Die Gartenlaube (1858)/Heft 25
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No. 25. | 1858. |
Die Reise im offenen Wagen auf den Deichkronen, von deren
Höhe man die so wunderbar fruchtbaren Marschen mit ihren endlosen
Feldern und noch immer frischgrünen Wiesen übersehen konnte,
zwischen denen die großen, stattlichen Höfe, von einem Kranz rauschender Frucht- und Nutzbäume umgeben, lagen, gewährte trotz der Monotonie der Farben doch ein mehrfach fesselndes Bild. Gegen
Osten war Alles fruchttragendes, fettes Land. Die Höfe und
Ortschaften hinter den Deichen verriethen den Reichthum ihrer
Besitzer. Zu Tausenden weideten breitstirnige Rinder und muthige
junge Rosse auf den Wiesen, deren Graswuchs unerschöpflich zu
sein schien. Gegen Westen aber wogte die wilde See unabsehbar
und schlug in weißen, langen Brandungswellen gegen die hohen,
schräg abfallenden Deiche. Fern und nah sah man weiße Segel
wie Vogelfittiche über den Wellen schweben, die bald sich näherten,
bald sich entfernten, je nachdem sie land- oder seewärts steuerten.
Gewöhnlich hatte der Anblick des Meeres etwas unbeschreiblich Düsteres,
weil der schwere Wolkenhimmel es mit eintönigem Grau
bedeckte. Nur, wo die Sonne die Wolken auf kurze Momente
theilte, erglänzte die See in blendend weißem oder in rothem Feuer,
und es schien dann, als rollten Massen geschmolzenen Silbers oder
flüssigen Feuers in graublauer Umbordung. Mitten durch diese
auf dem Meere schwimmenden Licht- und Gluthoasen zog hin und
wieder still und sicher, wie von Geisterkräften geführt, der Leib eines Schiffes.
Nicol Mannis beobachtete ausschließlich das Meer, sein Aussehen und was auf demselben vorging, für die beiden Geschwister dagegen hatte die landschaftliche Scenerie ihrer Neuheit wegen mehr Anziehungskraft; denn Beide kamen selten auf das Festland. Geschah es aber, so hielten sie sich meistentheils am Strande auf, und so hatten sie eigentlich noch nie so viel Land und so viel ländliche Wohnungen gesehen, als bei dieser Fahrt durch das Eiderstedt’sche, die sie innerhalb acht Tagen schon zum zweiten Male machten.
Zu Nicol’s Verdrusse kamen sie viel langsamer vorwärts, als er wünschte. Es war in den letzten Tagen häufig starker Regen gefallen, und regnete es nicht, so lag gewöhnlich ein schwerer, feuchter Nebel auf dem Lande. Dadurch waren die Wege auf den Deichkronen schlecht geworden. Auch die kräftigsten Pferde vermochten nur selten in dem schweren Boden zu traben. So kam es, daß die Uthlandsfriesen erst ziemlich spät am Nachmittage das alterthümliche Husum erreichten.
Mannis hätte sich gern von der für ihn sehr langweiligen Fahrt etwas erholt, weil aber der Wind günstig war und der Wasserstand der Hewer ein Aussegeln erlaubte, gönnte er sich kaum so viel Zeit, um sich durch ein gutes Glas Grog zu erquicken. Jens mußte auf der Stelle am Bord des Ewer Alles klar machen, und ehe eine Viertelstunde vergangen war, glitt das wohl gebaute Fahrzeug des Halligmannes schon langsam die Heweraue hinab und erreichte bei Sonnenuntergang die Gewässer der Binnensee.
„Zwei Stunden können wir noch segeln,“ sprach der erfahrene Seemann zu seinem Sohne, „dann müssen wir Anker werfen und die nächste Fluth abwarten. Der Wind ist steif, das Gewölk hebt sich und der Mond wird uns leuchten.“
Nicol erfaßte sofort das Steuer, Jens befolgte schnell jeden Befehl des Vaters, Karen hatte sich wieder, gegen den kälter werdenden Abendwind dichter in ihren Mantel hüllend, auf die schmale Cajütentreppe gesetzt.
Den einsamen Seglern begegnete kein Fahrzeug. Die Insel Nordstrand lag wie ein schwarzer Schatten zur Linken, rechts auf den Deichen zeigte sich im matten Abendscheine des langsam verlöschenden Tages eine wandernde Menschengestalt, die riesengroß erschien. Hinter den Deichen ließ sich Hundegebell hören und in langen Zwischenpausen der Schlag einer Glocke.
Die grauen Wogen der Wattensee rauschten am Bug des sie durchfurchenden Ewers. Das Rauschen verminderte sich aber mit jeder Viertelstunde. Die Bewegung des Wassers, anfangs stark und rollend, ward immer unbedeutender. Bald schlugen die Wellen nur matt und wie spielend gegen die Wände des Ewers, die Segel flappten, und eine Ruhe auf dem Meere wie in der Luft machte sich bemerkbar, als fühlten auch die Elemente das Bedürfniß, eine Zeitlang zu schlummern, um Kräfte zu neuem Wirken zu sammeln.
Die Ebbe war eingetreten, mit ihr zugleich fiel der Wind südlich ab und ward sehr schwach.
„Stop!“ sagte Nicol Mannis, das Steuer scharf anziehend. „Wir wollen hier Anker werfen. Sobald er in diesem Sandgrunde angebissen hat, ruhen wir sicher, wie in Abraham’s Schooß.“
Während Vater und Sohn den Anker auswarfen, erhob sich Karen und trat an’s Steuer. Der Mond blinkte lauschend durch dünne, sanft fortsegelnde Wolken. Er verbreitete ein mildes Dämmerlicht über das Meer und seine Inselbrocken, die jetzt ein poetischer Zauber umwallte. Im Südwest lag Nordstrand mit seinen hohen Deichen, über welche nur steile Dächer, Windmühlenflügel und die Spitzen der Kirchen emporragten. Im Norden hob sich gespenstisch öde aus glitzernder Wattennacht die Hallig Nordstrandischmoor, [358] ganz im Westen schimmerten von höher gebauten Warften einzelne Lichter auf der entfernteren Insel Pellworm. Der Ewer lag, sanft schaukelnd, an sicherem Anker auf dem breiten Meeresschlauche, den die Wattenschiffer „Holmer Fähre“ nennen und welcher in seiner Erweiterung das Fahrwasser der mittleren und neuen Hewer bildet, die zwischen Pellworm und der Hallig Südfall in die Nordsee mündet.
Der Anker saß fest im Grunde. Nicol Mannis näherte sich der Tochter, um das Steuer in einen Riemen zu hängen, damit es sich nicht willkürlich bewegen möge.
„Ein schauerlich-schöner Abend, Vater,“ hub Karen an. „Sieh, wie dort die Watten glitzern und funkeln, als ob sie mit silbernen Geweben überdeckt wären! Und dort, südwestwärts – sieht es nicht aus, als wolle ein unermeßlicher Schwanzstern aus der Tiefe des Meeres heraufsteigen? – Wie das zuckt, blitzt, schillert, im Wasser, auf und über den Wogen! – Kann der Mond im Spiel mit den Wolken solche wunderbare Lichtbilder in die Luft zeichnen?“
„Es sind Möven, meine Tochter, die sich in seinem Lichte baden.“
„Aber der hellweiße Streifen darunter? Das kann doch nicht der Wiederschein des Mondes im Meere sein?“
„Das ist ein Sand,“ fiel Jens ein, der jetzt ebenfalls herankam.
