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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[369]

No. 26. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Vorgesichte.
Strandnovelle von Ernst Willkomm.
(Schluß.)


In richtiger Würdigung der gefahrvollen Lage theilte sich der Trupp der jungen Männer sofort in zwei Parteien. Die eine derselben wandte sich südwärts, die andere nordwärts, um einen Punkt aufzufinden, wo die immer beweglicher werdende Eisfläche mit dem Lande zusammenhing. Es war keine Zeit zu verlieren, denn schon verdunkelte sich die Luft mit jeder Minute mehr. Der Wind lief westwärts und ward heftiger. Der in großer Menge fallende Schnee war feucht. Es ließ sich nicht zweifeln, daß binnen wenigen Stunden vollständiges Thauwetter eintreten werde.

Die Gebrüder Mannis befanden sich bei dem südwärts streifenden Trupp. Sie feuerten ihre beiden Begleiter zur größten Eile an.

„Mein Gott,“ bemerkte darauf der übermüthige Vetter, „wie habt Ihr Euch denn! Ich bin wohl zwanzig Mal von weit schlimmerem Wetter auf den Deichen überrascht worden, war ganz allein, konnte keine zwei Schritte weit sehen und kam doch immer, wenn auch verspätet, unangefochten nach Hause. Das Bischen Wind wird uns die Seele nicht aus dem Leibe blasen.“

„Der Wind nicht, aber die See kann’s thun,“ sagte Jens.

„Die See! Stehen wir nicht auf festem Eise?“

„Noch ist es fest, aber wie lange!“ sprach Taken. „Ihr kennt nicht die Gewalt der Fluth, wenn der Thauwind sie aufwühlt. Ein paar Stunden genügen dann, die festeste Eisdecke zu brechen und sie in Brei zu zermalmen.“

„Ah bah,“ versetzte Hendry. „In höchstens einer halben Stunde müssen wir am Strande sein.“

Taken ging den Uebrigen ein paar Schritte voraus. Plötzlich blieb er stehen und horchte. Ein Brausen, als stürzten große Wassermassen über Felsblöcke, schlug drohend an Aller Ohren.

„Zurück! Zurück!“ schrie Taken mit entsetzter Stimme. „Die Brandung von Capitains Knob brüllt dort im Süden!“

Alle standen erstarrt.

„Es kann nicht sein,“ sprach Jens nach kurzem Schweigen.

„Und doch ist es so,“ erwiderte Taken, fühlst Du nicht die Bewegung unter Deinen Füßen? Hörst Du das Krachen im Westen? Das Eisfeld treibt vor der Fluth und wir haben Nordwestwind.“

Diese Worte des Halligmannes verfehlten nicht ihre Wirkung. Alle sahen ein, daß nur ein Zufall ihnen Rettung bringen konnte, wenn die Vermuthung Taken’s sich bewahrheitete.

Das dicke, jetzt bereits mit Regentropfen vermischte Schneegestöber verhinderte jede Aussicht. Keine Baake auf den westlichen Sandbänken war zu erkennen und der Mond war noch nicht aufgegangen! Es ward dunkler und immer dunkler und die Gewalt des Windes nahm in beunruhigender Weise zu.

Nach etwa fünf Minuten gewahrten die Zurückgehenden die bewaffneten Langenesser. Von Norden her dröhnte gellendes Gepfeife. Man antwortete, um den noch fernen Gefährten anzuzeigen, wo man auch ihrer harre. Als die Gesellschaft sich wieder geeinigt hatte, traten die Männer zu einer ernsten Berathung zusammen. Taken’s Vermuthung bestätigte sich. Wenn das Gewölk momentan zerriß oder rascher, von den Fittigen des heftigen Windes erfaßt, über die wüste See fortflatterte, konnten die scharfen Augen der Halligbewohner die weißlich schimmernden Dünen Amrom’s erkennen. Wind und Fluth hatten das Eis gelöst, es trieb offenbar immer weiter ab vom Lande und mußte entweder auf den Untiefen zerschellen oder von den wild gehenden Wogen auf’s hohe Meer hinausgeschleudert werden.

In dieser furchtbaren Bedrängniß konnten wohl auch den Muthigsten bange Ahnungen beschleichen. Kaum aber hatten die jungen Männer sich über ihre Lage vergewissert, als sie auch gemeinsam zu handeln entschlossen waren.

„Wir dürfen kein Mittel unversucht lassen,“ sprach einer der Langenesser. „Laßt uns also, so lange wir noch Munition haben, von Zeit zu Zeit einen Schuß abfeuern. Insulaner haben ein scharfes Gehör und wenn es tüchtig anfangen sollte zu blasen, wird es die Schiffer und Strandvögte von Amrom nicht lange in ihren Häusern halten. Bei Sturm und Fluth sucht der echte Seemann immer den Strand. Hören sie aber unsere Nothsignale, so werden wir gerettet.“

„Der Vorschlag ist gut,“ sagte Taken, „es fragt sich nur, ob lange Zeit vergeht, ehe man uns irgendwo entdeckt und ob die Fluth uns weit abtreibt. Wir haben keinen Proviant!“

„Aber Tabak und Rum, Tabak die Hülle und Fülle,“ fiel Jens beruhigend ein.

Einer der Langenesser drückte seine Büchse ab. Der Schuß verhallte im Gebrause des Windes.

Düster traten die jungen Männer zusammen. Ihre Kräfte waren augenblicklich völlig paralysirt, ihr Scharfsinn konnte nichts entdecken, woran ihre Hoffnung sich klammern mochte. Die Lage war entsetzlich, verzweiflungsvoll.

Aber noch hielt das Eis, auf dem das kleine Häuflein, von aller Welt verlassen, der Unbarmherzigkeit rasender Elementarkräfte preisgegeben, stand! Sie fühlten, daß die gewaltige Scholle, von [370] Wind und Wogen erfaßt, immer weiter nach Süden abtrieb. Der Wind heulte, Schnee und Regen peitschte ihre Gesichter, Eisschollen krachten, Sturmvögel schrieen, Spottmöven stießen ihr schauerlich gellendes Lachen aus und dazwischen rollte das Gedonner der hochgehenden See, die ihre langen Riesenwellen an den eisumstarrten Sandbänken zerschlug.

Da fühlten die Verunglückten zwei, drei heftige Stöße, als bäume sich die vom Sturme wild geschüttelte Erde unter dem Meere. Die Festlandsfriesen stürzten bei diesen furchtbaren Stößen nieder und verwundeten sich an den scharfen Kanten des Eises.

„Wir sind gestrandet,“ sagte düster Taken Mannis.

„Gestrandet vor Capitains Knob!“ ergänzte noch düsterer sein Bruder Jens.

Wieder bewegte sich das Eisfeld, eine neue Fluthwoge hob es empor, dann stürzte es mit seiner ganzen furchtbaren Schwere zurück auf den unsichtbaren Sand und barst mitten auseinander.

„Um Mitternacht hat uns die See verschlungen,“ sprach Taken gelassen. „Dann ist Hochwasser und unser zerbrechliches Eiswrack zersplittert in tausend Stücke.“

Niemand wagte zu widersprechen. Die Langenesser luden stumm ihre Büchsen, und während Woge nach Woge das Eiswrack hob und senkte, der zum Sturme angeschwollene Wind Schauer von Schnee und Hagel auf die Verlassenen herabschüttete, die Wellen Stück nach Stück von dem Eisfelde abbröckelten und die Brandung ihren Gischt weiter und immer weiter an den scharfen Wänden heraufspritzte, krachte Schuß auf Schuß in die Nacht hinein, bis der letzte Rest des Pulvers erfolglos verbraucht war.

Gegen Mitternacht zerbrach das Eis abermals. Die Hochfluth machte die einzelnen Schollen wieder flott und unter dem bleichen Zwielicht, welches der von Wolken umhüllte Mond über die wilde Scene verbreitete, trieben die Unglücklichen, auf drei mächtige Schollen vertheilt, in die rasende Nordsee hinaus.




VIII.
Nicol Mannis in der Sturmnacht.

Auf den Halligen beobachtete man das rasche Umspringen des Windes und die gleichzeitig eintretende Veränderung der Luft nicht ohne Besorgniß. Vielfache Erfahrungen lehrten, daß stürmisches Wetter in solcher Jahreszeit alle Berechnungen der Vorsicht zu Schanden macht. Die Zeit des Vollmondes führt jedes Mal ein höheres Anschwellen der Fluth herbei, jene räthselhafte Erscheinung, welche die Küstenbewohner Springfluth nennen. Gesellt sich dann noch ein Sturm von längerer Dauer hinzu, so erreicht das Meer oft eine unglaubliche Höhe und schlägt mit verzehnfachter Gewalt gegen alle von Menschenhand zum Schutz gegen die Verwüstungen empörter Wogen aufgeführten Bollwerke.

Nicol Mannis hatte eine Wetterveränderung erwartet, dennoch überraschte auch ihn der so frühe Eintritt derselben. Er beobachtete von seiner Warft aus mit großem Interesse die Verwandlungen in der Atmosphäre. Alle Zeichen verkündigten einen heftigen Sturm. Dies veranlaßte ihn, sein Haus zu ordnen und gewissermaßen in Vertheidigungsstand zu setzen. Alle Sachen von Werth, seltene Kostbarkeiten, die er sich während seiner Seefahrten unter fremden Völkern auf der anderen Erdhälfte erworben hatte, wurden auf den Boden des Hauses geschafft und hier in starke Kisten verpackt, die mit Eisenklammern an die gewaltigen Balken befestigt waren, welche die eigentlichen Grundpfeiler des Hauses bilden, da sie durch die Erdmasse des Warftes in den Grund der Hallig gleichsam festgenagelt sind. Einmal schon hatte der alte Capitain es erlebt, daß die Warft fast ganz von den Wogen zerschlagen wurde und von dem Hause, das auf ihr ruhte, nur der Dachraum übrig blieb.

Frau Ellen, seine Tochter Karen und die zwei jungen Mädchen vom Festlande, ihre weitläufigen Verwandten, waren dem vorsichtigen Manne dabei eifrig zur Hand. Den Fremden machte dies Schaffen und Sorgen sogar Vergnügen. Sie bekamen dabei das Heirathsgut Karen’s, einen Schatz ausgezeichneter Leinwand, zu sehen und konnten dasselbe mit ihrer eigenen dereinstigen Aussteuer vergleichen, die, nach friesischer Sitte, schon längst in schön gemalten Koffern wohl verpackt in ihren Kammern stand. Vor einer wirklichen Gefahr, die augenblicklich noch nirgends zu erblicken war, bangte den fröhlichen Andern nicht. Die ernste Miene Nicols nahmen sie für allzugroße Bedenklichkeit des Alters. Erst nachdem Alles geordnet und auch die Bänder der beweglichen Treppe, welche aus der Hausflur nach dem Boden geleitete, gelockert worden waren, brach Mannis sein bisher beobachtetes tiefes Schweigen.

„In wenigen Stunden schon wird die Fluth das Eis brechen,“ sprach er. „Dann treibt es der Sturm über die Halligen und wirft es an unsere Warften, daß alle Nägel im ganzen Hause erzittern. Mir ist’s nur lieb, daß der Sturm vor dem Vollmonde rast, das schützt uns vor einer Sturm-Springfluth.“

Mannis ließ nun seine weiblichen Hausgenossen gewähren. Er verwandte kein Auge mehr von dem immer dunkler sich färbenden Himmel. Das ruhelose Hin- und Herfliegen der Windfahne war sein zweites Augenmerk. Diese Unruhe gefiel ihm nicht. Er schüttelte wiederholt den Kopf und sah durch’s Fernrohr. Es war jedoch wenig, in größerer Ferne nichts zu erkennen. Der bereits heftig wehende Nordwest trieb Schnee- und Eisnebel vor sich her und hüllte Alles in trübe, kalte Schleier.

Von seinen Söhnen und ihren Begleitern sprach Nicol nicht. Ellen nur erwähnte ihrer, als sie Licht anzündete und das Gekrache des Eises sich bereits mit dem Pfeifen des Nordweststurmes mischte. Oft klang es, als rollte der Wiederhall eines Kanonenschusses von dem brüllenden Meere herein.

„Die sind geborgen,“ versetzte er mit Zuversicht. „Sie werden auf Föhr oder Amrom, wo sie nun eben sein mögen, ganz ruhig das Unwetter abwarten. Es ist aber leicht möglich, daß sie viel später zurückkommen, als sie ursprünglich beabsichtigten. Denn wenn starkes Thauwetter eintritt und Alles rund um die Inseln von Sturm und Fluth zertrümmert wird, ist die Binnensee kaum vor ein paar Wochen in einem starken Boote sicher zu befahren. Werdet Euch also ein paar Tage länger bei mir gedulden müssen.“

Den Mädchen leuchtete dies ein. Sie blieben heiter und gesprächig und die Windstöße, welche wiederholt an den Wänden des Hauses rüttelten, beunruhigten sie eben so wenig, als das Dröhnen berstender Schollen und der Schwall der Wogen, der schon ein paar Stunden nach Sonnenuntergang den Fuß der Warft umspülte und eine Mauer dicken Eises um sie aufhäufte.

Zu gewohnter Stunde begaben sich Alle zur Ruhe. Nicol Mannis aber konnte nicht schlafen. Die Warft und das Haus zitterte unter den Umarmungen des Sturmes und den Fluthwogen der See, als bebe fortwährend die Erde. Das entsetzliche Krachen nahm gar kein Ende, es wurde eher von Stunde zu Stunde heftiger. Hagel und Regen schlugen prasselnd an die Fensterladen und durch alle, auch die feinsten Ritzen, rieselte Wasser. Verstummte auf Augenblicke das Heulen des Sturmes, dann klang noch viel schauerlicher das Gebrüll der See durch die wüste Nacht.

Mit geschlossenen Augen lag Nicol auf seinem Lager. Die weißen Vorhänge waren zugezogen und ohne die Aufregung in der Natur würde der bejahrte Seemann sich so sicher geglaubt haben, wie der Städter in seiner ringsumschlossenen, von unübersteiglichen Mauern umgebenen Wohnung.

Es kam ihm vor, als funkele dann und wann etwas Helles vor seinen Augen. Oeffnete er dann die schweren Lider, so sah er nichts, als den dämmernden Schimmer der Vollmondnacht, die durch die Ritzen der Läden brach. Indeß wiederholte sich dies zuckende Aufflammen mehrmals, der Sturm wuchs, alle Balken im Hause ächzten. Nicol stand auf, kleidete sich schnell an und versuchte, die äußere Thüre zu öffnen.

Ein Strom weicher, fast warmer Luft wehte ihm entgegen. Der Wind war ganz nach Westen gelaufen und trieb jetzt berghohe Wogen gegen die Inseln und Küsten, auf deren rollenden Kämmen weiße Eisblöcke wie Marmorsteine blinkten.

Im Zenith schimmerten die Sterne, um den Mond standen Wolkenmassen von Silber umsäumt, die sein Licht beträchtlich abdämpften. Gegen Westen thürmten sich schwarze Wetterwolken empor, aus deren Schooße oft grell rothe Blitze brachen und als feurige Schlangen in die schäumenden Wellen untertauchten. Ob diese Blitze von Donnerschlägen begleitet waren, ließ sich nicht unterscheiden, da Wind, Fluth und zerberstendes Eis ein fortwährendes Donnern und heulendes Sausen erzeugten.

Noch hatte der Sturm nicht seine größte Höhe erreicht, dem alten Seemanne aber sagte die Richtung, aus der er wehte, daß er sich bald legen werde. Umlaufende Stürme pflegen nicht von langer Dauer zu sein.

Nicol suchte eine Stelle zu gewinnen, wo die Windsbraut ihn [371] nicht zu sehr beunruhigte. Hier hielt er sich fest und ließ seine noch scharfen Augen, die des Nachts fast eben so gut sahen als am Tage, über das wild schäumende Meer mit seinem Chaos zerborstener und fortwährend donnernd gegen einander prasselnder Eisschollen schweifen.

Auf allen nicht zu fern gelegenen Warften bemerkte er Licht, ein Zeichen, daß ihre Bewohner sich weniger sicher wähnten, als er selbst mit seinen Angehörigen. Der Windmühle unfern der Kirche hatte der Sturm ein paar Flügel geraubt, auch schien es ihm, als sei das Dach auf Geike Woegens’ Warft stark beschädigt.

Gern wäre er dem Nachbar, der ganz allein mit einer schwächlichen Tochter in seinem Hause lebte, zu Hülfe geeilt. Das war jedoch vorläufig unmöglich, denn nicht nur brauste das Meer sechs bis sieben Fuß hoch über die Hallig fort, es rollten auf den grauschwarzen Wogen auch noch zahllose Schollen schweren kantigen Eises, die selbst das stärkste Fahrzeug wie Glas zermalmt haben würden.

So stand Nicol Mannis lange. Erst als er die Gewißheit erlangt hatte, daß sein Besitzthum diesmal nicht gefährdet werde, zog er sich wieder zurück in den Schutz des Hauses. Das Gewitter näherte sich nicht. Es strich unter außerordentlich heftigem Wetterleuchten mit dem Winde mehr südwestwärts.

In der dritten Morgenstunde brach der Mond in hellem Glanze durch das Gewölk. Die Luft ward bald darauf stiller und als Nicol zum zweiten Male in dieser Nacht sein Lager aufsuchte, hörte er an dem gleichmäßigen Rauschen der Woge- und dem monotonen Anschlage derselben gegen den festen Hügel der Warft, daß die Gefahr vollständig vorüber sei.




