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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[265] No. 19. 1859.

Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Im Busch.
Von Friedrich Gerstäcker.

In früheren Jahren war Australien nichts, als eine Verbrecher-Colonie, und immer neue Schiffsladungen voll Missethäter wurden von England aus hinübergeschickt. Zugleich aber gingen auch einzelne freie Ansiedler mit in das ferne Land, die sich, unbekümmert um das rohe Gesindel umher, bleibend da niederließen und Ackerbau oder meist Viehzucht trieben. Ihr Leben dort verlief aber nicht so glatt und einförmig, wie das jetzt wohl der Fall ist, wo sie sich um wenig mehr, als ihre Felder und Heerden, zu kümmern haben.

Auch die Polizei – obgleich sie in Australien selbst heute noch nicht ruhen darf – hatte mehr zu thun, als die unsrige – wenn ich auch nicht sagen will, daß sie sich mehr beschäftigte – und die kühnsten und unternehmendsten Leute wurden ihr eingereiht. Es galt aber auch damals nicht nur nächtlichen und scheuen Dieben aufzulauern, sondern oft den entsprungenen und zur Verzweiflung getriebenen Sträflingen draußen im Freien zu begegnen, und in dem weiten, wilden Lande gehörte dazu nicht allein eine zähe Ausdauer, sondern auch ein fester Muth, der vor keiner Gefahr zurückbebte.

Die Polizei war deshalb auch – und ist es dort bis auf den heutigen Tag – militairisch organisirt, und die Polizeiofficiere hatten vollkommen freie Hand, nach eigenem Gutdünken mit hinreichender Mannschaft oft gar nicht unbedeutende Streifzüge zu unternehmen. Man mußte sie eben von leeren Förmlichkeiten entbinden, um ihr freie Hand zu lassen, dem Augenblicke nach zu handeln; denn wie häufig kam es gerade vor, daß der Augenblick eben erfordert wurde, einen entscheidenden Streich gegen irgend eine der im Walde zerstreuten Banden entflohener Verbrecher zu unternehmen.

Unter diesen Polizeileuten zeichnete sich besonders ein gewisser Tolmer aus, der noch jetzt im Adelaide-District lebt und thätig ist. Nicht allein keck jeder Gefahr entgegengehend, die sich ihm in den Weg stellte, hatte er auch in dem Buschleben mit Schwarzen und Verbrechern eine Menge werthvolle Erfahrungen gesammelt, und wo ein schwieriges Unternehmen ausgeführt werden sollte, wo irgend ein verzweifelter Bursche verschwunden blieb und nun durch neue Verbrechen dafür sorgte, daß sein Andenken nicht ganz erlosch, da wurde gewöhnlich der damalige Polizeisergeant Tolmer abgeschickt, ihn aufzuspüren. Wenn es irgend möglich war, führte der seinen Auftrag aus.

In Adelaide, oder wenigstens in der Nachbarschaft, hatte ich das Vergnügen, mit Mr. Tolmer bekannt zu werden, und die nachfolgenden Skizzen eines abenteuerlichen Zuges, den er einmal nach einer unfern dem australischen Festlande liegenden Insel unternahm, und der ihn zum Lieutenant beförderte, habe ich aus seinem eigenen Munde. – Ich will versuchen, es so treu als möglich wiederzugeben.

Schon vor längerer Zeit waren ein paar lebenslänglich verurtheilte Deportirte aus dem Gefängnisse ausgebrochen und in den „Busch“ geflohen. Anstatt aber allein darin umherzuwandern, wo sie sich gewöhnlich nicht lange halten konnten, ging das Gerücht, sie hätten sich einem Stamme der Schwarzen angeschlossen und hälfen diesem die benachbarten und in ihrem Bereiche liegenden Stationen belästigen.

Berittene Polizei wurde augenblicklich dorthin beordert, und es gelang dieser auch, den bezeichneten Stamm Eingeborener aufzufinden und zu zerstreuen, aber von den weißen, sogenannten Buschrähndschern[1] fand sich keiner bei ihnen vor. Die Burschen hatten sich jedenfalls, als sie merkten, daß ihr Aufenthalt bei den Schwarzen nicht mehr gesichert war, irgend wo anders hingewandt, und ein volles Jahr lang blieb jeder Versuch, sie wieder aufzufinden, vergeblich.

Tolmer hielt sich nach dieser Zeit wieder in Adelaide auf und hatte eben wieder einen Transport von Flüchtlingen eingebracht, die sich eine Weile in den Dickichten der Hindmarsh-Sümpfe umhergetrieben. Die früher entsprungenen Verbrecher waren schon fast vergessen worden, da man nicht anders glaubte, als daß sie Mittel und Wege gefunden hätten, mit einem Boot in See zu gehen, um vielleicht nach Neuseeland hinüberzufahren oder auch ein unterwegs getroffenes Schiff anzurufen. Einzelne waren schon auf diese Art entkommen.

Tolmer glaubte übrigens nicht daran. Wenn er auch keinen bestimmten Platz wußte, wo er sie suchen sollte, konnte er den Gedanken nicht aufgeben, sie noch auf australischem Boden zu wissen, und unterließ in der ganzen Zeit nicht, die sorgfältigsten Nachforschungen anzustellen, wenn diese auch fortwährend erfolglos blieben.

So saß er eines Abends in dem am häufigsten besuchten Hotel in Adelaide bei einer Flasche Ale. Mehrere Stationshalter aus der Nachbarschaft, die in die Stadt gekommen waren, theils neue Weidegründe zu belegen, theils Vieh und Pferde zu verkaufen, saßen mit im Zimmer, und das Gespräch drehte sich um das Land [266] im Inneren, die muthmaßliche Nutzbarkeit und Besiedelung desselben, die jetzige Bevölkerung und – wie das in Australien damals nicht ausbleiben konnte – um das Recht der Regierung, noch weitere Sträflinge herüberzuschicken. Schon damals nämlich strebten die australischen Colonieen danach – was sie auch später erreichten – daß das System, Verbrecher von England herüberzusenden, aufgegeben und Australien eine wirkliche Colonie von freien Einwanderern würde. Das pro und contra wurde dann, sowie das Gespräch einmal auszweigte, auf das Lebhafteste debattirt, denn es gab eine Menge von Ansiedlern, denen die Sträflingsarbeit sehr bequem und einträglich war und die sie nicht missen wollten, und diejenigen, die das Sträflingssystem bekämpften, führten dann nicht mit Unrecht zu ihrem Gunsten an, welche Massen schlechten, nichtsnutzigen Gesindels sich, in entlassenen oder halb begnadigten Verbrechern, über das ganze weite Land verbreiteten und nicht allein die Sicherheit der ehrlichen freien Bewohner gefährdeten, sondern auch dem unbemittelten Einwanderer eine schwere und kaum zu bekämpfende Concurrenz bereiteten, und nur von dem freien Einwanderer hatte Australien einmal zu hoffen, daß es ein mächtiges und reiches Land werden könne.

Unter den Gästen befand sich auch ein Stationshalter von der südlich vom Adelaide-District liegenden Känguruh-Insel, die damals erst seit sehr kurzer Zeit von den Engländern wirklich in Besitz genommen war. Auch nur Einzelne hatten sich dort drüben niedergelassen, und zwar nur in der Hoffnung, daß die ziemlich ausgedehnte Insel einmal später größere Bedeutung erlangen solle, wodurch ihre dort angelegten Besitzungen auch an Werth und Wichtigkeit gewinnen würden.

Dieser eiferte besonders gegen das Verbrecher-System, trotzdem daß es ihnen in der Schafschur, wie er gern eingestand, willkommene Arbeiter lieferte. Jetzt aber sei man, wie er behauptete, selbst auf diesem entlegenen und durch einen Seearm von den eigentlichen Verbrecherstationen getrennten Theile der Colonie doch nicht sicher, solchem Gesindel jeden Augenblick im Busche zu begegnen, und er gehe immer mit Sorge und Angst von Hause fort, daß einmal während seiner Abwesenheit irgend etwas vorfallen könne, was die Sicherheit der Seinen gefährde.

Tolmer, als Regierungsbeamter, hatte sich nicht in das Gespräch gemischt und nur schweigend den verschiedenen Bemerkungen und Ansichten gelauscht; als sich aber die übrigen Gäste nach und nach verloren und die Unterhaltung auch schon lange auf andere gleichgültige Gegenstände übergewechselt war, setzte er sich zu dem Ansiedler von der Känguruh-Insel und unterhielt sich auf das Lebhafteste mit ihm über die dortigen Aussichten späterer Cultur, über Weiden und Ackerbau und – die Möglichkeit, Arbeiter zu den verschiedenen und nöthigen Verrichtungen zu bekommen. Eine directe Frage über das, was ihm eigentlich am Herzen lag, that er aber nicht, und zwar aus Gründen, die wirklich nur ein Australier begreifen würde.

Der Mann sah vollkommen anständig aus und Tolmer bezweifelte keinen Augenblick, daß er ein Stationseigenthümer von jenem Eiland sei, aber – sie befanden sich in Australien, und Tolmer hatte schon zu oft erfahren, daß man Niemandem, was seine frühere Existenz betraf, trauen dürfe, besonders nicht in der damaligen Zeit. Die dem äußeren Anscheine nach anständigsten Leute waren oft als „Deportirte“ herübergekommen, und wenn sie auch später nicht mit den „Buschrähndschern“ gemeinsame Sache machten, hüteten sie sich doch wohl, dieselben zu verrathen – theils vielleicht aus Mitgefühl, theils vielleicht auch wohl aus Furcht vor einer möglichen Rache derselben.

Der Mann hatte allerdings mit dem größten Eifer gegen das fortgesetzte System gesprochen, verbrecherische und gezwungene Ansiedler nach Australien zu bringen, das aber stellte noch gar nicht fest, daß er nicht in näherer Beziehung zu diesen stand, wie er jetzt vielleicht eingestehen mochte. War das aber wirklich der Fall, so konnte eine unbewacht hingeworfene Frage mehr verderben, wie sich leicht wieder gut machen ließ, und war es nicht so, nun, so hatte er eben nichts verdorben oder versäumt.

In der Unterhaltung und durch geschickte Fragen bekam er übrigens doch heraus, daß sich gerade in der Nachbarschaft von „Mr. Lindsay’s“ Station einige Individuen aufhielten, die von der Jagd und vom Fischfang lebten und keine feste Ansiedelung ihr eigen nannten, und über diese etwas Näheres zu erfahren, war er jetzt fest entschlossen. Das aber mußte auf andere Art geschehen, als durch einfache Fragen,

Tolmer hatte in Adelaide einen Polizeisoldaten Borris, auf den er sich in jeder Hinsicht verlassen konnte. Borris war noch ein junger Mann, aber in seinem Fach, dem er schon seit sechs Jahren vorstand, ausgezeichnet und außerdem erst seit ganz kurzer Zeit von Sidney hierher versetzt, also jenen Verbrechern noch vollständig unbekannt.

Sein Plan war bald gemacht. Borris sollte als gewöhnlicher „Bündelmann“[2] nach der Känguruh-Insel hinübergehen und dort als Schäfer oder Hüttenwächter oder was immer, Beschäftigung bei Mr. Lindsay, und wenn das nicht anginge, ganz in der Nachbarschaft suchen. Dort blieb es ihm dann selber überlassen, alle möglichen und nützlichen Erkundigungen über seine Nachbarschaft einzuziehen, und wußte er, was er wissen wollte, so konnte er wieder nach Adelaide herüberkommen und selber Bericht abstatten. Tolmer warnte ihn aber besonders davor, einen Brief zu schreiben, wenn sich nicht eine ganz günstige Gelegenheit fand ihn zu befördern. Das Schreiben an und für sich war überdies schon gefährlich, denn wurde er dabei von irgend Jemandem gesehen, so mußte Verdacht gegen ihn rege werden. Ein ordentlicher und richtiger „Bündelmann“ kann nie mehr schreiben, als höchstens seinen Namen – und selbst den nicht immer.

Borris war übrigens klug und gewitzt genug, um in dieser Hinsicht vollständiges Vertrauen zu verdienen. Er wußte, was man von ihm verlangte, und das genügte; das Weitere besorgte er schon selber.

Mr. Lindsay blieb noch einige Tage in Adelaide; die Zeit benutzte Borris, seine nöthigen Einrichtungen zu treffen, und schiffte sich dann, mit einem ticket of leave, das ihm Tolmer ausfertigen ließ, versehen, nach seinem Bestimmungsorte ein. Mit einem solchen ticket wurde er von allen Ansiedlern geduldet und bei der Menschenclasse, unter der er sich besonders umsehen sollte, galt es als vollständiger Freipaß, ihm unbedingt zu vertrauen – war er doch Einer der Ihrigen.

Borris war somit spurlos von Adelaide verschwunden, denn drüben auf der Insel nannte er sich, der Verabredung gemäß, Jack, und Monat nach Monat verging, ohne daß Tolmer wieder etwas von ihm gehört hätte. War ihm am Ende gar ein Unglück zugestoßen?– Hatte er sich verrathen oder ihn Jemand doch erkannt? – Tolmer wurde schon unruhig und dachte daran, einen zweiten Boten hinüberzusenden, um Gewißheit über das Schicksal des ersten zu bekommen. Das war aber nicht nöthig.

Eines Morgens trat Borris, in seiner Buschtracht, wie er eben ankam, in des sehr erfreuten Tolmer Zimmer, und die Beiden blieben dort mehrere Stunden eingeschlossen in eifrigem Gespräch.

Das Resultat seiner Entdeckungsreise war auch insofern ein günstiges, da er die Gewißheit brachte, daß auf der Insel eine Anzahl verdächtiger Individuen lebte. Ob es nun gerade jene Verbrecher waren, deren Spur Tolmer schon so lange vergebens verfolgt, war schwer zu bestimmen. Die Beschreibung des Einen von ihnen, der einen gewissen Einfluß auf die Uebrigen auszuüben schien, paßte aber ziemlich genau auf den Verwegensten der Flüchtlinge, einen gewissen John Mulligan, dem man damals besonders auf der Spur gewesen, und hielt sich dieser jetzt dort drüben versteckt, so hatte er auch seine Genossen sicher in der Nähe. Jedenfalls war es der Mühe werth, jene Gesellen aufzuheben und zur Rechenschaft zu ziehen, denn sie brandschatzten in neuerer Zeit wieder die Stationshalter, tödteten von den Heerden, was sie für ihren eigenen Bedarf brauchten, ohne sich viel um irgend ein Eigenthumsrecht zu kümmern, und hatten sogar neulich einen Einbruch auf einer Station versucht – allerdings ohne Wissen und, wie Borris behauptete, gegen den Willen ihres Führers, der kluger Weise Alles vermied, was die Aufmerksamkeit der Regierung auf sie lenken konnte.

Tolmer selber war damals noch nie auf Känguruh-Eiland gewesen und kannte das Terrain gar nicht; Borris beschrieb es ihm dabei als diesen außer den Gesetzen lebenden Menschen außerordentlich [267] günstig, so daß es große Schwierigkeiten haben möchte, sie wirklich einzufangen, wenn sie vorher gewarnt wären. Die größte Vorsicht blieb deshalb noch immer nöthig. Darnach handelte Tolmer.

Mit einem Regierungscutter durften sie nicht hinüberfahren und drüben anlegen; die Kunde davon würde sich blitzesschnell über die ganze Insel verbreitet haben. In Adelaide lag aber gerade ein kleiner Schooner, der neuseeländischen Flachs von Aukland geholt hatte und den man recht gut für eine solche Fahrt bekommen konnte. Der Gouverneur gab auch augenblicklich seine Erlaubniß dazu und bewilligte die nothigen Mittel, und drei Tage später segelte der Schooner mit Mr. Tolmer und zehn Leuten, auf die er sich vollständig verlassen konnte, an Bord. Diese hatte er theils als Bündelleute, theils als Matrosen gekleidet und alle weiteren Pläne aufgeschoben, bis er an Ort und Stelle selber das Terrain kennen gelernt hätte.

Der Schooner ging in Ballast, angeblich Wolle von drüben abzuholen und nach irgend einem der australischen Haupt-Stapelplätze, Sidney, Adelaide oder Melbourne, hinüberzuschaffen.

Borris hatte übrigens seinen hiesigen Aufenthalt vortrefflich angewandt, sich mit allen Schlichwegen im benachbarten Busche genau bekannt zu machen. Von Lindsay dabei nur mit dessen Erlaubniß auf Urlaub fortgegangen, konnte es natürlich nicht auffallen, daß er diese Gelegenheit benutzt, mit diesem Schooner zu seiner Station zurückzukehren. Er trat auch, so wie das kleine Fahrzeug landete, augenblicklich wieder in seine Stelle ein und verabredete sich nur vorher mit Tolmer, diesen wieder an Bord zu sprechen, wobei er sorgen wolle, daß Mr. Lindsay ebenfalls hinüberkäme.

Borris hatte Lindsay, ohne sich selber jedoch dabei zu verrathen, als einen durchaus rechtlichen und thätigen Mann kennen gelernt, von dem sie nicht zu fürchten brauchten, daß er sie verrathen würde. Besser blieb es aber immer, daß er so spät wie irgend möglich, in ihren Plan eingeweiht wurde, und die Zeit war jetzt gekommen.

