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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[17]

No. 2.   1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vielteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Er betet.
Erzählung von J. D. H. Temme, Verfasser der „Neuen deutschen Zeitbilder“.
(Fortsetzung.)
„Auch in Ihrer letzten Stunde?“ rief der Präsident.

Der Rath Rohner sah ihn verwundert an.

„Meine letzte Stunde ist eben meine letzte Stunde.“

„Sie treten vor Gott, mein Herr!“

Der Präsident sprach es wohl eifriger, als die steife amtliche Stellung es mit sich gebracht hätte.

Der Rath Rohner antwortete nur mit einem Hohne, der um seine Mundwinkel lächelte. Selbst der Rath, der eine glänzende Carriere machen wollte, konnte ihn ohne ein inneres Grauen nicht ansehen.

„Er hat noch nie gebetet!“ flüsterte der fromme Rath seinem Nachbar zu, und dieser fromme Rath war wahrhaftig ein braver Mensch.

Dem Rath Rohner war seine Ueberzeugung nicht zu nehmen. Auch dem frommen Rath nicht. Die beiden andern Vertreter für die Todesstrafe hatten vielleicht eben keine Ueberzeugung gehabt.

Das Todesurtheil blieb beschlossen. Das neunzehnjährige Mädchen sollte als Vatermörderin gerädert werden. Die Richter verließen doch den Gerichtssaal gebeugten Hauptes. Nur der Rath Rohner trug das Haupt hoch, stolz, fest, hart. –

Meine geneigten Leserinnen – ich wende mich nur an die von Ihnen, denen bei Hellem Geiste in der Brust ein für das Gute warmes Herz schlägt, Sie sind dann auch meine schönen Leserinnen –

Meine schönen geneigten Leserinnen, sollten Sie beim Lesen dieses Capitels sich haben langweilen können, dann bitte ich Sie, lesen Sie es – noch einmal, und machen Sie sich dabei klar, wie viel Gutes eine geistvolle und edle Frau über den Mann vermag und auch vermögen soll.

Und wozu soll Ihnen das hier klar werden?

Die Männer werden mich närrisch, die deutschen Gelehrten werden mich geradezu einen Idioten nennen. Aber ich wollte doch, in jedem Criminalgerichte säße auch eine edle, geistvolle Frau mit an dem grünen Tische. Wäre es auch nur eine einzige, hätte sie auch nur eine berathende Stimme, dürfte sie diese selbst nur durch ihre Mienen laut werden lassen, es sähe doch besser um die Strafrechtspflege in der Welt aus.

Daß es so wird, damit wird es noch lange Weile haben. Aber zum Guten auch auf ein richterliches Gemüth wirken, das können, das sollen edle Frauen zu allen Zeiten.



II.
Der Sohn des Richters.
Es war zwei Uhr Nachmittags. Der Rath Rohner war noch nicht wieder zu Hause. Die Sitzung hatte lange gedauert. Es war die Sitzung, in welcher durch den Ausschlag der Stimme des Raths das Todesurtheil gegen die Vatermörderin beschlossen war.

Aus dem Arbeitscabinet des Raths trat ein Polizeibeamter.

„Also bis drei Uhr!“ sprach er in das Zimmer zurück, indem er es verließ.

„Auch etwas später,“ bat eine Stimme im Cabinet. „Ich bitte darum. Sie wissen.“

„Ich weiß.“

Der Polizeibeamte machte die Thür hinter sich zu, und nahm den Weg zum Hause hinaus.

Es war ein ältlicher Mann, der mit ihm in dem Cabinete gesprochen hatte; eine kleine, etwas runde Gestalt, ein außerordentlich gutmüthiges, wohlwollendes Gesicht. Aber in diesem Augenblicke sah es verstört aus. Ein heftiger Schreck, Angst, Schmerz zeichnete sich darin ab. So blickte er dem Polizeibeamten nach.

„Auch das noch!“ sagte er schmerzlich für sich. „Aber konnte es anders kommen? Doch so, doch so! Ein gemeiner Betrüger! Ein Fälscher!“

Die Thür des Zimmers ging auf.

Ein junger Mann trat ein. Ein hübscher Mann im Anfange der zwanziger Jahre, etwas verlebt, etwas frivol. Er sah mit einer gewissen leisen Unruhe im Zimmer umher, dann auf den ältlichen Mann. Der alte Mann erschrak im ersten Momente, als er den jungen Mann sah, noch mehr. Aber er hatte sich schnell gefaßt.

„Wer war hier?“ fragte ihn der junge Mann.

„Hast Du ihn nicht gesehen?“ fragte der Alte zurück.

„Der Polizeicommissarius?“

„Ja.“

„Was wollte er?“

Den alten Mann übernahmen plötzlich Schmerz und Angst.

„Rudolph, Rudolph –“ brach es bittend, warnend, weinend aus ihm heraus.

Aber der junge Mann unterbrach ihn höhnisch, verächtlich, cynisch.

„Bist Du einmal wieder ein altes Weib, alter Narr? – Antworte, was wollte der Beamte?“

Der Hohn hatte den alten Mann nicht aus seinem Schmerze, aus seiner Liebe herausbringen können.

[18] „Um Gotteswillen, Rudolph, was hast Du gemacht? Diesmal?“

„Du weißt es?“

„Ich weiß Alles –“

„Und darum ein solches Gesicht?“

„Du hast ein Verbrechen begangen?“

„Höre, Alter, ein Verbrechen ist erst dann da, wenn der Strafrichter seine Strafe dafür dictirt.“

„War nicht der Polizeibeamte schon hier?“

„Ist nicht auch mein Vater da?“ „Dein Vater? Eben Dein Vater! Er ist der redlichste, ehrenhafteste Mann von der Welt.“

„Eben darum, sage ich! Er kann mich nicht verlassen, seinen einzigen Sohn nicht in’s Zuchthaus schicken, seinen eigenen Namen nicht brandmarken.“

„Aber Du wirst ihn unter die Erde bringen, Mensch.“

„Pah, er ist ein eiserner Charakter.“

„Leider, leider, und, Rudolph, wenn Du ihn falsch beurtheiltest! Gerade diesen eisernen Charakter!“

„Du bist noch da, Du mußt helfen.“

„Werde ich es können?“

„Du mußt es können.“

Er hatte das Alles kurz, befehlend, in höhnischem, frivolem Tone gesprochen. Er wollte gehen.

„Noch Eins, Rudolph,“ hielt fast flehend der Alte ihn an.

„Nun?“

„Du sagst Deiner Schwester nichts.“

„Nein!“

„Dann geh mit Gott. Ich werde versuchen, was ich kann. Möge Gott mir beistehen.“ Der junge Mann hatte die Thür schon in der Hand. Er drehete sich wieder um.

„Höre, Alter,“ sagte er mit seinem vollen Hohne, „wenn es Dein Ernst ist, bei meinem Vater etwas für mich ausrichten zu wollen, so laß Gott und seinen Beistand, aus dem Spiele. Du weißt –“

Damit ging er.

„Ja, ich weiß,“ sah der alte Mann ihm nach, schwer seufzend, und trauriger und schmerzvoller, als vorhin dem Polizeibeamten. „Ja, ich weiß! Unglückliches Haus, aus dem sie Gott verbannen wollen! – Doch,“ rief er auf einmal auffahrend, „sie ja nicht, der arme glückliche, fröhliche Engel!“

Draußen vor der Thür war eine singende Stimme laut geworden. Es war eine frische, fröhliche Mädchenstimme, die ein fröhliches Liedchen vor sich hinträllerte. Man glaubte zugleich ihren leichten Schritt zu hören, der lustig und fröhlich nach der Melodie hüpfte.

Die Thür flog auf. Die fröhliche, hüpfende Gestalt stand da, Alles Lust, Alles Leben, lachend die blühenden Wangen, die rosigen Lippen, die weißen Zähne, die blauen Augen, das ganze, schlanke, prächtige Mädchen von siebzehn Jahren. Sie blieb auf der Schwelle stehen.

„Ist der Vater noch immer nicht zurück, alter Bernhard?“ fragte sie freundlich.

„Wie Du siehst,“ sagte der alte Mann, und seine Augen wollten dem schönen, freundlichen, lustigen Kinde freundlich zulächeln, und konnten es doch nicht vor Thränen, die heftig daraus hervorzustürzen drohten, und die er mit Gewalt zurückdrängen mußte.

„Das arme Kind,“ murmelte er für sich. „Es wäre ihr Tod, wenn sie es erführe.“

Das Mädchen sah sein Sträuben und Kämpfen und Murmeln.

„Was hast Du, alter Bernhard?“

„Nichts, nichts. Wer was willst Du so dringend bei dem Vater, Toni? Du fragst schon zweimal nach ihm.“

„Was ich bei ihm will? Höre, alter Bernhard, ich habe etwas auf dem Herzen. Ich habe eine Bitte an den Vater. Du mußt mir helfen.“

„Auch Dir?“

„Auch? Wem noch mehr?“

„Nichts, nichts. Sprich, was Du auf dem Herzen hast.“

„Höre“ –

Doch bevor wir das junge, fröhliche Mädchen ihre Bitte vorbringen lassen, müssen wir dem Leser erzählen, wer sie, wer der junge Mann und wer der alte Bernhard war.

Der junge Mann war der Sohn des Raths Rohner, das junge Mädchen die Tochter des Raths. Sie waren seine einzigen Kinder. Er führte seine Haushaltung mit ihnen und mit dem alten Bernhard. Seine Frau war schon vor zwölf Jahren gestorben, als seine Tochter Antonie erst ein Kind von fünf Jahren war.

Der alte Bernhard hieß mit vollem Namen Bernhard Naumann. Er war ein Schulfreund des Raths Rohner, er war aber armer Leute Kind, und hatte Schreiber werden sollen. So waren er und sein Freund Rohner, obschon die Beiden auf der Schule eng verbunden waren, früh auseinander gekommen. Der Rath war schon Rath und seit einigen Monaten Wittwer, als sie sich nach langer Trennung wiedertrafen.

Er machte eines Tages einen seiner gewöhnlichen Spaziergänge am Ufer des Flusses, der an der Stadt floß. Als er in eine einsame Gegend des Flusses kam, sah er einen Menschen, der unter verzweiflungsvollen Gebehrden Anstalten machte, sich in das Wasser zu stürzen.

„Ein Narr der allerersten Sorte,“ sagte der Rath.

Aber er eilte doch auf den Menschen zu, als dieser gerade seinen letzten Sprung machen wollte.

„He, Narr, was ist denn das?“

Der Mensch sah ihn verwundert an.

„Rohner! – Du? – Du hast mich gerettet!“

„Bernhard! Du bist der Narr?“

„Freund, wie soll ich Dir danken? Du bist das Werkzeug Gottes –“

Der Rath runzelte die Stirn.

„Laß das und erzähle.“

„Ich war in Verzweiflung und nicht mehr bei Sinnen. Da ging ich hierher an den Fluß, um mir das Leben zu nehmen. Ich mußte sterben, so meinte ich. Und nun auf einmal sehe ich das Thörichte, das Verbrecherische meines Vorhabens ein. Du bist ein rettender Engel, den Gott mir geschickt hat.“

„Bleib mir mit solchen Narrenspossen fort,“ sagte finsterer der Rath, „und erzähle vernünftig.“

Der Gerettete erzählte nun, wie ihn immer und immer das Unglück verfolgt habe; wie er nichts als ein armer, elender Schreiber geworden sei, der des Tages nur seine wenigen Groschen habe verdienen können; wie er dennoch ein armes Mädchen, das er geliebt, geheirathet habe; wie darauf Hunger und Kummer, Sorge und Noth erst recht bei ihm eingezogen sei; wie die Kinder ihm gestorben, und zuletzt auch die Frau dahingewelkt sei. Gestern habe er sie begraben, heute habe er ihr folgen wollen.

„Ein Narr bist Du,“ wiederholte ihm der Rath. „Aber komm mit mir. Hoffentlich wirst Du wieder ein ordentlicher Mensch.“

Der Schreiber Bernhard Naumann mußte mit ihm gehen und bei ihm in seinem Hause bleiben.

Er schrieb hier für ihn, und verwahrte ihm seine Kinder, und wurde zuletzt für Alle im Hause der alte Bernhard, der Jedem im Hause Alles war, für Jeden Alles that, und Jedem unentbehrlich war. Dabei war er der Einzige im Hause, der – betete. Er war seit seiner wunderbaren Rettung durch den Rath fromm geworden.

Der Rath behielt ihn dennoch bei sich. Manche Leute konnten es nicht begreifen. Aber es war doch so. Freilich sprach der alte Bernhard nie von seiner Frömmigkeit, und ein braver, gutmüthiger, wohlwollender Mann war er geblieben.

Doch noch Ein Herz in dem Hause des Raths Rohner konnte beten. Es machte aber auch kein Aufheben davon, und es betete unter Lachen und Singen und Springen, so recht kindlich fröhlich und selig. Das war Antonie, die Tochter des Raths, der Augapfel des alten Bernhard.

„Höre,“ sagte sie zu dem alten Manne, als er sie fragte, was sie auf dem Herzen habe. „Aber versprich mir, daß Du den Vater recht sehr für mich bitten willst.“

„So sage es doch nur erst.“

„Versprichst Du?“

„Gewiß, gewiß.“

„So höre. Wir sind zu morgen zum Balle bei dem Regierungspräsidenten eingeladen!“

„Das ist es? Zum Balle?“

„Das ist es. Zum Balle.“

Er fragte mit dem Gesichte eines Leichenbitters, der brave Mensch, dem in diesem Augenblicke das Herz so doppelt schwer war.

[19] Sie rief es mit dem ganzen frohen Glücke eines Mädchens von siebzehn Jahren, die schon springen muß, wenn sie an einen Ball denkt, wenn sie nur einen Walzer auf einem alten Leierkasten spielen hört.

„Wirst Du den Vater bitten, alter Brummbär?“

„War ich Dir das je, Antonie?“

„Heute bist Du es. Aber wirst Du? Da kommt der Vater.“

„Bei Gott, da kommt er. Ja, ja, ich werde ihn bitten. Geh, geh!“

Sie hörte nur das Versprechen. Mit dem Versprechen sah und hörte sie nur Tanzen und Springen, und sie tanzte und sprang singend fort.

Der alte Mann sah seufzend hinter ihr her. Dann ging er ein paar Mal rasch durch die Stube, um gesammelt den Rath empfangen zu können.

Der Rath Rohner trat in das Cabinet. Er trug das Haupt hoch, stolz, hart, wie er die Sitzung verlassen hatte. Aber die buschigen Augenbrauen verdeckten nicht seine Augen, und man sah, wie durchdringend sie waren. Er heftete sie auf den Schreiber.

Der alte Mann hatte sich doch nicht völlig sammeln können. Der Rath bemerkte die Unruhe unter der zur Schau getragenen Unbefangenheit.

„Was ist vorgefallen?“ fragte er.

„Nichts. Nur Toni war so eben hier.“

„Was wollte sie?“

„Sie ist mit Dir zum Balle eingeladen.“

Das Gesicht des Rathes verfinsterte sich. Von dem Ausspruche eines Todesurtheiles zum Ball? Oder war es etwas Anderes?

„Du weißt, ich gehe nicht gern.“

„Auch sie weiß das.“

„Und Du solltest mich bitten?“

„Ja.“

„Nachher davon. Du hast etwas Anderes auf dem Herzen.“

„Willst Du nicht jetzt zu Mittag essen? Es ist schon spät.“

Der Rath lächelte; aber nicht höhnisch.

„Ah, alter Bursch, es muß etwas Schlimmeres sein, was Du mir mitzutheilen hast. Du willst mir den Mittag nicht verderben. Heraus damit. Dein Zweck ist doch nun einmal verfehlt, wie Du siehst.“

Der alte Schreiber besann sich. In einer Stunde hatte der Polizeibeamte wiederkommen wollen. Mehr als eine halbe Stunde, drei Viertelstunden waren seitdem verflossen.

„Er könnte doch nicht mehr mit Ruhe essen,“ sagte sich der treue Freund und Diener.

Mit einem schweren Seufzer schickte er sich an, seine Trauerbotschaft auszurichten.

„Ja, ich habe Dir nichts Angenehmes zu sagen.“

„Angenehmes und Unangenehmes, es wechselt Alles im Leben. Was hast Du?“

„Von Deinem Sohne sind schlechte Nachrichten eingelaufen.“

„Von Rudolph? Hat er sich wieder mit den Nachtwächtern geprügelt?“

„Es ist schlimmer.“

„Schlimmer, schlimmer! Er hat wohl gar die schwere Sünde begangen, einer bunten Schürze nachzulaufen, womit er nach Euch frommen Leuten hätte warten sollen bis zu den holdseligen Schürzen der ewigen Seligkeit? Eine einfältige Moral. Da lobe ich mir noch die der Türken. Sie haben wahrhaftig schöne Houris in ihrem Paradiese, aber darum führen sie doch nicht hier auf Erden ein Anachoretenleben.“

Der alte Schreiber sah traurig vor sich hin.