IX.
Am Strand von Hooge.

Bei Anbruch des Tages ward es auf allen Halligen lebendig. Noch ging die See hoch und rollte in langen, breiten Wellen über die niedrigen, schutzlosen Erdscheiben. Die Fluth war aber bereits machtlos geworden und man durfte hoffen, daß mit der Tiefebbe alles Land größtentheils wieder frei von Salzwasser sein werde.

Die Westsee selbst bot einen merkwürdigen Anblick dar. Das Bild einer großartigen Naturverheerung lag in unübersehbarer Ausdehnung vor Aller Augen. Die Halligen waren mit unzähligen Eisblöcken übersät, die bald zerstreut und vereinzelt sich zeigten, bald hoch übereinander geschoben zu phantastischen Massen sich emporthürmten. Jede Warft umstarrte ein mächtiger Wall blaugrünen Eises. Da, wo der Fluthstrom mit größerer Gewalt gegen die künstlich aufgeführten Erdhügel angeprallt war, zeigten sich diese unterhöhlt, manche sogar halb zertrümmert. Indeß war doch keine Wohnung ganz zerstört oder vom Sturme umgeweht worden.

Noch chaotischer stellte sich das Binnenmeer dem Auge dar. Die Sturmfluth hatte alle Wasserstraßen zwischen den Watten gefüllt, überall das Eis gebrochen, es hüben und drüben auf den seichteren Stellen angehäuft und die auf den tieferen Strömungen treibenden Schollen mit der Ebbe der offenen See zugeführt. Das ganze Binnenmeer schien mit erratischen Blöcken funkelnden Gesteins besät zu sein.

Der alte Mannis war einer der Ersten, die von ihrer Warft herabstiegen, um die etwaigen Verwüstungen von Wind und Fluth in Augenschein zu nehmen. Sein erster Gang galt dem Vater Geike’s, den er schon beschäftigt fand, das stark beschädigte Dach seines Wohnhauses auszubessern. Als guter Nachbar legte Nicol sogleich selbst mit Hand an. So gelang es den beiden Männern, noch vor Abend den angerichteten Schaden nothdürftig wieder herzustellen.

Der abwesenden jungen Männer ward nicht gedacht. Erst Abends warf eins der Mädchen die Frage hin, wie lange dieselben wohl noch ausbleiben könnten.

„Das hängt von Umständen ab,“ erwiderte Nicol vollkommen ruhig. „Bleibt die Luft mild, wie heute, so wird die Binnensee bald fahrbar sein. In diesem Falle, der mir wahrscheinlich dünkt, dürfen wir sie in zwei, spätestens in drei Tagen erwarten.“

Wirklich blieb auch das Wetter mild. Die Luft war weich wie im April, der Himmel unbewölkt. Es trat fast gänzliche Windstille ein, so daß das Meer sich beruhigte und keine andere Bewegung, als die von Fluth und Ebbe herrührende, zeigte. Die jungen Männer kamen aber nicht zurück.

Karen’s Unruhe steigerte sich zur Sorge, sie wagte aber nicht, dem Vater ihre Befürchtungen mitzutheilen, da dieser selbst von trüben Gedanken gequält zu werden schien.

Als auch der dritte Tag verging und Keiner der jungen Männer sich blicken ließ, machte Nicol seinen Ewer segelfertig.

„Was hast Du vor?“ fragte Ellen.

„Segeln will ich und mich umschauen, ob irgendwo Einer verunglückt ist.“

„Unsere Söhne!“ rief mit thränenerfüllten Augen die geängstete Mutter.

„Darf ich Dich begleiten?“ fragte Karen, die mit Mühe eine Ruhe erheuchelte, von der ihr gequältes Herz nichts wußte.

„Darfst.“

„Und wir, Vetter Nicol?“ fragten die Mädchen vom Festlande.

„Ihr bleibt ruhig auf der Warft, bis wir wiederkommen.“

„Wie lange gedenkst Du fortzubleiben?“ warf Ellen hin.

„Weiß ich nicht.“

„Und wohin willst Du segeln?“

Mannis deutete mit vielsagendem Blicke nach Norden.

Die Zurückbleibenden gaben Vater und Tochter das Geleit bis an den Strand. Mannis hißte die Segel auf, drehte ab und fuhr mit stummem Abschiedsgruße hinaus in die Wattensee.

Sein Ziel war Amrom. Er erreichte die Insel nach einigen Stunden. Unterwegs entging seinem scharfen Auge nichts, was ihn interessirte. Namentlich achtete er auf die zusammengeschobenen Schollen, die hie und da auf den Sanden festsaßen, und von der jetzt nur schwachen Fluthwoge noch nicht überall zerstört waren. Trümmer eines zerschellten Fahrzeuges, die nach vorangegangenem Sturme ein paar Tage später von den Wellen gewöhnlich an’s Land gespült werden, begegneten dem alten Halligmann nicht.

In der Ortschaft Nebel auf Amrom fand Nicol die ersten Spuren der Vermißten. Hier erfuhr er auch, daß die Gesellschaft aus zehn kräftigen Männern bestanden hatte, von denen vier mit Büchsen bewaffnet gewesen waren. Am Morgen nach der Sturmnacht fanden auslugende Schiffer einen getödteten Seehund am Fuße der Dünen. Die Amromer nahmen deshalb an, daß die Jäger, deren Abzug nach den Dünen kein Geheimniß geblieben war, ihre Beute beim Ausbruch des Unwetters aufgegeben und sich nach Süd- oder Norddorf zurückgezogen hätten.

Mannis machte sich ungesäumt mit seiner Tochter auf den Weg, um die bereits entdeckten Spuren seiner Söhne und ihrer Begleiter weiter zu verfolgen. Er durchwanderte die ganze Insel, erkundigte sich überall nach den Verschwundenen, erhielt aber nirgends eine beruhigende Antwort. Weder im Süden noch im Norden waren die jungen Männer gesehen worden!

Eine große Niedergeschlagenheit bemächtigte sich jetzt des alten Seemannes, doch sprach er seinen Schmerz nicht in Worten aus. Er hatte zu viel Furchtbares erlebt auf seinen Reisen, um sich selbst von dem entsetzlichsten Unglücke ganz niederbeugen zu lassen. Am meisten schmerzten ihn die Klagen Karen’s, die sich gar nicht mehr zu fassen wußte.

Mannis blieb eine Nacht auf Amrom. Am andern Morgen segelte er nach Föhr, um auch dort seine Nachforschungen wieder aufzunehmen. Der Erfolg war kein glücklicher.

„Nun ist es Zeit, heimzukehren,“ sprach er darauf entschlossen zu seiner Tochter. „Man wird uns daheim alsbald brauchen.“

Ruhig und kalt lichtete er wieder den Anker und steuerte westwärts in die Norder-Aue. Bei Seesand-Steert bog er in die Süder-Aue ein und hielt gerade auf Knudshorn, um mit auflaufender Fluth das Jap zu gewinnen.

Ueber Heverknob’s Westbrandung stieg eine Wolke schreiender Seevögel auf und nieder; eine zweite, noch dichtere gewahrte Mannis weiter südlich auf Backsand, er schenkte diesen Vogelgeschwadern aber keine große Aufmerksamkeit, da es täglich vorkommende Erscheinungen über Untiefen sind, wo das Meer eine Menge Fischleiber und todter Schalthiere auswirft,’welche den Seevögeln zur Nahrung dienen.

Die Sonne übergoß die Warften mit purpurner Gluth, als Hooge nur noch ein paar Büchsenschüsse weit von dem schnellsegelnden Ewerschiffe Mannis’ entfernt lag. Rechts von dem Schlütt gewahrte der alte Capitain einen Menschentrupp, unter denen zwei Drittheile Frauen waren. Auch Karen fiel diese Versammlung der [372] Halligbewohner auf, weshalb sie fragend die Worte an den Vater richtete: „Was kann es dort geben?“

Nicol stand aufrecht am Steuer und sah unverwandt nach dem Strande. Sein Ewer war Allen auf Hooge bekannt, und ehe das Fahrzeug noch anlegen konnte, näherten sich Mehrere dem Landungsplatze. Mannis erkannte unter diesen auch den Pfarrer.

„Ich weiß schon, was Ihr bringt,“ rief er jetzt mit gepreßter Stimme vom Schiffe aus den tief ernsten Männern zu. „Ihr habt gefunden, was ich vergebens suchte. Von dorther, wo die Andern stehen, sah ich den Leichenzug quer über die Hallig sich fortbewegen, und von Heverknob’s Sand her strich er feierlich ernst über die Süder-Aue.“

Das Wort des alten Mannes erregte bei Niemand Anstoß. Es widersprach ihm Keiner, der Geistliche aber reichte ihm die Hand, bot dann dem jungen Mädchen, das sich weinend an ihn schmiegte, den Arm, und so schritt der ganze Trupp der Stelle zu, wo noch immer mehr Halligbewohner sich einfanden.

Die letzte Fluth hatte hier vier Leichen an’s Land gespült. Unter diesen befand sich Jens Mannis und der übermüthige Vetter Hendry aus Bredstedt. Die andern Beiden waren zwei Langenesser. Ueber das Schicksal der noch Uebrigen konnte sich der unglückliche Halligmann keine Illusionen mehr machen.

„Sie sind Alle ein Opfer des Sturmes geworden,“ sagte er gefaßt. „Es war unrecht von mir, daß ich sie nicht mit Gewalt zurück hielt. Hörte doch Jens zuerst die Geisterglocken von Rungholt läuten!“ –

Ellen war von dem Geschehenen bereits unterrichtet. Sie begrüßte die Heimkehrenden stumm, aber herzlich. Bald darauf brachte man die Leichen Jens’ und Hendry’s. Nicol ließ sie auf die Diele nebeneinander betten.

Mit der nächsten Fluth trieben noch vier der Vermißten theils auf Nordmarsch, theils auf Südfall an, die dritte Fluth warf den Neunten abermals an Hooge’s Strand. Nur Taken’s Körper fand man nicht auf.

„Sein Leib wird dem Meere verbleiben,“ sprach Nicol.

Er traf Anstalten, die Todten bestatten zu lassen.

Zu diesem Leichenbegängniß trafen von allen Halligen theilnehmende Männer und Frauen auf Hooge ein. Es war ein langer, düsterer Leichenzug, der sich im matten Schein der Wintersonne über die öde Hallig fortbewegte nach dem kleinen Friedhofe, wo die Verunglückten in eine weite gemeinsame Gruft gesenkt wurden. Diese Feierlichkeit war eben beendigt, als unter den zahlreich Versammelten eine Bewegung entstand.

„Ein Schiff, ein Schiff von Nordstrand!“ rief laut eine Stimme. „Er ist gerettet, durch ein Wunder gerettet!“

Die Menge theilte sich und auf zwei starke Männer in Schifferkleidung gelehnt, bleich, mit verstörten Zügen und kaum wieder zu erkennen, schwankte Taken auf den gebrochenen Vater zu, der, keines Wortes mächtig, den Sohn in seine geöffneten Arme schloß und dann laut schluchzend mit ihm auf den frischen Erdhügel, der sich über den Särgen der eben Beerdigten wölbte, niedersank. –




Unter Ellen’s und seiner Schwester Pflege erholte sich Taken bald so weit, daß er die näheren Umstände seiner Rettung mittheilen konnte.

Vom Sturm erfaßt, war das in’s Treiben gerathene Eisfeld am äußersten Rande jenes hohen Sandes, welchen die Schiffer Capitainsknob nennen, und der an der Mündung der Reutertiefe im Westen Amroms liegt, geborsten. Das wilde Sturmwetter jagte die nunmehr getheilten Schollen seewärts. Bald verloren sich die Getrennten gänzlich aus dem Gesicht. Taken mit zwei der büchsenbewaffneten Langenesser hatte der Zufall auf die kleinere, aber sehr feste Scholle geworfen. Die dem Tode Geweihten trieben, von mancher Woge überschüttet, immer weiter nach Süden. Hier geriethen sie in eine Wetterwolke, die unter Blitz, Donner und Hagel über sie fortbrauste. Eine Woge überstürzte die Scholle und spülte die Langnesser in die Tiefe. Taken sah sich allein. Mit der Riesenkraft der Verzweiflung klammerte er sich fest an das Eis, bis schauernde Kälte ihn durchrieselte, und er, von nagendem Hunger gepeinigt, mit erstarrten Gliedern besinnungslos niedersank.

Als er wieder zu sich kam, lag er in einem Schifferkahne. Eine mitleidige Woge hatte ihn auf den Strand von Süderoog geworfen, wo Schiffer, die hier Schutz vor dem wilden Sturmmwetter gesucht und gefunden, ihn entdeckten.

Anfangs hielten die wackern Männer ihn für todt. Bald aber bemerkten sie, daß noch Leben in ihm sei, und ihren unablässigen Bemühungen gelang es, den schon dem Tode Geweihten wieder in’s Leben zurück zu rufen.

Es waren Männer von Nordstrand. Dahin brachten sie zuerst ihren Findling. Dieser aber, kaum so weit erstarkt, daß er sich wieder regen konnte, hatte keine Ruhe bei seinen braven Rettern. Ihn verlangte zurück nach Hooge, um zu erfahren, ob die Kunde des Geschehenen bereits bis in das Haus seiner Eltern gedrungen sei. Unter dem Geläut der Glocken, die über dem Grabe seines Bruders, seiner Verwandten und Freunde verhallten, betrat er, der einzig Ueberlebende, die Hallig.

Der Seemann von ächtem Schrot und Korn ist eben so fromm als abergläubisch. Wie Nicol Mannis fest überzeugt war, daß da schattenhafte Schiff, welches seine Kinder unfern der Insel Amrom im vergangenen Herbst an sich hatten vorüberstreichen sehen, ein Zeichen gewesen sei, das ihnen in jener Gegend Unglück prophezeie; wie er Tags darauf mit eigenen Augen einen Leichenzug mit Begleitung von der Süder-Aue über das Jap nach Hooge durch den Nebeldunst des Abends gleiten sah und darin einen Wink erblickte, daß viele Halligleute ihren Tod in den Wellen finden würden: so von Herzen froh und dankbar war jetzt der alte Mann, daß Gott doch nur einen Sohn von ihm gefordert hatte.

Ellen war schwerer zu beruhigen. Sie machte sich im Stillen Vorwürfe über ihren Unglauben, und zieh sich unnützerweise eines Leichtsinnes, den sie in der That gar nicht besaß. Es bedurfte langer Zeit, ehe die gebeugte Frau ihre frühere geistige Elasticität wieder gewann.

Im Frühjahr kehrte Geike Woegens glücklich von seiner Reise zurück. Er betrauerte tief und wahr das Unglück, das sich während seiner Abwesenheit zugetragen hatte, und führte ein paar Monate später die sinnig-ernste Karen als Gattin heim.

Die in der wilden Sturmnacht Umgekommenen zeigten sich Niemand als Wiedergänger. Der Friedensklang der Kirchenglocken auf Hooge, Langeneß und in Bredstedt hatte sie für immer sanft in’s Grab gebettet.




Der Werrabahn-Tunnel bei Eisenach,

vor dessen nördliche Mündung uns die beigefügte Skizze führt, ist eines der interessantesten Bauwerke der Neuzeit in unsern thüringer Bergen und es vergeht kein Tag, wo nicht zahlreiche Besucher von Nah und Fern nach der Tunnelbaustelle wallfahrten. Es dürfte deshalb für den Leser der Gartenlaube von Interesse sein, diesen Gegenstand etwas näher beleuchtet zu sehen.

Der Tunnel von 24 Fuß rheinl. lichter Weite und Höhe, sollte nach der ursprünglichen Projection nur 1440 Fuß lang werden; es stellte sich jedoch mit Rücksicht auf die gleichmäßige Festigkeit des durchzuschlagenden Gesteins, welche eine Ausmauerung überflüssig macht, und zur Vermeidung der beträchtlich höheren Kosten, welche die Ausarbeitung der tiefen Voreinschnitte erfordert haben würde, als zweckmäßig heraus, den Tunnel selbst um 293 Fuß zu verlängern, so daß die Gesammtlänge desselben nunmehr 1733 Fuß beträgt. –

Die sehr bedeutenden Einschnittsarbeiten, welche im März und April 1856 in Angriff genommen worden, waren durch zweckmäßige Anlage der Schächte und kräftigen Betrieb (bei einer durchschnittlichen Arbeiterzahl von 800–1000 Mann), trotzdem bei einer Tiefe von wenigen Fuß schon das in dieser Gegend vorherrschende Gestein – das sogenannte Rothliegende – in fester Masse zu Tage trat, und die Hackgeräthe bald mit den Sprengmaterialien vertauscht werden mußten, dennoch schon im November desselben Jahres so weit vorgeschritten, daß mit dem Einbruch des Tunnels zunächst auf der nördlichen Seite begonnen werden konnte. – Gleichzeitig mit den eigentlichen Tunneleinbrüchen wurden am südlichen Abhange [373] des Berges in gewisser Entfernung von einander zwei Stollen (Förderschächte) senkrecht in die Tiefe getrieben, um, sobald man hier die Tunnelsohle erreicht hatte, nach beiden Richtungen hin den Tunnelmündungen entgegen zu arbeiten, und auf diese Weise möglichst schnell zum Ziele zu gelangen. – Am 20. December 1857 Nachts erfolgte unter allgemeinem Jubel und Freudenschüssen von Seiten der betheiligten Arbeiter der Durchbruch. Die bei dieser Gelegenheit für die Arbeiter bestimmte Prämie von 500 Thalern wurde theilweise zur Unterstützung der einige Tage vorher – am 10. December – im Tunnel Verunglückten und deren Hinterlassenen verwendet. –

So schwierig und gefahrvoll auch die Ausführung dieses Baues war, so steht doch die Zahl der bis jetzt während der Arbeit Verunglückten

Der Werrabahn-Tunnel bei Eisenach.

zu der Größe des Unternehmens in keinem Verhältniß. Der oben angeführte ist der einzige erhebliche Unglücksfall, welcher beim Tunnelbau vorgekommen, und wurde durch Unvorsichtigkeit eines Arbeiters beim Laden eines Schusses verursacht; zwei der in der nächsten Nähe beschäftigten Arbeiter wurden dabei tödtlich und vier mehr oder minder verwundet.