Der Schooner ankerte gerade der Stelle gegenüber, an der Lindsay’s Station lag, und Tolmer, ebenfalls in Matrosenkleidung und mit glatt rasirtem Gesicht, um sich so viel als möglich unkenntlich zu machen, fuhr an’s Land, ließ sich bei Mr. Lindsay melden und frug an, ob der Gentleman seine Wolle vielleicht auf dem Schooner nach Adelaide verladen möchte.

Lindsay, der ihn nicht mehr kannte, nahm ihn mit in das Haus, und hier entdeckte sich ihm Tolmer, erklärte ihm, daß er gedenke, die Insel von allem Gesindel zu befreien, und bat ihn um seine Hülfe.

Der Squatter schien erst keine rechte Lust zu haben, darauf einzugehen, denn mißlang der Versuch, und wurde es bekannt, daß er die Polizei unterstützt hatte, so durfte er sich darauf verlassen, daß die Buschrähndscher sich an ihm rächten. Tolmer aber überredete ihn leicht, diese unnöthige Besorgniß schwinden zu lassen, und Lindsay versprach wenigstens, ihn gegen Abend auf seinem Schooner zu besuchen, dort – vollkommen sicher vor jedem Horcher – alles Weitere zu besprechen. Borris wollte er dann mitbringen.

Das geschah. Lindsay hatte ein eigenes Boot und ließ sich von Borris hinüberrudern, angeblich, etwas Tabak und einige andere Kleinigkeiten zu kaufen, die im Busch gebraucht wurden. Von seinen Leuten gehörte allerdings keiner mit zu den Buschrähndschern, oder würde sich ihnen angeschlossen haben. Sie Alle wußten aber, wo jene lagerten, und hätten sie nur den geringsten Verdacht geschöpft, daß das kleine Handelsfahrzeug da draußen von Polizei bemannt sei, so wären die „mates“ im Busch augenblicklich gewarnt worden.

Das Nähere, was jetzt Tolmer über die hier versteckten Verbrecher erfuhr, war, daß sie nicht mehr zusammen in einem Trupp wohnten, sondern sich vor etwa acht Tagen in Folge eines Zankes getrennt hätten. Mulligan – Lindsay kannte den Namen genau – hauste in einer kleinen Rindenhütte, etwa vier oder fünf englische Meilen von Lindsay’s Station entfernt, und die Uebrigen, wie Lindsay meinte und auch Borris bestätigte, „buschten“ es – d. h. sie hatten ihr Lager bei dem schönen Wetter mitten im Busch und unfern von einem kleinen Bach aufgeschlagen, da sie noch unentschieden sein mochten, welcher Richtung sie sich zuwenden sollten.

Borris wußte nur von fünfen, Lindsay behauptete aber, daß es im Ganzen sieben wären, John Mulligan mit zweien seiner Anhänger in der Rindenhütte und die vier Anderen, die draußen im Walde lagerten.

Diese Trennung der Schaar mußte ihrem Plan nur förderlich sein, denn sieben entschlossene und zur Verzweiflung getriebene Menschen konnten einem so kleinen Trupp Polizei schon einen gefährlichen Widerstand entgegensetzen, noch dazu, da sie Alle gut bewaffnet waren. In zwei verschiedenen Trupps ließen sie sich aber weit leichter bewältigen, und die Männer beschlossen, am nächsten Morgen vor allen Dingen der Rindenhütte einen Besuch abzustatten, um gleich im Anfang den gefährlichsten von ihnen, John Mulligan, unschädlich zu machen.

Zu diesem Zweck mußte der Schooner aber wieder vor Tag unter Segel gehen, damit die Besatzung nicht in Sicht der Station zu landen brauchte. Lindsay bezeichnete ihnen weiter gen Osten ein kleines Vorgebirge, wo sie wieder beilegen konnten. Dort befanden sie sich nur höchstens anderthalb englische Meilen von John Mulligans Hütte, und Borris sollte sie an der Stelle erwarten, während Lindsay zu Pferde sie später im Busch selber traf. Je früher sie dabei aufbrachen, desto besser, denn um so viel sicherer durften sie erwarten, die Hüttenbewohner noch Alle zu Hause zu finden.

Nachdem dies verabredet war, fuhr Lindsay wieder mit Borris an’s Land zurück.

Am nächsten Morgen war der Schooner von seinem Landungsplatz verschwunden, ohne daß irgend Jemand Notiz davon genommen hätte. Derartige Fahrzeuge kamen oft an die Küste und hielten sich nie länger an einem Orte auf, als sie hoffen durften, ein Geschäft zu machen.

Borris hatte noch am Abend von Lindsay zum Schein einen Auftrag bekommen, mit einem Brief nach einer benachbarten Station hinüber zu gehen, und Mr. Lindsay ließ sich, wie er das gewöhnlich that, Morgens in aller Frühe sein Pferd satteln und ritt in den Busch. Dem Koch[3] sagte er, daß er zum Frühstück zurück sein werde.

Genau nach der Verabredung hatte Tolmer auch gehandelt, traf mit Borris an der besprochenen Stelle zusammen und schlug sich dann rasch mit seiner kleinen, bis an die Zähne bewaffneten Schaar in den Busch, wo ihnen Mr. Lindsay begegnete.

Nach kurzem Marsch erreichten sie die Gegend, in welcher die Hütte stand; zu weiterer Führung wollte sich aber der Squatter nicht verstehen.

„Ihr wißt nicht,“ sagte er, „was für ein verzweifelter Mensch dieser Mulligan ist, und fangt Ihr ihn nicht, so fahrt Ihr nachher wieder ruhig nach Adelaide hinüber, und wir haben die Geschichte hier auszubaden. Ich kann auch mein Pferd hier nicht anbinden, und nähme ich es mit, hörten sie uns schon von Weitem. Dort gleich hinter jenem Dickicht liegt die Hütte – ich selber will nach Cooley’s Station hinüberreiten – Ihr wißt, wo das ist, Borris. Habt Ihr den Mulligan, so kommt und laßt mich’s wissen“ – und damit wandte er sein Pferd und hielt langsam quer durch den Busch der Richtung zu, wo er die Straße wieder erreichen mußte.

Tolmer murmelte einen Fluch zwischen den Zähnen durch. Fest entschlossen aber, das einmal Begonnene auch durchzuführen, ob mit oder ohne fremde Hülfe, gab er seiner kleinen Schaar die nöthigen Befehle, und rückte jetzt langsam und vorsichtig mit ihnen weiter, bis sie in Sicht der Hütte kamen.

Diese, wie tausend ähnliche im Busch, bestand nur aus einem leichten Gestell von Pfosten, mit Latten übernagelt, und mit breiten Stücken Rinde des Stringybark-Baumes gedeckt. Eben solche Rindentafeln bildeten die Wände, und rauh genug sah solch ein Wohnhaus aus. Im Busch werden aber keine Ansprüche an Bequemlichkeit gemacht; Schutz gegen Wind und Wetter gewährte sie, und was weiter konnte man hier von einer Wohnung verlangen?

Sie lag dabei mitten im Dickicht drin, und war von dem benachbarten Stationshalter erbaut worden, einem Schäfer Unterkommen zu bieten. Die Schafe vermehrten sich aber nicht so rasch, wie der Stationshalter geglaubt. Die Hütte wurde nicht benutzt, und John Mulligan, der sie auf seinen Streifzügen durch den Busch entdeckte, fand sie passend, ihm zum Aufenthalt zu dienen – wenigstens eine Zeit lang dort zu leben.

Tolmer war vorangekrochen, vor allen Dingen die Gelegenheit zu erspähen, und ein Blick auf die Hütte verrieth ihm, daß sie ihren Weg hierher nicht umsonst genommen hatten. Zwischen den [268] Rindenstücken, die das Dach bildeten, wirbelte der blaue Rauch hervor, und die Insassen mußten also daheim sein.

Rasch war jetzt seine Disposition getroffen, und die kleine Schaar so vertheilt, daß aus der Hütte Niemand mehr entkommen konnte, ohne wenigstens ihrem Kreuzfeuer ausgesetzt zu sein. So vorsichtig aber schlichen sie an, daß sie von denen in der Hütte nicht einmal bemerkt wurden, und wie sie nun die Thür besetzt und die übrigen Wände umstellt hielten, wußten sie sich ihrer Beute sicher.

Tolmer selber spähte jetzt durch einen schmalen Ritz der einen Seitenwand, konnte aber nur eine Person im Innern erkennen. Es war das ein Mann, der vor dem Kamin auf einer dort liegenden wollenen Decke saß und sich gerade jetzt eine kleine Thonpfeife stopfte. Außerdem schien er auch das Frühstück zu bewachen, denn eine Theekanne stand auf den Kohlen, und die zusammengescharrte Asche verrieth, daß ein „Damper“[4] darunter backe.

Sonst war die Hütte leer – das kleine enge Gemach ließ sich leicht genug überschauen, da in der einen Wand zwei große Rindenstücken fehlten, und der leere Raum als Fenster diente. War das nun Mulligan? Hatten ihn seine beiden andern Gefährten auch verlassen, und war er hier allein zurückgeblieben? Jedenfalls mußten sie sich seiner so rasch als möglich bemächtigen, und Tolmer sah sich jetzt nur noch nach Waffen um. Er konnte nichts erkennen als eine einzelne Muskete, die in der Ecke lehnte.

Der Mann am Feuer war dabei so in seine Pfeife vertieft, daß er keine Ahnung von der ihm drohenden Gefahr hatte. Der Thür drehte er gerade den Rücken zu, und da diese halb geöffnet stand, glitten Tolmer, Borris und einer ihrer Leute hinein und warfen sich – zu verhindern, daß der Ueberfallene nach der Muskete springen könne – plötzlich und geräuschlos auf den Buschrähndscher.

„Na, zum Donnerwetter,“ rief dieser, der gar nicht Miene machte, emporzuspringen, „Ihr werdet mir die Pfeife zerbrechen. Prächtiges Stück Arbeit nachher, und keine andere wieder zu kriegen in dem verdammten Busch.“

„Hallo, der nimmt’s kaltblütig,“ lachte Borris.

„Bindet ihm nur die Arme auf den Rücken,“ sagte Tolmer ruhig, „wenn er glaubt, daß er uns sicher machen will, irrt er sich.“

„Nur nicht ängstlich, old cove,“ lachte der Mann, in dem sich der Matrose nicht leicht verkennen ließ. „Halt da, mates,[5] schnürt mir die Arme nicht in Stücken.“

„Und was zum Henker machst Du hier, Camerad?“ sagte Tolmer, der mit seinem Fang nicht besonders zufrieden schien, denn der Mann betrug sich nicht wie ein ertappter Verbrecher, und das Gesicht war ihm vollkommen fremd.

„Was ich mache?“ sagte der Seemann vollkommen kaltblütig. „Ich passe auf, daß der blutige, steinharte Dumper da in der Asche nicht zum Teufel geht, und hätte jetzt meine Pfeife geraucht, wenn Ihr nicht wie die Wilden über Einen hergefallen wäret. Steck sie mir einmal Einer von Euch in’s Gesicht, und lege eine Kohle darauf.“

„Wie heißt Ihr?“ fragte Tolmer, während ihm Borris lachend willfahrte, und der Gefangene indessen an der Pfeife zog.

„Bill - dank’ Euch, Mate,“ lautete die Antwort. „Weshalb zum Henker, habt Ihr mir die Finnen hinten festgeschnürt? Mit den Füßen kann ich den Damper nicht aus der Asche nehmen.“

„Was treibt Ihr hier im Busch?“ frug aber Tolmer weiter, ohne seinen Einwand zu berücksichtigen.

„Verdammt wenig,“ brummte der Bursche, „koche, wie Ihr seht – Hutkeeper, glaub’ ich, nennen’s die Burschen hier im Land.“

„Das ist keiner von den „Birds“,“ flüsterte Borris seinem Vorgesetzten in’s Ohr.

„Ich glaub’ es auch nicht,“ sagte dieser eben so leise zurück, und setzte dann laut hinzu: „Wer wohnt hier noch mit Euch?“

„Zwei Andere.“

„Und wo sind die jetzt?“

„Ausgegangen, ein Wallobi zu schießen – wenn sie das nicht bekommen können, bringen sie ein Schaf mit.“

„So? – Haben sie eine eigene Heerde?“

Der Matrose lachte und sah still vor sich nieder.

„Wie lange seid Ihr schon auf der Insel?“ fuhr Tolmer fort.

„Drei Wochen,“ lautete die Antwort.

„Und wo kommt Ihr her?“

„Hm,“ brummte der Mann, der hier nicht recht mit der Sprache heraus mochte, „gehört Ihr zur Wasserpolizei?“

„Nein.“

„Gut, dann geht’s Euch nichts an.“

„Von einem Schiff weggelaufen?“ fragte Tolmer.

Der Matrose schwieg und zog an seiner Pfeife.

„Hört einmal, Camerad,“ sagte Tolmer, der jetzt keinen Augenblick mehr zweifelte, daß er es blos mit einem weggelaufenen Matrosen zu thun hatte. „Seid Ihr nur einem Schiff ausgekniffen, so hab’ ich damit allerdings nichts zu thun, und es wird Euch nichts geschehen, aber wir müssen die beiden andern Burschen fangen. Wollt Ihr uns dabei helfen? Denn ich kann mir nicht denken, daß Ihr mit den Verbrechern weiteren Verkehr gehabt habt.“

„Mit gebundenen Armen soll ich Euch helfen.“

Tolmer löste ohne weitere Antwort seine Bande, und Bill fühlte seine Arme kaum frei, als er vor allen Dingen seine Pfeife etwas fester stopfte.

„Daß es mit den Beiden nicht ganz richtig sei,“ sagte er dabei, ohne seine Stellung zu verändern, „hab’ ich mir etwa gedacht. – Hol’ sie der Henker, ich bin froh, daß ich mit guter Manier von ihnen fortkomme.“

„Wie bald können sie zurück sein?“

„Jeden Augenblick. Das Beste ist dann, Ihr stellt Euch hier im Innern der Hütte auf, denn ich weiß nicht, von welcher Seite sie kommen.“

„Ist die Muskete Euer?“

„Nein – sie gehört dem Einen – John nennt er sich.“

„John Mulligan?“

„Was weiß ich, wie sein ganzer Name ist; John genügt, um ihn zum Essen zu rufen.“

„Da kommt Einer!“ flüsterte in diesem Augenblicke Borris rasch, der indessen schon an die verschiedenen Theile der Hütte Wachen gestellt hatte. Die Rinde war an unzähligen Stellen gesprungen, und man konnte überall hindurch sehen.

„Ist das John?“ frug Tolmer, der dem Matrosen winkte, den Ankommenden zu beobachten. Dieser schüttelte den Kopf.

„Nein,“ sagte er, „das ist der lahme Tom – hat richtig ein Schaf erwischt – wird sich unendlich freuen, wenn er hier so angenehme Gesellschaft findet.“

„Und wo ist der Andere?“

„Weiß nicht – sind Beide zusammen fortgegangen.“

„Bst– er kommt – ruhig jetzt!“ warnte Tolmer, und schweigend sammelten sich die Polizeileute im Innern der Hütte an beiden Seiten des Eingangs, auf den der Buschrähndscher, ohne Ahnung dessen, was ihn erwartete, langsam zuschritt.

Er war in die gewöhnliche rauhe Buschtracht gekleidet, jetzt aber in seinen Bewegungen gehindert, da er das schon geschlachtete Schaf auf den Schultern trug und dabei mit der rechten Hand seine Muskete festhielt.

„Holla, Bill!“ rief er, indem er, dicht vor der Thür, mit dem einen Fuß dagegen trat. „Zum Teufel auch, mach Einem den Deckel auf – oder schläft die Canaille schon wieder?“

Tolmer sagte kein Wort, aber wie er dem Matrosen winkte, die Thür zu öffnen, zeigte er ihm ein gespanntes Pistol als Warnung, was ihm selber drohe, wenn er sie verrathen wolle. Bill dachte aber an nichts Derartiges, denn, selber ein ehrlicher Kerl, hätte er schon lange die Gesellschaft dieser Burschen, die ihn gewissermaßen als Diener behandelten, gemieden, wenn er nur gewußt, wohin er sich wenden solle. Jetzt, da es sich herausstellte, daß seine bisherigen Gefährten das wirklich waren, wofür er sie seit den letzten Tagen heimlich gehalten, wäre er der Letzte gewesen, mit ihnen „in einen Topf zu springen.“ Ruhig öffnete er deshalb die Thür für den „lahmen Tom“, wie der Buschrähndscher von seinen Cameraden genannt wurde, weil er ein klein wenig hinkte.

„Da hier,“ sagte dieser, noch vor der Thür – „nimm mir einmal das Schaf ab – na, wird’s bald? Soll ich’s etwa noch eine Stunde auf dem Buckel haben?“

(Fortsetzung folgt.)
[269]
Deutsche Dichter.

Moritz Hartmann

Auf dem reichbevölkerten Dichterparnaß Oesterreichs ragt unbedingt Moritz Hartmann als eine der ersten Größen mächtig unter seinen Zeitgenossen hervor. Er hat das Glück, nicht nur in Oesterreich, sondern auch im „Reich“, wie die echten Oesterreicher sagen, anerkannt zu sein, und sein Name wird nicht nur in Deutschland, sondern auch im Auslande mit großer Achtung genannt.