„Wohin müssen solche Grundsätze führen?

„Nicht in die Kirche, Alter, auch wohl nicht in den Himmel, von dem Du träumst.“

Der alte Mann konnte doch Gott nicht ganz „aus dem Spiele lassen“.

„Leider nicht,“ sagte er; „aber in’s Verderben. In’s Verderben für Dich und Deine Kinder. O, Rohner, alter, braver Freund, möchtest Du nur einmal in die Kirche gehen, möchtest Du nur ein einziges Mal beten, zu Gott beten können.“

Das Gesicht des Rathes verfinsterte sich wieder.

„Alter, Du wolltest mir von meinem Sohne erzählen. Mache es kurz. Oder vielmehr, wenn es nicht etwas ganz Besonderes ist, laß es ganz bei Seite. Ein junger Mensch kann, muß sein Leben genießen. Er kann auch dumme Streiche machen. Welcher Mensch macht sie nicht? Er muß nur keine schlechten Streiche machen, keine Gemeinheiten, die die Ehre angreifen. Die Ehre, mein Freund, sie allein ist das, was Ihr Frommen Moral, Gewissen, gar Religion nennt. Wer sie verloren hat, der ist verloren. Also, kurz oder gar nichts.“

Der alte Schreiber mußte sich ein Herz fassen.

„Wenn es denn nun die Ehre angriffe, Rohner?“

Einen Augenblick durchzuckte es den Rath heftig. Dann aber lachte er höhnisch.

„Ah, ich weiß ja, was Ihr Immoralität, Irreligion und so weiter nennt! Mein Sohn lebt; er lebt wohl auch leichtsinnig. Aber ein Ehrloser, ein gemeiner Verbrecher –! Pah, in seinen Adern fließt das Blut seines Vaters.“

„Wenn er nun doch der ehrlose, gemeine Verbrecher wäre, gar ein Heuchler dazu, der Dich zu betrügen wußte?“

Den Rath durchzuckte es noch einmal, heftiger.

„Wie, Alter?“

„Wenn er ein Betrüger, ein Fälscher wäre?“

„Bernhard Naumann!“

„Wenn der Polizeicommissarius vor einer halben Stunde hier gewesen wäre und in einer Viertelstunde zurückkehren würde, um ihn zu arretiren, zum Criminalgefängnisse abzuführen?“

„Meinen Sohn? Rudolph?“

Der feste, harte Mann war leichenblaß geworden; das stolze Haupt sank ihm herunter. Aber auch das dauerte nur einen Augenblick, dann hatte er sich wie mit wunderbarer Kraft gefaßt. Das Haupt war wieder stolz emporgerichtet; die Gesichtszüge waren wieder eisern, wie zuvor.

„Erzähle,“ sagte er ruhig. „Verschweige mir nichts.“

Der alte Schreiber erzählte:

„Der Polizeicommissarius war hier, im unmittelbaren Auftrage des Polizeipräsidenten. Rudolph, der ein ausschweifendes Leben führt, hat Schulden gemacht, viele, auf verschiedenen Seiten. Die Polizei hat es schon lange gewußt. Aber Du bist reich; Du hast Deinen Sohn so – so besonders erzogen; Du hast ihm Alles nachgesehen. Da hat auch die Polizei gemeint, sich nicht um ihn bekümmern zu müssen, so lange er nicht geradezu dem Strafgesetze entgegenhandele. Das hat er jetzt gethan. Er hat, um seine dringendsten Gläubiger befriedigen zu können, von einem ordentlichen, achtbaren Bürger Geld aufgenommen und dem Manne einen Wechsel über tausend Thaler gegeben; aber einen falschen Wechsel, von Dir auf Deinen Bankier ausgestellt und von diesem acceptirt. Deine Unterschrift, das Accept des Bankiers, das hatte er sich selbst geschrieben. Heute war der Verfalltag. Rudolph bittet den Mann noch um acht Tage Frist. Der Mann hat selbst Geld nöthig. Er geht mit dem Wechsel zu dem Bankier. Der Bankier erkennt die doppelte Fälschung. Er verweigert die Zahlung; er will erst mit Dir sprechen. Aber Du bist in der Sitzung und der Mann will nicht warten. Er ist zudem empört über das Verbrechen. Arme, geringe Leute stecke man um Kleinigkeiten in das Zuchthaus; vornehme Wüstlinge könnten ungestraft die Leute betrügen. Er eilt zum Polizeipräsidenten. Der Polizeipräsident schickt aus Rücksicht für Dich den Commissarius zuerst zu Dir. – Jetzt weißt Du Alles.“

Der Rath Rohner war ruhig, er war fest und hart geblieben; nur die Farbe seines Gesichtes war wieder blässer geworden und die Lippen hatte er fester zusammengepreßt.

„Wann wollte der Polizeibeamte zurückkehren?“ fragte er kalt.

„Die Zeit ist schon vorbei. Er kann in jeder Minute kommen.“

„Er thue, was seines Amtes ist.“

„Rohner!“ rief der alte Diener erschrocken. „Wie? Was sprichst Du?“

„Ich sage Dir, der Mann thue, was seines Amtes ist.“

„Du willst Deinen Sohn den Gerichten überliefern?“

„Ist er nicht ein Verbrecher?“

Der alte Schreiber war in eine entsetzliche Angst gerathen.

„Er ist Dein Sohn, Dein Kind. Er trägt Deinen Namen. Du kannst ihn retten. Der Polizeipräsident läßt es Dir sagen. Wenn Du den Wechsel einlösest, erfährt kein Mensch ein Wort von der Sache. Es ist ein Mißverständniß gewesen.“

„Ich bin kein Gehülfe eines Betrügers und Fälschers.“

„Dein Sohn bittet Dich. Er war bei mir.“

[20] „Durch Bitten wird das Recht nicht versöhnt, die verlorene Ehre nicht wieder hergestellt.“

„Ich beschwöre Dich, Rohner. Du hast mich gerettet! Um jener Stunde willen –“

„Gib Dir keine Mühe weiter.“

„Sei menschlich, Rohner!“

„Schweig.“

„Denke an Gott!“

„Schweig, sage ich Dir.“

„An Dein Kind, an Deine brave, unschuldige, fröhliche Antonie! Willst Du auch ihr Glück vergiften? Ihr Leben, ihr ganzes Leben vernichten? Soll sie die Schwester eines Zuchthaussträflings sein? Wird sie je einem Menschen in die Augen sehen können? Wird ihr je ein Mann die Hand reichen? Willst Du wirklich ihr Glück, ihr Leben vernichten?“

Der Rath ging doch mit größeren, unruhigeren Schritten in dem Zimmer umher. Er liebte das fröhliche, unschuldige, brave Kind; er liebte sie über Alles. Aber der feste, der harte Mann konnte nicht anders.

„Nein,“ sagte er.

Die Thür des Zimmers wurde aufgerissen. Der Sohn des Rathes stürzte herein. Er hatte das Gespräch der Beiden behorcht. Sein Gesicht trug nicht mehr die Züge des Hochmuthes, der Frivolität; die Angst hatte es beinahe entstellt.

„Vater, wenn auch ich Dich bitte, wenn ich Dir Besserung verspreche –“

Der Zorn färbte das Gesicht des Vaters Hochroth.

„Elender, Du wagst es, Dich vor mir blicken zu lassen?“

Der Sohn warf sich zu seinen Füßen nieder.

„Vater, ich bin Dein Kind!“

Der Vater stieß ihn von sich.

„Du bist ein elender, feiger Schwächling. Du bist mein Sohn nicht mehr. In das Zuchthaus mit Dir!“

In der Thür erschien der Polizeicommissarius.

„Mein Herr,“ sagte der Rath, „verhaften Sie den Fälscher.“

Er sprach es kalt. Dann wandte er sich wieder an den alten Schreiber.

„Ich gehe mit Toni zum Balle. Du sorgst, daß sie nichts erfährt. – Komm zum Essen.“

„Er kann nicht beten,“ jammerte der fromme Schreiber, und auch dieser fromme Schreiber war ein so braver Mensch.

III.
Die Tochter des Richters.

Am folgenden Tage war der Ball bei dem Regierungspräsidenten, oder eigentlich der Präsidentin.

Der Rath Rohner fuhr mit seiner Tochter Antonie hin. Das Kind strahlte in ihrem Glücke und in ihrer Schönheit. Auch ihrer Schönheit war sie sich bewußt. Welches schöne Mädchen wäre es nicht! Und sie muß es sein.

Es war ihr erster Ball. Welch ein Glück ist der erste Ball für ein schönes und fröhliches Mädchen von siebzehn Jahren, das schon springen muß, wenn sie nur das Wort Ball hört, schon tanzen, wenn ein alter Leierkasten einen Walzer spielt!

Sie träumte nichts als Tanzlust. Wie sie in dem hellen Saale dahin fliegen werde, in den glänzenden Reihen, an dem Arme eines schmucken Cavaliers, leicht, glühend vor Tanzeslust, wie sie, Beide verfolgt in allen ihren Bewegungen, von entzückten Augen, die sich nicht von ihnen trennen konnten.

„Welch ein reizendes Paar!“ hörte sie um sich her flüstern.

„Wie sie fliegen! Man sieht sie den Boden nicht berühren. Wie er schön ist und glücklich an ihrer Seite! Und auch ihr klopft das Herz an seinem Arme. Und auch sie ist schön. Und welche reizende Toilette sie gemacht hat!“ Unter der Bewunderung Aller endigt der Tanz. Und nun stürzen die schönsten, die elegantesten Tänzer auf sie zu, um sich den nächsten Tanz von ihr zu erbitten. Und sie kann sich nicht genug versagen. Sie ist für den ganzen Abend engagirt, für alle Tänze, und wenn deren noch einmal so viele wären.

So träumte sie, und sie sprang hoch auf in dem Wagen, in dem sie träumte, voll Glück, voll Lust, voll Wonne.

Der erste Ball, die erste Liebe, es sind die süßesten Träume eines jungen Mädchenherzens. Wie oft endet der Traum mit Schrecken!

Von ihrem Bruder wußte sie nichts. Sie hatte ihn nicht gesehen. Sie sah ihn oft Tage, Wochen lang nicht.

Ihr Vater hatte nicht die geringste Veränderung gezeigt. Das stillere Wesen des alten Bernhard war in ihrem Glücke ihr nicht aufgefallen. Wie viele Mühe gab sich der brave alte Mann auch, daß es ihr nicht auffallen solle!

Gebe Gott, daß sie es nie erfahre! Wer sollte auch so boshaft sein, das Herz des fröhlichen Kindes mit der Nachricht zu vergiften? –

Sie erschien auf dem Balle. Sie war die schönste, die frischeste, die reizendste Blume des Balles. Wer das unschuldige, fröhliche, der vollen Freude und Lust voll sich hingebende, im vollen Glücke glänzende Kind ansah, wie Alles an ihr, Alles in ihr lachte, dem lachte selbst das Her; vor Freude und Lust. Und sie war auch die beste, die leichteste, die anmuthigste Tänzerin. Wer sie tanzen sah, wurde von Bewunderung hingerissen, die entzückten Augen konnten sich nicht von ihr trennen. Wer mit ihr tanzte, konnte sie nicht aus seinen Armen lassen.

Auch auf dem Balle wußte man von ihrem Bruder nichts, vielleicht nur mit Ausnahme eines oder zweier tief verschwiegener Beamten. Die Betrogenen hatten um des Vaters willen nichts veröffentlicht. Die Polizei- und Gerichtsbeamten hatten, dem beamtlich hochgestellten Vater gegenüber, ihre Amtsverschwiegenheit strenge beobachtet. Zu jener Zeit erfuhr man von einem Verbrecher nur – durch Verletzung der Amtsverschwiegenheit.

Wie die jungen Herren, rissen sich auch die alten Damen um das Kind. Einer alten Generalin war sie ihr süßer Engel geworden.

„Heute bin ich Ihre Mutter, mein liebes Kind. Keine andere Mutter auf diesem Balle wird glücklicher sein, als ich.“

Sogar die jungen Mädchen, wenn sie auch eifersüchtig sein mochten, konnten dem fröhlichen Kinde nicht gram werden. Sie suchten sie auf, sie umringten sie, sie promenirten Arm in Arm mit ihr in den Pausen, sie wurden fröhlich mit ihr.

Es gibt in der Welt keinen wunderbareren Zauber, als den eines recht unschuldigen und fröhlichen Mädchenherzens, wenn es das Maß der Grazien einhält. Und dieser Zauber ist ein so seltener in den Kreisen der höhern Gesellschaft.

Selbst, ja selbst ihr Vater konnte sich ihm nicht entziehen. Er hatte einen Sohn verloren. Er hatte ihn selbst von sich gestoßen. Der Verlust, diese Art des Verlustes hatte sein Herz noch mehr verhärtet, noch fester verschlossen. Die Liebe zu der Tochter, dem Kinde, das er über Alles liebte, hatte es ihm nicht erweichen, nicht öffnen können. Wo er stand, stand er mit einem Vernichtungs-, einem Verdammungsfluche gegen Alles auf den Lippen. Aber er hatte die auf seine Ehre eifersüchtige Gewalt über sich, den Fluch auf den fester zusammengepreßten Lippen zurückzuhalten, und äußerlich nur eine um so eisigere Kälte zu zeigen, je ingrimmiger der Zorn in ihm brannte. Der Anblick der Tochter, das helle, fröhliche Glück des schönen Mädchens, die Bewunderung, die sie auf allen Seiten erregte, konnten doch zuletzt den Zorn in seinem Innern mehr und mehr beschwichtigen, selbst die harte Kruste um sein Herz weicher machen. Die Lippen öffneten sich manchmal zu einem leisen Einathmen von augenblicklicher Befriedigung, unter den finsteren Augenbrauen glänzte Secunden lang ein stilles Behagen hervor.

Aber Jemand war in der Gesellschaft, auf den jener Zauber der natürlichen, fröhlichen Unschuld des jungen Mädchenherzens seine Wirkung verfehlte.

Es war eine schöne, stolze, vornehme junge Dame. Sie war gewohnt, in den Gesellschaften unter den jungen Damen die gefeiertste zu sein. Sie machte Anspruch darauf.

Sie war es an dem heutigen Abende nicht. Ein Kind von kaum siebzehn Jahren, die Tochter eines bürgerlichen Beamten, anmuthig, aber einfach gekleidet, stellte sie heute in den Schatten, sie, die stolze, stets triumphirende Schönheit, die Tochter eines der ersten Grafenhäuser des Landes, in ihrer reichen Toilette, in ihrem glänzenden Schmucke von Perlen und Juwelen. Ihre Anbeter vernachlässigten sie. Die stolze Gräfin wurde gelb, biß die Lippen zusammen, rümpfte höhnisch die Nase, medisirte boshaft.

(Fortsetzung folgt.)
[21]
Wanderungen im südlichen Rußland.
Von Dr. Wilhelm Hamm.
1. Mitten in den Heuschrecken.
(Schluß.)


Der unermeßliche Schaden, welchen die Heuschrecken dem Ackerland und dem ganzen Pflanzenwachsthum zufügen, gewinnt an Umfang und Bedeutung, wenn man in Betracht zieht, daß die Wanderschwärme noch lange nicht so viel Unheil anzurichten im Stande sind, wie die junge Brut. Diese ist am gefürchtetsten; jene fallen blos Nachmittags, vom raschen Flug ermüdet, in bestimmtem Umkreis nieder, und wenn auch in diesem meist nicht das kleinste grüne Blatt oder Hälmchen ihren gewaltigen Freßwerkzeugen entgeht, so erheben sie sich doch am nächsten Morgen wieder, und die Strecke bis zum neuen Rastort bleibt verschont, d. h. wenn nicht, wie häufig, andere Schwärme nachfolgen. Die Wanderzeit der Heuschrecken dauert in Neurußland von Ende Juli bis in den September; als gewöhnlichen Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Züge nennt man den 20. Juli. Wahrscheinlich dienen ihre Wanderungen vorzugsweise zur Aufsuchung geeigneter Brutplätze, solcher Orte, wo, wie der Instinct ihnen sagt, die Eier Schutz vor dem Winterfrost, dann Sonnenwärme zur Entwicklung und die Larven endlich hinreichende Nahrung finden. Sie gleichen in dieser Hinsicht den Fischen. Als das wahre Vaterland der Heuschrecken gilt im ganzen südlichen Rußland Bessarabien, denn dort sind ihre ausgedehntesten Brutregionen; nichtsdestoweniger kommen alle Züge dahin von Osten; jene Provinz und die Krim sind daher nur als Zwischenstationen oder Colonien zu betrachten.

Weibliche Heuschrecke [Acridium tartaricum].
      Männliche Heuschrecke.   Junge Heuschrecke nach der zweiten Häutung.