„Rungholt-Sand!“ bekräftigte Nicol. „Ein schlimmer Ort! Schiffer vermeiden ihn gern.“
„Da hat vor alten Zeiten eine Stadt gestanden, die im Meere versunken ist?“ fragte Karen.
„Wie Sodom und Gomorrha,“ versetzte Nicol. „Darum heißen wir’s auch das todte Meer in der Westsee.“
Karen überlief es kalt. War es ein Frösteln der Furcht, das sich ihrer bemächtigte auf dem öden Meere, auf dem jetzt weit und breit kein Nachen, kein Segel mehr sichtbar ward, oder durchschauerte sie der kalte Octoberwind? Sie ergriff den Arm ihres Vaters und zog ihn mit sich fort.
„Es ist doch unheimlich,“ sprach sie, der Cajüte zuschreitend. „Wenn ich ein Schiffer wäre, ich würde mich oft fürchten.“
Nicol lächelte.
„Diese Furcht würde sich bald verlieren,“ erwiderte er. „Sie beschleicht uns Alle, wenn wir die erste Nacht auf der See zubringen. Bald aber gewöhnen wir uns daran und später empfinden wir nichts mehr davon.“
Vater und Tochter stiegen in die Cajüte hinab, Jens blieb allein auf Deck, das er auf- und niederschritt, als müsse er das vor Anker liegende Fahrzeug bewachen.
In dem engen und sehr niedrigen Raume, welcher auf so kleinen Schiffen als Cajüte dient, deckte Karen inzwischen den Tisch, entzündete dann ein Torffeuer in dem winzigen Zugofen, dessen Schornstein beweglich war, um ihn je nach der Richtung des Windes anders stellen zu können, und bereitete Thee. Ihr Vater streckte sich halb liegend in die Coje und schloß die Augen, als wünsche er zu schlafen. Die einförmige Bewegung des Fahrzeuges am Anker, das murmelnde Plätschern der Wellen, die den Kiel umspülten, und die Stille ringsum konnten allerdings dazu einladen. Karen summte während ihres Schaffens ein friesisches Lied, dessen Worte nicht zu verstehen waren. Ueber sich hörte sie die Schritte des auf- und abwandelnden Bruders, der sich dem dunstigen Raume, wo die einzige Thranlampe und der brenzlige Geruch des Torffeuers die Atmosphäre durchaus nicht angenehm machte, so lange wie möglich zu entziehen suchte.
Plötzlich vernahm Karen einen Ruf des Erstaunens. Die Tritte verhallten, es schien ihr, als zittere der Ewer an seinem Kabel, und Nicol, der, wie alle Seeleute, für gewisse Laute ein eigenthümlich scharfes Gehör hatte, erhob sich eilig aus seiner halb liegenden Stellung. Ehe er noch die wenigen Treppenstufen zum Deck hinaufstieg, rief Jens mit starker Stimme seinen Namen.
Nicol antwortete und hob im nächsten Augenblicke den grauen Kopf aus der Luke.
„Was gibt’s?“ fragte er, das Auge nach allen Seiten kehrend. Er gewahrte den Sohn, wie er unfern des Steuers kniete und mit weit vorgebeugtem Kopfe zu lauschen schien.
„Hörst Du nichts?“ lautete die Gegenfrage des jungen Mannes.
Nicol trat dicht an Jens heran. Die Luft war beinahe still, das Meer oder vielmehr der Wattstrom, auf welchem der Ewer vor Anker lag, zeigte nur wenig Bewegung. In weiter Ferne aber, westwärts, verhallte in dumpfem Gesurr das Rauschen der Brandung, die sich an den Schwellen und Gründen vor den Hewer-Mündungen brach.
„Ich höre nichts, als die Brandung,“ sagte der alte Capitain.
„Wirklich? Weiter gar nichts? Auch jetzt nicht?“
Nicol kniete nieder und legte sein Ohr auf den Bord.
„Es sind Glocken, so wahr ich lebe!“ betheuerte Jens.
„Glockengeläut? Und hier?“
„Und der Schall kommt von Westen her! – Jetzt, wie laut – wie helltönend! Hörst Du’s, Vater?“
„Ich höre.“
„Die Glocken von Hooge sind’s nicht.“
„Auch nicht die von Pellworm.“
„Und auf Föhr kann das Geläut’ auch nicht sein.“
„Nein!“
„Der Schall kommt mir gar nicht bekannt vor.“
„Ich kenne ihn.“
„Dann weißt Du, wo man so spät noch die Glocken läutet?“
Nicol stand auf. Er sah geisterbleich aus und zum Erschrecken ernst. Seine Hand deutete nach dem Meere.
„Die Glocken von Rungholt sind’s, mein Sohn,“ sprach er mit halblauter, zitternder Stimme. „Selten nur hört ein Lebender das unterseeische Geläute, wenn es aber des Nachts über den Wogen verhallt, dann gilt’s den Uthlandsfriesen. Die in eitler Lust, frevlem Hochmuth und sündhafter Schwelgerei versunkenen Rungholter müssen die Glocken läuten, wenn den Ueberresten ihrer ehemaligen irdischen Wohnstätte Unheil droht. Wir gehen einem verhängnißvollen Winter entgegen.“
„Hast Du dies Geläut’ schon einmal vernommen?“
„Es vernahmen’s alle Schiffer der Halligen im Herbst vor der letzten fürchterlichen Sturmfluth.“
„Vater!“ rief jetzt Karen und das vom Feuer geröthete Gesicht des Mädchens blickte aus der Luke.
„Still!“ gebot Nicol dem Sohne. „Das Kind soll nichts erfahren. Sie trägt ohnehin schon Sorge genug um Geike. – Gleich, mein Kind,“ fuhr er unbefangen fort, „wir kommen schon. Steig’ wieder hinunter und nimm die Rumflasche aus dem Raume. Der Nachtwind hat mich tüchtig durchkältet.“
Karen war schon wieder in der Lukenöffnung verschwunden. Vater und Bruder folgten und bald saßen alle Drei bei dem mehr als frugalen Mahle, äußerlich munter, im Herzen ernst gestimmt. Von den Geisterklängen der Glocken von Rungholt, die über dem surrenden Meere verhallten, war mit keiner Sylbe die Rede.
Der friesische Winter ist in der Regel milder als der deutsche. Tritt auch zeitweilig starke Kälte ein, so dauert sie doch in Folge der häufig wechselnden Winde selten längere Zeit. Die Westsee- Inseln erfreuen sich deshalb eines sehr gemäßigten Klima’s, was trotz ihrer nördlichen Lage den Aufenthalt auf ihnen angenehmer macht, als man annehmen sollte. Dennoch aber kommen von Zeit zu Zeit Winter vor, in denen die Kälte einen hohen Grad erreicht und die wildesten Schneestürme auf dem Wattenmeere wüthen. Dann friert der Binnensee, d. h. jener Theil des Meeres, der die Inseln und Halligen gegen das Festland hin umfluthet, fest zu und die Bewohner derselben überschreiten die meilenbreite Krystallbrücke zu Fuß, zu Pferd und zu Wagen, um mit dem Festlande in engere Beziehungen zu treten.