Da der Dichter mit seinen Werken „auf die Straße“ hinausbaut, so ist es gewiß der richtigste Vorgang, wenn man sein Leben aus diesen Producten, die es, insofern sie organisch sind, getreu wiederspiegeln müssen, musivisch zusammenbaut. Die hier folgende biographische Notiz ist ein auf diesem Wege gewonnenes Resultat.

Moritz Hartmann ist am 15. October 1821 zu Duschnik, einem kleinen Dorfe in Böhmen, das mitten im Walde liegt, geboren und stammt aus einer gewerbthätigen, dort angesehenen Familie. Er schildert die Erinnerungen aus seiner Kindheit in seinem Buche: „Der Krieg um den Wald“ und zugleich die alten Traditionen, die sich dort noch an das Andenken des Kaisers Joseph knüpfen, der mit den dynastischen auch die Interessen des Volkes, das er beherrschte, im Auge hatte.

Den ersten Unterricht erhielt Moritz Hartmann von Hauslehrern, die weitere Ausbildung auf den Gymnasien von Jungbunzlau und Prag. Für ein begabtes und strebsames Talent war in jenen Lehranstalten nicht in reichem Maße gesorgt; man verfolgte den Schlendrian einer hergebrachten dürftigen Methode, die der Jugend jene kräftige Geisteskost vorenthielt, an der sich in Ländern mit freien Institutionen die Talente für das praktische Leben und für die Wissenschaft und Kunst leichter entwickeln. Die Erziehungsresultate dieser Anstalten wurden eben in ihrer dienstwilligen Zahmheit für die Bureaukratie verwendet. Die jungen Leute, deren Ehrgeiz darüber hinausging, wurden als verloren aufgegeben und hatten keine Anwartschaft auf Aemter und Würden. Unser junger Poet war einer von diesen Paria’s; die geringen lateinischen und griechischen Kenntnisse, die ihm die amputirten Schulbücher gestatteten, erweiterte er möglichst auf eigene Faust und eröffnete sich damit den Eingang in die classische Welt, von deren Zaubern er bald so mächtig ergriffen wurde, daß er, unter dem bezwingenden Eindrucke homerischer und horazischer Rhythmen, die sogenannten Brodstudien an den Nagel hing. Mit der deutschen Literatur und ihren Großwürdenträgern wurde er nur aus Fragmenten und Sammelwerken bekannt; von ihren jüngsten Bestrebungen wußte er, als er nach Prag kam, auch nicht das Geringste; so bekam er von Lenau, mit dem er später in so intimem Verkehre stand, nur durch ein fliegendes Blatt Notiz; [270] ein einziges Lied, das es von diesem düstern Poeten enthielt, genügte, um ihn dauernd zu fesseln und ihm die Ahnung zu vermitteln, daß es außer dem Göttinger Dichterbunde noch bedeutende Talente geben müsse. Ein Freund, mit dem ihn das Universitätsleben in Prag, in das er nach den humanistischen Studien eintrat, in Berührung brachte, machte ihn mit den Stimmführern der neuesten Literatur bekannt, von denen ihm aber weniger die übermüthigen Kritiker, die an den alten Autoritäten vermessen schüttelten, als die Dichter imponirten, die ihm durch Productionen den Beweis einer eigenen Schöpfungskraft führten. Von Prag wagte er 1838 seinen ersten Ausflug nach Norddeutschland, von dem gleichsam sein späteres Wanderleben datirt. In den „Erzählungen eines Unstäten“ geschieht dieses Ausfluges im „goldenen Haar“ Erwähnung. Seine ersten poetischen Versuche, die er aber schüchtern hinter Schloß und Riegel verbarg, fallen in jene Epoche.

Von 1840–1844 treffen wir Moritz Hartmann in Wien; er hatte schon auf das Drängen von Freunden mehrere kleine Gedichte in belletristischen Zeitungen veröffentlicht, die sofort eine ungewöhnliche Begabung verriethen. Die Schriftsteller, mit denen er nach und nach bekannt wurde, nahmen ihn trotz seiner Jugend für einen Ihresgleichen. Lenau faßte schon nach der ersten Begegnung eine lebhafte Sympathie für ihn und eiferte ihn durch sein Lob, mit dem er gewöhnlich sehr sparsam war, zur rührigsten Production und zur Zusammenstellung seiner Gedichte auf. Er trug sich selbstverständlich mit großen epischen Gedichten aus der Hussitenzeit; das rauschende Leben und Treiben in Wien hatte zu viel Verlockendes, als daß der junge Poet, den man überall gerne sah und aufnahm, sie fertig ausführen konnte; es verblieb bei Fragmenten, die einen schönen Schmuck seiner ersten Gedichtsammlung: „Kelch und Schwert“ bilden. Da er sich von dem väterlichen Hause durch die künstlerische Richtung, die, weil unpraktisch, nicht nach dem strengen Willen des Vaters, wenn auch nach dem still geheimen Wunsche der Mutter war, unabhängig gemacht hatte, mußte er sich ohne dessen Unterstützung durchzuhelfen suchen. Er trat in ein reiches Bankierhaus als Hofmeister; daß er seine Aufgabe gewissenhaft erfüllte, erhellt aus dem Umstande, daß seine einstigen Eleven, die ihm den ersten Bildungsimpuls zu danken haben, jetzt seine Freunde und, was noch mehr gilt, auf dem Felde der Wissenschaft tüchtige und trotz ihrer Jugend schon ausgezeichnete Arbeiter sind. In Wien hatte sich damals unter der strebsamen Jugend eine politische Opposition geltend gemacht, die bei allen Gefahren, von denen sie auf Schritt und Tritt bedroht war, eifrigst erhalten wurde. An dieser Opposition, die als den ärgsten Frevel den Censurdruck betrachtete, betheiligte sich der junge Poet und suchte mit seinen Liedern die Fesseln zu zerbrechen, welche den Geist umschnürten und wund drückten. Im Jahre 1842 machte er von dem „Capua der Geister“, wie Grillparzer die Kaiserstadt benannte, einen Ausflug nach Italien, nach der Schweiz und nach Süddeutschland. Die Erinnerung an seinen Wiener Aufenthalt und an diese Reise klingt in den „Erzählungen eines Unstäten“: „Dur und Moll“, „Miß Ellen“, „Nessuskleid“, „die Samaritanerin“ und „die Patrioten“ nach.

Im Herbst 1844 ging Moritz Hartmann nach Berlin und Leipzig, in letzterer Stadt veröffentlichte er: „Kelch und Schwert“. Diese Gedichtsammlung, in der sich ein frisches und gesundes Talent offenbarte, wurde von der Kritik und von dem Publicum freudig begrüßt, so daß sie in kurzer Zeit eine zweite Auflage erlebte. Diese Veröffentlichung, mit der er offen und heftig die Fehler und Gebrechen seiner Heimath und ihrer Regierungsweise rügte, verschloß ihm die Rückkehr, so lange die politischen Verhältnisse Oesterreichs in dem Statu quo ante verblieben. Sein Buch wurde von der österreichischen Censur mit dem „damnatur und deleatur“ belegt, was dem Absatze nicht schadete, da man sich in Wien trotz aller Präventivmaßregeln die verbotenen literarischen Erscheinungen zu verschaffen wußte.

Im Jahre 1845 machte er eine Reise durch Deutschland, und knüpfte viele interessante Bekanntschaften mit bedeutenden Männern an; sein liebenswürdiges Auftreten in allen gesellschaftlichen Kreisen erhöhte noch die Sympathie, die man schon für sein Talent hatte. Moritz Hartmann macht vielleicht darin eine löbliche Ausnahme, daß bei ihm der Mensch noch das Interesse für den Dichter steigert; der Erklärungsgrund liegt aber darin, daß beide organisch verwachsen sind. Er gibt sich äußerlich nicht anders, als in seinen Büchern; die Person dementirt nie deren Inhalt. Er setzte sich nach dieser Rundreise für einige Zeit in Brüssel fest, wo er für die „Grenzboten“ thätig war, die für Oesterreich einen ungefährlichen Liberalismus predigten.

Im Jahre 1846 kam Moritz Hartmann zum ersten Male nach Paris, und ging hier viel mit Béranger, Alfred de Musset, Venedey, Heinrich Heine und A. um. Sein erster Pariser Aufenthalt vermittelte ihm außer künstlerischen Beziehungen, zu denen es ihn vorzugsweise drängte, noch einen klaren Einblick in die Debatten der Parteien, und er reifte sich durch diese Erfahrung gleichsam zum politischen Charakter. Seine Rückkehr von der Weltstadt an der Seine, aus der er ein buntes Bilderbuch interessanter Erinnerungen mitbrachte, nahm er, nach einem kurzen Aufenthalte am Rhein, über Hannover nach Leipzig, wo er sich wieder für einige Zeit festsetzte, nur einen neuen Band Gedichte, der bei G. Wigand erschien, zu sammeln und zu ordnen. Diese neue Sammlung rechtfertigte vollkommen die Erwartungen, welche das Publicum und die Kritik an sein Talent stellte. Auch diese verfiel dem „damnatur“ der österreichischen Censur; dies neue Lebenszeichen seines Talents konnte die Regierung seiner Heimath nicht milder gegen ihn stimmen; es war daher ein vermessenes Wagstück, daß er ihre Grenzen überschritt, um seine Mutter zu besuchen, an der er mit abgöttischer Verehrung hing. Er entkam nur durch die eiligste Flucht der Verfolgung, welche dienstwillige Angeber auf seine Person gehetzt hatten. Der Abschnitt: „Heimkehr und Flucht“ in den „Zeitlosen“, der zu dem Schönsten gehört, was Hartmann poetisch producirte, schildert dies für seine Freiheit bedrohliche Intermezzo seines Lebens.

Im Winter 1846–1847 verblieb Moritz Hartmann in Berlin und beschäftigte sich mit ernsten historischen Studien, um sich die nöthigen Grundlagen für die Tragödie zu schaffen, der er sich nicht Knall und Fall wie die leichtsinnigen Dramatiker, die jeder Aufgabe gewachsen zu sein glauben, zuwenden wollte. Er entwarf und vollendete ganze Scenen eines Trauerspiels: „Johanna“ aus der Geschichte Neapels, die, obwohl sie Bruchstücke verblieben sind, eine starke Begabung für das dramatische Fach verrathen.

Zu Ende des Jahres 1847 ging er nach Prag, fest entschlossen, sich allen Strafconsequenzen zu unterwerfen, die seine Regierung, deren Censurgesetze er durch die Veröffentlichung seiner Gedichte ohne das „Imprimatur“ des Revisionsamtes verletzt hatte, über ihn verhängen würde. Es wurde auch sofort ein Preßproceß gegen ihn anhängig gemacht und mit ihm erst auf freiem Fuße verhandelt. In dieser Ungewißheit über den Verlauf seiner Angelegenheit schrieb er ein Trauerspiel: „Sie sind arm“, in dem seine Richter gewiß keinen Milderungsgrund gefunden hätten, da er die socialistischen Ideen nicht verleugnete, die sich schon überall in Schrift und Rede kundgaben. Sein Proceß führte, obgleich man ihm versprach, er würde mit einer Geldstrafe wegkommen, zu seiner schließlichen Verhaftung, von der ihn jedoch nach kurzem die im März 1848 ausbrechende Revolution befreite. Er war politisch gewiegter, als die Meisten, die sich an der Revolution betheiligten; seine Reisen, sein Aufenthalt in constitutionellen Ländern, sein vertrauter Umgang mit hervorragenden Persönlichkeiten bewirkten, daß er in politischen Dingen kein Neuling war. Das erkannte seine Umgebung, die mit der Sympathie für den Poeten auch Vertrauen auf seine Erfahrung hatte.

In Prag bildete sich ein deutsches Comité, das gegen das überwiegende Czechenthum mit seinen separatistischen Bestrebungen Front machte. Die Slaven verfolgten schon seit einer Reihe von Jahren ein antideutsches Ziel; sie drapirten sich zu diesem Behufe mit einer künstlich erzeugten Literatur, für die sie alle Mittel der Reclame in Verwendung setzten. Hatten sie früher geheim und listig minirt, so traten sie jetzt offen hervor; das entschiedene Auftreten dieser Partei war noch ein Glück, weil man sich gegen die von ihr ausgehende Gefahr waffnen und wehren konnte. Darauf wurde er, Moritz Hartmann, in den Nationalausschuß gewählt, mit dessen Constituirung man eine harmonische Ausgleichung der dualistischen Bestrebungen bezweckte. Es zeigte sich nur zu bald, daß die Slaven die Macht in die Hand zu bekommen suchten; geschickter als die Deutschen manövrirend, hatten sie diese bald überstimmt. Hartmann kämpfte mit allem Eifer dagegen; da er nicht die gehoffte Unterstützung von Seite seiner Partei fand, trat er aus dem Nationalausschusse aus. Er wurde im April nach Wien an den Kaiser deputirt; Zweck dieser Deputation war, die deutschen Wahlen für das Frankfurter Parlament zu befürworten und zu betreiben. Der Erzherzog Franz Karl und Minister Pillersdorf, die ihn mit seinen Begleitern zu diesem Zwecke empfingen, versprachen ihre [271] Unterstützung; die Wahlen wurden jedoch nicht in dem beabsichtigten Sinne durchgesetzt. Seine Rührigkeit in Prag hatte auf ihn derart aufmerksam gemacht, daß ihn die Stadt Leitmeritz als Volksvertreter für die Nationalversammlung in Frankfurt wählte. Er nahm seinen Sitz auf der Linken, also bei der liberalsten Partei des Parlamentes und sprach und stimmte nur für jene Vorschläge, die von ehrlich gewissenhaften Männern, welche stets die Wohlfahrt des deutschen Volkes im Auge hatten, ausgingen.

Während des September-Aufstandes in Frankfurt zeigte er aber noch persönlichen Muth in der größten Gefahr. Von seiner Partei beauftragt, mit den Führern der Truppen zu unterhandeln, daß die Feindseligkeiten eingestellt würden, bis ein bestimmter Befehl von dem Reichsverweser ausginge, unternahm er es, im prasselnden Kugelregen die Kämpfer auf den Barricaden zu beschwichtigen, die erbittert das Feuer von Seite des Militairs erwiderten. Es gelang ihm nur ein geringer Waffenstillstand; wie ein Wunder aber muß es erscheinen, daß er damals mit heiler Haut wegkam. Selbst seine Gegner legten damals für ihn Zeugniß ab, daß er sich in diesem Momente auf die unerschrockenste Weise benommen hätte, und man wollte ihm für diese Probe seines Muthes einen Dank in der Nationalversammlung votiren, den er aber bescheiden ablehnte.

Im October wurde er mit Robert Blum und Julius Fröbel von seiner Partei nach Wien, das sich gegen ein mächtiges Belagerungsheer zu vertheidigen suchte, abgeordnet. Er dankte es nur dem Zufalle, nicht mit seinen Collegen in demselben Hotel zusammengewohnt zu haben, daß er, als die Stadt genommen war, nicht gleich ihnen verhaftet und dem Militair-Standgerichte unterworfen wurde. Ein sicheres Versteck rettete ihn vor den Nachforschungen, die man überall hielt; es gelang ihm endlich „post tot discrimina rerum“, sich von dort nach Berlin und weiter nach Frankfurt zu flüchten, wo er einen erschütternden Bericht über seine gefahrvoll traurige Sendung abstattete.

Im Januar 1849 veröffentlichte Moritz Hartmann die ersten Hefte seiner „Reimchronik“; selten hatte eine literarische Erscheinung in Deutschland einen so ungeheueren Erfolg, der um so verdienstlicher ist, da ihn nicht allein die politische Tendenz, sondern eigentlich die poetische Kraft, die darin wirkte, vermittelt hatte. Die „Reimchronik“ ist ein glänzender Beweis, daß in unserem Poeten immer ein Stück Ulrich von Hutten steckte, mit dem er den rhythmischen Schwung des Ausdrucks und zugleich die Ehrlichkeit der Gesinnung gemein hat. Wie dieser Dichter mußte er sich, nachdem er noch dem „Rumpfparlamente“ in Stuttgart beigesessen, dessen Auflösung durch Waffengewalt erlebt und die letzten Züge der Revolution in Baden durchgemacht hatte, wieder auf die Flucht und auf das Wandern verlegen; er ging in das Berner Oberland und später an den Genfer See, wo er mit Jakoby und H. Simon mehrere Monate blieb. Hartmann hat nie, wie andere Flüchtlinge, sein Märtyrerthum ausgebeutet und gleichsam Interessen von seinem Unglücke gezogen; er wollte nicht von fremdem Mitleid haben, was er sich durch eigene Geisteskraft erringen konnte. Darum warf er sich auch sofort auf die literarische Production. Sein Roman: „Der Krieg um den Wald“, das epische Gedicht: „Adam und Eva“, das letzte Heft der „Reimchronik“, „die Verbannten von Locarno“, „Kalotes“ in den „Schatten“ sind die Resultate seines Aufenthaltes am Genfer See, den er hierauf mit einer kürzeren Rast in Bern vertauschte, wo er sich an ein größeres Gedicht: „Donna Juana“ machte, das aber nach vier fertigen Gesängen Fragment verblieben ist.