Die Zeit des Eierlegens fällt in das Ende des August und in den Anfang des September; mittelst seines Legestachels versenkt das Weibchen, welches einen viel größeren Körper hat, wie das Männchen, die Eier einen bis anderthalb Zoll tief in die Bodenkrume. Dieselben haben die Gestalt von langen Gerstenkörnern, oben abgerundet, unten etwas spitz gezogen, ihre Farbe ist weißlich oder graugelb, sie hängen in kleinen Klumpen zusammen, zerdrückt man sie, so fließt ein gelblicher Milchsaft aus. Gegen die Kälte sind sie ziemlich unempfindlich. Der Intendant Strapanski in Baratofka hatte im vergangenen Winter ein großes Einmacheglas, mit Eiern und Erde angefüllt, fortwährend im Freien stehen lassen, und der Frost war mehrmals auf –21° R. gewachsen; nichtsdestoweniger krochen im Frühjahr sämmtliche Eier aus, bis auf diejenigen, welche dicht am Umfange des Gefäßes kleben geblieben waren. Sobald das Auskriechen der Eier beginnt, wimmelt in wenigen Tagen das Feld, die ganze Steppe von den ungeflügelten Larven, deren Masse jeden Begriff übersteigt. Will der Landmann etwas thun zur theilweisen Rettung seiner Saaten, so ist dann der rechte Zeitpunkt da. Im Jahr 1854 waren ungeheure Züge aus Osten gekommen, im darauf folgenden Frühjahre zeigten sich die ersten Larven über der Erde Anfangs Mai, am 12. Mai war schon das ganze Land der deutschen Colonien meilenweit von zahllosen Schichten der Larven überzogen, und wenig wurde gerettet. Im Jahr 1856 erschien die erste Brut am 7. Mai, am 21. war das Auskriechen beendet. Die Dauer des letzteren und die Entwickelung der Larven hängt von der Witterung ab; je wärmer diese, um so früher und rascher erfolgt sie. Treten, wie häufig, während derselben kühle Nächte ein, so verzögert sie sich auffallend und dies begünstigt die Möglichkeit ihrer theilweisen Vernichtung, indem dadurch Zeit zu allen nothwendigen Vorkehrungen gewonnen wird. Die Larven haben, sobald sie dem Ei entschlüpft sind, schon ganz die Gestalt der ausgewachsenen Heuschrecke, nur fehlen ihnen die Flügel. Diese erhalten sie erst nach der zweiten Häutung, welche gewöhnlich in der letzten Hälfte des Juni erfolgt; eine unserer Abbildungen zeigt das junge Thier in diesen Stadium. Die Flügel aber entfalten sich darnach vollständig erst in vierzehn Tagen, dann erhebt sich auf einmal die ganze Genossenschaft wie auf ein gegebenes Signal, und als schaarten sich die Heuschrecken um einen Führer oder eine Standarte, entfliegen sie in dichtgeschlossenem Zuge nach Westen, in die Donaufürstenthümer, nach Ungarn und weiter.

Der Heuschreckenfänger.

Der russische Bauer betrachtet ihre Plage als eine Strafe des zürnenden Gottes, und thut nichts, um sie von seinen Feldern zu vertilgen, höchstens daß er sie von dem eigenen Acker zu verjagen sich müht, auf den des Nachbars. Anders aber der Deutsche. In Neurußland leben gegen 170,000 deutsche Colonisten, freie Bauern, die auf eigener Scholle sitzen, deutsche Sprache, deutsche Sitte treulich bewahren, und deutsche Cultur getragen haben in die unwirthbare Steppe; vielleicht daß wie ein andermal den werthen Lesern von diesem interessanten Völkchen aus eigener Anschauung erzählen. Diese legen nicht die Hände in den Schooß und warten auf Wunder, wenn der Feind über sie kommt, wie ein gewappneter Mann; ihre schwieligen, in rastloser Arbeit gestählten Fäuste sind gewohnt, den Schlag mit Gegenschlag zu erwidern; rüstig schreiten sie zur That nach weisem Rath, und darum haben sie auch schon seit einem halben Jahrhundert Unglaubliches [22] geleistet, selbst gegen die für unüberwindlich gehaltenen Heuschrecken. Wenn die deutschen Colonisten fortfahren, wie sie rühmlich begonnen haben, so wird und muß diese furchtbare Geißel in nicht zu entfernter Zeit aufhören zu sein, mindestens für Europa.

Die gewöhnlichen Mittel, – Auftreiben von Schweineheerden, von Pferden, Anwendung von Walzen, Ziehen tiefer Gräben, worein die Heuschrecken gekehrt und mit Erde bedeckt werden, Räucherungen, Strohfeuer, selbst Salven mit Kanonen in die Schwärme – helfen alle entweder nur wenig, oder sind doch auf bebauten Feldern nicht anwendbar, weil hier das Mittel so schlimm ist, wie das Uebel. Die deutschen Colonisten sannen daher auf andere Verfahrungsweisen, und es ist ihnen gelungen, deren mehrere höchst wirksame zu erfinden. Der günstigste Zeitpunkt zur Vernichtung des Ungeziefers ist unmittelbar vor oder nach dessen erster Häutung. Sobald die letztere vorüber ist, übertrifft die Gier und der Heißhunger der Larven jede Beschreibung; Alles, was grün ist, fällt ihrem Zahn, Gras und Getreide, Disteln und Dornen, das Laub und die junge Rinde der Bäume, das Heu der Schober, selbst Gegenstände, welche die ausgewachsenen Heuschrecken verschmähen, Kartoffeln, Bohnen, Gewürzkräuter, Zwiebeln; häufig hat man sogar gesehen, daß sie Leinwand, Kleidungsstücke, Ledergeschirre in wenigen Augenblicken vertilgten, wenn ihr Weg darüber führte. Denn weil ihre Gefräßigkeit in fabelhafter Schnelle das Land jeder Vegetation entkleidet, so sind sie in beständiger Bewegung; der Flügel noch entbehrend, springen sie mit merkwürdiger Kraft und Ausdauer, immer eine über die andere hinweg, unaufhaltsam – kein Hinderniß ist ihnen zu groß, sie schwimmen über die Flüsse, kriechen über Häuser, ja sie sollen selbst das vor ihnen entzündete Feuer nicht scheuen, und es durch Millionen ihrer Leiber dämpfen. Das Schauspiel eines solchen wandernden Larvenschwarmes soll aber noch viel grauenhafter und wunderbarer sein, wie das der in Wolken zusammengerotteten Flüge.

Sobald die drohende Gefahr im Bezirk irgend einer deutschen Colonie sich zeigt, so ruft der Ortsaufseher (Oberschulz oder Schulz) zu den Waffen, was Hände und Beine hat; genügt die disponible Einwohnerschaft seinem Ermessen nach nicht zur erfolgreichen Bekämpfung des Feindes, so werden leichtfüßige Boten in die benachbarten Colonieen gesandt um Hülfe, und dieser entschlägt sich Niemand, sei er Mennonit oder Hebräer, Franzose oder Bulgar. Sobald die Heuschrecken sich regen, um zu wandern, so wird ein großer Kreis, dessen Mittelpunkt ein rund ausgeworfener Graben bildet, mit Menschen um die gefährdetste Stelle gezogen, und es beginnt ein Kesseltreiben. So geschlossen als möglich, bewehrt mit Lappen, Säcken, Besen, womit sie die Insecten zur Mitte scheuchen, wenn sie durchbrechen wollen, rücken die Leute gegen das Centrum vor, nach welchem sie die geängstigten Thiere treiben, bis dieselben dicht an, zum Theil schon in den Graben genöthigt sind. Nach beglaubigten amtlichen Nachrichten ist alsdann nicht selten der Haufen der Larven bei zwölf Fuß Durchmesser vier bis fünf Fuß hoch. Alsdann springt rasch ein Dutzend hinter den Treibern gehender Männer hinzu, die mit Schaufeln und Spaten das scheußliche Gewimmel in die Grube betten, während die Umstehenden Sorge tragen, daß so wenig als möglich davon entrinnt. Junger Saat schadet dies Verfahren wenig. Auf dem Brachland stellt man die Kreise aus Pferdegespannen mit schweren Dornschleifen zusammen, von welchen immer eine bestimmte Anzahl austritt, je näher man dem Mittelpunkte rückt. Noch wirksamer soll eine von dem Mennonitencolonisten Johann Wedel in Waldheim erfundene Maschine sein, eine Art großen Rechens, statt der Zinken mit rückwärts stehenden, breiten, federnden Holzschienen garnirt und von einem Pferde gezogen. Dem Berichte des Ortsvorstehers Utz in Ephenhar, Mennonitencolonie der Molotschna, an die Präsidentschaft der deutschen Colonien über den Erfolg des beschriebenen Verfahrens im Jahre 1857 entnehme ich folgende wörtliche Angaben:

„Wird die richtige Zeit beobachtet, so ist die Vertilgung so massenhaft, daß, wenn die Heuschrecken einmal halb gewachsen sind, mit jedem Kreise mindestens 40 Tschetwert (160 pr. Scheffel), bei vier Treiben je am Morgen und Abend also mehr als täglich 320 Tschetwert getödtet werden. (Es entspricht dies, wie weiter unten nachgewiesen werden wird, der ungeheuren Zahl von 150 Millionen Heuschrecken!) Nach der Mitte des Kreises zu entsteht dann eine Schmiere, als ob man 20 bis 30 der größten Theerfässer da ausgegossen hätte, und dies Ergebniß wird erreicht durch 24 Menschen und 30 Paar Ochsen oder Pferde im Wechsel, oder blos mit 70 bis 80 Menschen. Da aber unvermeidlich dabei immer einige Tschetwert durchkommen, namentlich vom Scheintod wieder erwachen, so wird die kleine Mühe nach ein oder zwei Tagen wiederholt, und in einer Stunde ist die Brut bis auf die Letzten vertilgt.“

Die beschriebene Vernichtungsmethode läßt sich indessen keineswegs überall ausführen, einer schon hoch emporgeschossenen Vegetation bringt sie stets Nachtheile, schon durch das nothwendige Auswerfen der Gräben, und außerdem erfordert sie nicht unbedeutende Kräfte. Daher bedient man sich neuerdings in sämmtlichen deutschen Colonieen zu dem gedachten Zwecke vorzugsweise des „Heuschreckenfängers“. Dieses Instrument, erfunden von dem verstorbenen Colonisten Bechtold in Freudenthal, einem wahren Genie, dessen viele Erfindungen sein Andenken überdauern werden, besteht aus einem breiten Leinwandsack, vorn in einen zum Zuklappen eingerichteten viereckigen Holzrahmen gespannt, hinten mit einer Handhabe zur Führung versehen und auf zwei seitwärts angebrachten, kleinen Blockrädern laufend; die beigegebene Abbildung versinnlicht genau den einfachen Mechanismus. Das Instrument wird von einem Manne geführt; er beginnt seine Arbeit mit Tagesanbruch und fährt damit fort bis sieben Uhr Morgens, dann hört er auf. Der Fänger wird dabei so geführt, daß der untere Rahmenbalken dicht an dem Boden liegt, indem die Handhabe hoch gerichtet, gewöhnlich auf eine Schulter gelegt wird; alsdann beginnt der Mann, sein Geräth immer vor sich herschiebend, zu laufen, zuerst eine Strecke vorwärts, dann im Ring zurück zu der Anlaufstelle; hier wird die Stange niedergelassen, der untere Rahmentheil hebt sich und schließt die Oeffnung des mit Heuschrecken angefüllten Inneren. Darauf werden die Gefangenen in Säcke oder Kufen gefüllt und die Fahrt beginnt auf’s Neue. Es ist begreiflich, daß hierbei den Saaten weit weniger Abbruch geschieht, wie bei dem Kesseltreiben mit vielen Menschen; die von dem Instrumente niedergebeugten Halme richten sich fast sämmtlich wieder auf.

Um einen Begriff von dessen Wirksamkeit zu geben, sei Nachstehendes aus dem Berichte des Liebenthaler Bezirksamtes an das Fürsorge-Comité angeführt:

„Vom 4. bis 18. Juni 1857 sind auf diese Weise an Heuschrecken eingefangen und getödtet worden durch die Gemeinden: Großliebenthal 1604 Tschetweriks (der achte Theil eines Tschetwert), Kleinliebenthal 1050 ½, Alexanderhilf 1610, Josephsthal 208, Petersthal 548 ½, Freudenthal 1076, Franzfeld 600, Neuburg 2550, Marienthal 1502 ½, in Summa 10,749 ½ Tschetweriks. Es wurden in dem 64sten Theile eines Tschetweriks 7313 Heuschrecken gezählt, der Tschetwerik faßt demnach 468,000 Stück; folglich wären nach diesem Maßstabe von den genannten wenigen Gemeinden über fünftausend Millionen Heuschrecken mittelst des Fängers vertilgt worden. In den bessarabischen Bulgaren-Colonieen wurden außerdem eingefangen: In Komrat vom 25. Mai bis 15. Juni 3256 Tschetweriks, in Kirsow vom 1. bis 8. Juni 38 Tschetweriks, in Kolowstschi vom 1. bis 10. Juni 2500 Tschetweriks, welche ebenfalls die ungeheure Zahl von 2,711,592,000 Heuschrecken repräsentiren. Die nach solcher Razzia nur noch vereinzelt übrig bleibenden Insecten sind durch Menschenkräfte nicht zu vertilgen, finden aber eben so gefährliche, natürliche Feinde in den Krähen und Stahren, die sich zu ihrer Ernte stets einstellen und bald vollends aufräumen.“

Noch einmal begegneten mir einzelne Exemplare der tartarischen Wanderheuschrecke Ende Septembers, und zwar im Schlosse der sieben Thürme am Bosporus. Aber die wenigen Tausende, die da ziemlich harmlos umherschwirrten, waren sicher nur Verirrte oder Invaliden größerer Züge. Die Zeitungen haben übrigens berichtet, daß einzelne Schwärme bis in die schweizer Cantone Wallis, Genf und Waadt vorgedrungen seien; Beweis von der Flugkraft dieser Insecten, denn sie mußten die höchsten Gebirge Europa’s übersteigen. Unter den vielen merkwürdigen Erinnerungen meiner Wanderschaft im Südosten nimmt jedenfalls diejenige nicht die letzte Stelle ein an den die Augenblicke „mitten in den Heuschrecken“!

[23]
Ein Besuch bei Kane, dem Nordpolfahrer.
Von J. W. v. M.

Mein Aufenthalt in Philadelphia, der Durchforschung der in ihrer Art einzigen zoologischen Sammlung und dem Besuche der Akademie gewidmet, nahte seinem Ende. – Entzückt von der Reichhaltigkeit dieser Schätze, zu welchen mir die Akademie mit zuvorkommender Güte den ungehindertsten Zutritt gestattet hatte, wollte ich die letzten Augenblicke zu einem Ausfluge in die Umgebung der Stadt benutzen, der ich so viel des Schönen und Belehrenden verdankte. Noch war ich ungewiß, nach welcher Richtung hin ich mich wenden sollte, als die Ankunft eines Briefes rasch meine Zweifel abschnitt. – Kane, der unerschrockene Nordpolfahrer, der die amerikanische Expedition zur Aufsuchung des Sir John Franklin im Polarmeere commandirt hatte, an dessen Namen sich die herrlichste Idee heldenherziger Mannheit knüpft, lud mich ein, ihn auf seinem Landsitze Furlrock zu besuchen.

Im Nu war ich an einem der Einsteigeplätze der Eisenbahn, welche die Stadt nach allen Richtungen durchzieht und sie mit der Umgegend verbindet; – nach wenigen Augenblicken hatte ich meinen Platz und fort ging’s durch die langen Straßen, als wenn keine Seele in ihnen athmete, während doch Tausende von Menschen zu beiden Seiten sich drängten und rastlos durcheinander trieben.

Ich hatte mich in einen Gepäckwagen geflüchtet und ungestört dem Genusse einer guten Cigarre hingegeben, als plötzlich der mehrmalige schrille Pfiff der Locomotive meine Meditation unterbrach. Schnell bog ich mich aus meinem Wagen, welcher der vorderste war, und sah mit Entsetzen die Veranlassung des gegebenen Signales. – Vor uns auf den Schienen lag ein Neger und schlief, trotz dem Mark und Bein durchdringenden Pfiff, der einen Todten hätte erwecken können. Die Unmöglichkeit, den im vollen Laufe dahinschießenden Zug aufzuhalten, lag klar am Tage, noch zwei Secunden – und der Afrikaner wurde von der Sicherheitsvorrichtung, die sich vorn an der Locomotive befindet, aufgehoben und dreißig Schritte weit weggeschleudert. – Als man den Zug zum Stillstand gebracht und den armen Neger herbeigetragen hatte, konnte ich mich schaudernd überzeugen, daß ihm kein Knochen im Leibe ganz geblieben war. „’s ist nur ein Neger,“ lautete der fast einstimmige Ausspruch der anwesenden Amerikaner, und ich begann, den Armen glücklich zu preisen, der schlafend dem Tode anheimgefallen war, in dessen dunklem Reich der schreiende Contrast der Farben der Oberwelt sich auflöst.