Ein solcher Winter stellt sich nur im November ein. Wenige Tage nach Mannis’ Heimkehr lief der Wind nach Norden. Einem mehrstündigen Sturme, welcher alle Halligen viele Fuß tief unter Wasser setzte und manches Menschenleben kostete, folgte undurchdringliches Schneegestöber mit rasch steigender Kälte. Die Schlütte bedeckten sich mit Eis, das sich auf die Priehle erstreckte und alsbald auch die tieferen Wattströme mit schwer treibenden Schollen erfüllte. Der hohe Kältegrad, verbunden mit häufigem Schneefall, fügte Scholle an Scholle, bildete Eishügel und Schneedämme und lange vor Weihnachten glich die ganze Westsee mit ihren zerstreuten Inselbrocken einer großen, mit zahllosen Hügeln und wunderlich gestalteten Blöcken besäeten Ebene. Man konnte ohne Gefahr vom Festlande nach den Inseln gehen, die wieder durch Pfade über das [359] Eis untereinander verbunden waren. Nicht alle diese Eispfade aber konnten für sicher gelten, da unter der krystallenen Decke die tieferen Ströme fortwährend die Fluth- und Ebbe-Bewegung der Nordsee fühlten. Auf diesen Eisbrücken gab es unsichere Stellen in Menge, die sich von den festeren Pfaden jedoch nur wenig unterschieden. Damit nun aber nicht ein Wanderer auf den weiten, öden Eisfeldern auf falsche und gefahrvolle Pfade gerathen möge, wurden die sicheren Eisstege durch aufgepflanzte hohe Stangen, deren obere Enden an großen Stroh- oder Heubüscheln kenntlich waren, bezeichnet.
Auf den Halligen entstand durch diese Witterungsverhältnisse ein ungewöhnliches Leben. Bewohner des Festlandes, die kaum jemals einen Besuch auf den so einsam gelegenen, von einer tückischen See umbrandeten Inseln gemacht hatten, kamen jetzt zu Schlitten über das Eis. Auf allen Warften gab es Fremde, die mit großer Gastfreiheit empfangen und bewirthet wurden. Man veranstaltete kleine Feste, selbst für etwas Musik und Tanz ward gesorgt. Kurz, die Gewohnheiten der stillen Halligleute schienen ganz andern Sitten Platz machen zu wollen.
Auch auf Hooge ging es sehr lebhaft zu. Capitain Mannis war ein Mann von Ruf. Durch seine Gattin den Festlandsfriesen verwandt, zählte er unter diesen eine Menge Vettern und Freunde. Von diesen machten namentlich die Jüngeren ohne Ausnahme Ausflüge nach den Westsee-Inseln.
So fänden sich denn um die Weihnachtszeit ganze Gesellschaften zusammen, welche den gemeinsamen Beschluß faßten, das Neujahr auf diesem Archipelagus unter Verwandten oder Bekannten anzutreten.
Bei Nicol Mannis trafen am Weihnachtstage zwei junge Mädchen und vier Männer ein, um dem Vetter Capitain, wie sie den alten Halligmann nannten, auf ein paar Tage Gesellschaft zu leisten. Es waren Landleute aus Bredstedt, wohlhabend, lebensfroh, zu Lust und Scherz aller Art aufgelegt. Das originelle Leben auf der Hallig amüsirte sie und da sowohl der alte Mannis wie dessen Kinder ihre Freude über den unvermutheten Besuch offen an den Tag legten, so herrschte alsbald die ungezwungenste Heiterkeit im Hause des Halligmannes.
Schon am zweiten Tage ihres Verweilens äußerten die Verwandten den Wunsch, weitere Ausflüge über das zugefrorene Meer zu machen. Die im winterlichen Schmuck noch seltsamer als im Sommer sich präsentirenden Wohnungen der Halligmänner reizten ihre Neugier. Sie wollten mit eigenen Augen sehen und sich gleichsam hineinleben in das Treiben und Thun dieser durch die Natur von aller Welt so abgesonderten Menschen.
Taken und Jens waren sogleich erbötig, ihre Vettern als Führer zu begleiten. Die beiden jungen Mädchen zogen es vor, Karen Gesellschaft zu leisten und von der Höhe der Warft aus die Stege durch des Capitains treffliches Fernrohr zu beobachten, die nach allen Richtungen hin über das Eis liefen und erst weit draußen im Westen sich verloren.
Am Tage konnte Niemand ahnen, daß man dem wogenden Meere so nahe wohne, des Nachts aber, wenn Alle in das Innere der Häuser sich zurückzogen, vernahm man gewöhnlich das hohle Brausen der Nordsee. Es klang wie das grollende Murren eines tief erbitterten, verschlossenen Gemüthes oder wie dumpfes Drohen einer Macht, die sich ihrer Kraft nicht recht bewußt ist.
Fünf volle Wochen hatte der Frost schon angehalten. Der Wind blies immer aus Ost oder Nordost; selten nur nahm er, dann aber stets auf Wenige Stunden, eine mehr nordwestliche oder südliche Richtung an. Helle Luft wechselte ab mit bedecktem Himmel. Häufig fiel Schnee, gewöhnlich bei sehr lebhaftem Winde. Immer aber blieb die Luft kalt und der Thermometer zeigte auch an den mildesten Tagen um die Mittagszeit noch mehrere Grad Kälte.
Die Verwandten hatten in Begleitung ihrer erfahrenen Vettern schon die nahegelegenen Halligen durchstreift und bei diesen für sie höchst ergötzlichen Wanderungen alle bedeutenderen Persönlichkeiten kennen gelernt. Da man weite Umwege machen mußte, um die gefahrvollen Stellen zu vermeiden, nahmen diese Besuche ziemlich viel Zeit weg. Man bedurfte eines ganzen Tages, um nach Langeneß zu kommen, eines anderen, um Grode zu besuchen. Fühlten aber die jungen Abenteurer erst festen Boden unter sich, dann verweilten sie gewiß länger, als es ihre Absicht war; denn die treuherzige Offenheit, das gerade, ehrliche Wesen und das ungewöhnlich starke Gottvertrauen, das sie bei allen Halligbewohnern wiederfanden, hielt sie immer von Neuem fest und ließ sie erquickende Stunden und Tage verleben.
Nicol freute sich regelmäßig auf die Rückkehr seiner Gäste. Man dachte gar nicht daran, sich bald zu trennen, wohl aber gab der alte Capitain gern das Versprechen, im Sommer mit seinem ganzen Hause auf ein paar Wochen nach dem Festlande zu kommen. Auch sogar den Vorschlag, alsdann die Vermählung seiner Tochter Karen mit Geike, der schon im Frühjahr zurückerwartet wurde, bei seinen Verwandten zu feiern, hieß er nach einer längeren Besprechung mit Ellen gut.
Eines Abends, als die Familie Mannis mit ihren Gästen wieder in fröhlicher Stimmung um den Theetisch und resp. bei ihrem trefflichen Grog saß, ließ Taken die Bemerkung fallen, die Vettern müßten eigentlich vor ihrer Rückreise auf’s Festland auch noch eine der Inseln und ihre Dünen besuchen.