Aus der Schweiz ging er nach Paris, von dort nach England, Irland und Schottland und später nach Belgien und Holland. Die „Contraste“ und die „Indo-germanische Geschichte“ in den „Erzählungen eines Unstäten“, wie auch seine „Briefe aus Irland“, die er an das „Deutsche Museum“ schickte, beweisen, daß er auf diesen Fahrten nicht unthätig war.

Den Winter von 1850 bis 1851 brachte er in Paris zu und verwendete den nächsten Frühling, Sommer und Herbst zu einem Ausfluge nach der Provence und Languedoc, dessen schriftstellerische Frucht sein „Tagebuch“ und „Glorie“ und „der blinde Wilhelm“ in den „Erzählungen eines Unstäten“ sind. Den Winter 1851 bis 1852 blieb er wieder in Paris und war hier Augen- und Blutzeuge des Napoleon’schen Staatsstreiches. Im folgenden Sommer trat er eine Reise nach der Bretagne an, auf der er Volkslieder sammelte und deren interessante Eindrücke er in reizenden Artikeln verarbeitete, die im „Deutschen Museum“, im „Stuttgarter Morgenblatte“ und im „Frankfurter Museum“ veröffentlicht wurden.

Im Februar 1853 wurde Moritz Hartmann in Mazas verhaftet; die Vorrede zu den „Erzählungen eines Unstäten“ beschreibt ausführlich diese Verhaftung und deren weiteren Verlauf; sie ist vielfach von deutschen Blättern geplündert worden und das Lesepublicum kennt sie auf diesem Wege in allen ihren Details. Man kann sie mit gutem kritischen Rechte ein stylistisches Meisterstück nennen, das wie eine gelungene Ouvertüre das Werk, dem sie vorsteht, eröffnet und dafür harmonisch und sympathisch stimmt.

Nachdem er früher noch eine Reise nach London gemacht hatte, ging er im Jahre 1854 als Correspondent für die „Kölnische Zeitung“ nach der Türkei und auf alle Schauplätze des orientalischen Krieges. Er hatte sich vor dieser Reise durch einen Sturz vom Wagen ein Beinleiden zugezogen, das er anfänglich nicht beachtete, das ihn aber schon im Oriente empfindlich quälte und nach seiner Rückkehr durch achtzehn Monate auf das Krankenlager warf, nachdem er vergeblich seine Heilung in Wildbad, wohin er unter fremdem Namen ging, gesucht hatte. Seine Freunde und Verehrer, die ihn während dieser langen Leidens-Epoche besuchten, wissen nicht genug seinen Muth und seine Geduld zu rühmen, die er mit wahrhaft philosophischer Ergebung an den Tag legte. Er war sich seines gefährlichen Zustandes bewußt und hatte die Ueberzeugung, daß er nur wie durch ein Wunder gerettet werden könnte. Dies Wunder vollbrachte ein in Paris lebender deutscher Arzt, Gruby, da ihn schon alle übrigen Aerzte aufgegeben hatten.

Im Sommer 1858 wieder hergestellt, machte er einen Ausflug nach Deutschland, wo er zugleich die Herausgabe von drei Büchern: „Zeitlosen“, „Bretonische Volkslieder“ und „Märchen“ besorgte, welche literarische Trias den verdientesten Erfolg hatte. Gegenwärtig lebt Moritz Hartmann in Paris, hat aber für die nächste Zeit eine Reise nach Afrika vor.

Man sieht aus dieser Biographie, bei der wir uns absichtlich auf Thatsachen beschränkten, daß der geschilderte durch und durch deutsche Poet ein reiches Leben hinter sich hat und daß er eine harte Schule durchmachen mußte. Ihm ist aber nie der Muth und die Jugendfrische abhanden gekommen; er ist eben nicht eine verzagte, sondern eine resolute Natur, die sich trotz alledem ihren Weg macht.

Es ist nicht zu viel gesagt und kein übertriebenes Lob, wenn wir Moritz Hartmann den besten Dichtern anreihen, die Deutschland mit Stolz jetzt sein nennen darf; und er hat noch nicht seine letzte Karte ausgespielt, die, wie Hafis singt, jedenfalls ein „gewinnend Aß“ sein wird.




Der Eishandel.

Es wird unsern Lesern hinreichend bekannt sein, daß das Eis im Handel eine ungewöhnliche Wichtigkeit erlangt hat, welche vielleicht nur durch die eines andern Handelsartikels, des so hoch geschätzten Guano, übertroffen wird. Der Guano-Handel ist ein wahres Ereigniß in der Handelswelt gewesen; das hastige Vorwärtsströmen einer Karawane nach einem Flusse in der Wüste würde kaum die Begierde versinnbildlichen, mit welcher dieser Handel verfolgt worden ist, nachdem man einmal die Größe des Gewinnes kennen gelernt hatte. Dennoch fürchten wir, daß die Tage des Guano-Handels gezählt sind; wir prophezeien, daß er in Kürze eines natürlichen Todes sterben werde, eines Todes der reinen Erschöpfung, und daß der Nachwelt nicht eine Spur davon bleiben werde, ausgenommen die Stelle, von welcher man den Guano geholt und wo er so lange ruhig gelegen hat.

Nicht so wird es mit dem Eishandel der Fall sein. So lange der Wechsel der Jahreszeiten bestehen wird, können wir annehmen, daß Hunderttausende von Tonnen jährlich auf der Oberfläche der Erde vertheilt werden. Das Eis wird bekanntlich in Folge eines [272] Naturprocesses auf die einfachste Weise aus Wasser bereitet, und zwar in einem riesenhaften und freigebigen Maßstabe. Die Eiskaufleute haben blos ihre Werkzeuge von der einfachsten Construction herbeizuholen, um Stücke aus dem rohen Material herauszuschneiden und fortzuschaffen. Ueberdies erleidet es als rohes Material für den öffentlichen Verbrauch kein vorbereitendes und kostspieliges Verfahren. Unverfälschtes Eis wird in den Küchen, auf den Tafeln, in den Speisekammern der Wirthe etc. so allgemein gebraucht, als irgend ein anderer nothwendiger Artikel. Man wird es deshalb sehr begreiflich finden, wenn, um dieses zu erhalten und zu ersetzen, sich Eisgesellschaften gebildet haben, welche fortwährend eine Menge von Arbeitern beschäftigen. Nordamerika steht an der Spitze in der Betreibung dieses Handelszweiges. Das darf uns nicht wundern, wenn wir bedenken, wie sehr dieser Handel durch die natürliche Lage des Landes begünstigt und mit welchem Unternehmungsgeiste die Yankees begabt sind. Es gibt in Boston in den Vereinigten Staaten sechzehn Compagnien lediglich für den Zweck, Tausende von Tonnen dieses Krystallartikels nach Ost- und Westindien, nach Südamerika und nach anderen wärmeren Klimaten und selbst nach England zu verschicken. Die Wenham-See-Eiscompagnie hat in London und in Liverpool umfangreiche Eishäuser errichtet, und hat Agenten in allen Städten und Ortschaften Englands. Die jährliche Quantität Eis, welche von Boston nach den verschiedenen Häfen verschickt wird, beträgt ungefähr 50000 Tonnen und von Charleston 30000 Tonnen. Die Kosten für den Transport von Boston belaufen sich auf etwa 12340 Dollars, oder 1 Sh. 1½ P. per Tonne; die ganze Einnahme beträgt 2570000 Dollars. Vor wenig Jahren wurde eine Schiffsladung nach Ostindien gesendet, welche für Baumwolle ausgetauscht wurde, und zwar Pfund für Pfund; die Baumwolle wurde alsdann nach England gebracht, wo sie mit 1000 pCt. Gewinn verkauft wurde. In New-Orleans bezahlte man früher für 1 Pfund Eis 6 Cents (3 P.), gegenwärtig aber nur 1 Cent (½ P.) pr, Pfd., wodurch der Verbrauch außerordentlich zunahm, aber auch der Gewinn in demselben Verhältniß.

Das zum Abschaben bestimmte Instrument.

Es ist eine merkwürdige Thatsache, daß das Eis in Masse bei der Transportation während des Sommers nicht leidet, welcher Umstand theils in der Qualität, theils in der Verpackung zu suchen ist. Das Eis, welches sich auf der Oberfläche von sehr tiefem Wasser bildet, ist bei weitem fester als das, welches sich auf Flüssen und seichten Seen bildet. Auch schmilzt das erstere langsamer als das letztere. Das amerikanische Eis wird von Seen genommen, welche eine sehr große Tiefe, oft bis 200 Fuß haben. Dieser Umstand verleiht dem amerikanischen Eise jene Kälte und zugleich jene Festigkeit und Dicke, oft bis zu 12 Zoll, die es so berühmt macht, und wodurch es dem zerstörenden Einflusse der Atmosphäre besser zu widerstehen vermag.

Das Eis wird in den Schiffen als Ballast versendet und zu diesem Zwecke in Blöcke geformt, welche den Kielraum gänzlich ausfüllen, und mit Sägespähnen, Stroh und Holzkohlenasche, alles Nichtleiter der Wärme, bedeckt. Wird es aber ausschließlich als Schiffsladung versendet, so werden die Eisblöcke in Kisten mit Stroh und Heu verpackt. Auf diese Weise kann es ohne Gefahr nach den verschiedenen Häfen versendet werden. Das in England eingeführte Eis wird von dem Wenham-See in dem Staate Massachusets, achtzehn Meilen von Boston, genommen, welcher sehr hoch gelegen, von hohen und rauhen Hügeln umgeben ist und in welchen sich kein Fluß ergießt. Nur durch Quellen, welche fast zweihundert Fuß unter der Oberfläche entspringen, erhält er sich. Material zum Verpacken des Eises und zur Conservation desselben befindet sich in Menge in der Umgebung des See’s.

Die Werkzeuge, welche zum Schneiden des Eises besonders erfunden worden sind, sind einzig in ihrer Art und werden in folgender Weise in Anwendung gebracht.

Von der Zeit an, zu welcher sich das Eis zu bilden beginnt, wird es so lange frei vom Schnee gehalten, bis es geschnitten wird. Dies geschieht, wenn es einen Fuß dick ist. Eine Fläche von etwa zwei Ackern wird hierzu ausgewählt, welche bei der angegebenen Dicke etwa zweitausend Tonnen Eis gibt, und eine gerade Linie von Seite zu Seite durch den Mittelpunkt gezogen. Alsdann wird ein kleiner Handpflug in eine dieser Linien gesetzt und mit diesem ein Einschnitt von 3 Zoll Tiefe und ¼ Zoll Breite gemacht, worauf der „Marker“ eingesetzt wird. Dieses Werkzeug wird von zwei Pferden gezogen und macht zwei neue Einschnitte, parallel mit dem ersten, 21 Zoll entfernt. Der „Marker“ wird alsdann auf die andere Seite des ersten Einschnittes gebracht und macht wiederum zwei neue Einschnitte. Dieses Verfahren wird so lange fortgesetzt, bis die ganze Fläche nach einer Richtung mit Einschnitten durchfurcht ist, worauf dasselbe Verfahren in der quer durchlaufenden Richtung ausgeführt und dadurch die ganze Eisfläche in Quadrate von 21 Zoll Durchmesser eingetheilt wird. Während dieses Verfahrens schneidet ein von einem Pferde gezogener Pflug Einschnitt auf Einschnitt bis zu einer Tiefe von sechs Zoll.

Die ganze Reihe von Blöcken wird alsdann ausgesägt und der Rest nach der Oeffnung hin mit einem keilförmigen Spaten gesprengt.

Der Marker.

Wenn dieser keilförmige Spaten in den Einschnitt hineingelassen wird, springt der Eisblock in Folge eines leichten Ruckes (Stoßes, Schlages), besonders bei kaltem Wetter, leicht ab. Das Verfahren des Lossprengens hängt lediglich von der Temperatur der Atmosphäre ab. „Plattformen“ oder niedrige Tafeln von Rahmenarbeit sind neben der Oeffnung im Eise angebracht, von welchen aus sich eiserne Gleitbahnen bis zum Wasser erstrecken, und an jeder Seite der Gleitbahn befindet sich ein mit einem Eishaken versehener Arbeiter. Mit diesem Haken wird der Eisblock angehakt und mittelst eines heftigen Ruckes auf die Gleitbahn der „Plattform“ gebracht. An einem kalten Tage, wo das Wasser auf den Gleitbahnen, auf der Plattform etc. schnell zu Eis wird, werden die enormen Eisblöcke, von denen manche mehr als zwei Centner wiegen, auf der glatten Oberfläche mit Leichtigkeit fortgeschoben. Zur Seite dieser Plattform steht ein Schlitten von derselben Höhe, fähig drei Tonnen aufzunehmen, welcher mit seiner Ladung nach der Vorderseite des Vorrathshauses gezogen wird, wo sich eine große feststehende Plattform von genau derselben Höhe zum Abladen des Eises befindet. Nachdem dies geschehen ist, wird es Block für Block mittelst Pferdekraft in das Vorrathshaus befördert. Dieses Verfahren des Einbringens wird so geschickt gehandhabt, daß sowohl das Aufnehmen des Eises, als das Hineinwerfen desselben durch das Pferd allein ausgeführt wird. Der Rahmen, welcher den zum Aufbewahren bestimmten Eisblock aufnehmen soll, wird in eine quadratförmige Oeffnung (Ausschnitt), welche in der feststehenden Plattform angebracht ist, gesenkt und der Eisblock darauf geschoben, wobei das Pferd zurückfährt und dadurch der Rahmen mit dem Eise sich erhebt, bis er die in der Seite des Vorrathshauses zu dessen Aufnahme angebrachte Oeffnung erreicht und mittelst einer sinnreichen Vorrichtung von selbst in das Gebäude hinabfällt, worauf das Pferd zurückgeführt wird, um dieses Verfahren zu wiederholen.

Vierzig Arbeiter und zwölf Pferde sind im Stande, jeden Tag vierhundert Tonnen zu schneiden und in das Vorrathshaus zu schaffen. [273] Bei günstiger Witterung verwendet man aber auch hundert Arbeiter zugleich. Thau oder Regen machen das Eis für den Verkauf untauglich, indem es hierdurch undurchsichtig und porös wird, und wenn nach dem Regen Schnee fällt und wieder Frost eintritt, so entsteht „Schnee-Eis“ welches werthlos ist und mit einer „Plane“ fortgeschafft werden muß. Dieses Instrument – eine Art Hobel – läuft, von einem Pferde gezogen, in den vom „Marker“ gemachten Einschnitten und schabt das Eis bis zu einer Tiefe von 3 Zoll ab. Sollte sich das Eis noch nicht rein zeigen, so wird dieses Verfahren wiederholt. Ist das Eis zu dünn geworden, so muß es im „statu quo“ gelassen werden, und es genügen wenige Nächte mit starkem Froste, um das unten zu ersetzen, was oben weggenommen ist.

Um den Verbrauch des Eises in den Eishäusern am See und in den Städten zu ersetzen, füllt die Compagnie eine große Menge von besonderen Vorrathshäusern während des Winters mit Eis, welches mittelst Eisenbahn befördert wird. Es wird einem Jeden einleuchten, daß der Aufwand für Werkzeuge, Vorrathshäuser, Arbeiter und für die Erhaltung der Eisenbahn sehr groß ist, aber der Handel ist so umfangreich und die Verwaltung desselben so ausgezeichnet, daß das Eis, selbst in England, zu einem sehr niedrigen Preise bezogen werden kann.

Der Pflug.

Wir haben bis jetzt nur eine unvollkommene Idee von der verschiedenen Anwendung des Eises, sowie von der besten Methode, es aufzubewahren. Den Amerikanern gehört Eis zum unerläßlichen Hausbedarf. Sie würden ihre häuslichen Arrangements für durchaus unvollständig erachten, wenn ihnen ein „Refrigerator“ oder ein tragbares Eishaus fehlte, in welchem sie ihre etceteras zum gelegentlichen Gebrauche aufbewahren können. Der „Refrigerator“ ist mit durchlöcherten Bretern versehen, um Kühlung durchzulassen, indem unter denselben sich das Eis befindet. Auf diese Breter stellt man Weinflaschen, Früchte und Lebensmittel aller Art, welche sich, ohne mit dem Eise in Berührung zu kommen, in einer niederen Temperatur befinden und dadurch erhalten werden. Die Kiste ist wie ein großes Eishaus construirt, besteht aus einem Doppelboden, hat Doppelseiten und einen Doppeldeckel, ausgefüllt mit Nichtleitern, wie Sägespähnen oder Holzkohlenasche. In dieser Kiste verwahren die Hausherrn Amerika’s während der warmen Jahreszeit ihre Früchte, Fleisch und Lebensmittel aller Art, so daß sich diese sogar mehrere Wochen erhalten. Ein Stück Eis von einigen Pfunden, in den Boden des „Refrigerator“ gelegt, genügt, um dessen Inhalt für einige Tage in einer Temperatur zu erhalten, welche nur wenig über dem Gefrierpunkte ist.[6]

Das amerikanische Eis eignet sich wegen seiner vorzüglichen Reinheit ganz besonders für den Tafelgebrauch, und wird daher auch allgemein angewendet, um Wasser und Milch zum Trinken damit zu vermischen, um Weine und Spirituosen zu verdünnen und um Butter und Eingemachtes frisch zu erhalten. In unsern Hotels, Weinhäusern und Conditoreien bereitet man im Sommer die beliebten und berühmten amerikanischen Getränke eben sowohl für die durstigen Reisenden als für die erhitzten Fußgänger in der Stadt den „Sherry Cobbler“ und „Mint Julep“, deren Recepte ich den geehrten Lesern mitzutheilen mir erlaube.