Ungeachtet der vorerwähnten größeren Längenausdehnung des Tunnels werden doch die im Kostennanschlage enthaltenen 180,000 Thaler nicht nur vollständig ausreichen, sondern es wird noch eine erhebliche Summe erübrigt werden, indem nach den bisherigen Erfahrungen der Betrag von 140,000 Thalern zur Vollendung genügen wird. – Von den für die Herstellung des Tunnels verausgabten Kosten kommt ein großer Theil auf die Beschaffung des massenhaften Pulverbedarfs nebst sonstigem Zubehör, so wie auf die Anschaffung und Unterhaltung der Bohrwerkzeuge. (Die im Tunnel beim Bohren und Sprengen beschäftigten Arbeiter, circa 400–500 Mann an der Zahl, verbrauchten durchschnittlich täglich 5 Centner Pulver.)

Man hegt mit Bestimmtheit die Hoffnung, daß der Tunnel bis Mitte Juni gänzlich vollendet und alsdann die Strecke von Eisenach bis zum Tunnel vollständig fahrbar sei. – Am 20. Mai befuhr die erste Lokomotive die von Eisenach aus bereits vollendete kurze Strecke der Werrabahn, und überwand mit Leichtigkeit die bedeutende Steigung, welche sich zur Länge wie 1:50 verhält.

Wer jemals jenen düstern Waldwinkel, an dessen Stelle sich die nördliche Tunnelmündung befindet, passirte, der wird jetzt überrascht vor einer freundlichen, belebten Landschaft stehen, welche der mächtige Zeitgeist, „Verkehr“ genannt, aus jener Waldeinsamkeit geschaffen hat.




Die hohe Schulter und ihre Behandlung.
Von Dr. Paul Niemeyer.

Es gehört zur näheren Charakteristik unserer Zeit sicher auch der höchst auffällige Umstand, daß wir uns in vielen Dingen theoretisch um so mehr vervollkommnet haben, je mehr uns deren Praxis gleich einem kaum noch zu erreichenden Ideale in die Ferne entrückt worden ist. Jedes Intelligenzblatt wimmelt gegenwärtig von Anpreisungen aller Art zu Gunsten der vielfältigsten „Glückseligkeitsmittel“: „Keine Hühneraugen mehr!“ – „Die Kunst, das Leben zu verlängern!“ - „Untrügliches Mittel, schnell reich zu werden!“ – „Schönheitsmittel für alle erdenklichen Reize!“ – Fast sollte man meinen, die Welt müsse, diesen Mitteln zufolge, [374] zu einem wahrhaftigen Paradiese umgeschaffen werden können, – und doch! – welche Misere lauert hinter diesen bombastischen Industrieausstellungen der Speculation! Wie schneidend macht sich dagegen der Contrast der gemeinen Wirklichkeit geltend, deren Nothfragen immer brennender werden, je lauter jene weisen Theoretiker in das Horn ihrer Untrüglichkeit stoßen! – Wie bescheiden trat in derartigen Beziehungen das elastische Alterthum auf, dessen Menschen in ihrer gesunden Naturwüchsigkeit dem Ideale körperlicher Schönheit und Kraft sicher nicht so fern standen, als unsere Zeitgenossen trotz ihrer adonisirenden Toilettengeheimnisse und Lebenselixire! Stand Jenen doch zu ihren plastischen Kunstschöpfungen eine Fülle von schön gebauten Modellen zu Gebote, die den Künstler zur Darstellung eines Jupiter, eines Apollo, einer Here oder Aphrodite zu begeistern vermochte, während er in unserer kränkelnden Gesellschaft wohl lange suchen müßte, ein solchen Idealen entsprechendes Vorbild vollendeter Leibesschöne zu finden.

Vor Allen kam bei jener allseitigen Ausbildung der körperlichen Sicherheit den Völkern der alten Zeit ihre Vernunft- und naturgemäße Leibesdiät, ihre Vorliebe für harmonische Entwickelung der äußerlichen Formen, ihre geschmackvolle und alle Körpertheile zur gleichmäßigen Vollendung zeitigende Kleidung, und vor Allem ihr unausgesetzt reges Leben in der freien, frischen Luft öffentlicher Plätze zu Statten. Vergleichen wir damit unser Geschlecht! Welche Deformitäten und Schwächen des Leibes bereitet ihm nicht die launenhafte Mode und die schon im Säuglingsalter beginnende Verwöhnung, die zwar nach Idealen strebt, in der That aber nur zu oft Karrikaturen erhascht!

Um diese an sich hart erscheinende Anklage der gegenwärtigen Misère durch ein besonderes Beispiel aus dem Bereiche ärztlicher Erfahrungen zu erörtern, wählen wir unter den vielen Jammerbildern des „civilisirten“ Zeitalters nur die eine zum Gegenstande näherer Betrachtung, welche unter der Bezeichnung der Ueberschrift Jedem sofort wohl bekannt ist.




I.

Die hohe Schulter ist die Folge einer Mißstaltung des Rückgrates; dieses verläßt in einem gewissen Umfange die gerade Richtung zur Seite; die Seitwärtskrümmung der Wirbelsäule aber bezeichnet die Medicin als Skoliose; die hohe Schulter ist also kein selbstständiges Schulterleiden, sie ist nur das auffälligste Symptom einer Ruckgratsverkrümmung.

Die Uranfänge der Skoliose sind ganz unmerkliche und werden dem spähenden Mutterauge nur mehr ahnungsweise offenbar; man spricht daher zunächst von einer Anlage zum Schiefwerden; die Mißstaltung ist nämlich noch keine permanente, sondern tritt nur zeitweilig in die Erscheinung; selbst ausgesprochenere Grade werden noch leicht genommen: man tröstet sich damit, „daß sich das verwachsen werde,“ oder daß das Mädchen, wenn es erst „eitler geworden, sich schon von selbst gerade halten werde.“ Nimmt aber trotzdem die Krümmung zu, so läßt man turnen, schwimmen, macht Einreibungen, legt Rückenschilder oder sonstige Geradhalter an – umsonst; immer deutlicher tritt folgendes Bild zu Tage:

Die rechte Schulter steht höher, als die linke, und nach rechts hin macht die Wirbelsäule mit ihren Brustwirbeln eine Krümmung, deren Bogen man am Genauesten abschätzt, wenn man einen Faden (eine Uhrkette) um den Hals legt und in der Mitte des Rückens durch Belastung senkrecht zieht. Dieser oberen Krümmung nach rechts entspricht eine mehr oder weniger deutliche untere Krümmung der Lendenwirbel nach links, so daß die ganze Wirbelsäule ein umgekehrtes S darstellt. Eigenthümlich ist ferner der Zustand der Muskeln zu beiden Seiten: an den convexen Stellen treten dieselben stark hervor, als waren sie angespannt, und fällt namentlich der Lendenmuskel als ein dicker Wulst zur linken Seite in die Augen; an der Concavität dagegen scheint die Musculatur geschwunden und diese Partien sind abgeflacht, selbst scheinbar eingesunken.

Dieses Musterbild der Skoliose erscheint ferner in zwei Varietäten: es tritt nämlich entweder die Brust- oder die Lendenkrümmung in den Vordergrund; die letztere ist auch wohl zuerst entstanden, wie wir unter III. weiter ausführen werden.

Mit der Wirbelsäule erleiden die an sie gehefteten Rippen, besonders die unteren, eine Lageveränderung: rechterseits werden sie entsprechend zusammen, ja übereinander geschoben, linkerseits auseinandergezerrt; daher die Skoliotischen in der Lebergegend eine Hervortreibung zeigen, während die linke Weiche eingezogen erscheint. So wird der Schiefe schließlich zu jener Karrikatur, die der Sprachgebrauch nunmehr als „buckelig“ bezeichnet. In der Medicin dagegen versteht man unter Buckel – Kyphose – nur die Krümmung nach hinten, wie sie im Greisenalter so häufig.

Zum Glück bleibt das Uebel häufig auf dieser Stufe stehen; nicht selten aber schreitet es allmählich weiter bis zu einem Grade von Verunstaltung, welcher durch Beeinträchtigung der edlen Eingeweide das Leben gefährdet und zum Tode führt. Wir berühren auch diesen außer dem Bereiche der Kunsthülfe liegenden Zustand, weil derselbe in diesem engen Zusammenhange mit einem vernachlässigten Körperfehler nicht allerseits gewürdigt wird.

Der Mißstaltung des äußeren Gerüstes entspricht eine Formveränderung der Körperhöhlen, von deren Umfang man sich oft keinen Begriff macht. Fassen wir einen bestimmten Fall in’s Auge, so ist die rechte Brusthöhle auf ein Minimum reducirt, die Lunge darin nur als ein Ueberbleibsel vorhanden, in den unteren, noch allenfalls geräumigen Theil hat sich die Leber eingedrängt. Dagegen ist die linke Brusthöhle verhältnißmäßig erweitert und ihrem Lungentheile fällt das ganze Athmungsgeschäft anheim: dieser wird dadurch über die Maßen vergrößert und eine so vergrößerte Lunge ist eben so wenig fähig zur normalen Functionirung, wie jene geschrumpfte der anderen Seite.

Der Blutlauf durch die Lungen zum Herzen und vom Herzen zur Lunge ist gehindert; durch den beständigen Rückstau des Blutes wird das Herz übermäßig erweitert und schlägt hammerartig an die Brustwand. Daher die Skoliotischen nach der geringsten Bewegung (Treppensteigen) von Kurzathmigkeit, Blausucht und Herzklopfen befallen werden. Diese Symptome werden nebst Brust- und Kreuzschmerzen, quälendem Husten, welcher gewöhnlich auf Erkältung geschoben wird, schließlich permanent, die Rückenlage ist unerträglich, und endlich führt ein Lungenschlag die Auflösung – oft ganz unerwartet – herbei.




II.

Welches sind nun die Entstehungsursachen der Skoliose?

Diese mit der Behandlung so innig verknüpfte Frage ist noch keineswegs zu der nöthigen Aufklärung im Publicum gelangt und die gewöhnlichen Ansichten beruhen auf Irrthum, wie sich aus einer kurzen Prüfung derselben ergeben wird.

Von inneren Krankheiten, als Drüsen, „englischer Krankheit“, sehen wir ab; die Skoliose, welche wir hier im Auge haben, befällt innerlich ganz gesunde Kinder und ihre Häufigkeit ist so überwiegend, daß vom Hundert dreiundachtzig auf ihren Antheil und nur siebzehn auf jene Krankheiten als Ursache kommen. Manche Eltern geben an, daß das Kind einmal – gewöhnlich durch Verschulden des Mädchens – auf die Erde gefallen sei, doch wird dieser Anlaß gewöhnlich erst nachträglich hervorgesucht. Am verbreitetsten ist die Ansicht, daß die hohe Schulter eine Krankheit der Muskeln sei, die man sich in doppelter Weise vorstellt:

     a) als eine allgemeine Muskelschwäche.

Die Muskeln – sagt man – sind nicht stark genug, die Wirbelsäule gegen das Gewicht des Kopfes in ihrer geraden Richtung zu behaupten; sie wird durch dasselbe seitwärts gedrückt, wie jener elastische Stab, auf dem der Athlet eine Kugel balancirt. Von diesem Standpunkte aus ordnet man zu allgemeiner Stärkung kalte Bäder, Schwimmen, Turnen an oder gibt innerlich stärkende Arzneien; wir erheben aber folgende Bedenken dagegen:


     1. Die angebliche Muskelschwäche ist bei den Skoliotischen keineswegs einleuchtend; ein Blick in einen orthopädischen Cursaal genügt, um sich zu überzeugen, wie es vorzugsweise kräftige Kinder sind, welche von der Skoliose heimgesucht werden.


     2. Gegentheils ist die Skoliose unter den mit wirklicher Muskelschwäche Behafteten – so namentlich den Bleichsüchtigen – durchaus kein auffallendes Vorkommniß.


     3. Findet sich in den Fällen, wo das Gewicht des Kopfes wirklich den besagten Einfluß auf das von schwachen Muskeln gehaltene Rückgrat äußert, eine ganz andere Krümmung, aber keine Skoliose; so beim Greise und beim lebensschwachen Kinde; hier ist die Wirbelsäule stets nach hinten gebogen (Kyphose).


     b) als eine örtliche Muskelschwäche, nämlich der linken Seite, wobei gegentheils die Muskeln der rechten Seite übermäßig [375] stark geworden sein sollen. Es ist eine besonders den Erziehern geläufige Vorstellung, daß bei der gewöhnlichen Beschäftigungsweise der Kinder, bei dem überwiegenden Gebrauch der rechten Hand und mithin des rechten Armes dieser in seinen Muskeln eine größere Kraft gewinnen müsse, als der verhältnißmäßig wenig gebrauchte linke. Durch dieses Uebergewicht der rechten Seite soll nun die Wirbelsäule nach rechts verzogen werden.

Aus dieser Ansicht entspringt das bekannte System: die rechte Hand ganz außer Gebrauch zu setzen und alle Handirungen der linken Hand zu übertragen; diese überdies durch örtliche Gymnastik – längeres Hängen mit derselben an einer Schwebe, methodisches Drehen einer Walze mit der linken Hand – zu kräftigen. Ferner gingen aus dieser Auffassung die Einreibungen hervor, indem man die hervorgewölbten Muskeln der rechten Seite zur Erschlaffung mit Oel, die der linken zur Stärkung mit Weingeist behandelte. Diese Einreibungen sind nutzlos, da sie nicht zum Muskel dringen, und gegen diese zweite Theorie überhaupt ist Folgendes zu erwägen. Zuverlässige statistische Untersuchungen mit dem Kraftmesser haben ergeben, daß bei Skoliotischen die rechte Schulter keineswegs stärker ist, als die linke, daß selbst Linkshändige die Krümmung nach rechts bekommen, endlich daß, wo wirklich der rechte Arm stärker war, als der linke, die Skoliose fehlte.



III.

Wir haben sonach dargethan, wie die gebräuchlichen Theorien das eigentliche Wesen der Skoliose nicht ergründen und die gewöhnliche Behandlung auf Illusion beruht. Zur Wahrheit gelangt man durch einen Schritt weiter: die Muskeln als solche können keine Krümmung zu Wege bringen; sie sind kein selbstständiges Gebilde, sondern stehen in directer Abhängigkeit vom Nervensystem: ohne Nerven keine Muskelaction! Die Nerven selbst aber werden von der Seele und dem Willen bestimmt und dieser Gesichtspunkt führt zur sachgemäßen Deutung der Skoliose, deren Schlußergebniß wir hier vorweg nehmen.

Die hohe Schulter ist eine mit Willen angenommene Körperhaltung, und daß sie dies ist, beweist direct die Erfahrung, daß sie in den Anfangsstadien bei gehöriger Instruction des Kindes willkürlich sogleich wieder aufgegeben werden kann. Wie selten die Skoliose durch wirkliche Krankheit entsteht, haben wir oben durch Zahlenverhältnisse anschaulich gemacht.

Der Wille wird durch innere und äußere Einflüsse bestimmt: als innere sind hier bloße Laune oder Bequemlichkeit zu nennen; Kinder, welche viel sitzen müssen und dabei durch ermüdende Lehrgegenstände in Anspruch genommen werden, denen sie theilnahmlos und rein mechanisch ihr Ohr leihen, werden unlustig, ihre Muskeln irgendwie zu beherrschen; sie rücken hin und her, nehmen eine lasche Haltung an, „knicken ein“ zu einer, wie wir sehen werden, bequemeren skoliotischen Tournüre.

Als äußerer Einfluß kommt namentlich die Beschäftigung in Betracht: irgend einer im täglichen Leben oft wiederkehrenden Handirung gibt sich der Körper in einer gewissen Gruppirung der Theile hin, welche ihm schließlich zur comfortablen Ausführung zum Bedürfniß wird. Ein auffälliges Beispiel liefern hierfür gewisse Gewerke: so sitzt z. B. der Nadler den ganzen Tag bei der Drahtarbeit mit der rechten Hand über dem Tische, mit der linken mehr nach unten und dieser verschiedenen Tendenz der Extremitäten folgt er unbewußt mit dem Rückgrats durch eine Biegung nach rechts; fast alle Nadler sind mehr oder weniger skoliotisch. Der Beobachtung zugänglicher sind die Clavierstimmer, welche, besonders seit die Pianino’s in allgemeinen Gebrauch gekommen, zumeist schief oder wirklich skoliotisch sind; mit der rechten Hand müssen sie hoch hinauf zu den Saitenstiften greifen, mit der linken schlagen sie die Tasten an.