„Im Winter war ich selber noch nie auf einer Düne,“ schloß er. „Ich möchte schon wissen, wie sich von ihren beschneiten Gipfeln jetzt die Nordsee ausnimmt.“
„Das müssen wir sehen!“ fiel sogleich lebhaft der Jüngste der Vettern, ein starker, äußerst gewandter, nicht selten aber auch waghalsiger Mann von einigen zwanzig Jahren, ein. „Wie ist’s? Brechen wir morgen auf?“
„Ich bin dabei,“ sprach Taken. „Nur bedarf es größter Vorsicht, wenn wir ohne Unfall den Strand von Amrom erreichen wollen. Wir werden uns mit Tauen und tüchtigen Kluthstöcken versehen müssen. Wie man damit umgeht, das habt Ihr uns ja bereits gelehrt.“
„Nach Amrom wollt Ihr?“ fiel Nicol ein. „Und über’s Eis? Laßt das lieber bleiben.“
„Das Eis trägt,“ sagte Jens. „Erst vor einigen Tagen erzählten uns Amromer Fischer aus Nebel, daß sie ohne den geringsten Aufenthalt nach Westerlandföhr über das Eis gegangen wären.“
„Recht,“ erwiderte Nicol. „So lange der Wind steht und die Thermometer sich nicht heben, ist gar keine Gefahr dabei. Wer aber will sagen, wie lange das noch dauern wird!“
„Im gegenwärtigen Winter hat das keine Noth, Vater,“ tröstete Taken. „Der Dreikönigstag ist mit scharfem Frost eingetreten und der Wind blies östlich beim ersten Mondviertel. Das Alles sind Zeichen, daß wir in den nächsten Tagen noch keine Wetterveränderung zu gewärtigen haben.“
Nicol brachte noch verschiedene Bedenken vor, der Wunsch seiner jungen Vettern aber, die ihnen völlig unbekannte Wildniß selten besuchter Dünen kennen zu lernen, entkräftete alle Einwürfe des alten Mannes. Zuletzt achtete man kaum noch auf seine Rathschläge. Die jungen, abenteuersüchtigen Männer beschlossen, schon am nächsten Morgen aufzubrechen, und rüsteten sich zu der sie reizenden Partie in jeder Hinsicht, ehe sie sich zur Ruhe begaben.
Mit Vorbedacht verließen sie, da Nicol Mannis entschieden darauf drang, sehr früh das Lager. Der Mond stand noch am kalten, blaßgrauen Winterhimmel, und bestreute die Schnee- und Eiswüste mit funkelnden Silberflocken. Es war still und kalt. Wie Riesenkegel, hier hell erleuchtet, dort finster, lagen die zerstreuten Warften der Hallig. In keiner noch bemerkte man Leben.
Nicol gab seinen Gästen das Geleit bis zur Treppe der Warft. Hier schüttelte er Allen noch einmal die Hände, warnte sie vor unzeitigem Uebermuth und wünschte ihnen das beste Glück auf den Weg.
„In drei oder vier Tagen sind wir wieder da,“ rief Taken dem Vater zu die Stufen hinabschreitend. „Es kommt Alles darauf an, wie uns die Partie behagt, und welche Aufnahme wir auf der Insel finden.“
Mannis antwortete nicht. Er lehnte sich an die Umfriedigung und sah den Fortgehenden, die quer über die Hallig wanderten, nach, bis sie im Schatten der Kirche seinen Blicken entschwanden. Dann ging er zurück in seine Wohnung, nahm den Kalender von der Wand und sah nach der Fluthtabelle.
„In drei Tagen, ist Vollmond,“ sprach er nachdenklich. „Hochwasser haben wir dann um Mittag und Mitternacht. Sie können doch Recht haben, das Wetter wird sich halten, wenn der Wind nicht rasch umläuft.“
Wohlgemuth schritten die Gebrüder Mannis mit ihren lebhaften Gefährten über das Eis. Sie sahen bald ein, daß der Rath ihres Vaters begründet gewesen sei, denn ohne den schimmernden [360] Glanz des Mondes würden sie schwer die Pfade gefunden haben, die in zahllosen Krümmungen sich über die zugefrorenen Watten schlängelten. Als ein paar Stunden vor Sonnenaufgang der Mond unterging, lag die schwierigste Wegstrecke hinter ihnen, und bald darauf betraten sie die östliche Küste von Langeneß.
Auf dieser Hallig erwarteten sie den Tag. Einige Jugendfreunde der Gebrüder Mannis schlossen sich den Wanderern an, um Vergnügen und Gefahren derselben zu theilen. Die Gesellschaft bestand jetzt aus zehn Personen. Von diesen waren die Langenesser mit Büchsen bewaffnet, weil sie am Strande von Amrom Seehunde anzutreffen hofften, die in der Westsee in ziemlicher Anzahl vorkommen und von den Halligbewohnern häufig erlegt werden.
Unter Scherzen und Lachen zog die kleine Karawane weiter. Die mühsam zu beschreitenden Eispfade gaben zu allerhand Bemerkungen Anlaß, und boten nicht selten Gelegenheit dar, den entschlossenen Muth und die körperliche Gewandtheit der jungen Leute in das hellste Licht zu setzen. Bald gab es übereinander geschobene zackige oder spiegelglatte Eisblöcke zu erklimmen, bald mußte über gefährliche Spalten gesetzt werden, bald brach man durch weißliches Schneeeis, das eine hohle Brücke bildete, und durch sein Aussehen auch die Erfahrensten täuschen konnte. Häufig hörten die Wanderer fern und nah ein knatterndes Geräusch, die Eisdecke bebte, ein dumpfes Gurgeln ward vernommen, und gleich darauf zerklüftete unter heftigem Krachen die unebene Brücke.
Schon vertraut mit diesen Erscheinungen, empfanden die eingebornen Halligmänner keine Furcht darüber. Nicht einmal beunruhigt zeigten sich diese unerschrockenen, an Gefahren aller Art und an ununterbrochene Kämpfe mit den Elementen gewöhnten Naturen. Die Festlandsfriesen blieben ab und an lauschend stehen, nicht aber aus Furcht, sondern nur, um die für sie neuen und deshalb interessanten Erscheinungen genauer beobachten zu können. Der jüngste Vetter, Hendry, that es sogar manchem seiner Begleiter zuvor. Er war beinahe immer voran, unermüdlich, der Heiterste von Laune, der Keckste, wo es galt, rasch einen Entschluß zu fassen und ihn eben so schnell auszuführen. Ja, seine Keckheit artete bisweilen dergestalt in verwegenes Wagen aus, daß selbst seine Vettern ihn zu warnen für Pflicht hielten.
Es dämmerte schon, als die Gesellschaft die Häusergruppen auf Westerlandföhr mehr und mehr aus dem kalten Nebel auftauchen sah. Die hohen Spitzen der St. Johannis- und St. Laurentiuskirche hatte sie nie aus dem Gesicht verloren. Sie dienten den Fußwanderern ebenso wie in der guten Jahreszeit den Schiffern als sichere Wegweiser.
Die späte Tagesstunde und die große Anstrengung geboten den Männern, auf Föhr zu bleiben. Alle bedurften nach den überstandenen Strapazen der Ruhe. Auch wäre selbst bei hellem Mondschein die Ueberschreitung der mit Eis bedeckten Watten und Priehle für Alle ein höchst gefahrvolles Unternehmen gewesen, da auch den Uthlandsfriesen die jetzt vor ihnen liegenden Eisstege nicht bekannt waren.
Taken schlief unruhig trotz der Ermüdung. Er mußte immer an seinen Vater denken. So oft er die Augen schloß, sah er regelmäßig im halben Traume den alten Mann, wie er mit ernsten, besorgten Zügen auf der Warft stand, und westwärts nach der See hinausblickte. Dies immer von Neuem wiederkehrende Traumbild beunruhigte ihn oder störte doch seine unbefangene Heiterkeit. Etwas trug wohl auch das Pfeifen des Windes dazu bei, der sich während der Nacht erhob.
Der Anblick von Land und Watten am Morgen war düster. Dunkle Schneewolken bedeckten den Himmel, und ein fahles, schmutziges Roth hing wie ein zerrissener Vorhang im Osten, den Aufgang der Sonne verkündigend. Ihre Strahlen vermochten das Gewölk nicht zu durchbrechen; es ward vielmehr noch dichter, als die Friesen sich zum Aufbruche rüsteten. Um sicher zu gehen, nahmen sie einen bekannten Schlickläufer als Führer mit.