Die Säge.

Ein Sherry Cobbler. Hierzu nimmt man 1 Glas Wein und ½ Glas Sherry, 2 Theelöffel voll gestoßenen weißen Zucker, ein paar Stückchen Citronenschale, füllt den Becher mit zerstoßenem Eise, gießt den Inhalt aus einem Becher in den andern, bis der Zucker aufgelöst ist.

Ein Mint Julep. Hierzu nimmt man zu gleichen Theilen Rum und Branntwein (Zucker wie vorher), anstatt Citronenschale Krauseminzeblätter; gemischt und getrunken wie der Cobbler.




Westphälische Erinnerungen.
Mitgetheilt von Heinr. König.[7]
2. Geheime Polizei.

Wir berühren in unserer Erinnerung an eine schmachvolle Zeit deutscher Erniedrigung heute einen Gegenstand, der uns leider abermals belehrt, daß es Deutsche waren, die in schmählicher Selbstvergessenheit die Absichten der Eindringlinge auf jede Weise förderten – mit andern Worten, daß französische Polizei am besten von deutschen Subjecten bedient wurde.

Wir sind hier unter uns, in einer vertrauten Gartenlaube: – gestehen wir uns, was ja schon mehr ausgesprochen worden, – es ist mitunter etwas Hündisches in der deutschen Natur, wie ja selbst auch die gerühmte deutsche Treue nicht selten eine etwas hündische war. Keine Nation kann sich an Umfang und Tiefe der Naturbegabung mit der deutschen messen, und keine besitzt so wenig nationalen Stolz, keine andere gibt sich mehr dazu her, die Fremden zu umwedeln.[8] In welchem Bade oder Gasthof begegneten wir nicht alle Tage verzwickten deutschen Reisenden, die lieber schlecht französisch oder englisch belfern, als gut deutsch reden! Und haben wir es nicht neulich erlebt, daß deutsche Veteranen, die einst zu der Münze gehörten, in welcher der Rheinbund an den großen Bewältiger zur Bestreitung seiner Eroberungen die drückende Hundesteuer bezahlte, sich jetzt um das Anhängsel, um das Zeichen der wirklich bezahlten Steuer bemühten?

Die geheime Polizei in Westphalen, in Verbindung mit ihrem Vorbilde, der französischen Polizei, war sehr verzweigt und – man darf auch sagen – verwurzelt, da ja doch die Wurzeln der Bäume eigentlich unterirdische Zweige sind. Die 900 Gensd’armen des Königreichs hatten die gemessenste Instruction im Interesse der geheimen Polizei. Bei dem geringsten Verdacht, auf die frivolste Denunciation hin, fanden die rücksichtslosesten Haussuchungen statt. Lüderliche Ehefrauen, verworfene Weibsbilder, Drehorgelspieler und Bänkelsänger standen im Dienste der Polizei. Es gab in der Schloßstraße in Kassel ein Gesindevermiethungscomptoir unter Leitung der Polizei, um mittelst der dienenden Personen in das Innerste der Familien zu dringen. Am Polizeilocal am „Steinweg“ war neben dem Eingangsthor eine Oeffnung angebracht, durch die man, ohne selbst bemerkt zu werden, heimliche Anzeigen einwerfen konnte. Es diente zur Erleichterung der Angeberei, die sonst vielleicht noch ein wenig blöde oder verschämt gewesen wäre, und auf diesem Wege nicht unverschämt zu werden brauchte. Im Hinterbau der Polizei bestand ein verschwiegenes Cabinet, wo geheime Briefe beantwortet und die Postcorrespondenz geöffnet wurde. Der Generaldirector der [274] Posten, Staatsrath Pothau, ein Schwager des uns bekannten Ministers Grafen Fürstenstein, war ein einverstandener Mann, ein gefälliger, geistloser Mensch, der seine Ignoranz im Postdienste unter vornehmer Miene zu verbergen wußte, ein Mann ohne Charakter, den man ganz richtig als „verschmitzt-geschmeidig“ bezeichnet.

Von jenem schwarzen Cabinet gingen auch erdichtete Nachrichten, als von einem reisenden Kaufmanne herrührend, oder aus London datirt, durch den westphälischen Moniteur in’s Publicum. Auch hatte die Polizei ein besonderes Siegel, mit welchem die Pässe für jene Personen ausgefertigt wurden, auf welche man die besondere Wirksamkeit der die Pässe visirenden Beamten lenken wollte. Man konnte es ein – Uriassiegel nennen.

Wenn die Franzosen in Westphalen an den Deutschen überhaupt ihre ergebensten Diener anerkannten: so thaten sie dies im Fache der Polizei mit gebührendem Hohn, und schoben überall einen Deutschen vor, um da zuzugreifen, wo kein Franzose seine Finger beschmutzen mochte.

Indem wie daran erinnern, daß auch der berühmte Spion der großen Armee sich durch seinen Namen „Schulmeister“ als einen Deutschen verräth, müssen wir leider bemerken, daß die deutschen Polizei-Agenten in Westphalen, besonders ein gewisser Kroschky, es nur allzubald zu der Mißachtung brachten, daß keiner derselben wagen durfte, eines der Expeditionszimmer im Polizeilocal ungerufen zu betreten. Sie mußten wie die Hunde vor der Thür warten, bis sie zum Aufwarten befohlen wurden. Von den Franzosen selbst wurde keiner anders, als mit dem Ehrentitel eines Mouchard – eines Spions, bezeichnet.

Darunter waren besonders einige, die uns, wären sie noch in unserer leibhaften Nähe, das artige Wort Shakespeare’s abnöthigen würden: „Mein Herr, ich wünsche mir ihre entferntere Bekanntschaft!“ – – oder das andre: „Ich hoffe, mein Herr, bei unserer nähern Bekanntschaft auch eine recht gründliche Mißachtung für Sie zu gewinnen!“

Der eine geheime Agent, Namens Würtz, war eine lange, ausgetrocknete, gichtische Gestalt mit kleinem Kopfe, das starke braune Haar über der Stirn gekräuselt. Ein matter, unstäter Blick begleitete sein erzwungenes Lachen; geschminkte Wangen umgaben einen breiten Mund voll morscher Bruchstücke von Zähnen zwischen Kinn und Nase, die spitz hervorragten. Auf seinem Angesicht hatte das Laster unvergängliche Fußstapfen hinterlassen. Sein feiner, modischer Anzug duftete von wohlriechenden Wassern. Seine allgefällige Freundlichkeit konnte rasch eine drohende Miene annehmen, wenn er für leckere Bewirthung in den Gasthäusern ohne Geld über das Bezahlen hinauskommen wollte. Er wurde unverschämt, wenn er spionirte, und spielte, unter Verwünschungen seines Polizeidienstes, den ehrlichen Deutschen, so oft er täuschen und aushorchen wollte. Er knüpfte Verhältnisse mit weiblichen Dienstboten an, um sie über ihre Herrschaft auszuforschen. So brachte er von der Magd eines Büreauchefs im Kriegsministerium heraus, daß ihre Madame ein prächtiges Geburtstagsgeschenk erhalten habe, von den Geldern angeschafft, die bei der letzten Militairziehung von einigen Bauern in die Tasche des Büreauchefs gefallen seien. Würtz beeilte sich mit einer so feinen Entdeckung, und der Beamte wurde entlassen.

Der alte Sünder verlockte, wo er konnte, junge Mädchen zur Liebschaft, um sie dann unter der Drohung, sie als lüderliche Dirnen anzuzeigen, zu seinen Spionirungen zu brauchen. Seine Frau, als die „Halle’sche Mine“ berüchtigt, wirkte als geheime Agentin bei Männern, die nicht zu ekel waren, in ihre Falle zu gehen. Würtz verschmähte es nicht, an den Stubenthüren zu horchen, hinter denen sich angesehene Männer versammelt hatten. Dennoch versichert uns ein Zeitgenosse, der ihn gekannt hat, er sei nicht aller Gutmüthigkeit bar – und nicht so bösartig gewesen, als der früher genannte Kroschky.

Ein zweiter Agent, Steinbach, war als Kundschafter mit einer schlimmen Schwäche behaftet. Er trieb sich hauptsächlich in den Wirthshäusern herum, hatte aber das Unglück, wenn man ihm einen Rausch beibrachte, alles zu vergessen, was er zu einer polizeilichen Anzeige beobachtet oder erlauscht hatte. Dieser berufswidrige Fehler seines Naturells würde ihn gar bald um seinen Dienst gebracht haben, hätte er sich nicht auf andre Weise zu empfehlen gewußt. Bergagny, der Generaldirector der hohen Polizei, den wir noch werden kennen lernen, gab nämlich, als er seine Familie von Paris kommen ließ, diesem Steinbach die liebenswürdige Person zur Frau, mit der er bisher, in Ermangelung seiner Gemahlin, sehr zufrieden gewesen war. Diese erfahrne Person hielt den glücklichen Steinbach dadurch aufrecht oder, wie man zu sagen pflegt, über Wasser, daß sie als noch ganz artige Mitspionin ein einträgliches Revier betrieb und ihm die beste Aushülfe leistete.

Der Dritte in diesem Kleeblatte zeichnete sich durch sein robustes Aussehen, schwarzes Haar, starke Augenbrauen, durch sein tiefliegend stechendes Banditenauge und eine hohe, braunrothe Gesichtsfarbe auffallend aus. Es war der Jude Hirsch, der sich auch Cerf oder Cerfy nannte. Die Franzosen fanden ihn, als sie im Jahre 1806 gegen Preußen anrückten, in Frankfurt am Main, mit dem Barbierbecken umherlaufend. Rasch schleuderte er den Seifenschaum von den Fingern und stürzte sich auf gut Glück in den Strom der großen Armee. Mit ihr kam er nach Berlin und von da nach Kassel, – ein gemeiner, unwissender, roher Bursche, dummdreist in seinem Dünkel, boshaft listig bei seinem Prahlen mit vornehmen Bekanntschaften, besonders wenn er darauf ausging, unter Schimpfen auf seine Vorgesetzten, treuherzige Menschen zu verlocken.

Als später, zur Zeit der aufständischen Bewegungen in Deutschland, der Herzog von Braunschweig-Oels mit seinem Corps über Halle und Halberstadt gen Braunschweig zog, gab sich Cerf für einen Officier des Herzogs aus, wiegelte westphälische Bauern auf und führte sie, statt zum Heer des Herzogs, – vor ein westphälisches Kriegsgericht.

Recht bezeichnend für jene Zeit ist auch die Geschichte, die mir ein Mann mitgetheilt hat, der damals selbst in einem Büreau der Polizeiverwaltung angestellt war.

Eines Tages lief von dem General-Commissar der hohen Polizei in Marburg, Herrn von Wolff, der Bericht ein, die Gensd’armerie habe einen sehr verdächtigen, aller Legitimation baren Menschen eingebracht, der sich unbedingt weigere, Auskunft über sich zu geben. Ehe noch ein Beschluß des Ministeriums gefaßt war, kam die weitere Anzeige, der Unbekannte sei auf unbegreifliche Weise entwischt, und sofort erfolgte die dritte Meldung, der Flüchtling sei wieder festgenommen, wolle aber nur in Kassel selbst Erklärungen abgeben, und falls man ihm Straflosigkeit und Freiheit verbriefe und eine Anstellung im Polizeifach verspreche, wo er sich höchst nützlich machen könne, sei er bereit, die umfassendsten Geständnisse zu machen, die das Glück und den Wohlstand von Unzähligen sicherstellen würden.

Dieser außerordentliche Fall gab Anlaß zu lebhafter Verhandlung zwischen dem General Bongars als Gensd’armerie-Obersten und dem Justizminister Simeon, und führte zu einem gemeinschaftlichen Bericht an den König. Jerome entschied für das Begehren des Gefangenen; die verlangten Zusagen wurden demselben durch Herrn von Wolff zugestellt, und er gab nun seine Mitteilungen zu Protokoll.

Der Gefangene nannte sich Karl Wenderoth und gab sich für den Anführer der aus den Trümmern der berüchtigten Schinderhannes’schen Räuberbande gebildeten und von allen Seiten her rekrutirten großen Bande aus, die seit Jahren schon die westphälischen Provinzen, die Wetterau, den Spessart und die beiden Rheinufer durch Straßenraub, Einbruch, Brand und Mord in Schreck und Angst gesetzt und alle von den Behörden gegen sie ergriffenen Maßregeln bis jetzt vereitelt hatte. Wenderoth machte sich verbindlich, unter Beistand der Gensd’armerie, der Polizei und des Militairs alle seine bisherigen Genossen einzufangen und eine Menge des versteckten Raubes zur Entdeckung zu bringen.

Man traf seine Anstalten hiernach, und es sollen über hundert (vielleicht unschuldig) Angeklagte vor die Tribunale, besonders vor das Kasseler, gebracht worden sein, denen allen Wenderoth als Hauptzeuge gegenüber gestellt wurde, was zu den grausenhaftesten Erörterungen führte. Dreizehn wurden von den Geschworenen zum Tode und eine große Zahl zum Zuchthaus verurtheilt. Was mit den verborgenen Schätzen geworden ist, wissen wir nicht.

Der Held dieser großen That, ein Mann vom Aussehen eines gutmüthigen, behäbigen Bürgers, trat nun als Agent in polizeilichen Dienst, ergab sich aber mehr und mehr dem Trunke, so daß er wiederholte Arreststrafen erhielt, und ging bei den großen Umwandlungen, die der Herbst des Jahres 1813 über Deutschland brachte, gänzlich verschollen.

Bergagny, der Generaldirector, ein hübscher Mann über mittleres Alter, besaß Verstand und Beredsamkeit, Kenntnisse und Geschmack. Er war früher Mönch gewesen, und die Kutte, die er [275] abgeworfen, hatte ihrem Ungetreuen unvertilgbare Angewöhnungen hinterlassen, ihn gleichsam für immer gezeichnet. Er hieß eigentlich Legras, hatte den Familiennamen seiner reichen Frau „de Bergagny“ noch dazu genommen, und nannte sich Chevalier. So bildete sich aus dem Anspruch des Ritterlichen, aus dem Benehmen für das Polizeiliche zu seiner klösterlichen Haltung eine sehr eigenthümliche Erscheinung. Er konnte sehr liebenswürdig sein, so lange ihn sein Temperament nicht zu Härte und Unbesonnenheit hinriß. Das Deutsche war ihm fremd, und seine Maßregeln hingen mithin von den französischen Berichten ab, die er erhielt. Wie sehr er aber auch im echt französischen Sinne verwaltete, geht daraus hervor, daß er einst, bei Durchsicht der Strafregister, als man die abnehmenden Polizeistrafen mit der Abnahme der Vergehen und Verbrechen entschuldigte, sehr unzufrieden ausrief: „Il faut créer des crimes!“ (Man muß Verbrechen hervorrufen!)

Aber auch in seiner klugen und taktvollen Rücksichtnahme zeigte sich der Franzose. Er hatte ein Töchterchen von acht bis neun Jahren, in Paris erzogen und durch ungemein graciöses Wesen ausgezeichnet. Wenn es auf Kinderbällen eine französische Quadrille mit tanzte, erhob sich Alles von den Spieltischen, um der kleinen anmuthigen Tänzerin zuzusehen. Es läßt sich denken, in welcher Verzweiflung die vernarrten Eltern bangten, als ihr Liebling einst schwer erkrankt lag. Der Arzt H. behandelte das Kind, und es genas. Als der vergnügte Vater den Arzt mit Worten des Dankes und einem artigen Geschenk entließ, drückte er ihm zugleich ein Päckchen Papiere in die Hand. Zu Hause geöffnet, enthielt es mehrere Briefe des Arztes, an verschiedene Freunde geschrieben und ihres freimüthigen Inhaltes wegen von der Polizei bei der heimlichen Eröffnung zurückbehalten. – – – War dies eine schonende oder die kluge Rücksicht, erst noch mehr solche Briefe abzuwarten, ehe man dem Schreiber den Proceß mache?

Bergagny war lange ein Günstling des Königs, bis Jerome einst, sehr ergrimmt darüber, daß der kaiserliche Bruder alle, auch die kleinsten Vorfälle vom Kasseler Hof kannte, von Paris zurückkam und von Bergagny wissen wollte, wer wohl die verrätherischen Berichte an den Kaiser abstatte. Der Polizeidirector wußte es nicht und konnte es nicht ermitteln. Dies verstärkte nur noch mehr den Unwillen des Königs. Da versprach ihm Bongars, der Legionschef der Gensd’armerie, den Berichterstatter auszumitteln. Er schickte einen gewandten Menschen nach Paris, der im Einverständnisse mit der Post alle Kasseler Briefe eröffnete. Da ergab sich denn der General-Commissar der Polizei in Kassel, Herr Savagner, als der Verräther. Alsbald wurde derselbe des Landes verwiesen, Bergagny ungnädig entlassen, und Bongars zum Generaldirector der hohen Polizei bestellt.