Sehr belehrend ist folgendes Beispiel.

Ein Beamter hatte auf einem Commissionsposten einen höchst beschränkten Platz zum täglichen stundenlangen Actenverhör an einem von der Sonne beschienenen Fenster; um den Lichtstrahlen zu entgehen, pflegte er, während er hart am Fenster saß, das Schreibmaterial mehr nach rechts abzurücken und durch eine starke Seitenbiegung des Rumpfes demselben handgerecht zu werden. Nach beendeter Untersuchung ward er stark skoliotisch erfunden.

Für die Kinder ist die Periode vom zehnten bis sechzehnten Lebensjahre die Zeit des angestrengten Schulbesuchs oder der weiblichen Arbeiten. Dieselben provociren auf die verschiedenste Weise zur Annahme einer Skoliose: es kommt zunächst das Bestreben in Betracht, den rechten Arm, mit dem gearbeitet wird, möglichst frei zu haben; um dies zu erreichen, auch wohl, um ihn von der Einpressung durch das enge Rückenstück des Kleides und dem engen Aermel zu befreien, ziehen sie den rechten Arm vom Körper ab, zugleich die rechte Seite hinausneigend und krümmen so die Wirbelsäule nach rechts; dagegen die linke Seite eingezogen und der linke Ellenbogen an den Rumpf angeschlossen wird.

Nach diesem Schema läßt sich die Entstehung der Skoliose für die gangbarsten Beschäftigungen abstrahiren; es kommen namentlich in Betracht das Nähen am Tambourin, das Steppen der Handschuhe im Schraubstock u. dergl., nicht minder das Schreiben. Der Einfluß der Beschäftigung und der dabei stereotypen Haltung erhellt auf’s Deutlichste aus jener neuen Schreibmethode; seit man nämlich den rechten Arm in die Seite drängen und den linken Ellenbogen ganz auflegen läßt, tauchen Skoliosen auf, deren Krümmung nach links gerichtet ist.

Indem die Erziehung vornehmlich bei den Mädchen auf eine gute Haltung sieht, müssen dieselben, ohne sich anzulehnen, kerzengerade sitzen, ja, es ist Princip, ihnen die Lehne überhaupt zu versagen. Diese Strapaze halten aber die Kinder nur kurze Zeit aus; wir sagen Strapaze, denn bei dieser Art Sitzen befinden sich die Rumpfmuskeln keineswegs im Ruhestande, sondern sie werden beständig in Action gehalten, um die Wirbelsäule zu balanciren, und dabei wird noch mit den Händen gearbeitet. Es gewährt nur einige Erleichterung, die Wirbel in der Art zu verrücken, daß die Bänder den Muskeln zu Hülfe kommen; die Krümmung nach vorn wird nicht gestattet und so biegen die Kinder das Rückgrat zur Seite. Die Erholung, welche eine solche Ausbiegung, respective Einknickung nach längerem Geradesitzen gewährt, kann Jeder an sich selbst leicht controliren.

Wie bereits angedeutet, findet sich bei Knaben etwa bis zum achten Jahre die Skoliose mit vorherrschender Lendenkrümmung oder vielmehr diese leitet die Entstehung derselben ein. In diesem Alter sind dieselben viel auf den Beinen und stehen auch meist bei den Beschäftigungen am Tische; es gibt Erziehungsanstalten, wo diese Stellung geradezu für das Schreiben und Lesen eben aus orthopädischen Rücksichten eingeführt ist. Bei näherer Beobachtung wird man finden, wie die Kinder mit Vorliebe auf dem linken Beine ruhen, den rechten Fuß dagegen auf jenes aufsetzen; es geschieht dies, um das Stehen zu erleichtern oder bei eintretender Ermüdung. Gleichzeitig verrücken sie den Schwerpunkt des Körpers aus der senkrechten Linie nach links und die Wirbelsäule erhält dadurch eine Krümmung im Lendentheile ebenfalls nach links. Es ist dies so häufig, daß der erfahrene Arzt, wenn ihm ein schiefer Knabe unter zehn Jahren zugeführt wird, diese Art der Skoliose vorher bestimmt.

So mannigfach die Beschäftigung, so verschieden ist auch die jedesmalige Figur der Skoliose innerhalb des unter I. abgesteckten Rahmens. Nach der gegebenen Andeutung wird es leicht werden, für jeden einzelnen Fall die besondere Entwickelungsgeschichte der Skoliose zu entwerfen.

Anfangs kann, wie gesagt, die schiefe Haltung sogleich willkürlich wieder aufgegeben werden; schließlich aber wird sie dermaßen zur Gewohnheit, daß das richtige Urtheil über die eigentliche gerade Haltung verloren geht. Man überzeugt sich hiervon durch die Beobachtung am nackten Rücken des schiefen Kindes; gebietet man ihm, sich gerade zu halten, so macht es eine forcirte Bewegung mit dem Rumpfe nach hinten, es überstreckt die Wirbelsäule und zieht etwa die Schulterblätter nach hinten zusammen; im Uebrigen bleibt es schief, obgleich es sich nun beim besten Willen für gerade hält. Gibt man ihm nur durch Manipulation erst die richtige Stellung, so erscheint ihm diese vielmehr als schief, sie ist ihm unbequem, selbst schmerzhaft und es kehrt alsbald in die schiefe Haltung als die in seinem Sinne gerade zurück.




IV.

Diese Beobachtung liefert uns sofort den Schlägel zur richtigen Behandlung, welche bei nöthiger Consequenz nach einmaliger Anweisung des Arztes auch der Laie durchzuführen im Stande ist. Zunächst einige Winke zur Verhütung der Skoliose, [376] welche sich ebenfalls aus den unter III. gegebenen Erörterungen direct herleiten: Es kommt darauf an, die Einflüsse, welche den Willen zur Annahme einer Skoliose bestimmen, fern zu halten.

     1. Die Zeit des anhaltenden Sitzens ist überhaupt möglichst einzuschränken, der Unterricht soll durch zweckmäßige Einschaltung von Erholungspausen unterbrochen werden, auch im Lehrgegenstande sich der nöthigen Abwechselung befleißigen, nicht Stunden lang ein und dasselbe Thema tractiren. Es sei den Kindern erlaubt, sich anzulehnen, wobei sie sich immerhin gerade halten werden, wenn nur der Sitz nicht zu lang ist, sondern der Art, daß bei herangezogenen Knieen die Füße auf den Boden zu ruhen kommen und der Rücken die Lehne gerade erreicht. Beim Schreiben sollen beide Arme in gleichem Umfange aufliegen, die Höhe des Tisches muß dem Größenmaße des Körpers entsprechen. Der Tisch darf nicht rund sein. Die gemeinsame Schulbank hat bei der verschiedenen Körpergröße der Schüler manche Inconvenienz und noch mehr, wenn dieselben gedrängt sitzen und der Einzelne für seine beiden Arme nicht den gehörigen Spielraum gewinnt. Beim Beginn jeglicher Art Unterricht soll den Kindern vor Allem die nöthige Haltung beigebracht werden, sie müssen lernen, die erforderliche Stellung mit Bewußtsein einzuhalten, und bei Beginn jeder Stunde soll dieser Punkt, wenn nöthig, stets von Neuem erörtert werden.

Die Kleidung liege in der Taille fest an, dagegen lose um Brust und Schultern, sie hindere den Arm in keiner Weise; die hohen Kleider bei den Mädchen sind zu verwerfen: dieselben sind in der Regel, damit sie gut sitzen, in den Rückentheilen so schmal geschnitten, daß sie die Schulterblätter stark nach hinten zusammenziehen, und die Arme in eine gezwungene Haltung bringen.

     2. Hat ein Kind bereits eine Skoliose erworben, so kommt es vor Allem darauf an, es über die fehlerhafte Haltung und deren Unterschied von der geraden gründlich zu belehren. Es ist hierbei viel Geduld und Vernunft von beiden Seiten nothwendig; bei aufrechter Stellung ist es nicht möglich, die gerade Haltung von Anfang an den ganzen Tag über zu beobachten. Denn das Ungewohnte der neuen Muskelthätigkeit wirkt ermüdend, erst allmählich gewöhnt man sich daran. Leichter gelingt es in der Rückenlage: deshalb lasse man das Kind, nachdem man es gerade gerichtet, längere Zeit auf dem Sopha liegen und controlire des Oefteren durch Betasten der Wirbelsäule mit der Hand. Es ist diese Methode der Untersuchung überhaupt die einzig zuverlässige; das bloße Beschauen ist betrügerisch, und das bloße Liegen thut es durchaus nicht: die Kinder können auch mit krummer Wirbelsäule liegen.

     3. Bei höherem Grade erwächst der Behandlung eine zweite Aufgabe: es sind nämlich alsdann die Muskeln an der Concavität in einen Zustand von Unthätigkeit gerathen, und sie müssen der Willkür erst wieder zugänglich gemacht werden. Dieser Zweck wird erreicht, indem man vorerst eine der bestehenden entgegengesetzte Krümmung annehmen läßt, wobei die Hände des Andern thätig mitwirken. Auch diese Procedur wird durch Liegen wesentlich erleichtert; abwechselnd mit der Rückenlage schiebe man in der Seitenlage unter der der hohen Schulter entsprechenden Weiche des Kindes ein Kissen unter. Als sehr wirksames Unterstützungsmittel hat sich hierbei die locale Faradisation der Muskeln (s. Gartenl. 1857. Nr. 38.[WS 1]) erwiesen.

     4. Der Wille ist die beste orthopädische Maschine – Rückenschilder, Geradhalter u. dgl. sind nicht geeignet, allein eine radicale Cur herbeizuführen. Abgesehen von manchen ganz unzweckmäßigen Apparaten, haben sie wenigstens das Gute, den Kranken an die gerade Haltung beständig zu mahnen und dieselbe durch ihre mechanische Unterstützung zu erleichtern. Am einfachsten und zweckmäßigsten ist der sogenannte Inclinationsgürtel nach Hossard und Tavernies.[1]

     5. Turnen, Schwimmen u. s. w. sind ganz gute diätetische Exercitien, aber nicht für Skoliolische. Diese müssen im Gegentheil geschont werden; nach jeder durch die Tagesarbeit herbeigeführten Ermüdung müssen sie gründlich ausruhen, und es kann sogar nothwendig erscheinen, sie ganz vom Schulbesuche zu dispensiren. Turnen und Schwimmen sind Strapazen, und überdies kann sich der Skoliotische, wenn der Lehrer nicht stets darauf achtet, auch im Wasser schief halten.

Die höheren Grade der Skoliose fallen der eigentlichen Orthopädie anheim, über die sich manch’ kräftig Wörtlein sagen ließe. Uns kam es hier zunächst darauf an, die Skoliose in soweit abzuhandeln, als sie in das Bereich der häuslichen Kinderpflege gehört, welche eben bei gehöriger Ausübung jene kostspieligen und nicht immer erfolgreichen Curen in orthopädischen Instituten unnöthig macht.





Erlebnisse in Mexico.

Auf dem Hochplateau der alten Hauptstadt Mexico gedeihen nur noch Maulesel, ihre Treiber und Fremde, besonders Deutsche, Deutsche, das unermüdlichste, siegreich eroberndste aller Völker, das bereits in alle Breiten- und Längengrade der Erde waffenlos, aber mit den allein erobernden Waffen des Fleißes, der Geschicklichkeit und Ausdauer, der erfinderischen Noth, des Stehens und Gehens auf den Füßen eigenster und doch elastisch in fremde Zustände sich hineinfindender Cultur eingedrungen ist, sich dort behauptet, ausbreitet und immer bedeutsamer geltend und für die Weltcultur nützlich zu machen weiß. Doch wir wollen den Mund nicht zu voll nehmen, zumal, da es hier einem bankerotten, deutschen Kaufmann in Mexico gilt. Nach einem ehrenvollen Heldenkampfe mit der faulen, intriguanten spanischen und Bastard-Bevölkerung fiel er. Er glaubte sich nicht wieder erheben zu können und beschloß deshalb, seinem Leben selbst ein Ende zu machen, ein Act, der unter der feigen, Andere mordenden Bevölkerung Mexico’s nie vorkommen soll. Aber er wollte in den Tod gehen, ohne den angehörigen Lebenden die Schande eines Selbstmordes zu vererben. So sann er und fand endlich ein Mittel, unter dem Scheine eines tragischen Todes seinem Leben ein Ende zu machen.

Ueber dem Krater des von A. v. Humboldt geschilderten Vulcans Popocatepetl hängt stets eine giftige, beizende Wolke bläulichen Schwefeldampfes, der stets aus dem Abgrunde des Schlundes genährt wird. Jede Annäherung an den Rand des Kraters droht mit Erstickungstod. Eine persönliche Versenkung in den Krater hinein erschien unserm lebensmüden Landsmanne deshalb ein sicheres Mittel, die sonst so geliebte Bürde des Lebens los zu werden. Das wußte er. Er verbreitete unter seinen Freunden die Nachricht, daß er sich einmal erholen, eine Gebirgsreise machen und die Schwefelkappe des Popocatepetl einmal näher untersuchen wolle.

So reiste er ab zum Selbstmord.

An den verschiedenen Abhängen des schluchtenreichen Vulcankegels kleben mehrere Indianerdörfer. Aus einem der höchsten nahm er sich zwei Führer mit und die nöthigen Stricke und Balken. Mit diesen stieg er an den Rand des Kraters und befahl ihnen, zwei Balken quer am Krater überzulegen, die Stricke zu befestigen und ihn daran hinunterzulassen, da er wünsche, das Innere des Abgrundes zu untersuchen. Vergebens redeten sie ihm ab, da dies sicherer Tod sei. Er sagte ihnen blos, daß sie seine Befehle ausführen, ihn hinunter lassen und warten sollten, bis er mit einem an seinem Arme befestigten Seile das Zeichen zum Hinaufziehen geben werde. Hierauf schloß er die Augen, hielt den Athem an und glitt an dem Seile hinunter. Um alle seine Sinne stach und brannte und brauste es, das Hirn im Kopfe drohte zu springen und der gewaltsam angehaltene Athem durchrieselte ihn mit den Vorboten des Erstickungstodes aus Mangel an athembarer Luft. Aber er hielt noch aus und fuhr fort, hinunterzusteigen, bis plötzlich, wie durch ein Wunder, ihn eine reine, erquickend geathmete Luft aufnahm und sofort auch ein fester Boden. Er öffnete die Augen und sah sich in einer andern Welt, in einem Ungeheuern goldgelb-krystallenen Wunderdome voll der abenteuerlichsten Arabesken und Figuren, angeglitzert von unzähligen blauen Flammen, die wie Geister dieser vulcanischen Kirche aus Winkeln, Spitzen, Säulensimsen und Mauerlöchern hervorflackerten oder in den malerischsten Zuckungen an den Colonnaden und Wänden einporzuckten, sich bald verkleinernd, bald zu grimmigen, schlanken Riesen aufschießend.

  1. Unter Umständen ist auch der Gebrauch der Kopfschwebe zu empfehlen, in welcher die Wirbelsäule durch das Körpergewicht gestreckt wird. Beide Apparate sind billig und werden von jedem Bandagisten gefertigt.
  1. Vorlage: 1857. Nr. 36

[377] Die goldenen Säulen und Colonnaden, oft ungeheuern Garben gleichend, glänzten wie polirt hinter den blauen Flammen.

Unser Landsmann staunte und besann sich. Diese goldene Wunderwelt und schon sterben? Zwar wußte er, daß nicht Alles Gold sei, was glänzt, ahnte aber, daß aus diesem Schwefeldome viel reelles Geld geschlagen werden könne. Der Selbstmörder fühlte sich plötzlich wieder speculativer Kaufmann und zuckte sehr energisch an der Leine, die ihn noch allein an die Oberwelt über den Schwefelwolken fesselte. Er hatte nicht daran gedacht, daß er noch einmal diesen Strang ziehen werde, aber jetzt zog er mit neu aufgeflammter Lebenslust. Der heitere mexicanische Himmel lachte einige Male lockend herab durch gelegentliche Risse in den tödtlichen Kraterwolken. Hinauf, hinauf! Wieder leben und mit Schwefel handeln! Ja, ja und sei’s auch nur mit Schwefelhölzchen. Nur leben! leben!

Er befand sich in einer unerschöpflichen Mine von Schwefel-Krystallen und Schwefelblume. Der speculative Kaufmann war erwacht und erkannte mit einem Blick den ungeheueren Reichthum, der sich hier ihm bot. Ein unbegrenzter Horizont von Hoffnung erweiterte sein Herz und während seine Augen sich mit Thränen füllten in Dankbarkeit gegen einen erbarmenden Gott, dem das erschütterte Herz gern unerhörte Ereignisse zuschreibt, fühlte er sich sicher und kräftig emporgezogen, körperlich und geistig.

Er bemerkte dabei, daß blos um den Mund des Kraters oben sich giftige Schwefeldämpfe sammeln und unten durch stets zuströmende Luft, welche die ewigen Flammen unten herbeiziehen, sich eine athembare Luft halte. Die von ihm entdeckte Schwefelmine war sein. Er ging sofort an’s Werk, wurde bald ein reicher Mann, als welcher er nach Deutschland zurückkehrte, nachdem er den Schatz vortheilhaft verkauft hatte, und kann jetzt, wenn er will, Zeugniß ablegen von der Wahrheit dieses Versuches sich selbst zu begraben und der gelungenen Auferstehung.