Nach einer halben Stunde hielt der Zug am Saume eines Waldes; ein breiter Weg schlängelte sich anmuthig durch das Gehölz: er führte mich an ein reizend gelegenes Landhaus, die Wohnung der Familie Kane. Die wundervolle Lage dieses Landsitzes ist mir das Ideal eines Ruheplatzes für einen Reisenden, der im Schooße seiner Familie Erholung sucht von unzähligen Anstrengungen und Gefahren und die freie Muße, seine Erlebnisse niederzuschreiben.

Mit der Liebenswürdigkeit und Herzlichkeit, die man bei den vollendet gebildeten Männern aller Nationen findet, empfing mich der jugendliche, berühmte und bescheidene Reisende. Ein kurzes Gespräch reichte hin zum innigen Verständniß unserer Gefühle und Ideen, ein warmer Händedruck besiegelte den neuen Freundschaftsbund zwischen dem kühnen Nordpolfahrer und mir, den der unwiderstehliche Wandertrieb aus Afrika’s gluthversengten Wüsten hierhergeführt hatte: wir wurden Brüder. – Nach dem Mahle, das wir im Kreise der liebenswürdigen Familie genossen, ergingen wir uns im erfrischenden Schatten der ehrwürdigen hundertjährigen Bäume, welche die Villa umgeben, und deren schweigendes Halbdunkel den schlummernden Gedanken aus tiefstem Herzensgrunde auf die Lippen lockt, von wo er wie ein kastalischer Quell die silberklare Fluth der reichsten, vollsten Gefühle einer Menschenbrust in wechselnder Unterhaltung ergießt. – Wie viele trauervolle Erinnerungen und schreckliche Ereignisse knüpfen sich an diesen Theil der Erde, von der Zeit an, wo der rothe Indianer, der ursprüngliche Bewohner dieser herrlichen Gegenden, von dem Bleichgesichte aus der Ruhe aufgeschreckt, den ungleichen Kampf gegen den Eindringling begann, dessen Ueberlegenheit ihn aus seinen väterlichen Wohnsitzen in die Wüsten des Westens oder in die eisigen Steppen des Nordens trieb, wo er jetzt gehetzt, wie das Wild der Wälder, klagend irrt, indessen der Usurpator sein Haus auf die Stelle der verlassenen Wigwams baut! –

Indem wir so vereinigt des Umschwungs der Zeiten gedachten, waren wir über eine kunstlose Brücke gekommen, welche die hohen grünen Ufer eines klaren, durchsichtigen Baches vereinte, und hatten die Höhe erklommen, von welcher diese Quelle in schäumenden Cascaden herniederfällt und mit feinem Sprühregen die grüne Blättermasse der ehrwürdigen Ueberreste des einstigen Urwaldes befeuchtet. Auf der entgegengesetzten Seite begrenzt ein ungeheuerer Granitblock die Aussicht.

„Eines Morgens,“ erzählte Kane, „kamen unsere Arbeiter entsetzt und mit dem Geschrei zu mir, daß die Besitzung von einer Indianerhorde überfallen sei, welche sich in der Nähe des großen Granitfelsens gelagert habe und alle Anstalten treffe, daselbst ihren dauernden Wohnsitz aufzuschlagen.“

Woher kamen diese Indianer? Was hatte sie vielleicht aus dem fernen Canada herbeigeführt in die Mitte der Civilisation? Niemand konnte diese Fragen beantworten.

Der mächtige Stamm der Lenni-Lenape’s, ein Theil der Völkerschaft der Delawaren, hatte seit unfürdenklichen Zeiten in den Wäldern von Lockavana gejagt und im Schuylkill-Flusse gefischt, als die Weißen erschienen und sie Schritt für Schritt aus dem Gebiete drängten, in welchem sie geboren waren und wo sie zu sterben gedachten. – Die Lenni-Lenape’s theilten das Schicksal der übrigen Nationen; sie wurden gezwungen, aus dem Lande ihrer Ahnen zu weichen und den Siegern ihre Fluren, ihre Wälder, alle die Stätten, an welche sich ihre freudigen und traurigen Erinnerungen knüpften, und mit ihnen den gewaltigen Felsen von Furlrock zu überlassen, der die Gebeine ihrer Väter deckte und das Grab ihres gefeiertsten Häuptlings. Nach einem Jahrhundert war ihr zahlreicher Stamm durch Hunger und Elend, durch die Trübsal der Verbannung und die verheerende Wirkung des Feuerwassers, das ihnen der weiße Mann aufgedrungen hatte, auf funfzig Köpfe geschmolzen, und jedes Jahr streute der Tod die zahlreichen abgewelkten Blüthen in die kalte canadische Erde.

Da faßten die Unglücklichen einen großen erhabenen Entschluß; er war das ernste Resultat einer ernsten Berathung.

Von Canada zogen sie in langem, mühevollem Marsche an die Ufer des Delaware, zum Denkmal einer glorreichen Vergangenheit, um die geheiligten Reste ihrer Väter aus der entweihten Erde zu nehmen oder da zu sterben, wo jene starben. – Das hatte die Letzten der Lenni-Lenape’s zum Granitfelsen von Furlrock gebracht.

Was wäre wohl einfacher und poetischer gewesen, als daß man diese unschädlichen Kinder der Natur auf ihrem Erbtheile friedlich leben ließ, dessen man sie beraubt hatte! Dies war auch die Meinung und der Vorschlag meines Freundes Kane. Aber die guten Indianer waren unglücklicher Weise genöthigt, zu essen, um zu leben, und hatten bereits auf zwei Meilen in der Runde alle Tulpen- und Narcissenzwiebeln ausgerissen und sie in Ermangelung einer anderen Nahrung roh verzehrt.

Da schien es den benachbarten Pflanzern doch etwas langweilig, einen ganzen Stamm den Hungertod sterben zu lassen; sie beschlossen, die armen Teufel fortzujagen. Man versammelte die Flurwächter der ganzen Gegend, umzingelte die Indianer, trieb sie auf einen Haufen zusammen, und brachte sie nach Philadelphia. Dort wurden sie, nackt, wie sie waren, von Allem entblößt, in einen Separattrain gepackt und nach Canada zurückgeschafft. Kane versicherte mich, daß er nie einen seltsameren und zugleich erschütternderen Anblick gehabt habe, als diese Verpackung und Weiterbeförderung der armen Rothhäute, welche mit düsterer Resignation diesen rohen Eingriff der Civilisation in ihre heiligsten Naturrechte erduldeten.

Am Abend verließ ich Furlrock. – Beim Abschiede gab mir Kane mit einem geheimnißvollen Lächeln zu verstehen, daß die Bürger Philadelphia’s vor meiner Abreise nach Mexico, wahrscheinlich schon am nächsten Tage, mich mit einem Auftrage betrauen würden, der mir vielleicht nicht unangenehm sein könnte.

Wirklich fand ich bei meiner Zurückkunft in mein Hotel eine Einladung zum Abendessen für den folgenden Tag, unterzeichnet von vierundzwanzig Bürgern der Stadt. Da die Veranlassung hierzu innig mit einer der schönsten Episoden aus Kane’s thatenreichem Leben zusammenhing, so möge die Erzählung derselben den Verehrern des trefflichen, leider so früh dahingeschiedenen Mannes als ein [24] Opfer bewundernder Freundschaft gelten. In Amerika ist man wie früher in Rom: Advocat und General. Cicero schrieb an Cäsar: „Cicero imperator Caesari Imperatori.“

Auch Kane hatte vor seiner berühmten Reise an den Nordpol in der amerikanischen Armee als Officier gedient und in dieser Eigenschaft den Krieg in Mexico mitgemacht. Am 15. Juni 1847 fand die Schlacht von Puebla statt. Im Anfange stand das Glück ganz auf der Seite der Mexicaner. Der linke Flügel der amerikanischen Armee war vom Feinde fast gänzlich erdrückt, das Centrum selbst wankte, Unordnung begann in den Reihen der Amerikaner einzureißen, die Schlacht schien verloren. Kane befehligte eine Schwadron Dragoner. Mit einem Blicke überflog er den Stand der Dinge; er sah, daß keine Zeit mehr zu verlieren sei, die kühne That allein konnte retten. Mit Blitzesschnelle warf er sich mit seinen Reitern auf die feindlichen Colonnen; sie wurden gesprengt – ein donnerndes Hurrah belebte den gesunkenen Muth der Amerikaner, – die gebrochenen Schlachtreihen ergänzten sich – ein neues verzweifelndes Ringen begann. Mann gegen Mann, Stahl gegen Stahl. – Das schreckliche Gemetzel endete mit einem Sieg der Amerikaner, der aber mit ungeheuren Opfern erkauft war.

General Taylor durfte, wie Pyrrhus nach der Schlacht bei Heraclea, die Siegesbotschaft an den Senat mit den Worten schließen: „Noch solch ein Sieg, und wir sind verloren.“

Kane war mit solcher Gewalt in die Reihen der Feinde eingedrungen, daß ihm seine Kampfgenossen nicht hatten folgen können. Plötzlich sah er sich einem mexicanischen Officier gegenüber, in dem er sogleich den würdigen Gegner erkannte. Es war eine jener ritterlichen Erscheinungen, wie sie sich unter der Herrschaft des Pulvers so selten mehr zeigen. Kaum hatten sich die beiden Kämpfer erblickt, als sie auf einander losstürzten, wie wenn jeder von ihnen jetzt erst im Handgemenge den von ihm lange gesuchten Gegner gefunden hätte. Und nun entspann sich einer jener Kämpfe, wie sie Homer besingt und Tasso erzählt. Beide Streiter waren jung, beide tapfer, beide gleich vertraut mit der Führung des Schwertes, beide herrliche Reiter auf ausgezeichneten Rossen: es war ein großartiges Schauspiel, dieser Kampf, in welchem Muth und Gewandtheit beider Theile gleich waren. Aber der Mexicaner hatte schon seit dem Morgen gefochten, seine Kräfte schwanden, sein Arm begann zu erlahmen, während die Hiebe des Gegners, dem diese Schwäche nicht verborgen blieb, sich verdoppelten. Mit übermächtiger Gewalt durchschlug Kane die Parade seines Feindes, und begrub sein Schwert in dessen Brust, daß er blutend rückwärts vom Pferde sank. – Im selben Augenblick fiel aber auch Kane; eine Kugel hatte seine Schulter getroffen. Mexicanische Reiter waren ihrem bedrohten Führer zu Hülfe geeilt, einer ihrer ersten Pistolenschüsse hatte Kane getroffen, der unmittelbar darauf Gefahr lief, durch einen Säbelhieb zu sterben, wenn nicht der bestimmte Befehl seines verwundeten Feindes den tödtlichen Streich von seinem Haupte abgehalten hätte. Murrend gehorchten die Mexicaner der Stimme ihres geliebten Führers, der ihnen befahl, sie beide nach Cholula zu bringen, wo man ihnen den ersten Verband anlegte, und sie dann zu General Gaona, dem Vater des jungen Mexicaners, schaffte.

Des jungen Gaona’s Mutter und seine holden Schwestern bemühten sich im edlen Wettstreit, den beiden gefährlich verwundeten Helden die sorgfältigste und umfassendste Pflege angedeihen zu lassen, nicht als wenn sie Feinde, sondern Brüder wären. Nach drei Monaten hatten die zarten Hände das Wunder der Heilung vollendet.

Die langwierige Krankheit, der gemeinsame Schmerz verwandelte die hochherzigen und tapferen Jünglinge, die sich feindlich gegenüber gestanden, in innige Freunde, die nichts sehnlicher wünschten, als fortan gemeinsam leben zu können. Nur zu bald jedoch vereitelte der Friede ihre schönen Pläne. Kane, vollständig wiederhergestellt, wurde nach Philadelphia berufen, da das Vaterland seiner Dienste bedurfte.

Die Kunde des Ereignisses hatte sich lange schon in Philadelphia verbreitet, in jedem Munde ertönte das Lob des unerschrockenen edlen Mitbürgers, der bei seiner Rückkehr mit ungetheiltem herzlichem Jubel empfangen wurde. Einstimmig ging der Vorschlag durch, dem tapferen Reiterführer, dessen heroische Aufopferung dem Vaterlande den Sieg errungen hatte, einen Ehrendegen mit goldenem Griffe als Beweis der Erkenntlichkeit seiner Mitbürger zu überreichen. Als die Deputation dem Gefeierten diesen Tribut der allgemeinen Achtung überbrachte, sprach der edle, uneigennützige Mann:

„Ihr leget einen großen Werth auf eine Handlung, die jeder brave und muthige Soldat verrichtet, der seine Schuldigkeit thut. Erlaubet mir, daß ich euch den Unterschied zeige zwischen dieser einfachen Erfüllung meiner Pflicht und einer Handlung der edelsten und erhabensten Hochherzigkeit.“

Und nun erzählte Kane, wie sein zum Tode verwundeter Gegner ihm das Leben gerettet, wie er ihn in sein väterliches Haus aufgenommen und dort in Mitte seiner Wunden mit unermüdlicher Sorgfalt die Pflege seines Feindes überwacht habe, und schloß mit der Bitte, daß dieser Ehrendegen nicht ihm, sondern seinem tapfern edelmüthigen Gegner eingehändigt werde.

Ein dreimaliger donnernder Beifallsruf folgte diesen schönen Worten Kane’s, und sogleich wurde einstimmig beschlossen, daß ein großes Volk nicht allein die Tapferkeit seine Mitbürger, sondern auch die Tugenden eines Feindes würdigen und ehren möge. Kane erhielt sein prachtvolles Schwert, indessen für den Mexikaner ein gleiches bestimmt wurde.

Die an mich ergangene Einladung, der ich pünktlich Folge leistete, hatte zum Zweck, mich bei meiner Abreise nach Mexico mit der Uebergabe des Ehrengeschenkes der Philadelphier an den tapfern Gaona zu betrauen.




Preußische Licht- und Schattenbilder.
Ein Schattenbild.
1. Die Gräfin Lichtenau.
(Schluß.)

Mit diesen körperlichen Vorzügen verband Wilhelmine einen ungewöhnlichen Grad von weiblicher Schlauheit, einen Geist, der nicht unbedeutend zu nennen war. Sie war klug genug, sich nicht in die politischen Angelegenheiten der Regierung zu mischen, wie dies die Gräfin von Dönhoff that, welche von den zahlreichen französischen Emigranten am preußischen Hofe für eine Republikanerin ausgeschrieen wurde, weil sie mit dem Prinzenerzieher Leuchsering, einem Jugendfreunde Goethe’s, und dem Fräulein von Bielefeld befreundet war. Die beiden Letzteren gehörten allerdings zu einer Partei in Berlin, welche sich damals offen zu den Grundsätzen der französischen Revolution bekannte und diese als die Morgenröthe der neuen Freiheit mit Entzücken begrüßte.

Die bürgerliche Wilhelmine scheint im Gegensatze zu ihrer hochadeligen Nebenbuhlerin zu den Gegnern der Revolution gehört und den König zu jenem abenteuerlichen „Zuge nach der Champagne“ mit veranlaßt zu haben, dessen kläglichen Ausgang uns Goethe so meisterhaft beschrieben hat. Nach der Rückkehr von jener traurigen Expedition war sie ihrem königlichen Freunde unentbehrlicher als je geworden; ihr Einfluß war jetzt so hoch gestiegen, daß der damalige englische Gesandte, Lord Spencer, sich an sie wendete, um den für England so gefährlichen Frieden von Basel zwischen Preußen und der französischen Republik zu hintertreiben. Im Auftrage seiner Regierung bot ihr der Gesandte 100,000 Guineen, um sie für seine Pläne zu gewinnen; sie war jedoch so uneigennützig oder so klug, diese große Summe auszuschlagen, wie die Mémoires d’un homme d’état berichten, welche dem späteren Fürsten und Staatskanzler Hardenberg zugeschrieben werden.

Unter dem Vorwande, daß ihre Gesundheit angegriffen sei, ließ sich die Favoritin von ihren Aerzten eine Reise nach Italien und den Gebrauch der Bäder von Pisa und Neapel verordnen. Der König, welcher sich nur ungern von ihr trennte, gab ihr die Erlaubniß zu dieser Reise und zugleich einen unumschränkten Credit an die vornehmsten Bankiers in Mailand, Livorno, Florenz und Rom. Er selbst begleitete sie am Tage ihrer Abreise, die frühmorgens [25] um vier Uhr stattfand, bis an ihren Wagen; ein kleiner Hofstaat bildete ihre Begleitung; in ihrem Gefolge befand sich der Hofpoet und Vorleser des Königs, Filistri, ihre Gesellschaftsdame Fräulein Chapuis, ein besonderer Secretair und eine zahlreiche Dienerschaft. Sie trat mit wahrhaft fürstlichem Aufwande auf, suchte überall die Berühmtheiten jener Zeit auf, Dichter und Künstler, bei denen sie oft für Rechnung des Königs die ansehnlichsten Bestellungen machte. In Zürich besuchte sie den bekannten Physiognomen und mystischen Schriftsteller Lavater. Die pietistische Richtung des damaligen preußischen Hofes bot die natürlichen Anknüpfungspunkte mit dem religiösen Schwärmer. Die schlaue Favoritin hatte dem Könige vor ihrer Abreise versprochen, in Italien den „Stein der Weisen“ aufzusuchen und sich mit einigen Adepten der höheren Magie in Verbindung zu setzen. Es war ja die Zeit, wo ein Cagliostro und ähnliche Betrüger ihre Wunderrolle spielten und sich rühmten, den Schlüssel der Geisterwelt zu besitzen.