Bongars, Staatsrath und Ritter des holländischen Ordens, ein Sechziger von hohem, stattlichem Wuchs, etwas mager und in seiner Haltung vorgebeugt, trug kurzes graues Haar, war weit weniger als Bergagny unterrichtet, aber von bedeutenden Gesichtszügen und freundlichem Aeußeren, so sehr er auch wieder Hitzkopf und ziemlich brutal sein konnte. Er hatte noch als Edelknabe am Hofe Ludwig’s XVI. gestanden und war jetzt ein braver Hausvater. In der öffentlichen Meinung war er verhaßt, da man wußte, daß er durch seine Gensd’armen die Familien überwachen ließ. Auch war von ihm das Verbot veranlaßt, daß kein Beamter einen – Bart unterm Kinn tragen durfte. Er wollte nämlich wissen, daß solches Barthaar das Abzeichen, das Erkennungszeichen der Mitglieder des preußischen „Tugendbundes“ sei, – einer Verbindung in Preußen, deren wir noch gedenken werden.

Seiner nicht allzugroßen Fassungsgabe begegnete eine fast unglaubliche Täuschung, die uns einen tiefen Blick in die damalige Lage der Kasseler Verhältnisse thun läßt.

Zu einer vacanten Schreiberstelle in den Bureaux der Gensd’armerie meldete sich nämlich eines Tages bei Bongars, dem Legionschef, ein mit den besten Zeugnissen versehener junger Mensch aus einer armen, aber als ehrenwerth bekannten bürgerlichen Familie. Er gefällt dem freundlichen Manne, wird für die Stelle angenommen und macht sich auch sehr bald durch Fleiß, Aufmersamkeit und Hingebung an das Interesse der neuen Regierung so beliebt, daß Bongars ihn bei seiner Militairpflicht durch Aufnahme in das Gensd’armerie-Corps in der Weise erleichtert, daß er, ohne ihn wirklich Dienst thun zu lassen, seinen Namen in den Controlen des Corps vorrücken läßt, um ihm dadurch den Zuschuß der Löhnung zu seinem Gehalte als Schreiber zuzuwenden. Nicht zufrieden damit, zieht er ihn auch in seinen liebenswürdigen Familienkreis, sorgt durch Privatunterricht für seine höhere Ausbildung und verschafft ihm dann einen Platz mit ansehnlichem Gehalte im Generalsecretariate des Ministeriums der hohen Polizei. Ja, er dehnt dies Wohlwollen auf die Familie des jungen Menschen aus und bringt einen seiner Brüder auf die einträgliche Stelle eines Kriegscommissars. Kurz, er handelt als Vater an ihm, hat kein Geheimniß vor ihm und überhäuft ihn mit Beweisen von Liebe und Vertrauen. Und der Schützling erkennt dies auch und vergilt Alles durch die lebhaftesten Darlegungen von Dankbarkeit und Ergebenheit. Früh und spät ist er auf seinem Platze. Bei allen lauten Huldigungen für den König und zu Gunsten der öffentlichen Gewalt gibt er den Ton an. Wenn, um eins anzuführen, bei festlichen Gelegenheiten der König und die Königin im Theater die große Loge betreten, und das Orchester die Melodie des alten beliebten Volksliedes anhebt: „Où peut-on être mieux qu’au sein de sa famille?“ ist gewiß der junge Mann der Erste, der durch Zuruf und Händeklatschen sein Entzücken beurkundet und das Publicum zu gleichen Beifallspenden herausfordert.

So schwang er sich immer höher in der Gunst des Generals Bongars, der Familie desselben und der öffentlichen Behörden, die alle in ihm den dankbarsten Menschen und den treuesten Anhänger der Jerome’schen Herrschaft erkannten.

Dies dauerte Jahre lang, bis gegen Ende September 1813 Kassel eines schönen Morgens von dem fliegenden Corps Czernitschew’s, der über die Elbe gegangen war, überrascht wurde. Dieser feindliche Besuch kam so unvermuthet neben der großen Armee her, daß kaum eine halbe Stunde voraus die Stadt von einigen dem Feind entgangenen Gensd’armen aufgeschreckt wurde. Doch brachte man es noch dahin, daß durch die guten Maßregeln des ausgezeichneten Artilleriegenerals Allix, durch die tapfere Haltung der Soldaten auf der Fuldabrücke, durch eine Batterie unter dem Befehl des Prinzen Salm und besonders durch die wohlgerichteten Schüsse der Gardejäger unter dem Prinzen von Hessen-Philippsthal der Einzug Czernitschew’s aufgehalten wurde. Während dessen hielt Jerome auf dem Schloßplatze einen Kriegsrath, nach welchem er selbst und die Minister unter Bedeckung der Garde du Corps die Residenz durch das Frankfurter Thor verließen und Allix das Generalcommando übernahm. Am Abende kam auf Andrängen der Behörden und der Bürger eine Uebereinkunft zur Uebergabe der Stadt zu Stande, in Folge welcher die westphälischen Truppen durch das holländische Thor abzogen und zwei Stunden später Czernitschew seinen Einzug hielt. Durch die gute Mannszucht des russischen Generals gingen alle Geschäfte, ja selbst die gewohnten Vergnügungen des Theaters ihren gelassenen Gang.

Aber was wurde mit unserem jungen Manne, dem Günstlinge des mitentflohenen Bongars? War er seinem Gönner gefolgt?

Vom Augenblicke des Abzugs Jerome’s war er unsichtbar geworden und man zweifelte nicht, er sei mit seinem Wohlthäter entflohen, bis nach dem Rückzüge Czernitschew’s, der sich nur wenige Tage mit seinem Corps in Kassel hielt, das Gerücht sich verbreitete, der arme Mensch sei in seinem Versteck aufgefunden und als Gefangener mit fortgeführt worden. Einige wollten ihn auch in einem von Kosaken begleiteten Wagen erblickt haben. Jedenfalls war er fort und blieb es auch, als der König Jerome bald wieder in seine Residenz zurückkehrte. Bongars, der mitkam und das Schicksal seines Lieblings erfuhr, war untröstlich darüber und soll zu Thränen gerührt gewesen sein.

Erst als Jerome, nach der Schlacht bei Leipzig, am 26. Oct. zum zweiten Male und für immer aus Kassel floh, kam unser junger Mann wieder zum Vorschein, und zwar im Gefolge des damaligen Kurprinzen, Vaters des jetzt regierenden Kurfürsten. Und nun erfuhr man denn, daß er nicht als Gefangener, sondern als Schützling Czernitschew’s Kassel verlassen hatte. Diesem russischen General hatte er sich nämlich entdeckt und durch Documente als einen treuen Anhänger des Kurfürsten ausgewiesen, dem er unter der Maske der Ergebenheit gegen die Franzosen und durch seine Stellung bei der Polizei begünstigt, über alle, auch die geheimsten Vorgänge in Kassel genaue Berichte nach Prag auf verabredeten Wegen regelmäßig erstattet hatte. Das Unerhörte war ihm gelungen und es bleibt höchst merkwürdig, daß die oberste Polizeigewalt, zum Schutze des Königs organisirt, einen so gefährlichen Gegner in ihrem eigenen Schooße gehegt und aufgenährt hatte.

[276] Der so verdienstvolle junge Bursche zog nun als reitender Jäger mit nach Frankreich. Hier konnte er seinem dankbaren Herzen nicht widerstehen und gab, wie er sich selbst gerühmt haben soll, dem edelmüthigen Bongars, seinem so lange getäuschten Wohlthäter, beruhigende Nachrichten von sich und über seine russische Gefangenschaft. Nach Beendigung des kurzen Feldzuges wurde er in den Adelstand erhoben und schien sich als brauchbar zu diplomatischen Geschäften praktisch erwiesen zu haben. Wirklich lebt er noch als diplomatische Excellenz, – rathet, wo? Wir selbst wollen es heute noch nicht verrathen.





Ein Frühlingsbild.



Ein Frühlingstag – welch’ wogend Drängen
Kein leerer Fleck, kein stiller Ort!
Welch’ froh Gewühl auf allen Gängen!
Gleich einer Wallfahrt wälzt sich’s fort.

5
Der Winter aus, der schwer und bleiern,

Ein Alp, auf jedem Herzen lag!
Die ganze Menschheit scheint zu feiern
Der Erde Auferstehungstag.

Nur Du allein rührst Dich geschäftig

10
Inmitten all’ der müß’gen Welt,

Mit nackten Armen, braun und kräftig,
Stichst Du den Spaten in das Feld,
Du darfst nicht freudig um Dich schaue,
Nicht sproßt für Dich das junge Grün,

15
Den stein’gen Acker mußt Du bauen,

Drauf Blumen nur als Unkraut blüh’n.

Die Keime zu dem künft’gen Mahle
Düngst Du mit Deiner Stirne Schweiß,
Die Früchte, dampfend in der Schale,

20
Sind einst der schweren Arbeit Preis;

Mit saurer Mühe zu erringen,
Was Andern wächst in süßer Ruh’,
Das ist im Frühling Dein Vollbringen,
Des Volkes arme Tochter Du!

25
Dein Himmel ist ein kalter, trüber,

Den Andern lacht der Sonnenschein,
Gleichgültig ziehn sie Dir vorüber,
Achtlos stichst Du den Spaten ein:
Sie haben ja für Deine Leiden,

30
Für Deine Freuden kein Gemüth.

Doch kannst Du tröstend Dich bescheiden,
Da neben Dir Dein Lenz erblüht.

[277]

Im duft’gen Gras des nahen Raines,
Sorglich gebettet weich und lind,

35
Auf groben Windeln liegt ein kleines,

Rothwangig, blaugeäugtes Kind,
Es zappelt lustig mit den Füßen
Der kleine Schelm, dehnt sich und lacht,
Und seine hellen Blicke grüßen

40
Mit frohem Staunen rings die Pracht.


Du gönnst Dir kaum das Athemholen,
Hebst nicht vom Boden das Genick,
Doch schweift, der Arbeit abgestohlen,
Zum Rain hinüber mancher Blick,

45
Dann strahlt’s um Deine Wangen heiter,

Dein Herz schlägt munter und geschwind,
Mit frischen Kräften gräbst Du weiter:
Du gräbst ja Brod auch für Dein Kind!

Doch halt! Du horchst: War das nicht Weinen?

50
Den Spaten wirfst Du jäh bei Seit’,

Hinüber fliegst Du zu dem Kleinen
Und forschest bang’ nach seinem Leid.
Wie, willst der Ruhe Du genießen,
Du streckst Dich hin in süßer Lust?

55
Den durst’gen Lippen läßt Du fließen

Den heil’gen Quell der Mutterbrust.

Er schmiegt an Dich die ros’gen Glieder,
Als ließ’ er nimmer diesen Platz,
Und sel’gen Auges schaust Du nieder

60
Auf Deiner Armuth einz’gen Schatz;

Noch darf er ruhevoll sich laben,
Der Lenz kost lieblich um ihn her,
Bald wird auch er den Acker graben –
Und keinen Frühling hat er mehr!

 A. Traeger.




Pariser Bilder und Geschichten.
4. Eine deutsche Löwin.

Gibt es in Paris Heuchler der Tugend, wie wir in der ersten Skizze (Nr. 10) bewiesen haben, so gibt es auch Heuchler des Lasters oder wenigstens solche, die oft besser sind, als ihr Stand und Beruf; solche, die selbst im verderbtesten Leben einzelne Funken edleren Gefühles in ihrem Gemüthe erhalten haben.

Ein in Paris wohnender, sehr bekannter deutscher Schriftsteller, der im Jahre 1848 in seiner deutschen Heimath eine gewisse Rolle spielte und jetzt verbannt ist, der vor und in seiner Verbannung viel Merkwürdiges erlebte, erzählte vor Kurzem in einer Gesellschaft von Landsleuten folgendes Abenteuer, das ich so viel als möglich mit seinen eigenen Worten wiederzugeben suche.

Vor ungefähr achtzehn Monaten, an einem schönen Frühlingsmorgen, da ich, nichts Böses ahnend und arbeitend, auf meiner Stube sitze, tritt ein Commissionair bei mir ein und übergibt mir mit den Worten: „Ich bin schon bezahlt“ ein sehr elegantes Briefchen, das deutsch geschrieben ungefähr so lautete:

„Verehrtester Herr H…!

„Sie würden ein gutes Werk thun, wenn Sie die Güte haben und mich besuchen wollten. Lassen Sie sich durch meinen Namen, wenn er Ihnen bekannt ist, von dem Besuche nicht abschrecken, da es sich, ich wiederhole es, um ein gutes Werk handelt, um eine Wohlthat, die Sie erzeigen sollen, indem Sie in einer wichtigen Angelegenheit Ihren Rath ertheilen. Alles, was ich von Ihnen gehört, gibt mir den Muth zu dieser Bitte, so wie den Wunsch, mich nach Ihrem Rathe zu richten. Ich wohne Boulevard des Capucines No. 17 im zweiten Hofe links, zwei Treppen hoch, und erwarte Sie zwischen ein und zwei Uhr. Ich bitte Sie noch einmal und auf’s Inständigste, kommen Sie, und wenn es Ihnen heute nicht möglich ist, doch einen dieser Tage um dieselbe Stunde.

Auf Ihre Güte trauend, Ihre ergebenste Dienerin

Augustine R.–.“

Kennen Sie diesen Namen, meine Herren? Nicht? – Ich kannte ihn. Augustine ist eine Deutsche und eine der elegantesten, schönsten, blondesten und verrufensten Löwinnen von Paris. Es ist sehr merkwürdig, welchen großen Erfolg unsere schönen Landsmänninnen haben, wenn sie sich mit Energie und Ausdauer darauf werfen, Lionnes zu werden. Sie überstrahlen dann alle französischen Löwinnen, die doch den Ruf größerer Koketterie und höherer Grazie haben. Da ich den Namen kannte, war ich etwas verlegen, um so mehr verlegen, da in demselben Hause, im vierten Stocke, aber auf einer andern Treppe ein bekannter Musiker des Conservatoriums wohnt, dessen wöchentliche musikalische Soireen ich regelmäßig besuchte. Wenn mich dessen Frau zu Augustine gehen sähe! oder auch nur der Portier, der mich ganz genau kannte! – Und was kann sie von mir wollen? Was habe ich mit dieser Halbwelt zu thun? Ich habe mich von solchen Berührungen immer so fern als möglich gehalten, soll ich jetzt mit Gewalt in diese Welt hineingezogen werden? Man kann nie voraussehen, in welche unangenehme Geschichten man bei solchen Weibern verwickelt wird. – Aber der Brief war so dringend; es wehte mich eine Luft der Wahrhaftigkeit, der Aufrichtigkeit, ja der Trauer aus diesen Zeilen an, die mich nachdenklich machte und beinahe rührte. Es ist jedenfalls Pflicht, nachzusehen, dachte ich und machte mich gegen ein Uhr auf den Weg.

Der zweite Hof des Hauses Nr. 17 Boulevard des Capucines ist ein sehr schöner, freundlicher Square. Mit dem ersten Schritt in diesen Hof glaubt man sich hundert Meilen weit von Paris. Aller Lärm der Straße verhallt in der Ferne, wie das Rauschen eines fernen Stromes; man hört nur das melodisch-monotone Fallen des Springbrunnens, der sich silbern, glänzend aus der Mitte des Rasenplatzes erhebt, um in ein rundes von Blumen umgebenes Bassin zurückzufallen. Die Bäume, die den Rasenplatz umgeben, standen schon in Blüthe und in ihren Zweigen zwitscherte ein Volk von Vögeln, als ob es sich mitten in einer lachenden Landschaft befände. Auf den Square hinab sehen die großen Krystallscheiben der Fenster, die mit Sculpturen im Renaissancestyl geziert sind und zwischen welchen hübsche Statuen, Nachahmungen der Antiken im Louvre, in Nischen stehen. Aus jeder einzelnen Wohnung führt ein kleiner Balkon, dessen geschmackvolles Gitterwerk hie und da vergoldet ist und Blumen- und Laubgewinde vorstellt, aus dem kleine Köpfchen von Rittern und Damen, von Pagen und Knappen hervorblicken. Aus den vier Ecken führen vier weiße Treppen in den Hof, welche von breiten Glasdächern bedeckt sind, die wieder von eisernen, bronzirten schlanken Säulen getragen werden. In manchen der Wohnungen war die Dienerschaft noch mit Aufräumen und Reinmachen beschäftigt und aus den offenen Fenstern hingen bunte Teppiche oder wurden glänzende Decken geschwungen und geschüttelt. Dort und da sah man eine Dame im Morgenhäubchen am Fenster vorübergehen, oder auch einen Cigarre rauchenden Gentleman im seidenen Schlafrock; aus dem und jenem Fenster kamen einzelne Pianotöne hervor. Das ganze Haus schien die Wohnung, die Zufluchtstätte sorgloser, glücklicher Menschen. Im zweiten Stock, in einem der schönsten Appartements dieses Hauses wohnte Augustine, der mein Besuch galt.