Die Schwefelwerke des Kraters werden bis heutzutage bearbeitet und erscheinen immer noch unerschöpflich. Am Rande des Vulcans oben sind noch heute die zwei Querbalken zu sehen, an welchen unser Held sich hinunterließ.

Diese Geschichte finden wir in dem eben erschienenen englischen Werke des Herrn G. F. von Tempsky, eines Deutschen, der nach dreijährigem Aufenthalte in Californien eine abenteuerliche Reise durch Mexico, Guatemala und San Salvador machte und sie unter dem Titel: „Mitla“ etc. in London erscheinen ließ.

Hier lernen wir Mexico kennen, wo eben wieder einmal Revolution gewesen und zwar zum Siege der Kirchen-Partei, die sich aber eben so wenig halten, wie die unterliegende sie aushalten kann, so daß beide Parteien um fremde, amerikanische Hülfe der Vereinigten Staaten intriguiren. Diese Hülfe kann denn wohl auch nicht lange ausbleiben, d. h. Mexico muß unter einer Regierung von außerhalb Schutz gegen sich selbst, gegen seine ewig kochende und gährende Corruption, gegen die faule, verfallene Cultur, gegen Rauben, Stehlen und Laster aller Art und aller möglichen spanischen und indianischen Mischracen und Bastarde suchen. Ob es in Amerika Schutz dagegen finden wird, ist eine andere Frage.

Mexico’s physische Oberfläche besteht aus den erhabensten und großartigsten Gebilden von Felsen und ungeheueren Schluchten, Thälern und üppigen Paradiesen, aber moralisch und social, politisch und kirchlich ist es die gigantischste Bühne aller Arten von Verderbniß, der Nemesis aus der spanischen Civilisation, die ehemals statt der „anglosächsischen“ verbreitet ward. Was bei diesen Civilisationsverbreitungen mit Pulver und Blei, mit Kriegsschiffen und Kanonen, Bombardements und „Annexationen“ herauskommt, sehen wir auch in der neuen anglosächsischen Auflage in Indien, China etc. Wenn man in die Welt gehen und alle Heiden lehren und bekehren will, muß man’s wie die Pioniere aller dieser Missionen, die deutschen Schneidergesellen, machen, welche den Heiden überall die ersten Hosen der Civilisation anmessen und mit ihren kleinen Nadeln sich größere Verdienste um diese Weltcultur erwerben, als alle Bayonnette und Kanonen Großbritanniens.

Wie es in Mexico aussehen mag, dafür blos einige Beispiele und Bilder aus Herrn v. Tempsky’s Werke.

Sie kamen eines Tages in das kleine Paradies von Santa Lucia. „Santa“ heißt heilig, Santa Lucia aber ist Herberge und Asyl aller möglichen Spitzbuben und Räuber von Profession, die nur von den wüthenden Comanche-Indianern an Grausamkeit übertroffen werden. Letztere machen denn auch nicht selten tollkühne Einfälle in Städte und Dörfer. Bei einem derselben wurden mehrere von ihnen getödtet, Andere gefangen. Der Alcalde oder Bürgermeister von Santa Lucia ließ letztere nach Durango für den Criminal-Gerichtshof transportiren. Die Soldaten wurden aber unterwegs ihrer Gefangenen müde, hingen dieselben an Bäumen auf und kehrten friedlich in das „kleine Paradies“ zurück.

Die Soldaten Mexico’s werden überhaupt als feiges, grausames, stehlendes und liederliches Lumpengesindel der ekelhaftesten Art geschildert. Auf dem Wege fanden unsere Reisenden überall erhabene und üppige Natur und verfallene, ruinirte Cultur mit Brand- und Mordscenen aller Art dazwischen, verbrannte Säulenstumpfe, schwarze Wände, künstliche Einöden, verstümmelte Leichname und Gräber. In einer dieser ausgebrannten Stätten wollten sie übernachten, und hier folgt eine Mondscheinscene:

„Die Dunkelheit senkte sich langsam auf unsern Weg. Der Mond stieg auf und beleuchtete unsere rauhe, durchschluchtete Bahn. Auf einmal hält mein Freund an und zeigt auf einen Gegenstand niedergekauert auf dem Wege. Wir geben unsern Nachfolgern ein Zeichen, sich ganz still zu verhalten, spannen unsere Büchsen und schleichen uns von Baum zu Baum leise heran. Die Gestalt ist eine menschliche, nackende, also ein Indianer, der mit dem Ohre auf dem Boden lauscht, wahrscheinlich Vorposten einer größeren Bande. Es wäre also Unsinn gewesen, auf ihn zu schießen. Ich ziehe mein großes Messer, messe vorsichtig meinen Sprung und habe ihn mit einem Griffe bei der Kehle, während ich mein Messer in seine Brust stoße. Da fühl’ ich zu meinem Schrecken an der kalten Steifheit des Halses, daß mir die Hand des Todes zuvorgekommen. Der Mond bricht aus den Wolken hervor und glitzert auf den kopfhautlosen Schädel eines mit Wunden bedeckten Leichnams. Schaudernd gehen wir weiter und zählen bald einen Leichnam nach dem andern, im Ganzen neunundzwanzig. In einem derselben erkannten wir einen Juristen von Mazatlan, der uns eingeladen hatte, uns seiner Reisegesellschaft anzuschließen. Die ganze Gesellschaft lag jetzt hier in verstümmelten Leichen.“

Sie kamen später in die große Stadt Durango mit echt mexicanischer Civilisation, einer Plaça Toros, Stiergefechttheater, wo jeden Sonntag Ochsen dramatisch zerstochen werden und für welche Crethi und Plethi ihr letztes Hemd versetzen, vielen Caballeros mit kühnen Reitkünsten, Musik, Leidenschaft, Guitarren, hinter Fächern blitzenden, kokettirenden Augen und scharfen Messern, spanischer Etikette und mexicanischer Unmoralität, die, wenn auch professionell getrieben, nicht von der guten Gesellschaft ausschließt. – In diese Civilisation und in diese Straßen reiten öfter Comanche-Indianer mit langen Lanzen hinein, stechen todt, wen sie erreichen können, und nehmen nur Frauen und Mädchen, die ihnen gefallen, lebendig mit sich fort.

Alte, echte mexikanische Race und Ruinen der hohen Cultur, welche an die Zeiten Montezuma’s erinnert und von den allerchristlichsten Spaniern in das jetzige, stets kochende Höllennest Mexico verwandelt ward (was man Verbreitung des Evangeliums und der Civilisation nennt), findet man noch rein in Mitla und Tehuantepec. „Hier zog ein Schwarm allerliebster indianischer (altmexicanischer) Mädchen unsere Aufmerksamkeit an. Sie boten uns kleine Götzenbilder von Thon oder Sandstein an, die früher als Ornamente in den jetzt nur noch als Ruinen vorhandenen Häusern und Tempeln Alt Mexico’s gedient haben sollen. Die Bevölkerung ist hier noch rein altmexicanisch. Eine kleine, sehr delicate Race. Ihre Frauen und Mädchen sind ungemein schön und graciös, üppig entwickelt und noch schöner durch ihre malerische Bekleidung. Ihre Züge sind regelmäßig, fein ausgemeißelt, sehr hervortretend und ausdrucksvoll. Kohlschwarzes, feinseidenes Haar rahmt ihre leicht gebräunten Gesichter ein, auf welchen in der Jugend ein warmes Erröthen duftet, das den Glanz ihrer dunkeln Augen erhöht, dieser Augen, die unter scharf markirten Brauen und zwischen langen, horizontalen Wimpern leuchten. Sie sind gutherzig, leidenschaftlich, vertrauungsvoll, großmüthig und naiv in ihrer leicht weichenden Sittlichkeit.“

Was hat nun wohl Mexico gewonnen durch diese mit Bluthunden, Geldgier und Grausamkeit aller Art ausgerottete Race und das siegreiche, christliche Spanien mit dem jetzigen Siege der „Kirchen-Partei“? Beide Parteien suchen in den Vereinigten Staaten Schutz und Hülfe gegen einander und gegen dieses ganze Mexico, wie es durch Spanien geworden.

Aber mit der jetzigen „anglo-sächsischen“ Civilisationsverbreitung [378] ist’s etwas Anderes, nicht wahr? O ja, China wurde durch den „Opiumkrieg“ der Civilisation geöffnet, während welches sich anständige chinesische Familien nach Gützlaffs Augenzeugniß vieltausendweise selbst ermordeten, nur um nicht in die Hände der „rothborstigen Barbaren“ zu fallen. Nach hundertjähriger Civilisation in Indien wurden 1800 Engländer mit Frauen und Kindern abgeschlachtet, und die Soldaten fallen wie die Fliegen. In Amerika zerreißen sich die Südstaaten und die nördlichen gegenseitig Geister und Leiber, Cultur, Ehre und Anstand, nur wegen der Frage, ob die stets neu hinzukommenden Staaten Sclaven- oder freie Staaten werden sollen. Und siehe, es werden immer Sclavenstaaten. Vielleicht brechen auch England und Amerika noch einmal wegen dieser Civilisations-Verbreitung gegen einander los. Dabei kommt kein Weltfriede, keine Menschheits-Cultur heraus. Diese wird nur von den Deutschen, die einzeln mit Kraft, Willen, Geschicklichkeit, Fleiß, Talent, Kunst und Wissenschaft in alle Welt gehen und produciren, statt zu schlachten, wirklich und wahrhaft verbreitet und rund um die Erde verwirklicht werden.





Die Geschichte eines Irren.
Aus J..a.
(Schluß.)


„Geh, Du närrisches Mädchen,“ rief da Heinrich, der Goldschmiedssohn, und versuchte, über die Furcht des Mädchens zu spotten und zu lächeln, aber er vermochte es nicht, denn es fiel ihm ein, daß er heute gekommen war, um Abschied von seinem Mädchen zu nehmen und ihr anzukündigen, daß er zurück in das Heimathshaus wolle, um dort das Geschäft zu übernehmen und sein Röschen dann als Frau nachzuholen.

Schon seit einem Jahre war er mit Röschen heimlich verlobt. Er hatte seinen Eltern, nichts darüber geschrieben, weil er sie einst selbst mit der freudigen Kunde überraschen wollte. Daß dieselbe freudig aufgenommen wurde, daß er der elterlichen Zustimmung von vornherein gewiß sein konnte, war außer Zweifel, denn er wußte, wie sein Wille seinen Eltern heilig war – auch hätte Niemand gegen die Verbindung Einwendung machen können. Röschen war ein liebevolles, gebildetes Mädchen, die einzige Tochter eines Schullehrers. Der Vater war indeß vor Jahren gestorben und die Mutter deshalb mit der verwaisten Tochter von der Hauptstadt zurück in ihr Heimathstädtchen gezogen, wo ihr von ihren Eltern her noch ein Häuschen und ein Gärtchen blieben. Da lebte sie in stiller Zurückgezogenheit von ihrer Pension und ihrem eigenen Vermögen. Der hübsche junge Goldschmied Heinrich Hartmann hatte sich einen Eingang in das Herz ihres Röschens verschafft und ihr mütterliches Gewissen hatte gegen dieses „Verhältniß“ keine Einwendungen, sie ließ es unter getreuer Ueberwachung sich gründen und bestehen. Es war dem biedern Manne auch wirklich Ernst um seine Liebe – daher das erwähnte Vorhaben.

Die Thräne, welche die Kunde davon in den blauen Augen des Mädchens hervorrief, denn es hieß ja jetzt: Meiden und Scheiden, zerrann bald in dem Gedanken, daß es keine dauernde Trennung, sondern nur eine solche sein sollte, welche, um eine ewige, unauflösliche, innigere Bereinigung herbeizuführen, nothwendig war.

Acht Tage später stand Heinrich wieder im Garten, das Ränzchen auf dem Rücken, den Wanderstab in der Hand – denn das war damals noch in der guten alten Zeit, wo das „Wandern“ noch in Ehren und durch die Eisenbahn noch nicht verdrängt war. Schluchzend hing Röschen an seinem Halse, auch die alte Frau Schullehrerin stand teilnehmend dabei und hatte viel goldene Sprüche und alte weise Lehren im Munde, welche sie dem Wanderer mit auf den Weg gab, auch manch’ schönen Gruß an die Eltern daheim. Des früh verstorbenen Gatten ward dabei auch gedacht, wie ein Schmerz immer wieder die alten alle aus ihren Schlummerhöhlen weckt. Heinrich hatte für alle Worte des Trostes, obwohl es ihm recht schwer zu Herzen ging und er Mühe hatte, die Thränen zurückzuhalten – er fühlte jetzt erst, wie unentbehrlich er der kleinen Familie war, wie er ein nothwendiges Glied derselben geworden, wie sein Scheiden eine Lücke lasten müßte, und jetzt, gerade jetzt flüsterte ihm eine Stimme tief aus einem bisher unaufgedeckten Winkel seines Herzens zu, daß er sich in seiner Zuversicht auf das heimische Glück doch getäuscht haben könnte. Konnte in der Zeit, seit er vom heimischen Heerde geschieden, sich nicht Vieles geändert haben? Aber – fort mit den verwirrenden Gedanken; er drückte das weinende Röschen noch einmal an Mund und Herz, reichte der Mutter die letzte Abschiedshand und –

„Heinrich, Heinrich, mir ist, als wenn wir uns nicht wieder sähen!“

„Wenn nicht hier unten, da droben sicher!“ sagte Heinrich, mit dem Finger gen Himmel weisend. „Lebt wohl!“

Als sich Mutter und Tochter vom ersten Schmerze erholt hatten und aufblickten, war Heinrich schon weit fort; drüben, wo die Landstraße sich erhöht und hinter einem Wäldchen verschwindet, winkte er noch mit seinem Hute, auf welchen die Geliebte ihm den schönsten Strauß Blumen gesteckt hatte.

Mutter und Tochter sanken sich weinend in die Arme. Im Abendwinde nickten die Blumen und beugten sich leise nieder – eine weiße Rosenknospe fiel gebrochen zur Erde.




III.

„Es wird kein Faden so heimlich gesponnen, daß er nicht käme an die Sonnen! – Das Sprüchwort hat sich hier wieder bewährt,“ sprach der Schneider Baldrian zu seinem Nachbar, dem Webermeister Habekorn, der bei ihm auf der Steinbank vor der Hausthüre saß. „Ich hätte es voraussagen können, wenn sie mich gefragt hätten. Wie war der alte Hartmann auf einmal zu dem Gelde gekommen? Und lauter harte Goldstücke? Geerbt? Das ist die gewöhnliche Ausrede. Erbschaften fallen nicht blos so mir nichts, dir nichts vom blauen Himmel herunter. Das mußte eine andere Bewandtniß haben – und die hat’s auch gehabt. Nun ziehen sie ihm die doppelfarbige Jacke an und er muß den Leuten Holz mit vor die Thüre fahren. Ja, unrecht Gut gedeiht nicht.“

„Ei, ei! Was man nicht Alles erleben muß. Wer hätte das gedacht – der Mann war immer so brav und redlich.“

„Nur der arme Junge dauert mich, wenn der heim kommt und sieht das Elend.“

„Ja, auf die Kinder geht der Fluch der Eltern auch mit über.“

„Sieh, sieh, da führen sie ihn vorbei!“

Begleitet von einem Schwarme Kinder kam die Straße herauf ein Gerichtsdiener mit einem Gefesselten. Es war ein überaus bleicher Mann, den Blick schlug er tief zu Boden, die Augen wie geschlossen.

„Es ist Hartmann, der Goldschmied, der Falschmünzer,“ flüsterte es aus Thür und Fenster.

Er war es, gefanglich eingezogen wegen Verdacht der Falschmünzerei. Jener finstere, unheilvolle Gang, auf dem wir ihn begleiteten, führte in den verborgenen Schlupfwinkel einer Falschmünzerbande. Schon lange hatten diese, mit dem trostlosen Zustande des Goldschmieds bekannt, ihn zu sich zu locken gesucht, weil sie ihn seiner Kunst wegen gut brauchen konnten. Die steigende Noth hatte ihn endlich zu ihrem Bundesgenossen gemacht. Sein unbeholfenes Benehmen hatte sie verrathen, ihm fehlte die heuchlerische Routine eines Verbrechers.

Während sie ihn fortführen, treten wir einmal bei ihm ein in’s Haus.

Unheimliche Stille empfängt uns da, weite, dumpfe Leere. Nur der Uhrpendel geht seinen einförmigen Schlag und der Vogel im Bauer hüpft unbekümmert von Sprosse zu Sprosse. Auf dem Sopha sitzt die Frau, die Hände im Schooße gefaltet, die glanzlosen Augen starr nach der Thüre gerichtet, da, wo er hinausging. In ihren Gesichtszügen zuckt der wildeste, tiefste Schmerz. So sitzt sie lange, ihrer selbst nicht bewußt, zur Bildsäule erstarrt von der furchtbaren Gewalt der Ereignisse. Endlich steht sie auf, stumm und starren Auges, wie sie dagesessen. Sie tritt zu dem, Vogel und reicht ihm sein Futter; sie legt Alles im Zimmer in säuberliche Ordnung; – sie thut dies Alles wie mechanisch, wie eine Nachtwandelnde. [379] Sie sieht sich noch einmal im Zimmer um und geht dann hinaus, die Thüre schließend. Ruhig steigt sie die Treppe hinauf in’s zweite Stock, weiter fort die schmale kleine Treppe zum Boden, da setzt sie sich auf eine alte, morsche Kiste, welche hier neben allerhand Geräthe steht. Sie legt wieder die Hände in den Schooß, von Neuem zuckt’s in ihrem Gesichte, ihre Lippen scheinen sich zu bewegen – sie weint. Plötzlich steht sie auf. Sie reißt sich das seidene Tuch vom Halse. Rasch an den Pflock dort und rasch um den Hals geschlungen – noch einige Minuten ein zuckender Todeskampf – nun ist’s geschehen – nun ist der Schmerz begraben.