„Das Wetter scheint sich doch ändern zu wollen,“ meinte Taken, als sie die holperige Eisfläche betraten, welche Föhr jetzt von Amrom schied.
„Hm,“ brummte der jütische Einwanderer – denn ein solcher war ihr Führer – „der Wind steht noch.“
Das Gespräch mit dem einsylbigen Menschen ward nicht weiter fortgesetzt. Es wehete stark, bald aus Ost, bald aus Nordost. Die Dünengipfel auf Amrom waren in dem Nebel, der sie einhüllte oder vielmehr aus ihnen aufzubrodeln schien, nicht zu erkennen. Schaaren grauer Möven schwärmten über offenen Stellen im Eise und flatterten schreiend hoch auf, wenn der Zug der Wanderer sich ihnen näherte. Die ganze Gesellschaft schien verstimmt zu sein. Jeder ging für sich, und wechselte kaum einige Worte mit seinem Vor- oder Hintermanne. Gegen elf Uhr ward Amrom erreicht. Der Wind blies jetzt aus Norden, ein feiner Schneestaub rieselte aus dem Gewölk nieder.
„Es kann Sturm geben zu Nacht,“ sprach Jens. „Bei solchem Wetter wird eine Besteigung der Dünen wenig lohnend sein. Ich schlage vor, bis morgen zu warten.“
„Hast Du bange?“ fiel lachend der übermüthige Hendry ein. „Pflege Dich, derweil wir Andern uns von jenen Sandspitzen die mit Eisblöcken spielende Nordsee ansehen wollen.“
„Bange?“ erwiderte fast beleidigt der junge Mannis. „Ich kenne keine Furcht, aber ich bin für eiligen Aufbruch, wenn wir das Unternehmen ausführen wollen.“
Niemand von der Gesellschaft widersprach. Alle brachen auf nach den Dünen. Einzelne Bewohner Amroms sahen den jungen Männern verwundert nach, ein warnendes oder bedenkliches Wort aber entschlüpfte Keinem. Jeder hielt die Fremden für kühne Jäger.
Die Dünen boten das Bild einer gänzlichen Wildniß dar. In den kesselartigen Thälern lag tiefer Schnee, die steilen Gipfel glänzten von Eis, und der immer wilder brausende Wind trieb dichte Wolken eisiger Schneenadeln, mit Sandstaub gemischt, in solchen Massen über sie hin, daß Niemand ein Auge zu öffnen vermochte.
Dennoch ließen sich die abenteuerlustigen jungen Männer nicht abschrecken, ihre Zwecke zu verfolgen. Je nach Lust und Neigung zerstreuten sie sich in den Dünenthälern nach Süd und Nord. Einige, welche die Spuren von Kaninchenbauen entdeckten, die gerade in den Amromer Dünen in großer Menge vorhanden sind, machten es sich zum Vergnügen, die harmlosen Thierchen in ihrer Winterruhe zu stören. Andere kletterten über die am Strande zusammengeschobenen Eisschollen, und suchten nach Schalthieren, noch Andere wagten sich weiter hinaus auf das sehr rissige Eis, und verlockten zu gleichem Wagniß später auch die meisten ihrer Gefährten, als es ihnen glückte, ein paar Seehunde zu entdecken und durch wohlgezielte Schüsse zu verwunden.
Im Eifer der Jagd achtete Keiner mehr der Gefahren, denen sich Alle aussetzten. Die Seehunde waren schwer zu transportiren, und doch wollte man die werthvolle Beute nicht im Stiche lassen. Zwei waren in nicht gar langer Zeit und unter verhältnißmäßig geringen Anstrengungen bereits an’s Land geschafft. Damit jedoch nicht zufrieden, eilten die glücklichen Jäger von Langeneß weiter hinaus. Sie stießen bald auf offenes Wasser; weiter nordwärts aber zeigten sich wieder breite Flächen harten Eises, an dessen weit vorgeschobenen Rändern die Wogen der Nordsee in Schaumsäulen sich brachen. Auf dieser Eisinsel, die man springend erreichen konnte, lagerten mehrere Robben. Den größten erlegte eine Büchsenkugel des geübtesten Schützen. Das getroffene Thier sank unfern der Brandung auf dem eisigen Bette todt zusammen. Es hier den Wellen zu überlassen, kam den muthigen Uthlandsfriesen nicht in den Sinn. Durch Rufe und Zeichen lockte man auch die bereits an den Strand Zurückgekehrten abermals auf die zerbrechliche Eisbrücke. Alle folgten dem Rufe, ohne auf die bedenkliche Bewegung der großen Fläche zu achten, über die jetzt ein Schauer feinen Hagels hinstäubte, den der heulende Nordwest vor sich herjagte.
Nach Verlauf einer halben Stunde war die ganze Gesellschaft am westlichen Rande des Eisfeldes versammelt. Den vereinigten Anstrengungen der kräftigen Männer gelang es, das gewichtige Thier von der schon umbrandeten Stelle fortzuschaffen. Jetzt umschnürte man es mit Stricken, und indem die vier Jäger, deren Eigenthum es ja war, unter lautem Halloh es an den Stricken fortzogen über das Eis, eilten die Uebrigen voraus, um bei einigen schwer zu passirenden Stellen für Erleichterung des Transportes Vorkehrungen zu treffen.
Seltsamer Weise konnten diese den Punkt jetzt nicht wiederfinden, wo sie vom sandigen Strande aus durch einen Sprung die mehrere Fuß dicke Scholle erreicht hatten. Ein breiter Streifen wogenden, brausenden Salzwassers wälzte sich zwischen Scholle und Land, das durch den jetzt in dichten Flocken fallenden Schnee kaum noch in unklaren Umrissen zu erkennen war.
Der bekannte Nürnberger Bildhauer, Daniel Burgschmiet, der Rüstige, der vor kurzer Zeit noch in voller Manneskraft Stehende, er mußte vor Kurzem Hammer und Meißel an den Tod abgeben. Das geschah so plötzlich, daß seine Freunde und Bekannten es kaum glauben, kaum für möglich halten konnten. Hatten sie ihn doch jüngst noch gesehen in seinen Werkstätten, wie er arbeitete von früh bis spät; wie er, umgürtet mit dem Lederschurz, in der Gießhütte stand, umringt von seinen Gehülfen, – oder auch, ohne Schurz und nur bedeckt vom leichteren Arbeitskleide, und ohne Gehülfen, allein in seinem Atelier zwischen Marmorblöcken saß – beginnend, fortführend, vollendend – schaffend.
Lassen wir kurz sein Leben auf diesem Blatte an uns vorübergehen.
Wir treten ein in eine kleine, geringe Werkstätte. Wir sehen da Holzspulen, Pfeifenrohre und Pfeifenköpfe, Kegel und Kegelkugeln, Zwirnhalter und Nadelbüchsen, Armbrüste und Steckenpferde, – der Knabe Daniel Burgschmiet sitzt an der Holzdrehbank, – wird ein Drechsler.
Er hält es dabei nicht aus, – in ihm treibt und gährt es. Solche Werkstätte wird ihm zu enge, befriedigt ihn nicht, – aber es ist keine Hand da, die auf andere Bahn mit anderm Ziel ihn stellt.