Ich zog die Glocke; ein Bedienter in Livrée öffnete mir und führte mich in den Vorsaal, wo mich ein andrer Bedienter empfing. – „Madame erwartet Sie,“ sagte dieser und führte mich in den Salon. Meine Herrn, Sie kennen den Luxus luxuriöser Pariser Salons und ich will Ihnen diesen nicht erst beschreiben. Nur so viel, daß hier mit all dem Gold, Sammt, Seide, Bronze, Marmor, Porzellan etc. etc. nicht nur Luxus und Reichthum verschwendet war; beide waren mit Geschmack gewählt und geordnet. Kaum war ich eingetreten, als mir Augustine schon voll Dankbarkeit entgegenkam; wie sie aus dem zweiten Zimmer heraus und mir entgegentrat, war ich in der That von der Schönheit dieser Erscheinung wie gebannt. Sie kennen sie ja! – Nicht? – Ach, Sie müssen sie kennen, Sie wissen es nur nicht. Hundert Mal müssen Sie sie schon im Bois de Boulogne gesehen haben – offener Wagen – blaue Livrée – englische Füchse – sie ist meist allein – blonde Locken – die schönste Person des ganzen Demi-Monde. – Ach! nicht wahr? Sie erinnern sich? Sie frappirt ja jedes Auge; man vergißt es nicht, wenn man sie einmal gesehen; sie beschämt alle großen Damen, diese Küferstochter aus Hanau.

Bon! ich will kurz sein. Nachdem sie mich zum Sitzen gezwungen und sich noch hundert Male wegen ihrer Zudringlichkeit entschuldigt – und das Alles auf das Einfachste, ohne Koketterie, ohne Komödie, stand sie wieder auf und bat mich um Verzeihung, [278] sie werde in einem Augenblicke wieder zurück sein. Nach einigen Minuten kam sie mit einem kleinen Knaben von ungefähr sieben Jahren. Ein wunderschöner Junge und in dieser Beziehung vollkommen würdig, der Sohn dieser Mutter zu sein. Er hatte blonde, lange Locken, die auf einen sehr weißen, nackten Hals herabfielen, und trug eine schwarzsammtne Blouse mit blauen Knöpfchen. Die vollen runden Beinchen waren nackt und die Füße staken in schottischen Strümpfchen. Das tiefblaue Auge dieses Kindes war, trotz des gesunden Wesens der ganzen Erscheinung, voll von Melancholie und zugleich voll auffallender, leuchtender Intelligenz. Augustine sah mit offenbarer Freude, wie ich mich an dem Anblick des holden Kindes weidete, und hörte mit Theilnahme zu, wie ich an dasselbe Fragen richtete und wie sie das Kind beantwortete. Dann nahm sie den Jungen wieder an den Schultern und führte ihn an die Thür, küßte ihn und sagte: Adieu mon bijou, geh jetzt mit Pauline in die Tuilerien. Der Knabe schickte mir noch ein Lächeln und einen freundlichen Blick zu und ging. Augustine kam zurück, setzte sich mir gegenüber auf’s Sopha und sagte: „Nicht wahr, es ist ein liebes Kind?“

„Ein prächtiger Junge, eben so schön als intelligent.“

Augustine seufzte, schien sich zusammen zu nehmen und sagte endlich: „Des Kindes wegen habe ich Sie um diesen Besuch gebeten.“

„Bitte, erklären Sie sich deutlicher.“

„Ich muß Ihnen erst sagen, Herr Doctor,“ nahm Augustine wieder das Wort, „daß ich Sie schon seit lange zu kennen die Ehre habe. Als Sie in Frankfurt waren, war ich noch in Hanau; dort habe ich oft von Ihnen gehört, später habe ich Sie in Frankfurt selbst gesehen. Vor Kurzem war hier in Paris bei einem Souper junger Leute von Ihnen die Rede. Erlauben Sie mir Ihnen zu sagen, daß man nur Gutes von Ihnen gesprochen und ernster, als junge Leute bei solchen Gelegenheiten zu sprechen pflegen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, daß Sie in Paris wohnen, und ich beschloß mich in einer wichtigen Sache, die mir seit lange schwer auf dem Herzen liegt, an Sie zu wenden. – Ich habe Freunde genug, aber Sie wissen, von welcher Art diese Freunde sind. Ich bin da, um sie zu amüsiren, nicht sie mit ernsten Dingen zu langweilen oder ihnen von Sachen zu sprechen, die mich beängstigen. Thäte ich das, sie würden mir in’s Gesicht lachen. Augustine wird sentimental, Augustine wird eine bourgeoise, Augustine wird langweilig, wird moralisch, wird dumm, würde es dann heißen und man würde mir den Rücken kehren. Im besten Falle würde man meine Sorgen, meine Angst, mein Unglück für eine neue Art von Koketterie halten. Sie, lieber Herr Doctor, werde ich trotz Allem nicht für unwürdig halten, mir einen Rath zu geben, der einem unschuldigen lieben Kinde nützen soll.“

„Bitte, sprechen Sie; ich horche Ihnen mit der größten Aufmerksamkeit.“

„Ich wollte Sie um Ihren Rath in Betreff der Erziehung meines Kindes fragen. Sie haben es gesehen. Von Tage zu Tage wird der Knabe schöner, von Tage zu Tage entwickelt sich sein Geist mehr und mehr. Er stellt mir oft Fragen, die mich auf die verschiedenste Weise in Verlegenheit bringen. Ich zittere vor dem Tage, da er mir eine gewisse Frage vorlegen wird, oder da er Alles verstehen wird ohne Frage. Was soll ich thun?“

„In wie fern? Was meinen Sie?“

„Ich habe zwischen zwei Wegen zu wählen. Entweder ich erziehe ihn, wie man in dieser meiner Welt erzieht, oder ich erziehe ihn außerhalb dieser Welt zu einem anständigen Menschen.“

„Glauben Sie, daß Sie hier noch meines Rathes bedürfen? Sind Sie zweifelhaft, für welchen dieser beiden Wege ich mich entscheiden werde?“

„Nein, gewiß nicht; aber, Herr Doctor, Sie haben nicht Alles bedacht, was ich bedacht habe; Sie ängstigt bei dieser Wahl nicht, was mich ängstigt.“

„Was ist es?“

„Lasse ich ihn in dieser meiner Welt aufwachsen, dann wird er leichtsinnig, frivol, schlecht vielleicht; er wird denken und fühlen, wie man in dieser meiner Welt denkt und fühlt; er wird nichts Anderes kennen – aber seine ganze Umgebung wird ihm eben so natürlich erscheinen, wie seine Abstammung, und es ist dann noch möglich, daß er seine Mutter liebt, sein Ursprung wird ihn nicht kränken, nicht beschweren, und er wird seine Mutter vielleicht nicht verachten – er wird so viele ähnliche Mütter, so viele ähnliche Kinder sehen. – Lasse ich ihn aber draußen in der anständigen Welt erziehen, in anständigen Ansichten und Grundsätzen aufwachsen, lasse ich seinen Geist und sein Herz sich so weit entwickeln, als sie können – wird er dann nicht doppelt unglücklich sein und wird er sich, sobald er zu Verstande kommt, von seiner Mutter nicht abwenden? Wird er seine Mutter nicht verachten? Und doch kann ich mich nicht entschließen, ihn absichtlich zu einem gemeinen Menschen zu machen – ach, es wäre so schade um das Kind, es ist so lieb, so gut, so klug. Und wieder soll ich mich von ihm verachten lassen? Soll ich es selbst herbeiführen, daß er sich einst meiner schäme? – Was soll ich thun? – Was soll ich thun? Herr Doctor, geben Sie mir einen Rath, was soll ich thun? was fange ich an?“

Sie rief diese letzten Worte im Tone der bebendsten Herzensangst; sie faltete die Hände im Schooße übereinander und sah mich fragend an. Ich gestehe es, ich war gerührt, ich war erschüttert. Ich sah, wie der Dichter sagt, durch tiefes Verderben ein menschliches Herz.

Nur das wollte ich erzählen. Meine Antwort auf diese Fragen brauche ich wohl nicht zu wiederholen. Meinem Rathe fügte ich nur noch den Trost bei, daß von einem in guten Grundsätzen erzogenen Sohne eine gute Mutter, und sei ihre Vergangenheit wie immer beschaffen, stets mehr Liebe und Achtung zu gewärtigen habe, als von einem, der ihr durch seinen Leichtsinn, durch seine Frivolität näher stehe. Ich versprach ihr, daß sie in ihrem Sohne, wenn seine Eigenschaften auf edle Weise ausgebildet würden, dermaleinst, wenn Alles sie verlassen haben wird, einen Freund, eine Stütze, einen Tröster finden werde – indem ein Sohn seiner Mutter gegenüber zur Liebe keiner anderen Ueberzeugung bedürfe, als derjenigen, daß sie eine liebende Mutter gewesen u. s. w., u. s. w.

Das und Aehnliches führte ich ihr aus, so gut es ging, und sie hörte mir zu, als ob ich ein neues Evangelium predigte. Jede Auseinandersetzung, daß sie sich ihres Kindes durch eine gute Erziehung nur desto mehr versichere, nahm sie mit einem glückseligen Lächeln hin. Dann mußte ich ihr noch einen Erziehungsplan machen. Ich war dafür, daß das Kind aus ihrer Welt entfernt werden müsse; ich glaubte, daß es am besten wäre, wenn man es in eine Erziehungsanstalt nach Deutschland schickte. – „Mein Trost,“ rief sie, „mein einziges Glück!“ und während Thränen über ihre Wangen herabfielen, beschloß sie, auch darin meinem Rathe zu folgen.

Meine Herren, ich will Ihnen noch etwas sagen, weil es die Geschichte completirt – und ich hoffe, Sie werden nicht lachen. Als ich ging, faßte Augustine meine Hand, und ehe ich mich dessen versah, hatte sie einen Kuß darauf gedrückt. Ich habe sie seit damals noch einmal besucht. Ihr Kind war in Heidelberg.




Strand- und Dünenleben.
Von Friedrich Oetker.
I.

Leben am öden Seegestade? Leben in den dürren Sandhügeln? Das wird vielleicht Manchem ein Widerspruch erscheinen. Und doch ist es nicht so. Die kahlen, unabsehbaren Flächen und Streifen, die an der züngelnden Meerfluth sich hinziehen, sind der ewig wogende Schauplatz von Entstehen und Vergehen, von Tod und Leben, und selbst die Höhen und Niederungen, womit Sturm und Brandungsschwall die Seeküsten sandig umgrenzen, decken sich mit mannichfachem Wachsthum, zwischen denen eine regsame Thierwelt sich umhertreibt. Merke nur auf, lieber Leser, wenn Du einmal am Fluthrande hinschreitest oder den ebbenden Gewässern nachgehst! Bei jedem Schritt wirst Du auf den Spuren zahlloser Geschöpfe stehen, und wenn Du im knirschenden Sande oder in den bleibenden Wassertümpeln nachsuchst, wenn Du die unscheinbaren Geschiebe und Knäuel von Muschelwerk und Fasern entwirrst, welche die Fluth [279] zurückgelassen hat, wirst Du die merkwürdigsten Wesen des Thier- und Pflanzenreichs finden. Vielleicht besuchst Du das Felseneiland Helgoland, oder es lockt Dich der Ruf Nordernei’s oder die Neuheit Borkums oder die Stille Blankenberges, oder der trügerische und betrügerische Lärm Ostende’s: versäume dann nicht, wenn Du im erfrischenden Nachthauche stürmischer Tage am Meeressaume hinwandelst, auch den Anspülungen der Wellen Deine Aufmerksamkeit zu widmen; Du wirst nicht selten die heitersten Farben, die abenteuerlichsten Gestalten erkennen. Nimm einige der verwickelten Zweiglein und Faserverschlingungen mit Dir; auf einem Teller mit Wasser fließen sie zu den reizendsten Formen, zu den anmuthigsten Windungen auseinander, und ziehst Du Licht und Linse zu Hülfe, so blühen Dir aus den Knospen zierlicher Bäumchen vielleicht Tausende von strahlenden Polypensternen und Fühlerbüscheln entgegen.

Freilich ist der Sand unserer Küsten nicht so bevölkert, als an andern Gestaden. Es gibt weite Sandbänke, welche voll sind von den Schälchen lebender oder todter Foraminiferen, jener winzigen Geschöpfe mit durchlöcherten Kalkgehäusen, die ganze Felsen und Erdschichten gebildet haben. In einer Unze Sandes von den Antillen sollen ja über drei Millionen solcher Schalthiere gefunden worden sein. Allein solche Erscheinungen dürfen nicht ohne Weiteres verallgemeinert werden, wie das zuweilen von denen geschieht, die eilfertiger im Schreiben als im Beobachten sind. Der Küstensand unserer Nordseegestade enthält solche Lebensfülle nicht.

Wer hat nicht von jenen wunderbaren Geschöpfen gehört, die in der Südsee und in den indischen Meeren trotz aller Winzigkeit ganze Felsenriffe, ja ausgedehnte Inseln, aufgebaut haben? Wer weiß nicht, daß alljährlich bedeutende Korallenmassen aus der Tiefe des Mittelmeeres hervorgeholt werden? Solche Erscheinungen bieten unsere Gestade nicht. Die Polypen des deutschen Meeres, welches wir vorzugsweise im Auge haben, bilden kein Korall, sondern hornichte oder faserige und zellige Stämme, die bald nach dem Absterben des Gesammtthieres zergehen; das einzige Gewächs, welches dem Korallenstoff mehr gleicht, und daher auch corallina genannt wird, ist kein Thier, sondern gehört zu den Tangen (eine Art Algen).

Aber darum sind die Vielfüßler unserer Küsten kaum minder merkwürdig, als jene Korallenthiere ferner Gewässer. Was ihren Gebilden an Großartigkeit und Dauerhaftigkeit abgeht, das gewinnen sie an Zierlichkeit und schlanker Anmuth. Dabei nehmen sie nach Bau und Wesen das lebhafteste Interesse in Anspruch. In der That kann nicht leicht etwas auffallender und wunderbarer sein, als die Gestalt ihrer Gesammtwohnungen, als die Art ihrer Fortpflanzung. Wenn die Korallen des Südens Jahrtausende lang für Pflanzen und dann sogar für Steinbildungen gehalten wurden, so gelten die Sertularien und Campanularien unserer Meeresstriche dem Unkundigen noch jetzt für Seetange. Selbst die Mehrzahl der Gebildeten theilt gewöhnlich diesen Irrthum. Wie oft bin ich den ungläubigsten Blicken begegnet, wenn ich eine kleine Sammlung von Algen und Pflanzenthieren vorzeigte und zu den „reizenden Bäumchen“ bemerkte, daß sie die Behausungen von Thierfamilien gewesen, deren tausendfältige Glieder und Sprossen aus den knospenähnlichen Zweigspitzen oder Seitenkelchen zu Tage getreten seien.

Es hält nicht schwer, die Bekanntschaft solcher Thiergeschlechter zu machen und ihre Lebensweise näher zu beobachten. Zwar sind manche so klein, daß nur ein scharfes und geübtes Auge ohne Hülfe eines Vergrößerungsglases die Bewegung der Fühler und Fangarme, mit denen die Einzelthiere meist unausgesetzt thätig sind, zu erkennen vermag; allein bei vielen reicht schon eine gute Linse aus, um das Spiel der gleich Staubfäden und Blumenblättchen sich entfaltenden Fangwerkzeuge deutlich wahrzunehmen; und andere treten selbst dem bloßen Auge in aller Pracht und Anmuth entgegen.

Besonders bieten Helgoland und Ostende bequeme Fund- und Beobachtungsstätten. Am letztgenannten Orte findet man gleichsam natürliche Aquarien oder Thierwasser, indem zwischen den Pfählen und Steinen der Wellenbrecher die zur Ebbe in den Vertiefungen zurückbleibenden Gewässer sich abklären und nach Zeit und Umständen zahlreiche Thier- und Pflanzengebilde enthalten. Es ist ein Leichtes, einige der muntern Uferkrabben, der langsamen Seesterne, der vor Anker liegenden Mießmuscheln einzufangen, einige der zierlichen Seetang- und Polypenbäumchen abzulösen und daheim in Seewasser Wochen lang am Leben zu erhalten und so mit aller Muße zu betrachten. Nur muß man Thiere und Pflanzen vereinigen, damit sie sich gegenseitig nähren und das Wasser frisch erhalten. Ein paar mit kleinen Tangen, namentlich mit den überall vorkommenden tiefgrünen Solenien besetzte Steine reichen in dieser Beziehung lange Zeit aus. Auch muß man die verdunstende Feuchtigkeit dann und wann durch Süßwasser ersetzen und allzustarkes Sonnenlicht fernhalten.