In Italien selbst erregte die Erscheinung der preußischen Favoritin das größte Aufsehen; mit den glänzendsten Empfehlungsbriefen und hinlänglichen Geldmitteln versehen, fiel es ihr nicht schwer, Zutritt zu den ersten Häusern zu erlangen und einen Schwarm von Abenteurern, Schmarotzern und Liebhabern aus allen Nationen und Classen der Gesellschaft nach sich zu ziehen. Der Chevalier de Saxe, ein Sohn des Prinzen Xaver von Sachsen, der damals als junger Mann in Italien lebte, huldigte der modernen Circe mit einer unbegreiflichen Leidenschaft, die er in seinem später veröffentlichen Briefwechsel ausströmte. Nicht minder feurig klingen die Lobeserhebungen des bekannten Archäologen Hirt, der die Geliebte des Königs in Rom kennen lernte, und ihren Cicerone auf klassischem Boden abgab. Durch ihn lernte sie die durch ihre Schicksale, wie durch ihr Talent berühmte Malerin Angelika Kaufmann kennen, die ihr Bildniß in idealer Auffassung malte. In Neapel machte sie die Bekanntschaft des englischen Gesandten und seiner berüchtigten Gattin Emma Hamilton, welche später die Geliebte des berühmten Seehelden Nelson wurde. Dagegen weigerte sich die Königin Karoline, eine österreichische Erzherzogin, die Geliebte des preußischen Königs an ihrem Hofe zu empfangen. Diese Demüthigung führte indeß ihre Standeserhöhung herbei, indem sie von dem König forderte, daß er sie, ungeachtet, wie sie in dem Briefe an ihn sich ausdrückte, sie keinen Werth auf die „thörichten Eitelkeiten der Hofetiquette“ lege, in den Adelstand erheben möchte, um derartigen Inconvenienzen in Zukunft vorzubeugen. Der schwache Monarch beeilte sich sofort, ihren Wunsch zu erfüllen, nachdem sie zuvor der Form wegen von ihrem bisherigen Gatten geschieden wurde. Die frühere Madame Rietz und Tochter des Kammermusikus Enke wurde, wie es in dem betreffenden Diplom heißt, wegen „ihrer Verdienste“ zur Gräfin Lichtenau erhoben, ihr außerdem vier Ahnen väterlicher und mütterlicher Seite, Stiftsfähigkeit und die Erlaubniß ertheilt, den preußischen Adler und die königliche Krone in ihrem Wappen zu führen. Die neue Gräfin wurde nach ihrer Ankunft in Berlin bei Hofe und in großer Gesellschaft förmlich vorgestellt und die Königin selbst gezwungen, sie zu empfangen.

Das Laster hatte jede Scham verloren, und die ersten Chargen des Landes drängten sich zu den glänzenden Gesellschaften – einer Lichtenau. In dieser Zeit wurde sie mit dem excentrischcn Lord Bristol, Bischof von Londonderry, bekannt, einem der seltsamsten Käuze des Jahrhunderts und seiner Nation, die so reich an Originalen ist. Dieser hohe Würdenträger der englischen Kirche vereinigte in seinem Charakter ein Gemisch der schreiendsten Widersprüche. Bischof und Atheist in einer Person, führte er das ausschweifendste Leben. In einem Athemzuge bekannte er sich als ein Schüler und Bewunderer Voltaire’s und verwünschte dessen gefährliche Lehren, die dem Volke über das Treiben der Geistlichkeit die Augen öffneten. Er war ein Anhänger und Freund der französischen Revolution, welche er laut bewunderte, dem ungeachtet blieb er der hochmüthigste Aristokrat, der seine Untergebenen und Diener wie ein Tyrann bis auf’s Blut quälen und mißhandeln konnte. Während er mit vollen Händen das Geld wegwarf, zeigte er bei anderen Gelegenheiten Spuren des schmutzigsten Geizes. Er besaß den scharfen, ätzenden und zersetzenden Geist der französischen Encyklopädisten, vereint mit der ganzen Starrheit und der grausamen Härte eines englischen Hoch-Tory. Er war der Typus jener sogenannten „Genialen“, welche sich Alles erlauben, alle Vorrechte für sich fordern, die Freiheit und Humanität im Munde führen, von der ihr Herz nichts weiß.

Dieser wunderliche Bischof, welcher außerdem sehr reich war, machte, trotzdem er fast das siebzigste Jahr erreicht hatte, der Gräfin Lichtenau in auffallendster Weise den Hof und schrieb ihr die für einen Geistlichen anstößigsten Briefe voll Zärtlichkeit. Wiederholt bot er ihr eins seiner Schlösser in Irland und seine volle Börse an, im Falle sie sich genöthigt sehen sollte, Preußen zu verlassen. Er trieb seine Unverschämtheit so weit, den König anzugehen, für die Gräfin im Falle seines Ablebens besser zu sorgen, als dies nach seiner Meinung bisher geschehen war. Bei einer Abschiedsaudienz empfahl er sich mit den Worten: „Sire! Ich verlasse Preußen und gehe nach Neapel, wo der Mond wärmer scheint, als die Sonne in Ihrem Berlin.“

Damals stand die Gräfin Lichtenau auf dem Gipfel und Höhepunkte ihres Glückes; sie sah in ihrem Palaste unter den Linden den ganzen Hof, der den von ihr veranstalteten Festen und Aufführungen auf dem von ihr erbauten Privattheater beiwohnte, welche dazu dienen sollten, den bereits an der Wassersucht leidenden König zu zerstreuen. Auch der Kronprinz und nachherige König Friedrich Wilhelm III., dessen sittliches Gefühl von dem ganzen Treiben auf das Höchste empört wurde, durfte sich von diesen Vorstellungen nicht ausschließen, eben so wenig, wie seine tugendhafte Gattin, die den Preußen unvergeßliche Louise. Ein Augenzeuge entwirft von einer derartigen Aufführung folgende lebendige und ergreifende Schilderung:

„Der natürliche Wunsch, den König zu zerstreuen und von den traurigen Gedanken abzuziehen, denen er sich wegen seiner Leiden überließ, brachte die Gräfin Lichtenau auf die Idee, die Bühne zu benutzen, die sie in ihrem Hotel eingerichtet hatte. Die Königin, die Prinzen und die Prinzessinnen von Geblüt bebten vor Wuth, da sie sich gezwungen sahen, bei einer Frau zu erscheinen, deren bloße Gegenwart schon für sie eine Beleidigung war. Ein so trauriger Zwang mußte ihre Herzen mit Unwillen und Scham erfüllen.

„Welch’ ein widriges Schauspiel bot sich hier dar, welche traurigen Gedanken wurden unwillkürlich angeregt, welche schrecklichen Leidenschaften und Stürme heraufbeschworen! Der König trug in seinem bleichen, gedunsenen Gesicht die Zeichen einer tödtlichen Krankheit; die Königin verzog ihre Lippen zu einem gezwungenen Lächeln, während der Kronprinz seine heftige Wuth nur mit Mühe unterdrückte. Er sah, wie eine verehrte Mutter, eine angebetete Gattin genöthigt wurde, in der verschwenderischen Wohnung der alten Maitresse seines Vaters zu erscheinen; nichts konnte seinen schon damals ausgesprochenen Grundsätzen mehr zuwider sein, seiner Sparsamkeit und seinem Gefühle für Würde und Anständigkeit. Jung, offen und streng gegen sich und Andere, vermochte er es kaum, seinen düsteren Unmuth zu bezwingen. Die Kronprinzessin, strahlend im Glanze ihrer jugendlichen Schönheit, erschien verlegen und gleichsam ängstlich, weil sie einen Ausbruch von Seiten ihres aufgeregtem Gatten jeden Augenblick befürchtete. Die übrigen Prinzen und Prinzessinnen ließen auf ihren Gesichtern ebenfalls nur Verdruß und Aerger blicken. Nur der Prinz Heinrich, Oheim des Königs und Bruder Friedrich des Großen, zwar tief verletzt, aber vertraut mit der höfischen Verstellungskunst, erschöpfte sich in geheuchelten Schmeicheleien und Lobeserhebungen. Die Anstrengung aber, welche es ihm kostete, seine Mißbilligung zu verbergen und eine freundliche Miene anzunehmen, verlieh seinen ausdrucksvollen Zügen ein eigenthümlich verbissenes Aussehen. Der größte Theil der übrigen Zuschauer war traurig und stumm vor Bestürzung, während um die Lippen so mancher Anwesenden ein boshaftes Lächeln schwebte.

„Die Gräfin, außer sich und trunken von ihrem indiscreten Triumphe, war nicht im Stande, eine richtige Beobachtung anzustellen. Sie kümmerte sich wenig um die Besorgnisse ihrer ergebenen Freunde, welche vor der Gewißheit zitterten, daß sie durch diese Huldigung, von der sie sich umgeben sah, nur die Rache ihrer Gegner heraufbeschwor. Ihre Eitelkeit und Freude machte sie blind und für jede Ueberlegung unfähig. Mit der größten Pracht wurde die italienische Oper „Cleopatra“ aufgeführt, der Text von Sassoni, die Musik von Segni. Die Wahl des Stückes war im höchsten Grade anstößig und taktlos. An diesem Abende waren die Augen aller Anwesenden mit ehrerbietigem Mitleiden auf die Königin gerichtet, das Ebenbild der unglücklichen und von ihrem treulosen Gatten verlassenen „Octavia“, während die Gräfin im strahlenden Schmucke durch ihre triumphirende Haltung an die verführerische [26] Koketterie der „Cleopatra“ erinnerte. Bei einigen Strophen der Oper, in denen sich Octavia über die Untreue des Antonius beklagte, sah man, wie die Königin ihre Thränen in ihrem Taschentuche verbarg.“

Der Gesundheitszustand des Königs machte wiederholte Badereisen nach Pyrmont nöthig. Die Gräfin begleitete ihn. Mehr als zwanzig Souveraine und Fürsten hatten sich bei seinem dortigen Aufenthalte eingefunden, um ihm ihre Ehrfurcht zu bezeigen, da man damals noch in dem preußischen Herrscher den Schiedsrichter von Europa sah und sein Thron noch immer in dem Nimbus glänzte, den Friedrich der Große hinterlassen hatte. Pyrmont wimmelte zu jener Zeit von einflußreichen Personen, von Diplomaten, Fremden und besonders von französischen Emigranten, welche sich auf der Promenade um den König drängten. Ein Theil dieser Huldigungen fiel auf die Gräfin zurück; damals tauchte auch in ihr und dem Könige, wahrscheinlich von dem excentrischen Lord Bristol angeregt, der Plan auf, die Lichtenau zur souverainen Fürstin zu erheben, und zu diesem Zwecke dem Fürsten von Waldeck Pyrmont abzukaufen. Die bereits angeknüpften Unterhandlungen zerschlugen sich jedoch, und der König zog es vor, der Gräfin eine halbe Million Thaler in holländischen Bankbillets zu schenken, um damit ihre Zukunft sicher zu stellen.

Scheinbar gebessert kehrte der König nach Berlin zurück, wo zur Feier seiner vermeintlichen Genesung große Festlichkeiten veranstaltet wurden. Die Stadt hallte von dem Geläute der Glocken und dem Schmettern der Musikchöre wieder; auf allen öffentlichen Plätzen fanden Volksbelustigungen statt; es wurde getanzt, die Armen gespeist, freies Theater gegeben. Des Abends waren alle Straßen glänzend erleuchtet. Trotzdem der König sich an diesem Tage nicht wohl fühlte, wollte er doch die allgemeine Freude nicht stören; theils zu Fuße, theils zu Wagen genoß er das ihm zu Ehren gegebene Schauspiel. Mittags und Abends wohnte er dem Zweckessen bei, welches die Stadt auf ihre Kosten veranstaltete. Die Königin hatte sich mit Unwohlsein entschuldigen lassen, ihre Stelle nahm die Gräfin Lichtenau ein; der Kronprinz hatte sich auf den ausdrücklichen Befehl seines Vaters einfinden müssen. Bei der Tafel erschien die Gräfin im griechischen Gewande mit einem goldenen Diadem in den Haaren, nach Angabe des Archäologen Hirt, als Polyhymnia. Sie sang ein von ihr gedichtetes und von dem Capellmeister Himmel in Musik gesetztes Lied, welches, charakteristisch genug, folgendermaßen lautete:

„Glänzend war die Morgenröthe,
Freudig endet dieser Tag:
Ja wohl freudig, weil er heute
Friedrich Wilhelm uns geschenkt.
Welcher Jubel, welch Entzücken!
Vater, Sohn, so Hand in Hand,
In die lange Zukunft blickend,
Und ein edles Beispiel seiend,
Sohne, schaut den Sohn hier an;
Väter, folgt dem edlen Vater
In der Hütte, auf dem Thron.

Als sie geendet hatte, brach das gehorsame und loyale Publicum in lauten Jubel aus. Der Archäolog und durch sie zum Hofrath beförderte Hirt überreichte der Gräfin einen Lorbeerkranz und der Kronprinz wurde von dem Könige gezwungen, der Sängerin die Hand zu küssen. Die guten Berliner und besonders der schwache Monarch wurden durch diese Familienposse tief gerührt. So wurde durch diese Lichtenau jedes moralische Gefühl untergraben, der Sittlichkeit öffentlich Hohn gesprochen und jene innere Fäulniß wesentlich mit herbeigeführt, an der die preußische Monarchie nach der Schlacht bei Jena fast zu Grunde ging.

Mitten in diesen glänzenden Triumphen und Schauspielen überschlich wohl jetzt die Gräfin zuweilen ein Gefühl von Unsicherheit; sie hatte sich durch ihre Standeserhebung zahllose Feinde gemacht; besonders war der sittenstrenge Kronprinz ihr entschiedenster Gegner; sie durfte keine Schonung von diesem charakterfesten Fürsten erwarten, der jede Lüge und Gemeinheit verabscheute. Düstere Befürchtungen erfüllten ihre Seele; ihre wenigen aufrichtigen Freunde riethen ihr jetzt mehr als ein Mal, Preußen vor dem nahe bevorstehenden Tode des Königs zu verlassen und mit ihren Schätzen nach England zu flüchten. Aus Leichtsinn oder Anhänglichkeit an ihren fürstlichen Freund wies sie jede derartige Zumuthung mit Entschiedenheit zurück.

Unterdeß hatte sich der Zustand des Königs wesentlich von Neuem verschlimmert, die täuschende Besserung war verschwunden und die Zeichen der allgemeinen Wassersucht traten immer deutlicher hervor. Einen Augenblick dachte er ernstlich daran, die Krone niederzulegen und sich mit seiner geliebten Lichtenau unter den milden Himmel Italiens zurückzuziehen. Die Gräfin schwärmte für diese Idee, aber der keineswegs nach der Herrschaft lüsterne Kronprinz weigerte sich entschieden, vor dem Tode seines Vaters die Regierung anzutreten.

Der König schloß sich in Potsdam in dem von ihm erbauten Marmorpalaste mit der Gräfin ein; seine Umgebung bestand jetzt fast ausschließlich aus französischen Emigranten, deren leichte und gefällige Unterhaltung ihm noch am meisten zusagte. Seiner Familie war der Zutritt versagt, nur die Lichtenau mußte Tag und Nacht in seiner Nähe bleiben.

