kranken, daß sich doch Einige fanden, die für den Bettler – bettelten. So arm war der Mann, der sonst Hunderte für das Flitterwerk eines Abends vergeudete, daß fremde Menschen für den Betrag der wenigen Breter gutsagen mußten, die seine müden Gebeine hinaustragen sollten. Es war ein armeseliges, trauriges Schauspiel! Er, der so viele prachtvolle Abgänge im Leben gehabt, verließ heute die Erdenbühne als „abgefallener“ Künstler und nur sein Engagement auf dem Friedhof war nun ein festes! Nicht ein einziger kleiner Kranz war dem geblieben, der sonst mit Kränzen bedeckt wurde, nicht ein einziger von Freundeshand das stille Haus zu schmücken, in dem er heute seine letzte Rolle gab. Ohne Applaus, ohne Glanz und Gepränge, wie er’s doch im Leben so sehr gewohnt war, trat er sein neues Engagement an.

Der stille Mann, den sie vor wenigen Tagen hinaus getragen und der schöne hochgefeierte Herr am Alsterbassin in Hamburg – sie gehörten Beide zusammen und ruhen nun als Leiche des einst vielbeneideten Schauspielers Kunst auf dem protestantischen Kirchhofe in Wien. Als man sein ärmliches Zimmer durchsuchte, fand man nur ein kleines, in Papier eingeschlagenes, sehr einfach gebundenes Buch – eine alte Ausgabe von Schillers „Räuber.“ In dem Buche lag ein schon vergilbtes Briefchen folgenden Inhalts:

„Herrn Wilh. Kunst beehre ich mich, dieses Exemplar von Schiller’s „Räuber“ aus der mir überkommenen Bibliothek meines Vaters, des Verfassers, als Denkmal dankbarer Anerkennung der gestern auf hiesigem Theater ganz ausgezeichnet, gegebenen Darstellung der Rolle des Grafen Carl von Moor mit der ganz ergebensten Bitte zu überreichen: „Sich des Sohnes des Dichters auch in der Ferne freundlichst zu erinnern.“ Trier, den 8. März 1835. Ernst v. Schiller, königlich preußischer Oberappellationsgerichtsrath in Köln.“

Das Buch war des Künstlers ganzer Nachlaß!

K.


An die Redaction der Gartenlaube. In dem Berichte Ihres Blattes über Schiller’s Begräbniß ist des verstorbenen Oberconsistorialraths Günther in einer Weise gedacht, als wenn er, seinem bekannten wohlwollenden Charakter ganz entgegen, die Sache nur eben geschäftsmäßig ohne alle Theilnahme des Herzens betrieben, namentlich die Beisetzung des Sargs im Cassengewölbe aus Standesrücksichten angeordnet hätte. Diese Insinuation zerfällt in sich selbst, wenn man bedenkt, daß überall in Deutschland der Geistliche nicht Leichenbestatter ist und lediglich die Hinterlassenen innerhalb der geschlichen Grenzen über die Art der Bestattung zu verfügen haben. Hat sich also Günther der Sache näher angenommen, so ist dies nur aus Gefälligkeit gegen die Wittwe, in ihrem Auftrage und in den Grenzen dieses Auftrags geschehen. Zu einer solchen Insinuation gegen den längst Verstorbenen war also gar kein Grund vorhanden. Aber auch das Verfahren der Wittwe erklärt sich dadurch, daß damals in Weimar die stillen nächtlichen Beerdigungen üblich waren, und daß sie die Beisetzung im Cassengewölbe nur als eine vorübergehende betrachtete, da sie Aussicht hatte, den Sarg später auf ein eignes Besitzthum der Familie übertragen zu können – eine damalige Lieblingsidee, wie ja auch Bertuch in seinem Garten eine Familiengruft erbaut und Wieland sich in Oßmannstädt ein Grab bereitet hatte.

Das ganze Gerede taucht übrigens jetzt nicht zum ersten Male auf (nur der Seitenblick auf Günther ist neu), und ist auch bereits vor neunundzwanzig Jahren durch die Schwägerin Schiller’s, Caroline v. Wolzogen, in „Schiller’s Leben aus den Erinnerungen der Familie“ etc. auf sein richtiges Maß zurückgeführt worden, wo es S. 307 im II. Theile wörtlich lautet:

„Den vielseitigen, meist aus gutmüthigem Eifer verbreiteten Gerüchten über die Aufbewahrung der irdischen Ueberreste unsers Freundes bin ich folgende Aufklärung schuldig. Der Sarg, mit Schiller’s Namen bezeichnet, ward in einem Gewölbe aufbewahrt. Auf verschiedene Anträge zu einer andern Bestattung ging meine Schwester nicht ein, weil ihr die Idee des wackern Becker und des Grafen Benzel-Sternau, ein Gut für Schiller’s Hinterlassene, das Schillershain heißen sollte, zu erkaufen, wo seine Ueberreste auf Grund und Boden der Familie ruhen sollten, zu sehr am Herzen lag. Die unglücklichen Kriegsstürme, die über das Vaterland hereinbrachen, störten die Ausführung dieses schönen Plans.“

     Jena, den 18. November 1859.

F. J. Frommann.



[Werbung wird nicht transkribiert]



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Da neuerdings an allen Orten und Enden wieder Wunderdoctoren und Magnetiseure auftauchen, die nicht nur vom „Volke“, sondern just von den Vornehmen und sogenannten „Gebildeten“ am meisten aufgesucht werden, so dürfte der obige ausführliche Artikel als ein abkühlendes Mittel wohl zur rechten Zeit kommen. Den Gläubigen dürfte es dann wie Schuppen von den Augen fallen, daß der neue Schwindel schon ein sehr alter ist.
    Die Redaction.
  2. Eine geheime Gesellschaft, welche kirchliche und alchymistische Zwecke verfolgte.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: gefuhrt
  2. Vorlage: erkärt