Nach stürmischem Wetter findet man auch am Strande entlang zahlreiche Polypenstämme, ja zu gewissen Zeiten ist das Ebbegestade und die Hochwassermarke förmlich damit übersäet. Namentlich gilt dies von einem Blätterpolypen, Flustra foliata, der zuweilen Meilen weit den Strand mit einer eigenthümlich scharfriechenden Ausdünstung erfüllt. Indessen sind die meisten solcher Auswürflinge gewöhnlich längst abgestorben; andere haben wenigstens durch Sturm und Wogensturz gelitten, und nur einige kehren zum Leben zurück oder treiben im Wasserbecken neue Knospen und Zweige.

Zu den zierlichsten und zugleich häufigsten Polypen bei Ostende gehören die Sertularien und die Glockenpolypen, namentlich die Silber-Sertularie und Campanularia dichotoma. Die ersteren sind gelblich oder weißlich, zuweilen glänzend hell, mit hornichten, in den Spitzen oft goldglänzenden Stämmen, von büschelförmigem, dichtbeästetem Wuchs. Sie erfreuen sich meist der besonderen Gunst der Frauen, die gewöhnlich nicht ahnen, daß sie in den zarten Gewächsen tausendköpfige Thiergebilde umfassen. Die Bevölkerung eines mäßigen Stammes oder Gebüsches, schmuck und fein genug, um das schönste Album zu zieren, kann auf hunderttausend Häupter und mehr veranschlagt werden.

Die Campanularien sind in ähnlicher Weise gebildet und unterscheiden sich von den Sertularien besonders dadurch, daß sie die Zellen der einzelnen Thiere auf den Spitzen, jene dagegen an den Seiten der Aeste und Zweige tragen. Die braunen Stämme haben eine äußerst schlanke Gestalt; sie sind meistens kaum zwirnsfadendick und bilden hauptsächlich die verschlungenen Faserknäuel, welche nach bewegtem Meere am Strande gefunden werden. Doch ist dann selten noch Leben vorhanden, indem die Zweige und Zellen meist abgestreift sind. An manchen Orten werden solche und ähnliche Polypenschafte wegen ihrer Dünnheit und ungemeinen Zähigkeit Seezwirn genannt. Wenn jung und voll Wachsthum, hat der Stamm der Campanularia dichotoma häufig die Gestalt einer italienischen Pappel; aber die Verästelung ist regelmäßiger und schreitet in steter Doppeltheilung fort; jede Zweigspitze ist mit einer weißen durchsichtigen Glocke, gleich einem Windleuchter, besetzt, worin das Einzelthier sich befindet und durch die Zweigröhre mit dem Hauptaste und durch diesen mit dem Stamme oder mit dem Gesammtthiere in Verbindung steht, wie eine Hollunderblüthe durch das Mark mit dem Baume. Das Absterben eines Nachbarzweiges oder selbst des nächsten Zwillings oder Nachkommen kümmert die Uebrigen nicht; auch ganze Aeste können ohne Anfechtung der Gesammtheit abgetrennt werden; dagegen scheint ein abgesonderter Zweig nicht fortleben zu können; wie oft ich’s versuchte, die abgeschnittenen Stücken starben schnell ab.

Das Einzelthier besteht hauptsächlich aus Magen und Fangarmen. Diese, meist gegen zwei Dutzend an der Zahl, läßt es in Gestalt von gegliederten Fäden über den Glockenrand trichterförmig hinausspielen und zieht sie, wenn die Nähe einer Beute unterstellt oder gefühlt werden mag, mit einem plötzlichen Ruck zusammen und nach innen, um den Fang zu verspeisen. Nach kurzer Zeit beginnt das Aushängen der Angelschnüre von Neuem, um von Neuem Nahrung für den unersättlichen Magen zu erwischen. Da der Polypenstock am Boden, sei es an einem Steine, sei es an einer Muschel oder an sonst Etwas, festsitzt, also weder im Ganzen, noch in seinen Theilwesen nach Nahrung ausgehen kann, so müssen die Einzelnen die umgebende Fluth um so eifriger durchfühlen, damit sie die beweglicheren und kleineren Geschöpfe, die arglos heranschießen und häufig eine fabelhafte Geschwindigkeit haben, als gute Bissen erhaschen. So ist ihr ganzes Leben ein stetes Spähen und Verschlingen.

In ähnlicher Weise treiben es andere Polypen und häufig auch Nichtpolypen. So verschieden die Stämme oder die Gesammtleiber der Vielfüßler und Vielhänder sind, so mannichfach die Form und Stellung der Einzelthiere und der Einzelwohnungen von einander abweicht, so ähnlich ist bei den meisten die Art, wie sie ihre Nahrung erlangen. Knollige, schwammige, faserige, blätterige, ästige, häutige und andere Polypen, sie alle strecken Fangarme, gewöhnlich trichterförmig, mitunter geästelt oder in sonstiger Weise in die Fluth [280] und falten sie über der Beute verschlingend zusammen. Auch vereinzelt lebende Polypen zeigen ein ähnliches Behaben. Ein kleiner Vielarm, den man Hydra tuba oder Trompetenpolyp genannt hat, besteht fast nur aus Magen und Fangfäden und ist so gefräßig, daß er, sich blähend und dehnend, auch Gegenstände verschlingt, die größer sind, als er selbst. Sogar andere Polypen sollen von ihm verschlungen werden, aber mit heiler Haut durch den Mund, der zugleich die Ausgangsöffnung ist, wieder zum Vorschein gekommen sein. Daß die Aktinien oder Seeanemonen in heidnischer Blindheit ihre eigenen Jungen verschmaußen, ist eine wiederholt beobachtete Thatsache.

Bei manchen Polypen bildet der Fühler- oder Fangarmkranz eine prächtige Blume. Abgesehen von den Seeanemonen, von denen die Actinia holsatica auch Seerose genannt wird, hegt die Nordsee mehrere knollen- und röhrenartige Polypen, welche außer dem Wasser vom unscheinbarsten, ja selbst widrigsten Ansehen sind, in ihrem Lebenselement aber die reizendsten Blüthensterne entfalten. Einige haben ein rübenartiges Innere, andere sind warzenförmig u. s. w. Bei Helgoland ist ein merkwürdiger Polyp unter dem Namen Tidjen (Zitzen) bekannt, der sehr schöne gelbliche und röthliche Blumen entwickelt.

Zu den lieblichsten Erscheinungen unserer Küsten gehört die Tubularia indivisa oder der Einzelröhrenpolyp, der nur ein paar Zoll hoch wird, aus einem rothgelblichen, bindfadendicken Röhrchen besteht und oben eine prächtige Scharlachblume von Fühlern entfaltet. Die Röhren stehen dicht zusammen, oft wunderlich verzwirnt und verschlungen. Mitunter ist eine noch lebende Muschel oder ein Krabbenrücken das Fußgestell, so daß dann der ganze Blumenbüschel umherwandert. Zwischen und neben den Polypenröhren befinden sich auch wohl noch andere Thierchen und Pflanzen, das Ganze zu einer tausendfältigen, reizenden, schmucken Welt im Kleinen gestaltend, die der geduldige und ernstblickende Krebs wie ein Atlas auf dem Rücken trägt.

Oft wird ein Polyp von andern Arten als Baugrund benutzt und nicht selten gänzlich überwuchert. Ich sah einen Röhrenbüschel, der über und über von einer dicken, schwammartigen Haut bedeckt war. Der rothe Polypensaft war noch flüssig im Innern; das Leben aber war längst erstorben. Die Schmarotzer dagegen lebten noch und streckten ringsum Tausende von suchenden Silberfädchen in die sonnendurchleuchtete Fluth. Wie reizend, wenn die Köpfe der Röhren noch frei sind, wenn die Scharlachblüthen der größern über den Silberkelchen der kleinern sich spielend entfalten und wiegen!

Fast mag man den Gedanken nicht zulassen, daß alle diese lieblichen Erscheinungen nur Werkzeuge und Bewegungen sind, um zu tödten und zu verschlingen. In der That, kein Raubthier des Landes und der See ist verhältnißmäßig mit so furchtbaren Fängen bewaffnet, als diese winzigen Geschöpfe. Wie Wilde ihre Schlingriemen, so werfen sie nach allen Seiten ihre züngelnden Fangschnüre aus, und wehe dem Thierchen, das sich sorglos dazwischen begibt! Mit Blitzesschnelle wird es umschlungen und erbarmungslos in den unersättlichen Schlund hinabgezogen. Bei einer Plumularia, wo das Thier in länglichen, blasenartigen Höhlungen wohnt, gleicht der ausgestreckte Fangarm einem mit Eiskrystallen besetzten Zweige oder einer geästelten, knotigen Schnur von Edelgestein; der einfallende Lichtstrahl glimmt in den leise sich entfaltenden, wie durch Silberdraht verbundenen Solitären: da plötzlich ein zuckender Ruck, und die Diamantschnüre schlingen sich wie eine blutige Geißel zusammen und das umstrickte Opfer ist verloren.

Das arme Thierchen! Der garstige Polyp! So hör’ ich’s schon von den weichherzigen Lippen der schönen Leserin sich ergießen.

Doch gemach, liebe Milde! Wir brauchen die verschlungenen Kleinen nicht allzusehr zu bedauern. Es waltet hier, wie in tausend andern Fällen, nur das unabänderliche Gesetz des Wechsels, das allgemeine Recht des Stärkern, des Begabteren. Die Kleinen erleiden nur, was sie selbst so eben an noch Kleinern verübt haben.

Blicke nur hinein in den Tropfen Wassers, den Deine Gläser zur Welt erweitern. Wie das wirbelt und schießt und ringt! Ein ewiges Fliehen und Verfolgen, ein endloses Suchen und Jagen, ein wildes Würgen und Verschlingen! Und wie in diesem Tröpfchen unter Deiner Linse, so ist’s in den Tropfen, die wir Meere und Oceane nennen. Vom winzigsten Räderthierchen bis zu den riesigen Haien und Walen – eine einzige ungeheure Leiter von Entstehen und Vergehen, von Kampf und Vernichtung. Kaum, daß der Sieger der Beute sich erfreut, da naht schon ein Stärkerer, der ihn selbst überwältigt und verzehrt. Und zuletzt kommt der Mensch, der sie alle würgt, sie alle ausbeutet, bis er seinerseits einem der Würgengel verfällt, die in mannichfacher Gestalt verheerend über die Erde schreiten.

So ist es, und so wird es sein zu aller Zeit! Keine Allmacht könnte es anders schaffen. Ohne Kampf keine Mannichfaltigkeit, ohne Tod kein irdisches Leben!

Wir brauchen darum an der Allgüte und Allweisheit des Weltschöpfers nicht zu zweifeln. Nur werden wir sie etwas tiefer und etwas höher suchen müssen, als bei Denjenigen, die jeden Augenblick bereit sind, dem lieben Herrgott mit ihrer eigenen Weisheit zu Hülfe zu kommen. Wie weise, ruft der Eine, daß es Kuckucke gibt, um die Raupen zu vertilgen! Wie gütig, meint ein Anderer, daß es Raupen gibt, um die Kuckucke zu ernähren! Wie fürsorglich und milde, predigt der Dritte, die liebreiche Mutter Natur für alle Creatur Bedacht nimmt!

Sicher, es fehlt nicht an fröhlichem Leben und gedeihlicher Milde! Aber dicht neben Lust und Leben schreitet ewig der Schmerz und die Vernichtung voll unerbittlicher Strenge. Sieh nur hin, wenn Du das heitere Gestade entlang wandelst, wie über Tausende von sterbenden Geschöpfen Dein Fuß geht! Vielleicht zauderst Du, vielleicht weichst Du mitleidig dem Wurme aus, der im Sande sich windet.... Sei barmherziger und gib ihm raschen Tod; denn die Natur kennt kein Erbarmen. Gefühllos wirft die Sturmwelle das Thier an den Strand, gefühllos weicht die ebbende Fluth zurück, gefühllos brennt die Sonne herab, und langsam, langsam schmachtet und dürstet das Leben dahin. Nur im Gesammtsein ist Allweisheit, nur in Gott Erbarmen und Erlösung. –




Blätter und Blüthen.

Sch. in Redo. – Eignet nicht recht für die Gartenlaube. Brieflich ein Mehreres.

K. in Wien. – Mit Dank angenommen. Bilder vom Kriegsschauplatze sind uns stets willkommen.

Mdl. in Prag. – Allerdings haben wir Veranstaltung getroffen, die Ereignisse des Tages durch tüchtige Federn und Illustrateure in der Gartenlaube zur Darstellung zu bringen, nur erwarte man von uns nicht willkürlich componirte Schlachtenbilder und militairische Berichte, die uns gänzlich fern liegen. Wie bei Gelegenheit des Krimkrieges, werden wir authentische Abbildungen zur Orientirung und Schilderungen einzelner, besonders wichtiger Ereignisse und Scenen bringen, die ein treues Bild des Ganzen geben.

Gtz. in Obtz. – Wir haben Ihren Wunsch unserem Londoner Correspondenten mitgetheilt. Was kümmert Sie aber in jetziger Zeit die Geisterwelt?



Berichtigung. Bezüglich des in Nr. 15 der Gartenlaube enthaltenen Referats über das Leipziger Künstlerfest vom 19. März sehen wir uns Seitens des betreffenden Festcomité's zu der Berichtigung veranlaßt, daß nicht eine „unschwesterliche“ Weigerung der Musik, sondern vielmehr verschiedene andere, theils praktische, theils die einheitliche Abrundung des Ganzen bezweckende Gründe die Anordnung veranlaßt haben, die selbstständigen Musikstücke nicht in die Pausen zwischen den lebenden Bildern zu verlegen; sodann daß in dem Festspiele der Genius der Poesie keineswegs den beiden Nebenpersonen „Herrn Schacherig“ und „Madame Prosa“, sondern dem anwesenden kunstfreundlichen Publicum die lebenden Bilder vorgeführt; endlich daß die gerügte Interpretation des Leutemann’schen Frieses in keinem Theile von dem Verfasser des Festspieles, Herrn Clasen, sondern von dem Darsteller der Rolle des „Humor“, welcher zugleich die Erklärung dieses Frieses übernommen hatte, ausgegangen.

D. Red.

Zur Notiz. Durch ein Versehen unsererseits ist ein Theil der Auflage von Nr. 18. mit der Jahreszahl 1858 statt 1859 gedruckt worden. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.

Die Druckerei.

Nicht zu übersehen!

Alle Einsendungen von Manuscripten, Büchern etc. etc. für die Redaction der Gartenlaube sind stets an die unterzeichnete Verlagshandlung zu adressiren.

Ernst Keil.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. - Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Bush-ranger werden in Australien die in den Wald entflohenen Sträflinge genannt, – Bush heißt dort Überhaupt der ganze Wald und ranger bedeutet einen umherstreifenden Menschen, also ein ganz bezeichnendes Wort für derartige Leute, das wir deshalb, da es sich nicht einmal in diesem Sinne gut übersetzen läßt, beibehalten wollen.
  2. Bündelmann heißen in Australien die Leute, die Arbeit suchend im Land umherziehen. Da sie natürlich kein großes Gepäck mitnehmen können, und ihr Eigenthum meist immer in einem kleinen Bündel auf der Schulter tragen, hat man ihnen diesen Namen gegeben. Die Meisten derselben sind übrigens entweder entlassene Sträflinge oder solche, die mit einem ticket of leave, d. h. Urlaubsschein, die Erlaubniß haben, sich selber ihr Brod zu verdienen. Ein solches ticket bekommen natürlich nur die, die den größten Theil ihrer Zeit schon verbüßt, und sich dabei musterhaft aufgeführt haben.
  3. Auf fast allen australischen Stationen verrichten Männer – gewöhnliche Arbeiter – das Kochgeschäft, die dann hut-keeper oder Hüttenwächter genannt werden.
  4. Damper ist das im australischen Busch gewöhnliche Weizenbrod, das ohne Hefe oder Sauerteig nur mit Wasser angeknetet und in der heißen Asche gebacken wird.
  5. mate die gewöhnliche Anrede im Busch und so viel wie Camerad – old cove alter Bursche.
  6. In Leipzig existiren derartige „Eisschränke“ bereits auch und werden in dem Möbelmagazin von Jage in verschiedenen Größen verfertigt. Herr Felsche, der bekannte Besitzer des Café français, liefert täglich das nöthige Eis dazu.
  7. Siehe Jahrgang 1858. Nr. 46.
  8. Nationaler Stolz? Man macht der deutschen Nation stets diesen Vorwurf, ohne zu bedenken, daß bei den vielen „Maßregelungen“, mit denen von oben herab jeder Nationalregung in’s Gesicht geschlagen hat, das Erstarken eines Stolzes doch geradezu eine Unmöglichkeit war. Sollen wir – um nur von der Neuzeit zu sprechen – an die Versteigerung der deutschen Flotte, an die schleswig-holstein’sche Schmach, an das bleiche Erschrecken deutscher Cabinete vor den Noten und Arroganzen irgend eines – – – Abenteurers erinnern? Wo soll unter solchen niederdrückenden beschämenden Eindrücken noch der Stolz herkommen? Es gehört die Zähigkeit, die unendliche Hingebung und Vaterlandsliebe des deutschen Volkes dazu, um das Alles zu vergessen und Gut und Blut anzubieten, wie es in den jüngsten Tagen geschah, wo es galt, die Frechheit und Anmaßung des Auslandes in die Schranken zurückzuweisen.      D. Redact.