Da hilft er sich selbst, – er zieht herum mit einem Automatentheater, führt dieses Theater durch halb Deutschland. In ihm noch immer keine Ruhe, keine Befriedigung, – wohl aber die noch geschlossene Knospe einer echten Künstlernatur. Und diese Knospe schwellt und treibt, schießt in die Blüthe und ruht nicht, bis sie vollkommen aufgebrochen ist, bis sie sich entfaltet hat zur vollständig gebreiteten, vollendeten Blume.
Erst als er das Automatentheater abgegeben hatte, beschäftigte sich Burgschmiet mit der eigentlichen Bildnerkunst. Er war nun schon in das Mannesalter getreten, – aber sein Talent entfaltete sich schnell unter Fleiß und Begeisterung.
Betreten wir die Treppe des Waisenhauses zu Nürnberg, so sehen wir zwei Figuren von Waisenhauszöglingen in ihrer alten Tracht, – und diese zwei Figuren sind eigentlich die erste größere Arbeit Burgschmiet’s.
Bedeutender tritt er auf mit der Statue Melanchthon’s, welche bei der dreihundertjahrigen Stiftungsfeier des Nürnberger Gymnasiums aufgestellt wurde. Burgschmiet arbeitete sie ohne Modell, nahm nichts dazu, als die Zeichnung, welche Heideloff gearbeitet hatte. Das war nicht leicht. Denn ehe man zur Ausführung eines Bildwerkes in Stein schreitet, fertigt man bekanntlich für die Arbeit selbst Skizzen und Modelle in einer weicheren Masse, gewöhnlich in Thon, die man sodann in Gyps abgießt. Auch dem geübteren Meister ist in der Regel ein solch genügendes Vorbild nöthig, weil im Stein, wenn einmal zu tief geschlagen wurde, keine ausgleichende Berichtigung mehr möglich ist. Nur kurz sei hier erwähnt, daß Einem, der sonst so hoch steht, dieses Versehen sehr oft begegnete. Michel Angelo war’s. Sein Feuergeist verschmähete Skizze [362] und Modell. Er nannte derartige Vorbereitungen kleinlich und geisttödtend.
Doch zurück zu Burgschmiet. Der Magistrat in Nürnberg wollte dem berühmten Maler Albrecht Dürer, der ja auch in Nürnberg lebte und schuf und daselbst begraben liegt, ein Standbild aus Erz widmen. Das Modell dazu fertigte Rauch in Berlin an. Dieser bestimmte zugleich, daß Burgschmiet den Guß vollziehen solle. Der Letztere nahm das an, reiste auch, um in der Kunst der Gießerei noch Gutes zu sehen, nach Paris, kam dann zurück und – aus seiner Gießhütte ging dann die berühmte Dürerstatue hervor.
Und diese nicht allein. Von seinen größeren plastischen Gebilden, alle geschaffen in der Gießhütte zu Nürnberg, sind weltberühmt: die Statue Beethoven’s in Bonn, Kaiser Karl’s in Prag, Martin Luther’s in Möra.
Ebenso weltberühmt wird sein Radetzky-Denkmal werden, dessen Kosten sich auf 80,000 Gulden C.-M. belaufen. Diese Arbeit war Burgschmiet’s letzte. Mit Recht beklagt dies nicht nur jeder Bildhauer, Erzgießer und Kunstfreund, sondern Jeder, der es weiß, wie viel ein edler Mensch, ein ehrenwerther Charakter wiegt. Deutschlands Kunstgrößen schätzten ihn, Rauch war mit inniger Hochachtung ihm zugethan, – aber das erst macht uns ihn liebenswürdig, daß viel Tausende in Nürnberg aufrichtige Liebesthränen für ihn hatten, als er starb, und ein warmes Herz für ihn, da er lebte. Wer hätte diesen Mann auch nicht lieben sollen! Leistung und Verdienst Anderer, wo und wie er es auch fand, erkannte er freudig an, während er selbst bescheiden auf sich und seine eignen Leistungen blickte, und nie sich erhob über die Grenze seines Verstehens und Könnens, auch das, was er schuf, heraufholte aus dem eignen, innern Lebensborn.
An seinem Schwiegersohn, Ch. Lenz, besaß er einen tüchtigen Mitarbeiter, und es war ihm hohe Freude, wenn es hieß: „Burgschmiet-Lenz zum Guß übertragen.“ Uebrigens lebte er sehr einfach, genügsam, still. Die liebste Gesellschaft war ihm seine Familie und der Kreis seiner Freunde.
Jeder Reisende sagt, daß die Täuschung, als sei man in frühere Jahrhunderte versetzt, fast in keiner Stadt so lebhaft hervorgebracht werde, als in Nürnberg. – Kommt das nur von den Mauern und Giebeln der Wohnhäuser? Von den Dächern und Zinnen der Kirchen? – O, es ist wohl hauptsächlich der Geist, der durch die Bilder und Bildwerke geht, mit welchen Kirche und Haus geschmückt sind. Und das ist der Geist der Männer, welche Nürnberg die Seinen nannte.
Gebrüder Schonhofer, Adam Kraft, Michael Wohlgemuth, Albrecht Dürer, Peter Bischer und Andere noch, die als Sterne leuchteten in Nürnberg, hat es die Seinen genannt. Nun auch den Bildhauer und Erzgießer Daniel Burgschmiet. Und wie Jene, obgleich sie erloschen, doch immer noch nachleuchten, so wird es auch Dieser.
Allgemein ist der Unterschied bekannt, der zwischen dem bei
der Verarbeitung des Zuckerrohrsaftes und der des Rübensaftes auf
Zucker abfallenden Syrup, zwischen dem indischen (holländischen oder
Hamburger) und dem Rübensyrup stattfindet. Beide Syruparten
enthalten zwar annähernd dieselben Quantitäten Rohr-, Trauben-
und Schleimzucker, unterscheiden sich aber auffallend in dem Geschmack,
denn während dieser bei dem indischen Syrup höchst intensiv
süß und schwach brenzlig ist, zeigt er sich bei dem Rübensyrup
nur sehr wenig süß, sondern mehr brenzlig und zugleich auffallend
salzig und höchst widerlich rübenartig, was dadurch bedingt
wird, daß der letztere neben den genannten Zuckerarten ziemlich
viel Salze und die eigenthümlich schmeckenden (und riechenden)
Rübenbestandtheile enthält. Diese Beimischungen und der durch sie
veranlaßte Geschmack und Geruch des Rübensyrups machen ihn als
Versüßungsmittel wenig brauchbar und vermindern seinen Werth
so sehr, daß er bei den jetzigen Handelsverhältnissen kaum 1/8 des
Preises des indischen Syrups hat; seine Verwendung beschränkt sich
auf die zur Bereitung von Stiefelwichse und auf Spiritusbrennerei,
und die Rübenzuckerfabrikanten sind nicht selten in Verlegenheit, sich
seiner zu den billigsten Preisen zu entledigen und ziehen es dann
vor, ihn als Viehfutter oder Düngematerial zu benutzen oder durch
Verbrennen und Einäschern auf Pottasche, Soda und schwefelsaure
Salze zu verarbeiten.