Es war ein trauriges Schauspiel! Mitten in dem von Alabaster-Ampeln schwach beleuchteten Saale lag der König in seinem Lehnstuhle, die von Wasser angeschwollenen Beine mit einem seidenen Kissen zugedeckt, um den unförmlichen Anblick zu verbergen. In seinen unstät herumschweifenden Blicken drückte sich sein tiefes Leiden und eine gutmüthige Resignation aus. Zu seiner Rechten saß die Gräfin Lichtenau, zu seiner Linken die Marquise von Radaillac, deren Geist ihn entzückte. Rings herum standen oder saßen der Abbé d’Andélard, der Prinz Moritz Broglie, Saint-Ygnon, der Vorleser des Königs, und einige andere Franzosen; in einer Ecke spielten die unehelichen Kinder des Königs und unterbrachen durch ihr kindisches Plaudern und Lachen die traurige Stille des Krankenzimmers. Ab und zu erschienen die Aerzte, um sich nach dem Befinden des hohen Patienten zu erkundigen; der König hörte ihre Meinung mit einem trüben Lächeln an, da er trotz ihrer beruhigenden Versicherungen die Gefahr kannte, in der er schwebte. Nachdem sie wieder gegangen waren, wendete er sich an die Gräfin mit den Worten:

„Wie richtig faßt doch Molière die Menschen und besonders die Aerzte auf! Die Schilderungen dieses großen Menschenkenners sind von einer bewunderungswürdigen Wahrheit. So eben haben wir eine seiner besten Scenen aus dem „eingebildeten Kranken“ nach der Natur gesehen.“

Da die Kunst der Leibärzte ohnmächtig schien, so meldeten sich verschiedene Charlatane und boten ihre Dienste an. Ein Franzose, der berüchtigte Magnetiseur de Beaunoir, versprach, den König durch den Magnetismus und eine besondere Diät sicher herzustellen. Der Kranke sollte zwischen kleinen Kindern von acht bis zehn Jahren schlafen, durch das Spiel von jungen Hunden und Katzen sich zerstreuen, nur Reis, mit Honig und Safran zubereitet, essen. Mit mehr Erfolg schlug ein verabschiedeter Lieutenant und Bergwerksbesitzer von Randel, der sich mit praktischer Chemie beschäftigte, das Einathmen von Sauerstoff, der sogenannten „Lebensluft“, vor. Zu diesem Zwecke wurde in dem Palaste ein eigenes Laboratorium gebaut, worin der bekannte Professor Hermbstädt dieses Gas entwickelte. Nichtsdestoweniger machte das Leiden solche Fortschritte, daß das traurige Ende nahe bevorstand. Erst jetzt ließ sich der Kranke, welcher bereits aufgegeben war, aus Rücksicht auf den äußeren Anstand dazu bewegen, die Königin und den Kronprinzen zu empfangen. Beide vergossen an seinem Lager die aufrichtigsten Thränen; auch der schwache König war tief bewegt.

Während der ganzen schmerzlichen Unterredung mußte aber die Gräfin zugegen sein, wahrscheinlich, um sie auf dem Todtenbette seinem Nachfolger zu empfehlen. Er stützte sich fortwährend auf ihren Arm und häufig, wenn ihn die Schwäche am Sprechen hinderte, mußte sie seine Zeichen in Worte kleiden. Auf seinen Befehl begleitete sie auch den hohen Besuch bis in das Vorzimmer, wo die Königin aus Gutmüthigkeit oder weiblichem Mitgefühl einige freundliche Worte an die Lichtenau richtete. Der Kronprinz, dem jede Verstellung fremd war, sprach keine Sylbe und ließ nur zu deutlich in seinen Blicken seine grenzenlose Verachtung lesen. Zum ersten Male empfand die Gräfin, wo nicht Reue, doch wenigstens Angst vor der nahen Zukunft, aber sie besaß hinlängliche Willenskraft, um mit erheuchelter Ruhe zu dem Kranken zurückzukehren. Dieser erwartete sie mit Ungeduld, und seine erste Frage war:

„Was hat Ihnen mein Sohn gesagt?“

„Nichts!“ entgegnete sie.

„Das ist wunderbar; ich habe es nicht erwartet und kann es auch nicht fassen.“

Oefters wiederholte er noch im Laufe des Tages dieselbe Frage; [27] augenscheinlich war er lebhaft mit dem Schicksal seiner hinterlassenen Geliebten beschäftigt. Mit Entschiedenheit wies er das Gesuch seiner übrigen Kinder, der Prinzen und Prinzessinnen, zurück, die gekommen waren, um von ihm Abschied zu nehmen. Durch die Gräfin war er seiner Familie gänzlich entfremdet worden; desto besorgter zeigte er sich um sie. Auf seinen Wunsch mußte sie eine Mappe von rothem Maroquin mit wichtigen Papieren in Sicherheit bringen. Dies konnte jedoch nicht mehr unbemerkt geschehen, da das Marmorpalais von Spionen und Aufpassern wimmelte und jeder Schritt seiner Bewohner beobachtet und sofort nach Berlin und an den Hof des Kronprinzen berichtet wurde. Hier machte sich endlich der lang verhaltene Groll gegen die Lichtenau Luft; die Menge beschuldigte sie der schwersten Verbrechen, der Unterschlagung großer Summen, des Diebstahls und selbst des Landesverrathes. In seinem dunklen Instinct ahnte das Volk, daß die Gräfin hauptsächlich Schuld an der allgemeinen Demoralisation, dem Verfalle der Monarchie, an der Verschleuderung des Nationalvermögens, an der sittlichen Erschlaffung des Königs, an der Verderbniß seiner nächsten Umgebung habe, welche auf alle Schichten der Gesellschaft zurückwirkte.

Angegriffen von düsteren Sorgen, erschöpft von den Nachtwachen und der Pflege des Kranken, an den sie sich als ihre letzte Zuflucht fest anklammerte, erlag die Gräfin einem ohnmachtähnlichen Zustande, der dazu benutzt wurde, um sie aus der Nähe des sterbenden Monarchen zu entfernen. Dieser blieb jetzt auf seinem Lager einsam und verlassen, kein Verwandter, kein Höfling, keine theilnehmende Seele war zugegen, um ihm die gebrochenen Augen zuzudrücken. Alle waren zu dem Palaste des Thronfolgers geeilt, um den künftigen Herrscher zu begrüßen. Nur der Kämmerer Rietz, ein französischer Kammerdiener und drei Jäger blieben noch, ungeduldig den letzten Seufzer in Empfang zu nehmen. Die Zeit wurde ihnen dabei lang und ein roher Lakai rief:

„Nimmt denn das gar kein Ende, will er immer noch nicht platzen?“

Der König, dessen Bewußtsein nicht ganz geschwunden war, schlug noch einmal die erloschenen Augen auf und stieß einen tiefen, seinen letzten Seufzer aus. So starb Friedrich Wilhelm der Zweite, der bei seiner Thronbesteigung „der Vielgeliebte“ hieß.

Der Minister Bischofswerder eilte mit der Nachricht nach Berlin, zugleich erhielt der bekannte Graf Haugwitz von dem neuen König den Befehl, die Lichtenau und ihren Anhang verhaften zu lassen. Sie lag, während der frühere König starb, in ihrem Bette; erst als ihre Mutter mit thränenden Augen vor ihr erschien, ahnte sie die schreckliche Wahrheit. Mit einem Schrei stürzte sie an das Fenster; sie sah die Leibgarde mit den hohen Blechkappen und in ihren weißen Stiefeletten im feierlichen Schritte nach dem Schlosse ziehen, um nach altem Brauche den Leichnam des Monarchen zu bewachen. Verzweiflungsvoll sank sie auf ihre Kniee; ihre Mutter kniete neben ihr; sie wußte, welch’ ein Schicksal ihr bevorstand, aber sie konnte nicht mehr entfliehen. Der Adjutant von Zastrow kündigte ihr an, daß sie seine Gefangene sei.

Gegen die Gräfin wurde eine förmliche Untersuchung eingeleitet, die von dem Minister von der Reck, dem Kammergerichts-Präsidenten von Kircheisen und dem Geheimen Cabinetsrath Beyme geführt wurde. Man beschuldigte sie, die Geheimnisse des Staats verrathen, Gelder der Krone angegriffen und königliche Domainen usurpirt zu haben. Außerdem legte man ihr eine Reihe kleinerer Verbrechen, Entwendung des Kronsolitaires und anderer Schätze, zur Last. Sie vertheidigte sich gegen diese Beschuldigungen, und allen documentarischen Zeugnissen nach hat man niemals die Richtigkeit derselben beweisen können. Nichts desto weniger wurde sie durch eine Cabinetsordre des Königs zum Verlust ihrer sämmtlichen Besitzungen, Häuser, Paläste und Güter, die ihr der verstorbene Monarch geschenkt hatte, verurtheilt, ebenso verlor sie die 500,000 Thaler in holländischen Banknoten, die noch unberührt bei ihr gefunden wurden. Sie selbst wurde auf die Festung Glogau verwiesen, wo 4000 Thaler zu ihrem Unterhalte ausgesetzt waren. Ganz Berlin jubelte über den Sturz der Favoritin, deren Treiben jetzt in unzähligen leidenschaftlichen Pasquillen und Brochuren angegriffen wurde. Ihre Gefangennehmung war für sie als eine Wohlthat anzusehn, da das Volk auf das Höchste gegen sie erbittert war. Nach und nach wurde indeß diese Stimmung eine mildere; man gestattete ihr auf der Festung einige Freiheit; sie durfte ein eigenes Haus beziehn, Freunde und Bekannte bei sich empfangen. Ihr Sinn für Geselligkeit schien sie auch im Unglück nicht verlassen zu haben, ihre Lebenslust dieselbe geblieben zu sein. Ungeachtet sie das vierzigste Lebensjahr bereits überschritten hatte, blieb sie noch immer eine anziehende Erscheinung. Ein ausgezeichneter englischer Officier, der sie in Glogau kennen lernte, bewarb sich um ihre Hand und nahm, da er von ihr zurückgewiesen wurde, das Malteserkreuz, um sich nie wieder zu verheirathen.

Glücklicher war ein Herr von Holbein, der unter dem angenommenen Namen „Fontano“ in Glogau als Schauspieler und Sänger auftrat. Der noch junge und interessante Lautenschläger entzückte durch seinen Gesang und seine Unterhaltung die gefangene Gräfin dermaßen, daß sie ihm ihre Hand nicht versagte. Auf ihr wiederholtes Ansuchen wurde sie im Jahre 1800 in Freiheit gesetzt, nachdem sie zuvor eidlich versprochen hatte, auf alle ihre Ansprüche wegen der confiscirten Güter und Summen zu verzichten und „von den ihr vorgelegten Fragen nichts bekannt zu machen“. Unter dieser Bedingung erhielt sie die Freiheit und zugleich die Erlaubniß, Herrn von Holbein heirathen zu dürfen. Sie zog mit ihrem Gatten nach Breslau, wo sie einige Zeit im sogenannten „Bischofsgarten“ wohnte und von der ihr ausgesetzten Pension und den Resten ihres noch immer ansehnlichen Vermögens lebte. Ihre Ehe war jedoch nicht glücklich; der jüngere Mann scheint ihr wiederholte Beweise seiner Untreue gegeben zu haben. Das Gerücht beschuldigte ihn sogar, die Veranlassung zu dem grausamen Morde gewesen zu sein, den ein Herr von Trojer, ein ungarischer Edelmann, aus Eifersucht an seiner Frau verübte, ein Ereigniß, das damals in Breslau großes Aufsehn erregte, noch mehr aber durch die Experimente bekannt wurde, welche der spätere Geheimrath Wendt an dem Körper des Hingerichteten Mörders mit dem eben auftauchenden Galvanismus vornahm, um das andauernde Bewußtsein nach dem Tode durch das Beil zu erweisen.

Zuletzt sah sich die Lichtenau von ihrem ungetreuen Manne verlassen, der heimlich von ihr nach Wien gegangen war, wo er als Theaterdichter eine angemessene Stellung erhielt.

Die Gräfin selbst sah noch den traurigen Sturz der preußischen Monarchie nach der Schlacht bei Jena, den sie zum Theil durch die von ihr beförderte Sittenlosigkeit und Fäulniß des Hofes mit herbeigeführt hatte. Sie wandte sich an Napoleon und bewirkte durch seine Vermittlung die Rückgabe eines nicht unbedeutenden Theiles ihres Vermögens, indem sie dem Kaiser die willkommene Gelegenheit bot, sie an dem König zu rächen, und Preußen noch mehr zu demüthigen. Sie erlebte auch noch die Befreiungskriege und starb erst im Jahre 1820, von ihren Zeitgenossen fast vergessen, ein trauriges Bild menschlicher Vergänglichkeit, einst mit königlichem Glanz umgeben, zuletzt die geschiedene Frau eines mittelmäßigen Theaterdichters. Auf ihrem Andenken lastet der schwere Vorwurf, das sittliche Familienleben, welches von dem preußischen Herrscherhause stets geachtet wurde, für lange Zeit zerstört, den schwachen König vollends körperlich und geistig ruinirt zu haben. Unter ihrem Schutze und durch ihr Beispiel entwickelte sich in Berlin jene entnervende Demoralisation, welche erst durch die schweren Unglücksfälle, von denen die Nation getroffen, und durch die Begeisterung der Freiheitskriege beseitigt wurde. Die Lichtenau und die von ihr unterstützten und beförderten Creaturen am Hofe hatten den Staat an den Rand des Abgrundes gebracht, aus dem er erst wieder durch die sittliche Kraft und Erhebung des Volkes gerettet wurde.

Max Ring.




Schönbrunn.

Wenn der erste Frühlingsstrahl auf den Giebeln der Wiener Häuser den Schornsteinen erzählt, daß er nun Baum und Strauch im Walde wieder reifen machen müsse, damit sie im nächsten Winter nicht darben, da pilgern die Wiener schon hinaus nach Schönbrunn, dem schönen Sommerschloß ihres Kaisers, um die Blumenflur, die prachtvollen Hyacinthenbeete mit ihrem süßen, lieblichen fast überwältigenden Duft und ihrem märchenhaften Farbenschimmer, die sie wie Sultane aus orientalischen Zelten ergießen, in Augenschein zu nehmen.

[28]

Schönbrunn.
Orangerie. Obelisk. Lusthaus. Künstliche Ruine. Vogelhaus. Gloriette. Irrgarten.   Fasanengarten.   Thiergarten.
 Der schöne Brunnen.   Bassin mit der Neptungrotte.  Reitschule.
Schloß.

[29] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [30] Wenn die Pilger nach Mekka mit ihren fanatischen Sängen und Sprüchen durch die Dörfer und Weiler ziehen, faßt die stillen friedlichen Bewohner oft ein Drang, sie verlassen Haus und Hof, Heimath und Heerd, bis sie erschöpft irgend wo niedersinken, und dann wieder still und friedlich heimkehren.

Wenn nun die eingefleischten Wiener Linienpilger mit vielversprechenden Hemdkrägen, flammenden, vielsagenden Blicken schon in den ersten Maitagen nach Schönbrunn gehen, wenn die zahllosen Kutschen mit allem erdenklichen Gespann, Fiakres, Comfortables, Stellwagen unter betäubendem Gerassel einen besonderm Drang nach der „Schönbrunner Linie“ haben, da faßt den friedlichsten Wiener, der bisher zurückgeblieben, den ingrimmigsten Strazzawurm, den verschollensten Zimmerhüter eine unabweisbare Neigung, er muß auch „heuer einmal wieder“ nach Schönbrunn!

Einmal wieder! Schönbrunn ist der Traum der Kinder, die Heimath ihrer ersten Wunder, der Urquell der Erinnerung an alle die „reißenden Thiere“, Gold- und Silberfischlein im krystallenen Teich, an alle die phantasieverwirrenden „Pflanzenungeheuer“ der Tropen, bis in das späteste Alter; der Jüngling wandelt hier sicher einmal mit seiner Geliebten in einer stillen Allee, der Gatte mit seiner jungen Gemahlin, und das Alter selbst glaubt, daß die Sonne nirgends so geregelt und wohlthuend scheine, die Luft nirgends so „angemessen“ sei, als in Schönbrunn.

Diese enge Bekanntschaft des Wieners mit Schönbrunn von Jugend auf läßt ihn Theil an Allem hier nehmen, und die geringste Neuerung daselbst wird ein Stadtgespräch; er kennt jeden Bären im Teiche, die Größe der Zähne des Elephanten, die Pelze der Beutelthiere, die Physiognomie der Giraffen, er controlirt sie, er kommt jährlich nachsehen, wie sie sich befinden, ob sie zu- oder abgenommen; sie sind ein Theil Altwiens und des Altwieners.

Man kann sich nichts Reizenderes, im Einzelnen Schlichteres und doch im Gesammt großartiger Ueberraschendes denken, als die kaiserliche Sommerresidenz Schönbrunn. Wenn man von der Wiener Straße, vor der Brücke etwas geneigt, abwärts fährt, und ganz Schönbrunn als schiefe Ebene dadurch in die Höhe gehoben wird; wenn man von da über das große Schloß hinweg in das riesige Parterre des Gartens mit seinem saftigen Grün, seinen farbenreichen Blumen und den blitzenden Springbrunnen sieht, und im Hintergrunde, abschließend auf der Höhe, wie eine schwebende, emporgehaltene, sonnig-goldene Krone, das „Gloriett“ – dann hat man einen der reizendsten Anblicke von der Vermählung der Natur mit der Kunst genossen!

Wenn ganz Schönbrunn dem Fremden bei dem ersten Anblick wie eine tausendfältige erschlossene Wunderblume erscheinen mag, so ist das Gloriett, rückwärts und auf der Höhe, mit seinen feinen Gliedern, mit dem glitzernden und blitzenden Scheibenschimmer, seinem Mittelkörper und den graziösen durchsichtigen Seitenflügeln ein wunderschöner Schmetterling, der sich auf dem Ganzen mit ausgebreiteten Flügeln niedergelassen.