IV.


Es ist schon tief dämmernd und die Nacht hereingebrochen, aber wenn die liebe Heimath so nahe ist, die Heimath, die man seit Jahren nicht wieder gesehen, wer sollte da sich von dem Dunkel zurückschrecken lassen, da macht die Freude die Nacht zum hellen Tage und verleiht den Füßen Flügelkräfte, und es hat auch wieder etwas Schönes, etwas Poetisches, so über Nacht in der Heimath anzukommen, statt so am nüchternen Tage. Es klopft draußen an der Hausthüre. Wer mag das wohl sein in der späten Nacht; gerade zu stören in dem lieben Traume; wir waren gerade bei dem lieben Sohne, der in der Fremde weilt, wir unterhielten uns mit ihm, schlossen ihn in die Arme, nun ist das Glück gestört, nun war es nur ein Traum – doch ist es wirklich ein Traum? Die Stimme da drunten hatte so etwas Bekanntes, regte alte liebe Klänge in uns wieder an. Wir lassen den nächtlichen Besuch ein, leuchten ihm in die Augen – war es denn wirklich kein Traum – die Züge scheinen uns so bekannt – das Gesicht so ähnlich, nur der Bart – doch der kann in der Länge der Zeit schon gekommen sein – wahrhaftig – er ist’s, es ist kein Traum mehr. Da wird schnell Lärm gemacht, das vereinsamte Bett schnell bereitet und ein warm Süppchen gekocht. Wie erwartungsvoll wird dann dem Morgen entgegengesehen, wo eine liebe Stimme mehr das „Guten Morgen“ spricht, als bisher! Man plaudert ein halb Stündchen länger zum Kaffee – und dann geht’s in der Eile zu Muhmen und Basen und all’ den Nachbarsleuten, – die Bäckersfrau hat’s gleich heut Morgen erfahren beim Semmelholen, daß er da ist, der liebe Ersehnte, wohl, frisch und gesund und hübsch, ei, wie hübsch geworden – das Letzte hat besonders der Nachbarin junges Töchterlein aufmerksam vernommen. Wenn man so über Nacht heim kommt, wird man viel früher heimisch zu Hause; die Nacht, der Schlummer hat Heimath und Fremde vermittelt, den Uebergang gleich gebahnt; eh’ wird man nicht heimisch zu Hause, als bis man eine Nacht wieder da zugebracht.

So meinte auch der rüstige junge Wanderbursch, der dort auf der Straße einherschritt. Nur noch eine Stunde weit nach Hause und wegen der hereinbrechenden Nacht noch einmal zu übernachten, noch einmal bei fremden Leuten sich zu betten, während das liebe Elternhaus so nahe – das wäre doch furchtsam und zugleich thöricht gedacht. Nein, rüstig fort bis an’s Ziel, die Zeit mit lieben Erinnerungen ausgefüllt und mit freudigen Bildern der Zukunft ausgeschmückt!

„Was wohl jetzt mein holdes Röschen macht? Sie sitzt vielleicht noch einsam im Gärtchen, in der Laube, um die sich ihr tausend liebe Erinnerungen ranken – so allein, das Mütterchen kann die Abendluft nicht vertragen, doch nein, – nicht allein, sie denkt wohl an mich, den Fortgezogenen, bin ich doch auch nicht allein, geht sie doch stets an meiner Seite – das liebe, liebe Kind. Wie werden meine Eltern sich freuen, wenn ich ihnen von ihr erzähle; es reut mich fast, daß ich sie nicht gleich selbst mitgebracht habe – die Eltern, was sie wohl jetzt vornehmen werden? Nun, der Vater, der Vater sitzt wahrscheinlich im goldnen Lämmlein beim Bierkruge und schmaucht behaglich sein Pfeifchen, denn das hat er früher immer so gehalten, aber die Mutter – die Mutter ist gewiß zu Hause. Sie wird am Fenster sitzen und stricken, am Fenster – ob wohl die Monatsröschen da noch in den Töpfen stehen, die ich einmal dahin gepflanzt? – die Mutter – und die denkt gewiß auch an mich – wie ich sie überraschen will, ich trete zu ihr hin – erscheine wie als Fremder – spreche sie vielleicht um eine Gabe an – sie wird mich nicht gleich wieder erkennen – wie ich mich darauf freue, wenn ich mich dann plötzlich ihr zu erkennen gebe – die gute, liebe Mutter!“ –

„Ein saures Stückchen Brod! Die alten Knochen sind doch noch recht schwer –“ das sagte ein Mann, der einen Karren vor sich her schob durch das Dunkel der Landstraße.

„Guten Abend, Landsmann!“ sagte lustig der junge Goldschmied. „Wo hinaus noch so spät? Was habt Ihr denn da?“

„Muß noch nach J…a. Was ich da habe? Futter für die Herren Mediciner in J., und wenn die es satt haben, bekommen es die Hündlein und die Vögel unter dem Himmel. Sie werden mit ihr nicht viel mehr machen können, es ist eine arme alte Frau, die sich erhängt hat. Ihr werdet ja wohl die Geschichte des Goldschmieds kennen. Er hat gefalschmünzt und sitzt jetzt hinter eisernen Stäben, und sie hat sich aus Gram darüber die Gurgel zugeschnürt. Na, ich hab’ Eile. Gute Nacht!“

„Ein Goldschmied, sagt Ihr? Wie heißt der Mann?“

„Na, wie soll er heißen? Hartmann heißt er.“

Der arme Heinrich hat kein Wort gesagt, er stand noch eine Weile sprachlos, starr, der Wanderstab entfiel seiner Hand, plötzlich erhob er eine furchtbare, weithin schallende Lache, und rannte in wilder Flucht in die Nacht hinein – geraden Wegs durch den Wald, der an der Straße lag.

Am Morgen fanden Holzhacker einen jungen Menschen unter einem Baume im Walde sitzend; er spielte mit Blumen, die er gepflückt hatte. Aus seinen irren Augen starrte der Wahnsinn. Man erkannte aus seinen gebrochenen Worten und aus den Papieren, welche er bei sich trug, daß es der junge Goldschmied Heinrich Hartmann war. Man schaffte ihn in die Irrenheilanstalt zu J. Still und ruhig lebt er dort in der Nacht, die seinen Geist gefangen hält. Mechanisch gehen die Functionen des Körpers fort, er lebt, lebt immer fort, aber sein Geist ist gestorben, todt für alle Zeiten.

Wer das Irrenhaus in J. besucht, kann den armen Heinrich jetzt noch lächeln und spielen sehen.




Und Röschen? – Sie harrte, harrte wie an jenem Abend, harrte Stunden, Tage, Jahre, er kam nicht. Still pflegte sie ihre Blumen, und läßt sich heimlich von ihnen all’ ihre Erinnerungen wieder erzählen, deren Zeugen sie waren. Eine Hoffnung nährt sie noch – die auf droben – da muß sich ihr Harren doch noch einmal erfüllen.

Tr. Hbg.




Leipzig jetzt und vor zweihundert Jahren.


Ein Blick auf die beiden Ansichten von Leipzig, die wir vorlegen – und von denen die eine aus dem Ende des siebenzehnten Jahrhunderts herrührt, während die andere erst vor wenigen Wochen nach der Natur aufgenommen wurde – läßt nicht blos erkennen, wie die berühmte Meß- und Universitätsstadt sonst war, und wie sie jetzt ist, sondern zeigt auch das Charakteristische der Städte in alter und neuer Zeit. Sonst drängten sich die Stadtbewohner so eng als möglich an einander, bauten ihre Häuser nahe zusammen zu schmalen Straßen, thürmten Stockwerke über Stockwerke, wenn die Einwohnerzahl wuchs und der Raum für die Wohnungsuchenden fehlte, umschlossen sich mit Mauern und Bastionen, und gestatteten den Eingang nur durch enge, burgartige, befestigte und streng bewachte Thore. Der so umschlossene Raum war die eigentliche Stadt, die sich gegen äußere Feinde im Nothfalle schützen konnte, und deren Bewohner die vollen Rechte und Pflichten der Bürger hatten. Wie um einen Edelhof her sich aber die von demselben beschäftigten Arbeiter ansiedelten, bauten sich vor den Städten allmählich Leute an, die ihre Beschäftigung in der Stadt fanden, aber aus irgend einem Grunde in derselben nicht wohnen durften oder konnten. So entstanden die Vorstädte, die im Kriege u. s. w. allen Gefahren ausgesetzt waren, denn sie wurden nicht nur von anrückenden Feinden geplündert und verbrannt, sondern nicht selten auch von der eigentlichen Stadt selbst zerstört, damit die Feinde da sich nicht festsetzen könnten.

[380] Seit die politischen und Kriegsverhältnisse sich geändert haben, erhalten die Städte ein völlig verändertes Aussehen: an die Stelle des Zusammenrückens ist das des Ausbreitens getreten; statt der Enge sucht man das Weite; man reißt die Thore und Mauern nieder, trägt die Festungswerke ab, und füllt die Gräben aus; die Vorstädte sind nicht mehr nur halbgeduldete Anhängsel, sondern gleichberechtigte Theile der Stadt, die sich weiter und weiter hinausdehnen. Statt der himmelhohen Häuser, in denen sich zahlreiche Familien sonst zusammendrängten, baut man breitere, niedrigere, in denen wenige Familien größere Bequemlichkeiten finden; ja es läßt sich bereits das Streben erkennen, für jede Familie ein gesondertes Haus zu erlangen.

Daß die Städte dadurch an Schönheit gewinnen und gesünder werden, liegt auf der Hand.

Betrachten und vergleichen wir nun die beiden Ansichten von Leipzig etwas näher.

Das alte Leipzig.

An der Staffage, die das perspectivisch sehr mangelhafte Bild enthält, erkennen wir die Zeit, aus welcher dasselbe herrührt. Die Männer tragen dreieckige Hüte und Perrücken, die Frauen erscheinen mit bloßer Brust; wir sehen mehrere Reiter und auch eine Equipage. Das Alles erinnert an eine Verordnung des Rathes der Stadt Leipzig aus dem Jahre 1680, in welcher streng verboten werden alle „Schleppen an den Röcken, alle von weißen Haaren gemachten und andern kostbaren Perrücken, Locken und Stirnbänder, alle unzüchtige, freche und zu allerhand Ueppigkeit, großem Aergerniß, Verschwendung und vielem Kostenaufwande Anlaß gebenden neuen Moden, darunter zugleich mit sonderlicher Entblößung der Brüste schwarze Pflästerchen, welche zum Uebermuthe bisher in die Gesichter geklebt worden“ u. s. w. „Wir sehen Viele,“ heißt es weiter, „deren Vorfahren in Stand und Würden sich nicht gescheut haben, zu Fuß zu gehen, die schönsten Pferde, fürstliche Carethen, auch öfters fünf, sechs und mehr Diener in kostbarer Liverei beiherlaufend halten, ja kein Schneider und Schuster will mit den Seinigen mehr zur Hochzeit oder Kindtaufen erscheinen, er werde denn mit Carethen geholet und abgeführet. Zu Leipzig ist annoch in Menschengedenken, daß keine Carethe bräuchlich gewesen, itzo werden da gar viele gebraucht, ist auch wegen der vielen Carethen und „muthwilligen“ Pferde auf den Gassen fast nicht fortzukommen.“ Wie eine solche Carethe aussah, erkennen die Leser auf unserem Bilde.

Der Garten in der Mitte des Vordergrundes ist der berühmte bosenische Garten, lange Zeit der Sammelplatz und der Vergnügungsort der eleganten Welt Leipzigs, den jeder Fremde, der nach Leipzig kam, besuchen mußte, wie jetzt etwa das Rosenthal. An der hinteren Ecke desselben bemerkt man einen Bau, Colonnaden. Hier war es, wo die Gesellschaft sich versammelte und wo namentlich berühmte Concerte gehalten wurden. Noch in den zwanziger Jahren des jetzigen Jahrhunderts war [381] es so. Dieser ganze Garten ist jetzt verschwunden und hat der Königsstraße weichen müssen, in welcher sich namentlich sehr viele der Leipziger Buchhandlungen befinden und von der aus auch „die Gartenlaube“ in die Welt ausgeht. An diesen Garten, auf dem Bilde, grenzt rechts die Johannisvorstadt mit dem berühmten Kirchhofe. Gerade vor derselben sieht man das gethürmte Grimmaische Thor mit seinen Bastionen. An der Stelle desselben befindet sich das allbekannte Café français, auf dem zweiten Bilde kenntlich an dem Blumengebüsch vorn, neben der Kirche. Diese Kirche, die Paulinerkirche, in welcher unter Anderen der berüchtigte Tetzel begraben lag, begrenzt auf dieser Seite die Gebäude der Universität, welche auf der ersten Abbildung bis zur nächsten Bastion links reichten, und nun völlig umgebaut sind, wie das zweite Bild zeigt. Auf der eben erwähnten Bastion aber steht die schöne Bürgerschule. Der tiefe Graben, der sich vor den Festungswerken hinzog, ist bereits vor beinahe hundert Jahren zum größten Theile ausgefüllt und in gartenähnliche Anlagen umgeschaffen worden, namentlich in den sogenannten Park mit dem Schwanenteiche u. s. w. und zwar hauptsächlich auf Betrieb des Bürgermeisters Müller, den dafür in dem von ihm geschaffenen Parke ein Denkmal ehrt. Offen war bisher nur noch der Graben von der Bastion, auf welcher die Bürgerschule steht, bis links zu dem Petersthore in der Nähe der Pleißenburg. Im Jahre 1857 ist auch dieser Theil ausgeschüttet und mit einem Aufwande von ungefähr 70,000 Thalern in geschmackvolle Anlagen umgewandelt worden, zunächst weil man hier das städtische Museum (S. das stattliche Gebäude in der Mitte vorn auf der zweiten Abbildung) erbauete, in welchem die Schletter’sche Gemäldesammlung aufgestellt werden wird. Mit diesen neuen Anlagen zur Verschönerung Leipzigs steht ein weitergehender Plan in Verbindung. Nach demselben wird die ganze Gebäudereihe zwischen der Bürgerschule und dem Petersthore mit dem hochgedachten alten Magazin (S. die zweite Abbildung) niedergerissen und durch stattliche Häuser ersetzt werden, zwischen denen eine neue Straße aus der innern Stadt heraus durch die neuen Anlagen hindurchführen wird. Gleichzeitig wird auch der Garten schwinden, der mit der Ecke seiner Umfassungs-Mauer auf unserem zweiten Bilde rechts im Vordergrunde liegt.

Das neue Leipzig.

Der hohe, spitzzulaufende Thurm zur äußersten Linken auf unserem ersten Bilde gehört zu der Pleißenburg, ist seitdem, wie das zweite Bild zeigt, oben zum Theil abgetragen worden und enthielt bisher die Sternwarte, die aber nächstens einen andern Platz erhalten wird. Die genannte Pleißenburg ist die Stätte, wo die berühmte Disputation zwischen Dr. Luther und Dr. Eck abgehalten wurde, wenn auch das Gebäude nicht mehr steht, in welchem jene geschichtlich merkwürdige Dispution stattfand. Hier starb ferner Pappenheim nach der Schlacht bei Lützen; hier wohnte Kleist, als er mit preußischen Truppen in Leipzig stand; hier schmachteten in schrecklichen Kerkern zahlreiche Opfer während der traurigen krypto-calvinistischen Streitigkeiten und hier verlebte Goethe als Student heitere Tage bei dem alten Oeser, dem Director der hier befindlichen Zeichenakademie.

Links von dem Thurme der Pleißenburg sieht man auf dem ersten Bilde ein paar Thürmchen, die seitdem verschwunden sind, während ihm zur Rechten auf dem zweiten Bilde ein zierlicher gothischer Thurm erscheint. Er gehört zu der schönen katholischen Kirche, die vor einigen Jahren erbaut worden ist.

Gänzlich verändert ist das Nordende der Stadt, wie man dasselbe auf dem ersten Bilde sieht. Ursprünglich stand hier ein Cisterzienserkloster, das aber nach Einführung der Reformation theils niedergerissen, theils als Kornhaus benutzt wurde. Der freigewordene Platz diente lange als Zimmerhof und Reitplan. Das Kornhaus wurde später in ein Opernhaus umgewandelt, „darinnen alle Messen [382] von den unter den Studenten befindlichen Virtuosen die schönsten Opern präsentirt werden, und ist die Notiz davon mitten auf den vornehmsten Straßen an gewissen Tafeln zu lesen, die mit Leinen querüber festgemacht sind.“ Jetzt steht da das Zucht- und Waisenhaus, dem sich neuerdings eine großartige Fleischhalle anschließt. Von da aus ist durch den Park eine neue Straße angelegt worden, die zu den drei (nächstens vier) Eisenbahnhöfen führt, welche in dieser Gegend sich aneinanderreihen, etwa da, wo auf dem ersten Bilde rechts am äußeren Ende die einzelnen Bäume und das kleine Fuhrwerk sich befinden.