Die Menge des in dem Rübensyrup enthaltenen wirklichen Zuckers, d. h. des kiystallisirbaren Rohrzuckers, ist nicht unbedeutend, denn sie beträgt gegen 40 Procent. Bedenkt man, daß für den Augenblick der Centner Rübensyrup aus den Fabriken für 20 Silbergroschen verkauft wird, der Fabrikpreis des Zuckers – wie er jetzt gewöhnlich in den Fabriken dargestellt und zur weiteren Reinigung an die Raffinerieen abgegeben wird – aber 11 Thaler ist und der Centner Syrup 44 Pfund eines solchen Zuckers enthält, so findet man, daß den Rübenzuckerfabrikanten ein großer Verlust beim Verkauf des Syrups treffen muß, denn er läßt die 44 Pfund Zucker, die er abgeschieden für 4 Thlr. 12 Sgr. verwerthen würde, zu 20 Sgr. ab. Wenn während einer Campagne, d. h. während der zwischen dem September und März liegenden Betriebszeit einer Rübenzuckerfabrik 2000 Centner Rübensyrup abfallen, so hat der Fabrikant daraus nur eine Einnahme von 1333 1/3 Thalern; würde er daraus den ganzen krystallisirbaren Zucker abscheiden, also nach obiger Annahme davon 800 Centner erhalten, so müßte er daraus 8800 Thaler entnehmen, wenn er keine Abscheidungskosten zu berechnen hätte, worüber weiter unten zu vergleichen ist.
Die verschiedenen in dem Rübensyrup vorkommenden ursprünglichen (und auch während der Bearbeitung des Rübensaftes entstandenen) Stoffe verhindern die Krystallisation des darin enthaltenen Rohrzuckers, denn wenn jener auch sehr lange bei einer niedrigen Temperatur sich überlassen bleibt, so scheidet sich eine verhältnißmäßig um sehr geringe Menge von diesem in Krystallen aus und die größte Menge desselben bleibt in der dickflüssigen Mischung. Der Weg der Krystallisation ist also für die Ausscheidung des Zuckers unzulässig und man setzt den Syrup in den Fabriken nur deshalb der Wintertemperatur aus, weil dann noch ganz ohne Kosten etwas krystallisirter Zucker erhalten werden kann; der dann übrig bleibende Syrup ist eben die Handelswaare mit 40 Procent Zucker. Zuckerfabrikanten wie Chemiker suchten auf einem anderen Wege zum Ziele zu kommen und gelangten auch zum Theil insofern dahin, daß sie den ganzen Zucker oder den größten Theil desselben aus dem durch Krystallisation nicht mehr zu trennenden Syrup abschieden, aber die aufgefundenen oder angewandten Mittel und Wege waren entweder wegen der Höhe der Scheidungskosten oder aus anderen Gründen für die fabrikmäßige Befolgung nicht zulässig und der Rübensyrup blieb die Last der Fabrikanten.
So lange die Zuckerrüben noch zu mäßigen Preisen zu kaufen oder zu bauen waren, das Tagelohn und das Heizmaterial sich in den hergebrachten Preisen hielten und die Rübensteuer nur wenige Groschen für den Centner betrug, so lange war auch der unverhältnißmäßig billige Preis des Rübensyrups ohne wesentlichen Einfluß auf den Ertrag der Rübenzuckerindustrie, insofern nur der gewonnene Zucker gut verwerthet wurde, was bis vor einigen Jahren fast durchgehends der Fall war. Jetzt aber, wo die Rüben um das Doppelte im Preise gestiegen sind oder für den zu ihrem Anbau dienenden Boden eine hohe Rente zu berechnen ist, wo ferner Arbeitslohn und der Preis des Heizmaterials sich um 1/3 bis 1/2 erhöht haben und endlich die Rübensteuer wesentlich gesteigert werden soll, außerdem aber der Zucker sehr niedrig im Preise steht und nur unsichere Hoffnungen auf bessere Verwerthung vorhanden sind, da hängt die Zukunft der Rübenzuckerindustrie von der höchsten Ausbeute an Zucker ab, welche nur dadurch erzielt werden kann, daß entweder die ganze Zuckerfabrikation eine durchgreifende, allen im Safte enthaltenen Zucker umfassende Verbesserung erfährt oder – wenn diese nicht zu erzielen – der jetzt abfallende Syrup möglichst ausgebeutet werden muß.
Den letzteren Theil, die Zuckerausbeutung des Rübensyrups, habe ich seit mehreren Monaten auf dem Wege des Experimentes verfolgt und bin nach einer Reihe von Versuchen endlich zu dem Ziele gelangt, die Verhältnisse kennen zu lernen, unter denen beinahe [363] der ganze im Syrup enthaltene Zucker auf eine billige Weise gewonnen und das Verfahren fabrikmäßig ausgeführt werden kann. Ich habe nämlich bei Anwendung dieses Verfahrens in der Verarbeitung eines und desselben Syrups stets 37 bis 37 1/2 Procent körnig krystallinischen Zucker erhalten, welcher ohne irgend eine Reinigung durch Knochenkohle oder ein anderes Mittel von hellbräunlich gelber Farbe und von rein süßem, vollkommen rübenfreiem Geschmack ist; zugleich gewinne ich dabei ein viel gebrauchtes und daher leicht und gut zu verwerthendes Nebenproduct, ohne daß der Abfall von dem verarbeiteten Syrup seinen Werth als Material zum Düngen oder zur Gewinnung von Pottasche und dergleichen verliert.
Da nur Zahlen die richtigen Anhaltepunkte für die Rentabilität irgend einer commerciellen und industriellen Unternehmung geben, so will ich auch hier über mein Verfahren die betreffenden Data anführen. Bei einer Bearbeitung von zehn Centnern Syrup, diesen zu dem jetzigen Preise von 20 Sgr. für den Centner veranschlagt, betragen die Kosten für Syrup, Scheidungsmaterialien und Feuerung, ausschließlich des Arbeitslohnes, nahe 35 Thaler der Ertrag hingegen, wenn der gewonnene Zucker zu 11 Thaler für den Centner berechnet wird, ergibt nahezu 54 Thaler. Abstrahirt man von der Gewinnung des angedeuteten Nebenproducts, so stellen sich zwar die Kosten für die Bearbeitung von zehn Centnern Syrup nur auf etwas über 28 Thaler, dagegen gewährt der Ertrag aber auch nur etwas über 41 Thaler. Die Arbeitslöhne für erstes Bearbeitungsweise zu drei, für letztere zu zwei Thaler angeschlagen, sind gewiß nicht zu niedrig berechnet und es ergibt sich dann für ersteren Fall ein Gewinn von 16, für letzteren von 11 Thalern, ein Gewinn, der für einen Abfall von 2000 Centnern Syrup während einer Campagne zu einer beträchtlichen Summe, zu 3200 Thalern in dem einen und zu 2200 Thalern in dem anderen Falle steigt, so daß also jene 2000 Ctr. Syrup statt zu 1333 1/3, sich zu 4533 1/3, resp. zu 1/3 Thaler verwerthen, wobei noch nicht der Werth in Anschlag gebracht ist, den der Syrupsabfall als Düngematerial oder für die Verwendung zur Gewinnung von Pottasche und dergleichen behält.
Für die Einführung meines Verfahrens in den Rübenzuckerfabriken spricht noch der Umstand ein bedeutungsvolles Wort, daß mit Ausnahme einer wenig kostenden Vorrichtung die Lokalitäten und Utensilien, die bereits vorhanden, brauchbar sind und diese zu einer Zeit, wo die Rübensaftbearbeitung ruht, für die Ausbeutung des während der Campagne abgefallenen Syrups benutzt werden können. Ist die Quantität des in einer Zuckerfabrik vorkommenden Syrups nicht so bedeutend, um volle Beschäftigung während des Frühjahres und Sommers in einem den vorhandenen Utensilien und den Arbeitskräften entsprechenden Verhältniß und in Folge dessen mit der möglichst großen Ertragsfähigkeit zu gewähren, so mögen mehrere benachbarte Fabriken zur gemeinschaftlichen Ausbeutung des Syrups zusammentreten. Aber auch die Begründung eines besonderen Etablissements, das sich einzig und allein mit der Ausbeutung des Syrups nebst der Bereitung des angedeuteten Nebenproductes und der Verwendung des Syrupabfalles zu Fabrikation von künstlichem Dünger oder Pottasche und dergleichen befaßt, würde den Unternehmern eine sehr hohe Rente gewähren.