Nicht anders sieht das Gloriett (oder die Gloriette) aus. Dort, wo es steht, sollte nach ursprünglichem Plane das ganze Hauptschloß zu stehen kommen; aber Kaiserin Maria Theresia ließ mit seltenem Scharfblicke das Vordergebäude um ein Stockwerk erhöhen, die Seitengebäude ganz neu errichten, und Kaiser Joseph II., mit der Grazie, die ihm eigen war, ließ aus dem Projecte das Mittel- und Kelchstück der ganzen Architekturblume herausheben, und pflanzte es so geist- und geschmackvoll, so luftig und duftig, so groß in seiner Kleinheit, auf die Höhe.

Von dem Plateau desselben, das man betreten kann, sieht man bis nach Ungarn hinein, und Kaiserin Maria Theresia hat von hier aus jeden Morgen einer geliebten Tochter nach Preßburg (auf dem jetzt in Ruinen liegenden Bergschlosse) ein grüßendes Signal gesendet oder ein solches empfangen.

Fischer v. Erlach, der die von selbst dem Staunen sich aufdrängende Karlskirche, die Hofbibliothek und die monumentale Reichskanzlei in Wien gebaut, hat auch Schönbrunn in seiner jetzigen Gestalt entworfen. 1619 hat wohl Kaiser Matthias den „schönen Brunn“ geehrt, im Jagdschlößlein haben später die Wittwen der Ferdinande II. und III. gewohnt; aber die Türken brachen mit ihrer Verwüstung herein, legten Alles in Asche, und machten den Hain zum Schauplatz blutiger Gräuel. Er ward ein wildes Gehölz, wie vorher, bis Leopold I. seinem obengenannten Landbaumeister 1696 befahl, wieder einen Sommerpalast aufzubauen. Er war aber noch immer so klein und unansehnlich, daß die „große Kaiserin“ sechs Jahre, von 1740 an, daran weiter bauen ließ. Jetzt hat er an 1000 Zimmer, und die Breite des Ganzen beträgt 700 Klafter.

Da kann man, wie die Hausfrauen sagen, seine Sachen schon stellen! Die Brücke vor dem Schlosse führt über einen etwas weniger reizenden Fluß, als der Arno oder der Mississippi ist, nämlich die mit der Themse an Größe aller Uebel wetteifernde kleine „Wien“. Am schönsten nimmt sie sich im Hochsommer aus, wenn sie gar nicht da ist; und wie man auf dem Bilde sieht, gehört eine Löwennatur dazu, um bei ihr auszuharren. Aber auch die Löwen kehren der Wien wenigstens den Rücken. Nach der Schönbrunner Seite liegen schon zwei Sphinxe; sie sehen aber so begehrlich aus, daß, wenn man kein anderes Sehnen bei diesen räthselhaften und reizenden Gestalten begreift, gewiß jenes: von hier weg nach den Obelisken, wo die Hauptwache ist, zu kommen.

Der große majestätische Hofraum mit den prachtvollen Freitreppen, mit dem Gewimmel von Wagen und Fußgängern, die auch rechts und links nach den angrenzenden Ortschaften eilen, würde weit größeren Reiz auf uns üben, wenn nicht aus den offenen Thorbogen unter dem Hauptbalkone Duft und Schimmer, Grün und Sonnenschein des Gartens, wie aus den Augengläsern eines Panorama’s, perspectivisch und lockend herauswinken würden.

Doch eilen wir nicht zu rasch davon, dieser Raum hat Großes, Heiteres und Tiefbetrübendes gesehen. Hier woben die Fäden des siebenjährigen Krieges; hier hat Joseph II. seine Brautzüge gefeiert; hier hat Erzherzog Karl 1801 seine tapferen Schaaren und Reichsvertheidiger als im Hauptquartiere gemustert; hier hat Napoleon I. auf seinem Siegeszuge 1809 gewohnt und die Marschälle der „großen Armee“ haben hier in der Sonne glänzend paradirt, hier hat gleichzeitig Staps mit dem Eisen gezuckt, um den Sieger im Laufe zu hemmen; er ward von Rapp mit eigener Hand erfaßt und wenige Tage darauf rechts vor der Mauer erschossen; hier hat der selbstgekrönte „Kaiser“ decretirt: es gibt kein päpstliches Rom, sondern ein Königreich mehr; hier lebte und starb sein Sohn, der „König von Rom“, ohne Rom und ohne Königreich, im selben Raume, wo sein mächtiger Vater decretirt!

Und nun rasch, ehe die Wehmuth über Vergänglichkeit, ehe eine Schaar gespenstiger Gestalten in Turbanen, Wämsen, Eisenharnischen oder Seidenstrümpfen vor unseren inneren Blicken auftaucht – rasch hinein in das erquickende Aetherbad des Gartens!

Es ist ein prachtvoller Anblick! So sehr der Geschmack über die Maßregelung der Natur hier grollen mag, der Anblick bleibt ein prächtiger! Die Bäume bilden grüne glatte Wände und kein Lineal des Maurers würde sie glätter aufgeführt haben. Vor den grünen Wänden, als Hüter der träumerisch halbdunklen, bogengewölbten Baumgänge, stehen die blendend weißen, marmornen Statuen mit geheimnißvollen Leibern. Im Hintergrunde quellen und rauschen die Brunnen und springen in den glitzernden Sonnenschein hinein.

Doch das ist nicht der „schöne Brunnen“. Hier thront Neptun über einer Grotte und die Thetis bittet den wässerigen Gott, ihren Sohn Achill auf der Seefahrt zu assecuriren. Welche Antwort sie in diesem Wasserrauschen erhält, habe ich bisher nicht verstehen können – ich will einen Wasserpolaken fragen!

Der „schöne Brunn“, dieser kühle, liebe Brunnen steht nicht so offen auf dem Markte zur Schau, ist nicht so lärmend und prangend. Biegen wir links in die Stille der halbdunkeln, lauschigen, grünen Gänge ein – sehen Sie die kleine runde Kuppel ragen? – Das ist die Kuppel eines stillen, bescheidenen Tempelchens, und in diesem Tempel rieselt der kühle Quell. Hier hat der gewaltige Jäger Kaiser Matthias 1619 geruht und sich erquickt, hier hat er die erste Idee zu dem schönen Jagdschloß gefaßt! An seiner Stelle ruht eine steinerne Nixe, Najade, Elfe, Fee, Sirene – nenne man sie nach Belieben, sie ist ein göttliches, marmornes Weib! Diese liegende, ruhende Gestalt der Quelle ist eine Pilgerfahrt werth. Wenn Pygmalion himmlisches Feuer stahl, um eine Statue zu beleben – im Anblick dieser würde man ihm Recht geben. Wenn Einer Anlagen hat, zum Narren zu werden und einem weißen Marmorweibe an die Brust sinken will, hier gebe ich ihm die genaueste Adresse, er komme hieher, hier kann es ihm gelingen; ich bin immer nur beim halben Ziele angelangt!

Wenn ich kam und ein Philister sich mit seinem physiognomielosen Theile an diese Göttliche lehnte, sein Glas Wasser schlürfend – und die Philister haben immer Durst und könnten um keinen Preis vorübergehen, ohne zu trinken – ich hätte ihm mögen Rattenpulver in’s Glas geben!

[31] Dieses im Allgemeinen noch immer nicht ganz gewürdigte Meistergebilde ist von einem Deutschen, und noch dazu von einem „Gothaer“, aus Tyroler Marmor gefertigt. Die Gothaer sind also zum Aushauen vortrefflich! Der selige Gothaer hieß Jos. Wilh. Bayer, war 1729 geboren und starb als hochbetagter Greis im nahen Hietzing. Von ihm sind alle Statuen des Gartens entworfen und modellirt, er erhielt einen für die damalige Zeit hohen Preis, 2000 fl. per Kopf; für diesen, das Meisterwerk unter allen, wäre ein Schloß nicht zu viel!

Und nun fort von der verführerischen Gestalt, die das marmorene Räthsel aller Reize der Umgebung zu sein scheint, und begeben wir uns zur nahen römischen Ruine, die, künstlich erbaut, einer wirklichen täuschend ähnlich sieht. Von hier aus ist uns ein Blick auf den mächtig ragenden Obelisk gegönnt, den vier goldene Schildkröten tragen und unsere Phantasie von Rom nach den Ufern des Nils zu versetzen suchen. Wir wollen aber nicht den Ibis hören und die Fledermäuse, die aus den Pyramiden schwirren, sondern den tausend heimischen Sängerkehlen lauschen, die da rings ihre Heimath gefunden und deren laubumschattete Nester, vor Frevlerhand streng geschützt, die Missionäre für Liebe und Freude und Bewunderung jährlich neu aussenden! – Doch horch – welche gewaltige Stimme donnert in diese Ruhe und Melodieen hinein? Es ist die Stimme des Königs der Wüste, der von der entgegengesetzten Seite zornig brüllt, daß wir seiner Größe noch nicht huldigend genaht. In der Häuser-Rotunde, rechts vom Mittelplane, wohnt er, ein gefangener König, und wenn wir eilen, sehen wir vielleicht, wie eben der Wärter ihm ein Stück Fleisch hinwirft und er gierig frißt, gerade wie der König von Audh! Die Rotunde der Menagerie mit allen möglichen Ungeheuern Asien’s, Afrika’s und Amerika’s, dem ewigen betäubenden Gekreische der Papageien im Mittelpavillon, ist allein ein reichhaltiges unerschöpfliches Genrebild. Hier hausen die Mägde mit unzählbaren Kindern, hier sieht man die komischsten Bauern mit glotzenden Augen, die Gesellen und Soldaten aus allen möglichen Nationalitäten und mit welchen Gesichtern! Ein einziger Fang mit dem photographischen Apparate vor dem Affenhause ließe die gesammte Münchner Schönheiten-Gallerie weit hinter sich! Der Elephant beschäftigt sich Sonntags mit nichts als mit Semmel- und Kuchenfressen. Er verdaut mehr wohlthätige Spenden, als sich anderswo mit großer Mühe während einer Woche auftreiben ließen. Die Land- und Wasserbären sind die ersten Freunde und Bekanntschaften des sonst ganz fremden Handwerksburschen, die Lehrjungen entwickeln besonders eine rührende Neigung zu ihnen, und was die dreisten Fischlein draußen mit ihren verlangend gestreckten Köpfen und glotzenden Augen übrig gelassen, wird hier lucullisch gespendet. Die Naturgeschichte erhält hier im Allgemeinen vor den Käfigen und gesprächsweise Bereicherungen, vor denen Buffon, Raff und selbst die Gebrüder Schlagintweit schaudern würden!

Auf welchem Punkte der Fuß in diesem Garten ruhen mag, immer öffnen sich zahlreiche Wege und Sichten in die Ferne. Der Elegant sitzt auf den kühlen Bänken, neben der schüchternen Schönheit vom Lande, der alte Herr mit der Dose neben der reizenden Dame der Saison. Hier wandeln alle Uniformen, die gemeinen truppweise; hier führen „Bädecker“, französische, englische, italienische Reisebücher ihre Eigenthümer mit in die Luft gestreckten Nasen kreuz und quer; hier hört man bei dem polyglotten Zustande des Reiches alle Sprachen, und die Töne aus der Menagerie sind darunter immer noch nicht die unmelodischsten.

Bis der Abend hereinbricht, strömt die Menge aus und ein; endlich, wenn das Dunkel beginnt und das Gloriett in der Abendsonne flammt, wie ein Phönix, der sich in Gluthen taucht, wenn die Teiche, das Schloß und der Garten mit Perlenmutterschimmer übergossen sind, sagt der glänzende Gensd’arm an der Freitreppe denen, die hinein wollen: „ich bitte, es wird bald gesperrt!“ dann ertönt in Zwischenräumen drei Mal die weithinschallende Glocke – furchtbar lange Schatten streichen über den gelben Sand, die Ausgänge füllen sich, der große Hof und die Wege nach den Flügeln wimmeln, und fast in allen Besuchern ist eine Empfindung rege: Hunger!

So sehr Ansichten und Zwecke hier auch auseinander laufen mögen, darin sind alle Wiener zu allen verschiedenen Tageszeiten einig: der Weg durch Schönbrunn und die Luft daselbst „zehrt!“ Damit nun die Luft diesen Beruf nicht allein übe, verfügen sie sich regelmäßig zu den zahlreichen Wirthsgärten der Umgebung – hier baut nun jeder sein eigenes Schloß in die Luft!
August Silberstein.




Blätter und Blüthen.

Das sicherste Schutzmittel gegen die Entzündung feiner Gewebe und anderer leicht feuerfangender Gegenstände. Nicht selten lesen oder hören wir von großen Bränden oder Unglücksfällen an Menschen, welche dadurch veranlaßt worden sind, daß ein brennender Körper, oft nur in sehr geringer Menge, mit leicht feuerfangenden Gegenständen in Berührung kam, die dadurch in Brand versetzt wurden und, wie z. B. Gardinen, Coulissen u. dgl., die Entzündung auf andere minder leicht brennbare Körper überführten, oder daß die Flamme die leicht feuerfangenden feinen Gewebe der Kleidungsstücke, besonders der Damen, ergriff, und daß dann die fast augenblicklich die ganze leichte Oberhülle erfassende Entzündung auf die Unterkleider übergeführt wurde und – wenn nicht den früheren oder späteren Tod – doch bedeutende und verunstaltende Körperverletzungen veranlaßte. Diese – wie wir unten lesen werden – leicht zu verhindernden Gefährdungen des menschlichen Lebens oder Körpers haben gewöhnlich eine derartige Besinnungslosigkeit der Betroffenen und nicht selten auch der umgebenden Persönlichkeiten zur Folge, daß selbst sichere Hülfsmittel und sonstige Verhaltungsmaßregeln unbeachtet gelassen werden.

Die Zahl derartiger Unglücksfälle hat sich vermehrt, seitdem man leicht entzündliche flüchtige Oele, wie Terpentinöl, oder ölartige Körper, wie Camphin, Gasäther, Photogen, Mineralöl, Hydrocarburet u. dgl. zur Erzeugung einer brillanten Lichtflamme, Weingeist als reinliches, schnellwirkendes Heizmaterial, besonders aber in einem so bedeutenden Umfange und leider oft mit einer unverzeihlichen Nachlässigkeit behandelte Streichzündhölzer zum Anmachen von Feuer benutzt. Besonders ist es das weibliche Geschlecht, welches in Folge seiner feingewebten, oft ganz luftigen und deshalb um so eher feuerfangenden Kleidungsstücke von derartigen Unglücksfällen betroffen wird, weshalb wir fast lediglich zur Sicherstellung der Damenwelt gegen das Ergriffenwerden ihrer Kleidungsstücke vom Feuer und dadurch veranlaßte Körperverletzungen oder Lebensgefährdungen auf das geeignetste Schutzmittel durch diesen Aufsatz hinweisen, aber auch im Interesse der Allgemeinheit wünschen wollen, daß die gegebenen Andeutungen die Beachtung eines jeden sorgsamen Hausvaters und eines jeden Menschenfreundes finden möge. Wir wählen zur Veröffentlichung des Aufsatzes dieses Blatt, welches in den weitesten Kreisen und durch alle Stände gelesen wird, wodurch eben seine Gemeinnützigkeit als einzig dasteht.

Lange bevor durch die Wissenschaft das eigentliche Wesen der Flamme und aller Verbrennungsvorgänge erforscht worden war, hatte die Erfahrung gelehrt, daß das Brennen entzündbarer Körper durch Bedecken derselben mit anderen sehr gemäßigt oder gänzlich unterbrochen werde, und wir bedienen uns noch heute derartiger Mittel, um brennende Gegenstände zu löschen; wir benutzen bei kleineren Bränden Sand, Erde, ja selbst brennbare Körper, wie Kleidungsstücke, Lumpen u. dgl., was eben zur Hand ist, bei größeren das Wasser, das dabei in doppelter Weise, nämlich deckend und die Temperatur erniedrigend, wirkt. Wir brauchen daher hier nur anzudeuten, daß Personen, deren Kleidungsstücke in Brand gerathen sind, bei Mangel an Wasser dadurch gegen die weitergreifende Entzündung der Kleidungsstücke und das Leben bedrohende Brandwunden zu schützen sind, daß man sie an den Boden legt und möglichst schnell mit den zur Hand befindlichen dichteren Kleidungsstücken, Teppichen u. dgl., bei Ermangelung derselben mit Sand, Erde, Gras, selbst, aber in ausreichender Menge, mir Heu vollständig bedeckt. Wir dürfen aber auch nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß die betroffene Person im ersten Moment des Brandes keine rasche, laufende Bewegung mache, weil dadurch der Brand verstärkt und um so leichter auf minder brennbare Körper übergeführt wird.