So hat sich Leipzig auf der Ostseite, welche die Abbildungen darstellen, im Laufe von zwei Jahrhunderten verändert. Die Erweiterungen der Stadt nach andern Seiten hin sind noch viel bedeutender, namentlich die im Westen, welche von Dr. Heine herbeigeführt und von der Gartenlaube bereits ausführlich beschrieben worden sind.

Leipzig gehört nicht zu den größten, aber zu den bekanntesten Städten der Erde; ihren Ruhm und ihren Wohlstand verdankt sie den Messen und der Universität, welche beide ihr auch den eigenthümlichen Charakter gegeben haben, über den eine neuere Schilderung sagt: „Eine wunderlich zusammengewürfelte Bewohnerschaft siedelt in dieser Handelsstadt an der Elster, Pleiße und Parthe. Die Firmen zeigen schweizerische, französische, italienische, specifisch süd-, specifisch norddeutsche Namen. Unter den niederländischen sind die Nachkommen der von Herzog Alba vertriebenen Antwerpener Kaufleute, unter den französischen manche, welche die Aufhebung des Edicts von Nantes zur Auswanderung zwang. Hieran mag es auch größtentheils liegen, daß die Stadt in der Sitte des Hauses so wenig wie im öffentlichen Leben einen ausgeprägten Charakter hat. Jene wahrhaft patriotische Anhänglichkeit des Bremer Kaufmannes an seine Vaterstadt z. B., die Rivalität des Kaufherrn mit dem Adel, welche dem Vergnügen und dem geselligen Treiben Frankfurts a. M. die einfache und ausgesuchte Eleganz gibt, fehlt in Leipzig, wo sich unter siebenzigtausend Einwohnern kaum siebenzig Adelige befinden und diese, wie die zahlreichen Professoren und Gelehrten, nicht begütert genug sind.“

Zum Schluß möge hier eine kurze Geschichte der Leipziger Messen stehen, deren eigentlicher Beginn sich mit Bestimmtheit nicht ermitteln läßt, die aber wahrscheinlich bereits im zwölften Jahrhunderte entstanden.

„Sie sind,“ heißt es in „Leipzig von A. Diezmann“ (Leipzig, Lorck, 1856. 10 Ngr.), „durch Kriege, Aufstände, Krankheiten und theure Zeiten oftmals theils ganz verscheucht, theils sehr gestört worden. Großen Abbruch thaten ihnen die calvinistischen Streitigkeiten und, wie leicht erklärlich, der verderbliche dreißigjährige Krieg, obgleich selbst Tilly bei Eroberung Leipzigs bewilligte, „daß den Commerciis ihr ungesperrter Lauf zu lassen und sie auch mit keinen neuen Exactionen zu beschweren sein sollten,“ und später Torstensohn, von schwedischer Seite, versicherte, es solle Niemand, er sei aus Feindes oder Freundes Land, gehindert und dem Handel der Stadt der altgewohnte Verlauf gestattet werden. Ein neues Unglück brachte die furchtbare Pest, die 1680 von Böhmen her sich verbreitete, denn während der Dauer derselben konnten die Messen nicht abgehalten werden und selbst, als sie nicht mehr zu fürchten war, brauchte man die ängstlichsten Absperrungsmaßregeln, genau wie hundertfunfzig Jahre später bei der Annäherung der Cholera. Kaum hatte der Verkehr sich wieder zu heben begonnen, so trat 1689 der Krieg Frankreichs mit dem deutschen Reiche ein, und in Regensburg beschloß man, nicht nur die Einführung aller französischen Waaren zu verbieten, sondern dieselben überall, wo man sie finde, zu confisciren und die Eigenthümer „am Leibe zu strafen“, wie es im Anfange des neunzehnten mit den englischen Waaren geschah. Im Jahre 1693 gab es eigentlich keine Neujahrsmesse wegen der Theuerung im Jahre vorher und auch, weil die Kaufmannswaaren nicht zu rechter Zeit eintrafen, da wegen der schlechten Witterung und des schlechten Zustandes der Straßen die Fuhrleute nicht fortkommen konnten. Neue Störung erlitt die Messe 1706 „durch den Einbruch der königlich schwedischen Waffen,“ wie sich ein Rathspatent ausdrückt, welches die Meßwechsel bis zu Ende Octobers prolongirte.

Die schlimmsten Zeiten begannen mit dem siebenjährigen Kriege, und als erst Friedrich der Große, dann Oesterreich ihre Grenzen den Waaren aus Sachsen sperrten, und dieses darauf Repressalien brauchte. Die Stadt hatte an Truppenverpflegungsgeldern und Contributionen gegen acht Millionen aufzubringen, und die Messen kamen so in Verfall, daß Gotzkowski in seiner Biographie erzählt, er habe in der Michaelismesse von 1756 von seinen Seidenwaaren nur für 200 Thaler verkauft, während er sonst in einer Messe einen Absatz von gegen 40,000 Thalern gehabt. Dazu kamen die Münzverschlechterung durch die jüdischen Münzpachter und die beginnenden Experimente mit allerlei Abgaben. Die Zeiten wurden in Leipzig so schlecht, daß 1766 der Handel anfing, nach Gera, Weimar, Hof und Arnstadt sich zu wenden. Erst als man die drückenden Abgaben beseitigte und Zollfreiheit einführte, hoben sich die Messen wieder.

Lange machten Leipzig die Messen in Frankfurt an der Oder viele Noth, bis die falschen Maßregeln, die man dort ergriff, unserer Stadt wiederum zum Vortheile ausschlugen. Leipzig wurde von Juden aus Polen, Rußland u. s. w. im Anfange fast gar nicht besucht, da sie ihre Einkäufe in Frankfurt machten, weil sie für die nach Polen gehenden Waaren die preußische Durchgangsabgabe nicht zu zahlen hatten. Dies hielten aber die preußischen Fabrikanten für nachtheilig, und jene Abgabenfreiheit wurde nicht nur aufgehoben, man belegte auch die aus Polen kommenden Producte mit einer Abgabe von dreißig Procent an Werth. Sofort mieden die Polen und Russen Frankfurt und kamen nach Leipzig, das sie zuvorkommend aufnahm. Zwar wurde jene drückende Einfuhrabgabe nach Friedrichs des Großen Tode aufgehoben, und Frankfurt hob sich wieder, aber da kam man in Preußen auf den Gedanken, dort die fremden baumwollenen und halbseidenen und seidenen Waaren zu verbieten. Die Einkäufer aus Warschau, Brody, Jassy u. s. w. fanden also in Frankfurt nicht mehr, was sie brauchten, und sie wendeten sich von nun an fast ausschließlich nach Leipzig, wo sie nicht nur die größte Auswahl in den Waaren, sondern auch ziemlich leicht Credit fanden.

Die französischen Kriege lasteten schwer auch auf Leipzigs Messen. Anfangs kamen zwar viele Engländer mit Waarenlagern nach Leipzig, weil dies den Verkehr bis in die Türkei und nach Persien vermittelte; als aber Napoleon das Continentalsystem aufstellte, erfuhr Leipzig mit seinen Messen einen lange nachwirkenden empfindlichen Schlag. Mit sieben Millionen Francs kaufte die Stadt einmal, am 7. April 1807, die in Beschlag genommenen englischen Waaren vom General Villemangy los, aber 1810 erschien wiederum ein Commissar, welcher nach englischen Waaren suchte, um die vorgefundenen zu verbrennen. Der Schade konnte durch den um etwas gesteigerten Absatz nach Rußland nicht ausgeglichen werden. Die Messen kränkelten fort und fort, zumal 1818 das von Preußen eingeführte Grenzzollsystem mit hohen Durchgangsabgaben bis nahe an Leipzig heranrückte, und ihm die Hauptadern unterband, auch Rußland seine Einfuhrzölle bedeutend steigerte, und die Abgaben in Sachsen selbst erhöht wurden. Leipzig mußte erwarten, seine Handelsblüthe ganz geknickt zu sehen, als 1834 die Schlagbäume endlich fielen, Sachsen dem deutschen Zollvereine beitrat, und Leipzig einen Aufschwung nahm, wie nie zuvor. Nach funfzehn Jahren war der Umsatz in den Messen auf mehr als das Doppelte gestiegen, und wenn auch seit 1834 Cholera, Revolutionen, Theuerung, Handelskrisen und Kriegsbesorgnisse Schuld trugen, daß einige Messen nicht von großer Bedeutung waren, wenn auch Kurzsichtige dann prophezeieten, die Zeit der Messen und damit die Zeit der Blüthe Leipzigs sei vorüber, so läßt sich doch mit weit größerer Wahrscheinlichkeit weissagen, daß unter der Segensherrschaft des Friedens, bei Fernhaltung aller den Handel stets lähmenden Beschränkungen, die Messen und mit ihnen der Handel Leipzigs noch weit großartiger sich gestalten werden.“





Blätter und Blüthen.


Der bestrafte Spaßmacher. Vor einigen Jahren hatte mich meine Reiselust nach einer der bedeutendsten Handelsstädte des nördlichen Europa geführt. Wochen vergingen, ohne daß mir irgend Erhebliches begegnete. Viele Bekanntschaften, von denen einige bald angenehm und cordial wurden, waren die einzige allerdings sehr schätzenswerthe Ausbeute meines Aufenthaltes. Da ward mir ein Wechsel fällig. Um diesen zu [383] heben, ging ich zu der betreffenden Bank. Als ich in das Geschäftslocal trat, sah ich eine Menge Leute darin versammelt, unter ihnen einen meiner Bekannten, einen jungen Mann von unerschöpflicher Heiterkeit und Laune, und – Lust, Andere zu necken. Diese Ueberfülle seiner guten Gemüthsart schien sein einziger Fehler – doch, was sage ich, sein einziger Fehler! Als ob nicht das beste Menschenkind sein volles Mandel hätte! Ich wollte sagen, dieser Fehler war der hervorstechendste, der ihm schon manchen Freund gekostet und also gewiß auch so manche trübe Stunde bereitet hatte.

Der sonst immer zu Späßen und lustigen Streichen aufgelegte junge Mensch sah heute gar nicht lachend aus. Sein Blick war verwirrt und Todesblässe lag auf seinem etwas, von innerer Angst, wie es schien, verzerrten Gesicht. Bald begegneten sich unsere Blicke und sogleich kam der junge Mann in fieberhafter Eile und mit offenbar etwas erleichtertem Herzen zu mir, der ich mit Erstaunen und Mitgefühl die sonderbare Veränderung an dem jungen Manne wahrgenommen hatte.

„Was gibt es, junger Freund?“ fragte ich theilnehmend.

„Ach Herr! es gewährt mir Erleichterung, Sie zu treffen, und Ihnen, einem würdigen, besonnenen Manne“ – natürlich machte ich hier meinen geziemenden Kratzfuß – „meine entsetzliche Verlegenheit auseinander zu setzen; vielleicht wissen Sie Rath und haben Erbarmen mit meiner Angst, trotz meiner unverzeihlichen Unvorsichtigkeit.“

Und nun erzählte der junge Mann mit bebenden Lippen wie folgt.

„Sie wissen, Herr, mein einziger Fehler ist,“ – wie offenherzig ihn seine Angst machte! – „Andern einen kleinen unschuldigen Schabernack zu spielen. Als ich nun heute hierher ging, traf ich auf der Treppe mehrere Menschen, unter ihnen auch, wie ich glaubte, meinen intimen Freund H., der in seiner Rocktasche eine dicke Brieftasche so übel verwahrt hatte, daß offenbar ein Griff hinreichte, sie, ohne bemerkt zu werden, herauszuziehen. Ei, ei! dachte ich, wie unvorsichtig Freund H. ist; er verdient eine Lehre. Kaum dies gedacht, war ich in zwei Sätzen hinter ihm, zog unvermerkt die verhängnißvolle Brieftasche aus seiner Rocktasche und steckte sie zu mir, worauf ich Andere mir vorgehen ließ, hielt mich aber doch immer in seiner Nähe, um, wenn er seines Verlustes inne würde, herbeizuspringen und ihm mit Begleitung einer tüchtigen Ermahnung das Verlorene zuzustellen.

„Ich sah meinen Freund hier- und dorthin sich wenden, die Hand schütteln etc., aber nie traf es sich, daß er sein Gesicht zu mir gewendet hätte. Aber diesmal traf mich der Schrecken, nein, das gräßlichste Entsetzen. Denn, heiliger Gott! als sich mein Freund nach meiner Seite wendete, erblickte ich ein mir stockfremdes Gesicht, dessen Eigenthümer eben todtenbleich nach dem verfluchten Taschenbuche suchte. Das Enorme meiner That trat plötzlich vor meine Augen; ich fühlte mich niedergeschmettert. Das Blut stürzte mir zu Kopfe, gerade so, als ob ich einen Schlaganfall bekommen sollte; Alles schwamm vor meinen Augen. Mit Riesenstärke kämpfte ich gegen den Anfall, aber als ich mich genügend gesammelt hatte und den beraubten Herrn anreden wollte, war er verschwunden.

„Was sollte ich thun? Zwar konnte mir der Inhalt der Brieftasche über seinen Namen etc. Auskunft geben, aber mit welchem Gesicht könnte ich zu dem Manne sagen: „Mein Herr, hier ist Ihre Brieftasche, ich stahl sie Ihnen; es that mir leid, es gethan zu haben, ich nahm Sie für einen meiner intimsten Freunde.“ Das ist Alles, was ich zu meiner Entschuldigung sagen kann. Was möchte mir wohl der beleidigte und in Schrecken gejagte Herr antworten, und vor Allem, was möchte er thun? Würde er nicht am Ende sagen: „I Sie verdammter, niederträchtiger Spitzbube, wissen Sie, daß Sie durch Ihren sogenannten Spaß mir nicht geringe Ungelegenheit bereitet haben? Wissen Sie, daß ich durch ihren verruchten Spaß genöthigt wurde, einen Wechsel zu protestiren, daß ich eine mir unendlich kostbare Zeit verlor und wohl gar einen bedeutenden Gewinn riskire? Ihre Geschichte von einem Mißverständnisse ist nichts, als eine elende Erfindung, ersonnen, um den schweren Folgen der Gerechtigkeit zu entfliehen, da Sie wissen, daß man Ihnen auf der Spur ist! Mensch, ich fühle mich verpflichtet, ein so gefährliches Subject der menschlichen Gesellschaft der Polizei zu überliefern.“

„O, es ist kein Zweifel,“ fuhr der ehemalige Spaßmacher in seiner Desperation fort, „so würde der Mann zu mir reden, würde mich der Polizei übergeben, würde – großer Gott! welche Schande und Schmach, ich vor Gericht wegen Diebstahl! O, es ist entsetzlich! Selbst vor Gericht würde man mir nicht glauben und der Richter erklären, daß auf solche Entschuldigung hin kein Mensch freigesprochen werden dürfe, weil das nur heißen würde, dem Diebstahle Thür und Angel öffnen. O, ich sehe es, ich bin verloren! Im besten Falle komme ich mit ein paar Jahren Gefängniß davon. Sagen Sie, habe ich nicht Recht, Herr?“

Offenbar sprach sich der Dieb wider Willen in immer tiefere Angst hinein; ich wollte ihm in die Rede fallen und ihn beruhigen, allein er fuhr in seiner Relation fort, ohne auch nur meine Antwort auf seine Frage abzuwarten.

„Das waren und sind noch meine Gedanken, die mir durch den Kopf rannten, als ich zur Thüre eilte, um nach Hause zu eilen, dort die Brieftasche zu öffnen und zu überlegen, wie ich sie dem Eigenthümer, ohne mich zu verrathen, zustellen konnte. Aber zu meinem Entsetzen gewahrte ich am Eingange des Hauses den Herrn, welchen ich bestohlen hatte, mit zwei Polizeileuten sprechen. Diese bewachten offenbar Jeden, der aus- und einging. Worte vermögen meinen Schrecken nicht zu beschreiben. Ich sah ein, jeder Versuch, das verfluchte Taschenbuch zurückzuerstatten, würde unter diesen Umständen mir als eine Folge der Furcht und nicht der Ehrlichkeit ausgelegt werden. Was blieb mir übrig? Ich zog mich wieder hierher zurück, da ich mein Geschäft an der Bank noch nicht einmal begonnen habe. Als Sie kamen, fanden Sie da nicht vor der Thür einige Polizisten?“

„Ich sah da wohl einige Leute stehen, doch achtete ich nicht auf sie. Es ist mir, als wenn –“

„Sehen Sie, Herr, sehen Sie; man vigilirt auf mich! Um Gottes Willen, rathen, helfen Sie!“

Die Erzählung hatte mich sehr ernst gestimmt. Die Sache war kritisch und zwar um so mehr, als der junge Mann im Gefühle seiner Schuld offenbar alle Geistesgegenwart verloren hatte. Zudem verdiente er eine scharfe Züchtigung für künftige Fälle. Je tiefer diese in seine Seele schnitt, desto sicherer konnte man hoffen, er werde von seinem Fehler geheilt werden. Für jetzt war jedenfalls nöthig, ihn zu sich selbst zu bringen, damit er in Ruhe die Lage der Sache beurtheile.

„Ich bin weit entfernt, junger Mann,“ sagte ich sehr ernst, „Ihnen Vorwürfe zu machen; diese machen Sie sich selbst. Aber Ihre nicht abzuleugnende Schuld hat Sie Ihrer sonstigen Geistesgegenwart gänzlich beraubt. Gleich nach dem ersten Schreck, der wohl unvermeidlich war, hätten Sie die Sache in Ordnung bringen können. Hätten Sie nicht einfach die Gegenwärtigen fragen können, ob einer von Ihnen etwas Werthvolles verloren habe? Fand sich keiner, so Uebergaben Sie die Brieftasche an den Bankier. Jetzt freilich ist dies nicht mehr möglich; denn allerdings bemerkten Sie ganz richtig, daß die Rückgabe jetzt mehr aus Furcht als aus Ehrlichkeit dictirt erscheinen dürfe.“

„Ja, ja! Sie haben ganz Recht. Die Schuld hat mich meines Verstandes beraubt. Es ist mir, als ob sie jeder von meinem Gesicht herabzulesen vermöchte. Welch ein fatales Ding um ein böses Gewissen! Herr Gott, was wollt’ ich nicht Alles darum geben, wenn ich ebenso frei und offen überall hinzugehen vermöchte, wie noch vor einer halben Stunde! O, mein Herr, denken Sie für mich! Gibt es kein Mittel, aus diesem gräßlichen Zustande glücklich herauszukommen?“

„Habe ich Sie recht verstanden,“ sagte ich, „so haben Sie das Taschenbuch noch nicht geöffnet, um den Namen des Eigenthümers zu erfahren. Das muß sogleich geschehen. Wissen wir erst, mit wem wir es zu thun haben, wird sich doch wohl ein Plan zur Rückgabe finden. Kommen Sie in jene Ecke, dort öffnen Sie das fatale corpus delicti.“

Wir gingen an den bezeichneten Platz und ich stellte mich so, daß Niemand das Taschenbuch zu Gesicht bekommen konnte. Eine Minute darauf flüsterte mir der Geängstigte zu:

„Es gehört einem Herrn B.“

Dieser Name war mir wohl bekannt. Den Träger desselben hatte ich seit Jahren hier und da auf meinen Ausflügen getroffen. Auf Reisen schließt man bekanntlich sich viel schneller aneinander und so waren dieser Herr und ich ziemlich intim geworden. Schon wollte ich dem natürlichen Gefühle der Ueberraschung nachgeben und meinem jungen gequälten Freunde meine Hoffnung, die Sache schnell beilegen zu können, aussprechen, als dieser von fern mit den Worten angerufen wurde;

„Hollah M.,“ – so hieß unser Missethäter – „was machst denn Du dort in der Ecke?“

„Gott sei Dank!“ rief mit tiefem, aber erleichterndem Seufzer M., „da ist mein intimer Freund H.“

Inzwischen kam dieser zu uns und als er das verstörte Aussehen seines Freundes bemerkte, rief er:

„Was? Du Ewiglustig, Niemalstraurig, wie siehst Du denn aus? Was ist mit Dir?“

Ich ließ die beiden Freunde allein und ging, mein Geld zu holen. Während dieses nach Vorweisung meines Wechsels mir ausgezahlt wurde, hatte ich Zeit, nachzudenken, was ich für meinen jungen Freund thun könnte, um ihn schnell und doch auch zu seinem Heile von seiner Angst und den etwaigen Folgen seines Leichtsinnes zu befreien. Späterhin erfuhr ich, was zwischen ihm und H. verhandelt worden war; ich lasse dies sogleich hier folgen.

Während ich mich von den beiden Freunden entfernte, hörte ich noch M. zu H. sagen:

„Du siehst in mir einen unglücklichen, elenden Menschen.“

„Was?“ hatte darauf H. geantwortet, „Du hast doch nicht Bankerott gemacht? Wie kam das, und so schnell?“

„Ach lieber Bruder, es ist viel schlimmer.“

„Schlimmeres? Den Teufel, was könnte schlimmer sein, als zum Bettler werden? Du bist doch gesund?“

„Ach lieber Junge, meine Ehre, meine Ehre! Hilf, wenn Du kannst.“

Und nun erzählte der Zerknirschte wieder seine Geschichte. H. hörte bis zum Ende schweigend und immer düsterer werdend zu, und schwieg selbst dann noch einige Secunden.

„Um Gotteswillen, H.!“ rief M. als er seines Freundes tiefen Ernst gewahrte. „Du glaubst doch nicht, daß ich wirklich die Brieftasche stehlen wollte, daß ich irgend Schlimmes beabsichtigte?“

„Gewiß nicht, Freund M.,“ erwiderte noch immer sehr ernst H. „Ich glaube Dir auf’s Wort. Ich kenne Deine unglückliche Neigung, auf anderer Leute Kosten Spaß zu machen. Doch kann ich Dir nicht verhehlen, die Geschichte hat ihre bösen Haken. Der B. ist ein Mensch, mit dem sich nicht spaßen läßt. Es wird schwer halten, ihn von unangenehmen Schritten abzuhalten, sage ich Dir. Doch will ich mit ihm reden; ich hoffe, er nimmt Vernunft an.“

„Herr Gott, H.! siehst Du die Polizeibeamten dort? sie beobachten uns.“

„Leider, mein Junge. Es ist die höchste Zeit, daß ich den B. aufsuche und mit ihm rede. Bleibe inzwischen hier, bis ich wiederkehre, und sollte während deß etwas geschehen, was ich nicht abwenden kann, so möge Dich der Gedanke stärken, daß ich für Dich thun werde, was ich vermag.“

H. ging und ließ seinen Freund in wenig getröstetem Zustande zurück. Am Abend, da er seine Rettung feierte, beschrieb er diesen etwa folgendermaßen:

„Ich habe Vieles über die Schrecknisse eines Schiffbruchs gelesen; so Manches gehört von dem feierlichen Augenblicke, in dem man sein Leben im Kampfe auf das Spiel zu setzen im Begriffe ist, aber alle diese Zustände sind gewiß nicht so entsetzlich, als der, in welchem ich mich befand, als H. mich verließ. Eine Zeit lang schauten meine Augen unverwandt [384] auf den Boden, während meine Seele fort und fort bebte in dem Gedanken, man werde mich bald genug gefangen fortführen, und doch schien jede Minute, die verfloß, ein Jahrhundert. Denn die ersehnte Rettung nahete nicht. Zuweilen schielte ich nach den Polizisten hin, deren Blicke immer mißtrauischer auf mir zu haften schienen. Die Angst stieg immer gräßlicher; die Todesangst kann nicht schauerlicher sein. Jetzt – jetzt! Gott meiner Väter! jetzt traten die Polizisten auf mich zu. Da öffnete sich, so schien es mir, der Boden unter mir, ich versank, mein Bewußtsein schwand. Nur das weiß ich noch, daß ich einen verzweifelnden Blick nach der Thüre warf.“

Das war der Augenblick, in welchem ich mit H. und dem Eigenthümer des Taschenbuches eintrat; gleich darauf sank M. zu Boden. Wie eilten zu seinem Beistande, nahmen das unglückselige Taschenbuch aus der Tasche und brachten ihn fort, indem wir den neugierigen umstehenden Leuten sagten, der junge Kaufmann M. sei in Folge eines gefürchteten sehr bedeutenden Verlustes erkrankt.

Nachdem wir den halb Ohnmächtigen nach Hause und wieder gehörig zu sich gebracht hatten, sagte Herr B., dem wir, H. und ich, sehr dringend hatten zusetzen müssen, bevor er von seinem Entschlusse, den Dieb der Polizei zu überliefern, abstehen wollte:

„Junger Mann, ich sehe wohl, daß die Herren mir recht berichteten, als sie sagten, Sie hätten aus Spaß das Taschenbuch aus meiner Tasche gezogen. Ich wollte es anfangs, ich gestehe es, gar nicht glauben, obwohl mir diese Herren als sehr ehrenwerth bekannt sind. Auch glaubte ich, es sei eine unerläßliche Pflicht, solchen gefährlichen Spaßmacher dem Gericht zu überantworten. Es freut mich jetzt, es nicht gethan zu haben. Doch nehmen Sie sich diese Affaire ad notam, junger Mann, und –“

„Kein Wort weiter, lieber Herr! Ich bin für immer von meiner Spaßmacherei geheilt, und ich fühle mich jetzt so leicht, wie ein neugebornes Kind, und so froh, wie ein Verliebter, der von seiner Geliebten erhört worden ist. Thun Sie mir den Gefallen, meine Herren, und besuchen Sie mich heute Abend zu einer Flasche echten Champagner.“

An diesem Abend erzählte M., in welchem schauerlichen Seelenzustande er sich befunden, als H. von ihm ging.

Höstermann.




Doctor Véron Der Mann, von dem ich diesmal eine Skizze entwerfe, ist ein sehr interessanter und eigenthümlicher Mann; nicht allein, daß er Apotheker, Arzt, Journaldirigent, Operndirector, Politiker, Schriftsteller und – Bonapartist gewesen, sondern weil er mehr ist, als dies, ein Schlaukopf und doch nicht schlau genug, ein echter Typus jenes französischen Bourgeoisthums, welches aristokrätelnd, ehrgierig und blasirt wieder in mehrere Kategorien sich scheidet, in eine gutmüthig-eingebildete – wie sie Doctor Véron repräsentirt, dessen Manövers wir zu skizziren gedenken; in eine raffinirt-geistreiche, wie Herr Emil von Girardin sie vorstellt; in eine auf ihr Geld, ihre Macht und ihre Parvenüschaft stolze, von der der Bankier Mirès ein Typus ist, und endlich in eine niederträchtig-servile, von welcher das widerliche bonapartistische Federvieh Granier de Cassagnac, der durch seine Berserkerwuth gegen die widerstandslose Partei sich auszeichnet, das sprechendste Bild gibt. Dr. Véron ist, wie man hieraus sieht, der Vorsteher der relativ besten Kategorie dieses französischen Bourgeoisthums und wenn dessen Schwächen viel Lächerliches bieten, so kann man im Grunde doch nie böse darauf sein.

Véron, geboren 1798, begann unter der berüchtigten Restauration mit der edlen Doctorei, das beste Geschäft zu jener Zeit, denn alle Welt, Gesellschaft und Staat, laborirte an Krankheiten. Nachdem der Arzt nähere Einblicke in die Pathologie der Zeit gemacht, fühlte er, daß ihm im Grunde doch viel Witz und Verstand zu Theil geworden sei und diese kostbaren Eigenschaften sich in einem Lande, wie Frankreich, besser als in der Medicin verwerthen könnten. Der Doctor legte deshalb Pillen und Mixturen bei Seite, ergriff die Feder und schrieb für die „Quotidienne“, ein ihrer Zeit sehr geachtetes Blatt. Da er das Glück hatte, vom Honorar der Schriftstellerei nicht leben zu müssen, weil er Vermögen besaß, so fühlte Véron sich ungemein wohl bei diesem Zeitvertreib und streichelte sich wohlgefällig sein glattes Kinn, wenn er von einer Tänzerin am Ambigu oder von einem Schauspieler am Vaudeville vernahm, daß seine Artikel sehr geistreich seien.

Unter Ludwig Philipp war der Besitz eines Journals eins der besten Geschäfte; denn nicht allein las das Publicum viel und gern, sondern man vermochte auch dadurch ein Coteriechen, ein Parteichen zu bilden, wodurch man wieder ein bischen Einfluß und Ansehen, zuletzt möglicher Weise eine Deputirten- oder Ministerstelle erreichen konnte. Es war die Zeit, wo das Bourgeoisthum aufblühte, wo es anfing, geistreich zu werden, Salons zu bilden, und Alles unter seine Einflüsse gerieth. Dr. Véron, als ein echter Bourgeois, der Esprit hatte, Salons öffnete und doch gern eine politische Rolle gespielt hätte, verkannte diese Zeit nicht, sondern gründete die Revue de Paris – jenes unglückliche Ding, welches nie recht leben und auch nicht sterben konnte, bis ihm der Zorn des Bonapartismus unlängst das Grab machte, weil der Fanatismus einiger Italiener die beste Gelegenheit bot, aus Frankreich noch mehr denn sonst einen Kirchhof zu schaffen. Die Revue de Paris war von Hause aus übrigens schon so wild und jugendlich-lustig, daß dem vorsichtigen Véron die Geschichte anfing bedenklich zu werden. Da er nicht die Natur besitzt, sich längere Zeit geduldiglich zu ärgern, so überließ er sie endlich der Partei des „National“, des republikanischen Journals, welches Armand Correl gegründet und Armand Marrast fortgesetzt hatte.

Véron hatte mindestens soviel durch sein Journal erreicht, daß man ihm den Pacht der Oper übergab, und vorläufig, da er vermeinte, man werde späterhin noch seiner Staatsweisheit bedürfen, begnügte sich der gute Doctor, dem ersten, aber herabgekommenen Theater von Frankreich zu präsidiren. Er that dies auch mit einem so unendlichen Glück, daß er ein kolossales Vermögen dabei erübrigte, worüber die verzweifelten Theaterdirectoren Deutschlands noch heute verwundert die Köpfe schütteln. Den Bourgeois Véron ließ jedoch der Ehrgeiz, eine politische Größe vorzustellen, nicht ruhen und überdies hat es etwas Qualvolles, ewig Theaterdirector zu sein – ein Amt, welches selbst eine gewisse Virtuosität im Komödiespielen bedingt. Der Doctor-Operndirector zog sich deshalb von der Herrschaft über die Sänger und Sängerinnen zurück, um so mehr, als er das gute Bewußtsein mit sich nahm, um eine halbe Million reicher geworden zu sein.

Von nun an – es war die Zeit, wo Louis Philipp in der größten Verlegenheit mit Staatsmännern war – verfolgte Véron nur das Ziel, ein Mann und ein Stern der Politik zu werden. In der Mitte der vierziger Jahre kaufte er daher den Constitutionnel, eines der größten Journale von Frankreich und damals als das Organ von Thiers von außerordentlichem Einfluß. Der Grund davon war sehr einfach. Véron konnte es dem genialen Berthin, dem mit Recht geehrten Besitzer und Leiter des alten Journal des Debats, nicht gönnen, daß er Pairs und Minister vermöge seines Einflusses gemacht habe. Ein solches Ansehen erstrebte Véron nicht minder, wenn ihm auch weniger daran lag, der Schöpfer von Pairs und Ministers zu sein, als vielmehr womöglich selbst einen solchen oder doch ähnlichen Platz zu erreichen. Als Director und Eigenthümer eines so bedeutenden Blattes, wie der Constitutionnel es war, und nebenbei als Freund und „College“ des Herren Thiers, glaubte er einen Gesandtenposten oder einen Sitz im Staatsrath als etwas ganz Natürliches ansehen zu müssen, von dem ihm, als grundgescheidtem Bourgeois, Eins oder das Andere nicht ausbleiben könne. Dem armen Véron ist dieser Wunsch nie in Erfüllung gegangen, und diese Kränkung hat er bis heute noch nicht vergessen, besonders Herrn Thiers, dem er trotz angeborner Gutmüthigkeit fortdauernd grollt.

Noch einmal faßte er Muth und Hoffnung, als die Geschichte sich änderte, und Louis Napoleon das Glück Frankreichs mit den sonderbarsten Mitteln herzustellen begann. Dr. Véron hoffte Alles von ihm, er lobte ihn, er pries Frankreich glücklich unter dem Scepter des einstigen Flüchtlings, und war eins der Werkzeuge Morny’s und Persigny’s, um den Staatsstreich von 1851 ausführen zu helfen. Solche Dankbarkeit, meinte Doctor Véron, könne nicht ohne Lohn bleiben – und sieh, Doctor Véron ward nicht belohnt, der Mohr hatte seine Schuldigkeit gethan, der Mohr konnte gehen.

Diese neue Kränkung verbitterte dem guten Doctor alle fernere Liebe für politische Carrière, zu der er jetzt auch schon zu alt und zu gewitzt ist. Er raffte sich in seinem Unmuth auf, fühlte sich groß als freier, reicher Bourgeois, und verkaufte seinen Constitutionnel für schweres Geld an Herrn Mirès, den größten Parvenü der heutigen Finanz-Bourgeosie. Als Bourgeois wollte Véron fortan leben und der Literatur sich dankbar erweisen, da sie doch immer liebenswürdiger gegen ihn gewesen war, als die Politik. Er ergriff das Handwerk der Mäcenas, und setzte Preise von 10,000 Francs für die Schriftsteller aus, gab literarische Banquette, und lebt noch heute in dieser sinnigen Beschäftigung, die selbstverständlich von Seiten der Schriftsteller sich der schmeichelhaftesten Anerkennung erfreut.

Als Bourgeois grollte er sich in den bekannten Memoiren gegen alle Diejenigen aus, die ihn in seinen politischen Hoffnungen betrogen, und die Seligkeit seiner Schriftstellerbeschäftigung athmet der Roman „das Haus Picard oder 500,000 Francs Rente.“ Der erlittene Undank über seine Mitwirkung am Staatsstreich förderte außerdem noch die Broschüre „Vier Jahre Herrschaft, oder wer sind wir?“ zu Tage, wo er durchblicken läßt, daß ohne Morny und Fould der Kaiser seinen Verdiensten Rechnung getragen haben würde. Aber Véron’s Groll ist harmlos und sein Bourgeois-Naturell so gesund, daß ihm trotz aller Enttäuschungen mindestens der gute Glaube geblieben ist, er sei eine literarische Celebrität.

Schmidt-Weißenfels.

Nicht zu übersehen!

Mit dieser Nummer schließt das 2. Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das 3. Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)