Nachdem durch die Naturforscher das eigentliche Wesen der Verbrennungsvorgänge ermittelt und darin erkannt worden war, daß es unter gleichzeitiger Einwirkung einer erhöhten Temperatur durch den Zutritt eines Bestandtheiles der atmosphärischen Luft, des Sauerstoffgases, zu dem brennbaren Körper stattfinde, so war leicht die Erklärung für die Wirkung der allbekannten Feuerlöschungsmittel gegeben. Bald erforschte man auch die Mittel und Wege, das flammende oder glühende Verbrennen entzündbarer Körper unmöglich, d. h. sie relativ unverbrennlich zu machen, wenn sie auch dadurch nicht gegen die Verkohlung geschützt werden, im Fall sie sich zwischen brennenden Körpern selbst befinden. Man tränkte oder überzog die brennbaren Körper mit gewissen salzigen Stoffen, die selbst nicht von brennbarer oder einer das Verbrennen befördernden Beschaffenheit und mit der Eigenschaft begabt sind, bei einem gewissen Grade von Wärme entweder zu schmelzen oder aufzublähen und in diesem Zustande den brennbaren Körper so zu bedecken, daß der Zutritt der atmosphärischen Luft verhindert wird, womit die Bedingung zur Verbrennung beseitigt ist, wenn auch in Folge der hohen Gluth eine Verkohlung stattfinden muß.

Obgleich nun die in dieser Weise forschenden Chemiker ihre Beobachtungen veröffentlicht und zur Benutzung empfohlen haben, so fanden im Allgemeinen die gemachten Erfahrungen in den weiteren Kreisen keine sonderliche Beachtung, – vielleicht weil sie zum großen Theile von deutschen Chemikern ausgingen. Wir dürfen in dieser Beziehung nur an das von Fuchs in München entdeckte und zur Sicherstellung des Holzwerkes und anderer feuerfangender Gegenstände an und in Gebäuden gegen die flammende Verbrennung vorgeschlagene Wasserglas erinnern, das zwar an einzelnen Orten zu dem empfohlenen Zwecke verwendet wurde, aber erst um ein Lebensalter später, und zwar von Frankreich aus, in seiner wahren Bedeutung anerkannt wurde und nun auch in Deutschland mehr Beachtung fand, wobei wir auf einen Aufsatz im Jahrg. 1857 d. Bl. verweisen wollen.

Wenn nun auch die sogen. Feuerschutzmittel in der neuesten Zeit eine größere Anwendung bei Holzwerk u. dgl. finden, so ist doch ihre Benutzung für die Sicherung der Kleidungsstücke und dadurch mittelbar gegen die Beschädigung [32] des menschlichen Körpers und gegen die Gefährdung des Lebens noch gänzlich unbeachtet geblieben; und doch ist sie hier am nothwendigsten, da, wie wir bereits oben angedeutet, die Gewebe für Kleidungsstücke und besonders die aus dem Pflanzenreiche, also die leinenen und baumwollenen, um so leichter Feuer fangen, je feiner das Gewebe selbst ist. Die Gefahr, d. h. die feuerfangende Natur solcher Gewebe, wird aber noch durch das Waschen derselben erhöht, weil eines Theiles der mehr dicht machende Schlich (das aufgetrocknete Stärkemehl, welches in Form von gewöhnlichem Stärke- oder Weizenmehlkleister beim Weben benutzt wird, oder der zu gleichem Zwecke verwendete eingetrocknete Schleim) dadurch beseitigt, anderen Theiles der Stoff durch das Reiben beim Waschen viel lockerer gemacht wird. Besonders tritt eine solche Gefahr ein, wenn die gewaschenen Gewebe nicht wieder gestärkt werden; aber auch wenn dies geschieht, bleibt sie, wenn nicht dabei zugleich solche Substanzen zugesetzt werden, welche die Gewebe relativ unverbrennlich machen.

Die vorzüglichsten Substanzen, welche als Schutzmittel gegen die flammende Verbrennung entzündbarer Körper vorgeschlagen worden sind und angewendet werden, sind der Borax, der Alaun, das Wasserglas und das phosphorsaure Ammoniak. Diese Substanzen, in einem ansprechenden Verhältniß mit Wasser gelöst, leisten fast gleiche Dienste bei gröberen brennbaren Körpern, eignen sich aber, mit Ausnahme der letztgenannten, nicht zur Sicherstellung der gewebten, gestrickten und gehäkelten Gegenstände. Der Borax hat die Eigenschaft, beim Eintrocknen durch das heiße Plätteisen aufzublähen und nicht allein die Waare hart zu machen, sondern selbst auch abzustäuben. Auf gleiche Weise verhält sich der Alaun, welcher ganz vor kurzer Zeit durch einen Menschenfreund zur Sicherung der Damenkleider empfohlen worden ist; er besitzt außerdem die Eigenschaft, die feinen Gewebe leicht so mürbe zu machen, daß dieselben bei der geringsten Dehnung zerreißen. Das Wasserglas macht die damit getränkten oder überzogenen Gewebe hart und brüchig und wirkt auch in gelinderem Grade selbst auf die Faser ein, so daß diese mürbe und das Zeug leicht zerreißbar wird. Das phosphorsaure Ammoniak hingegen besitzt keine dieser Eigenschaften; es läßt nach dem Trocknen an der Luft oder durch das heiße Plätteisen die Gewebe u. s. w. hinreichend beweglich und faltenschlagend, ohne im geringsten auf die Faser störend einzuwirken, und kann selbst mit dem zum Stärken dienenden Kleister vermischt werden. Es wird für den einen oder anderen Fall in der zwanzigfachen Menge – 2 Loth in einem preußischen Quart – Wasser aufgelöst und entweder mit dieser Lösung für sich oder mit dem Stärkekleister vermischt in’s Gewebe gebracht, dieses aber dann dem Trocknen an der Luft überlassen oder geplättet. Vorsorgende Hausfrauen mögen sich durch einen Versuch an einem so vorbereiteten werthlosen Gewebe überzeugen und sie werden finden daß dieses beim Hineinhalten in eine Kerzenflamme zwar nach einiger Zeit verkohlt, sich aber sonst entweder gar nicht oder erst nach längerer Dauer und dann nur an einzelnen Stellen entzündet. Sie werden gewiß zur Sicherstellung ihrer und der Angehörigen alle leicht feuerfangenden Kleidungsstücke, besonders Oberkleider, für die Zukunft auf diese Weise zubereiten und dürfen dann mit weit mehr Ruhe die Kinder ihren Beschäftigungen überlassen, da der schrecklichsten und in ihrem Gefolge oft gar nicht zu berechnenden Gefährdung, der Feuersgefahr, vorgebeugt ist. Umsichtige Damen werden diese Vorbeugung nicht allein auf die Kleidungsstücke beschränken, sondern sie auf alle leicht entzündliche Gegenstände aus Leinenzeug, Baumwolle und Papier ausdehnen.

Zur allgemeineren Sicherstellung ist es aber auch nothwendig, daß die Fabrikanten der leinenen, baumwollenen und Papierzeuge dieselben sogleich bei der Anfertigung mit einem Sicherungsmittel gegen die Entzündung versehen, damit derartige Zeuge, die doch oft genug ohne vorheriges Waschen getragen oder sonst benutzt werden, vollständige Sicherheit gewähren. Die Fabrikanten können eine derartige Vorkehrung um so eher treffen, da die meisten Gewebe oder Gespinnste unter Anwendung von Schlich, dem das phosphorsaure Ammoniak zuzusetzen wäre, verfertigt werden, und Diejenigen, welche zuerst eine derartige Sicherung ihrer Erzeugnisse vornehmen und auf denselben bemerken, würden gewiß die meisten Käufer dafür finden.

Es dürfte uns entgegnet werden, daß die Anwendung des phosphorsauren Ammoniaks durch dessen hohen Preis unmöglich gemacht oder erschwert würde, worauf wir aber zu erwidern haben, daß eines Theiles eine derartige Sicherstellung nicht hoch genug erkauft werden kann, anderen Theils aber es Mittel und Wege gibt, dieses Salz, wenn auch nicht von absoluter Reinheit, die auch nicht erforderlich ist, billig darzustellen. Wir wollen nur die Fabrikanten von Leinen-, Baumwollen- und Papierzeugen, welche diese in der angegebenen Weise sichern, oder Verfertiger chemischer Präparate, so wie auch namentlich Apotheker, welche das phosphorsaure Ammoniak als Feuerschutzmittel in den Handel bringen wollen, darauf hinweisen, daß dasselbe billig und fast rein durch Neutralisiren der Knochenphosphorsäure, wie dieselbe durch längere Digestion von 5 Th. weißgebrannten und gepulverten Knochen mit 3 Th. concentrirter Schwefelsäure und 30 Th. Wasser gewonnen wird, mit reinem oder kohlensaurem Ammoniak, noch billiger aber mit Salmiak vermischt dadurch dargestellt werden kann, daß man die Flüssigkeit, welche man bei der Reinigung der Knochenkohle mit Salzsäure oder bei der Isolirung der Leimsubstanz aus den ungebrannten Knochen durch dieselbe Säure erhält, mit kohlensaurer Ammoniakflüssigkeit, wie sie bei der Verkohlung der Knochen oder Steinkohlen oder beim Destilliren der gefaulten Harne erhalten wird und die in den beiden ersten Fällen durch Digestion mit Kohle von den brenzlichen Beimengungen befreit worden ist, neutralisirt und die von dem gebildeten Niederschlag getrennte Flüssigkeit zur Krystallisation verdunsten läßt. Das auf letztere Weise erhaltene Gemenge von phosphorsaurem Ammoniak und Salmiak kann man durch wiederholte Umkrystallisation zwar scheiden, aber auch diese Operation umgehen, da der Salmiak nicht störend wirkt und in gewisser Beziehung den Schutz gegen die flammende Verbrennung der damit getränkten feuerfangenden Gegenstände erhöht, und das Gemenge, da es von dem Franzosen Gay-Lussac als Feuerschutzmittel vorgeschlagen worden ist, als Gay-Lussac’sches Entflammung sicherndes Salz in den Handel bringen. Zwei Loth dieses Salzgemisches würden im Detailhandel um weniger als einen Groschen zu verkaufen und in einem Quart Wasser gelöst für sich oder mit dem Stärkekleister vermischt hinreichend sein, eine große Masse leicht feuerfangender Gegenstände zu sichern.

Dr. Franz Döbereiner.




Savoyen in Paris. Alljährlich, wenn die jungen Spitzen der Gräser in den Thalgeländen von Chamouny, Sallenche und Maurienne durch die Märzsonne hervorgelockt werden, finden in diesen stillen Alpenthälern der Savoyerberge rührende Scenen des Abschieds statt. Hinaus in die weite Welt ziehen, von den Glück- und Segenswünschen der Eltern und Geschwister begleitet, Hunderte junger, kräftiger Söhne des Gebirges, vom zarten Knabenalter an bis zum Jünglingsalter. Sie ziehen hinaus in die weite Welt, nach Frankreich, England, Deutschland, Rußland, frohen Muthes und hoffnungsvoll, einst als reiche Leute – nach ihren Begriffen wenigstens reich – in diese stillen Gebirgsthäler zurückzukehren, und unbekümmert darüber, ob ihr Weg sie nach Paris, London, Berlin, Petersburg oder Moskau führt. Doch, daß wir der Wahrheit die Ehre geben, wenn es auch dem Savoyarden nicht darauf ankommt, ob er sich in London oder St. Petersburg sein Zukunftscapital verdienen soll, Frankreich und Paris gibt er doch immer den Vorzug, und der Weg von Chambery bis Paris ist zu dieser Zeit mit zahlreichen Trupps jener Gebirgskinder bedeckt, die in ihren hellbraunen groben Tuchjacken, ihren enganschließenden Hosen von derselben Farbe, dem breiten schwarzen Filzhute und den derben, mit zolldicken Sohlen benagelten Schuhen nach der Seinestadt ziehen, um hier als Schornsteinfeger, Stiefelputzer, Wasserträger, Holzspalter, Commissionärs, Bureaudiener, Handlungsauslaufer, Markthelfer, Comptoirdiener der Banken ihr Glück zu machen. Ihr Glück! Der Gedanke läßt sie alle die Entbehrungen und Mühseligkeiten, die ihrer harren, vergessen, und mit dem Gesange des alten Savoyardenliedes: „Dis Gazanetta vastitété lougha“, wandern sie auf der staubigen Landstraße dahin, an einem Quell ihren Durst stillend, in dem Quersacke ihr Frühstück und Mittagsbrod, aus Schafkäse und Schwarzbrod bestehend, tragend und in einer leeren Scheuer oder unter einem alten, schattigen Nußbaume am Wege ihr Nachtlager haltend.

In Paris angelangt, zerstreuen sich die Trupps, ein Jeder geht zu der Kolonie seiner Gemeinde, die in der Regel ihre gemeinschaftliche Wohnung hat. Es gibt gegen zehn solcher savoyischen Colonien in Paris, von denen einige fünf- bis sechshundert, andere noch stärker an Mitgliederzahl sind. Vor der Februarrevolution zählte man gegen zwanzigtausend Savoyarden in Paris, jetzt ist ihre Zahl vielleicht bis auf zwölftausend vermindert. Indessen darf man nicht annehmen, daß diese zwölftausend Savoyarden nur in jenen niedrigen Stellungen sich ihre Existenz in Paris schaffen, sie bekleiden auch sehr einträgliche Aemter, besonders Vertrauensposten bei Bankiers und Banken, und es gibt manchen unter ihnen, der als Geldausträger gegen zweitausend Franken und mehr Besoldung hat. Ihre Hauptempfehlung ist ihre Ehrlichkeit und man kann ohne Uebertreibung sagen, daß ein großer Haupttheil des Mobiliarvermögens von Paris durch die Hände der Savoyarden, in ihrer Eigenschaft als Commissionäre, Bureaudiener, Geldausträger etc. geht. Es wird aber auch jeder Vertrauensmißbrauch, den sich Einer von ihnen zu Schulden kommen läßt, streng bestraft und zwar von ihnen selbst. Der Verbrecher wird ohne Weiteres aus ihrem Gemeinwesen ausgestoßen.

Es hilft ihm nichts, wenn er glaubt, sich in der großen Stadt verbergen zu können; die ganze Savoyardencolonie von Paris wird sein Verfolger und Aufspürer, und früher oder später wird er entdeckt. Ist er gefunden, so muß er in Gegenwart der Aeltesten seiner Gemeindecolonie vor dem ersten Eckstein niederknieen und ihn küssen. Dann gibt man ihm sein Bündel auf die Schultern und führt ihn zu der Barriere hinaus, mit der strengen Weisung, nie wieder nach Paris und Frankreich zurückzukehren. Die Polizei weiß dies und überläßt deshalb auch in den meisten Fällen, wo es sich nämlich um Vertrauensmißbrauch handelt, die Strafe der Gemeinde selbst. Sie ist härter, als sie erscheint. Denn der ausgestoßene Savoyarde muß auf die Realisirung seines Zukunftstraumes verzichten, und muß zum wenigsten in einem andern Lande von vorn beginnen. Die Zeit ihres Pariser Aufenthaltes beträgt in der Regel zehn bis zwölf Jahre. Während dieser vielen Jahre gönnen sie sich kaum ein Mal jährlich eine Erholung. Arbeit und Entsagung ist ihre Parole. Gleichgültig geht der braune Sohn der Savoyerberge an den verführerischen Herrlichkeiten der Seinestadt vorüber – ihn rührt nichts, er gönnt sich weder einen Schoppen Wein, noch besucht er jene Orte des Vergnügens, wo der Pariser Arbeiter sein Geld und oft auch seine Gesundheit in wilder Debauche vergeudet. Das Augenmerk des Savoyarden in Paris ist einzig und allein auf den Erwerb einer Summe von acht- bis zehntausend Franken gerichtet, mit denen er sich in seiner Heimath ein Landgut kaufen, und dort als behäbiger Pächter oder Viehmäster leben kann. Sie schicken deshalb alljährlich ihr erspartes Gut nach Hause, woselbst die Anverwandten es im Ankauf eines Stück Feldes oder Hauses anlegen. Jetzt geben jedoch viele Savoyarden ihr Geld auf die Pariser Sparcassen, ja Manche speculiren damit sogar auf Hausse und Baisse an der Börse und haben ihre Agenten in der Coulisse, wie Mirès und Rothschild. Zuweilen kauft der Savoyarde sich in Paris auch einen Regenschirm von rother bunter Seide, eine schöne silberne Uhr mit Berloque, ein paar bunte ostindische Taschentücher – aber nie denkt er daran, diese Gegenstände in Paris zu benutzen. Er kauft sie, um einst in der Heimath, nach der all sein Sinnen und Trachten steht, damit glänzen zu können, und mit ihrer funkelnden Herrlichkeit das Herz eines savoyischen Mädchens zu erobern, dem er schließlich auch seine Hand schenkt. Denn selten oder nie heirathet ein Savoyarde eine Pariserin, deren zerbrechliche, ätherische Schönheit ihm als eine zu zarte, reizbare Pflanze erscheint, um sie in die strenge, rauhe Luft seiner Heimathsberge zu versetzen, deren dunkle Felsenthäler ihm tausendmal reizender erscheinen, als das glänzende Bois de Boulogne oder die Elyseischen Felder.

K. W.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.