Die auf allgemeine Unterhaltung und Belehrung basirte Tendenz dieser Blätter gestattet den Abdruck der obigen Mittheilungen, ohne auf das Specielle derselben weiter einzugehen, worüber ich auf mündliche oder schriftliche Anfragen bereitwillig Auskunft geben werde.
Unter den Männern von Intelligenz und Talent, welche in den dreißiger Jahren dem Düsseldorfer Künstlerleben ein erhöhtes Relief verliehen, war unbedingt Immermann, der berühmte Verfasser des Münchhausens, der Hervorragendste und Einflußreichste. Nicht als hätte er es sich angelegen sein lassen, auf den Charakter der Schule im Allgemeinen oder auf die Richtung einzelner Künstler einzuwirken; dazu hielt er sich bei allem freundschaftlichen Verkehr einestheils doch immer noch zu fern, war zu wenig anschließend und aus dem Innersten mittheilend, und anderntheils mit seiner eigenen Kunstanschauung noch zu sehr in der Ausbildung begriffen. Daher benutzte er den Umgang mit den Künstlern zunächst zur Förderung seines eigenen Urtheils, zur Prüfung seiner Reflexionen, zur Bereicherung seiner positiven Wahrnehmungen. Seine zuerst in der Pandora erschienenen „Düsseldorfer Anfänge“ waren das Resultat dieser seiner zwölfjährigen Studien und Beobachtungen. Die dort ausgesprochenen Ansichten über das Wesen der Kunst brachte er keineswegs von Münster mit nach Düsseldorf, sondern gewann sie erst hier. Selbst die geistvolle und zutreffende Darstellungsweise, insofern sie von einer auffallend frischen und allseitigen Erregung zeugt, hat ihren Hauptgrund in der besonders auf ihn so wohlthätig einwirkenden künstlerischen Umgebung. Diese Einwirkung war aber nicht blos befruchtender und weckender, sondern auch kritischer Natur. Denn wie sehr sich auch das damals noch junge Malervölkchen vor seiner gewaltigen Persönlichkeit und vor der Thatkraft seines Geistes beugte, so war es doch deshalb nicht geneigt, ihn so ohne Weiteres anzubeten. Wagte man auch gegen ihn keine unumwundene Kritik, weil man den leicht Reizbaren nicht verletzen und erzürnen wollte, so ging eine solche doch für ihn theils daraus hervor, wie man das Vorgelesene hinnahm, theils wie man über ähnliche Poesieen von Andern – und zwar ohne viel Federlesens[WS 1] – urtheilte. Auch fehlte es dem jugendlichen Treiben nicht an Humor, Satire und Witz, und mancher anscheinend nur in die Ferne zielende Hieb traf unversehens den Nebenanstehenden. Vor Allem aber waren es zwei Dinge, denen man den Krieg erklärt hatte, der Langeweile und dem Zopfthum. Unter der ersteren begriff man aber allerlei, z. B. Weitschweifigkeit, Pedanterie, Trockenheit, Phrasenthum, Schwerfälligkeit u. dgl. Ihr entgegen stellte man plastische Anschaulichkeit, Deutlichkeit, Kürze, Lebendigkeit etc. Es ließe sich wohl aus zahlreichen kleinen Zügen nachweisen, – liefe man nicht Gefahr, selbst langweilig zu werden – daß Immermanns spätere ebenso einfache als lebendige, ebenso kernige als ungeschraubte Darstellungsweise stillschweigend diesen Anforderungen seiner Umgebung Rechnung trug.
Ich sage stillschweigend, denn Immermann war nicht der Mann, durch ein etwaiges Zugeständniß solcher Art seine Selbstständigkeit und Autorität in Frage zu stellen. Auch war er im Herzen durchaus kein Freund von einer solchen Accommodation der Form und zwar um so weniger, als er darin eine gewisse Annäherung an die flüchtige und pikantseinwollende Tagesliteratur erblickte, die er gründlich haßte, weil er ihr den Ernst der Gesinnung, die höhere Weihe, die wahre Erkenntniß der Kunstbedeutung absprach. Kam er auf sie zu sprechen, so umspielte ein zürnender Hohn seine seinen gekniffenen Lippen und seine Augen wetterleuchteten umheimlich hinter der Brille. Später machte sich diese Bitterkeit, dieser Stolz eines trotzenden Selbstbewußtseins weniger bemerkbar, ja es traten Momente der Milde, der Nachsicht und selbst einer gewissen Wehmuth bei ihm ein. Er hatte gewissermaßen auf der Höhe seines Strebens und seiner Anschauungen Posto gefaßt und durfte nun mit einiger Ruhe – um so mehr, da sich ihm jetzt die Kritik günstiger zeigte – auf die Umgebung und das Geleistete und Erreichte zurückschauen.
Was aber war es, was den Immermannschen Stolz, der nicht selten in schroffer Weise hervortrat, erträglich, ja Hochachtung gebietend machte? Es war seine durch und durch edle und wahrhaftige Gesinnung, sein energisches, unermüdliches Streben nach dem Höchsten, sein vollständiges Durchdrungensein von der hohen Bedeutung und der Heiligkeit des Dichterberufes, sein echt männliches, strenges und zuverlässiges Wesen. Schon seine äußere Erscheinung deutete unverkennbar auf diese Eigenschaften. Er hatte eine hohe, stattliche Gestalt, zu der sich erst in den letzten Jahren seines Lebens eine mäßige Beleibtheit gesellte. Seine Schultern, ohne hochstehend zu sein, waren nur wenig abhängend; ihnen entsprechend der Hals mehr kurz als lang, was der Haltung des mit einem vollen, kräftigen, tiefbraunen Haare versehenen Kopfes eine gewisse gebieterische Festigkeit verlieh. Die Kopfbildung neigte sich weniger zur ovalen als zur quadratisch gedrückten Kreisform. Auf der hohen Stirn thronte dictatorischer Ernst. Die Schwellungen über der Augenhöhle und nach den Schläfen zu waren vorherrschend ausgebildet, [364] ohne daß die letztern auf eine besondere Neigung zum Phantastischen hätten schließen lassen. Die mehr breite als schmale und in den Verhältnissen kurze Nase deutete auf hartnäckigen Trotz; ebenso zeigte die Wangenformation eine feste, compacte Muskelbildung. Am meisten aber verriethen die seinen geschlossenen Lippen des männlich kleinen Mundes den streng maßhaltenden und scharf geprägten Charakter. Von allen Theilen des Gesichtes schloß allein das runde Kinn nicht ganz die Neigung zu einer bequemen Behaglichkeit aus. Um das Bild vollständig zu machen, darf eine gewisse amtliche Gemessenheit seines Wesens nicht unerwähnt bleiben.
Befand sich dieser Mann unter uns bei unsern engeren gesellschaftlichen Zusammenkünften oder bei allgemeinen festlichen Veranlassungen, so gab es wohl nicht leicht Jemand, der nicht ab und zu nach ihm hinübergeschielt hätte, um zu sehen, was für ein Gesicht er machte zu unsern Scherzen und Schnurren, zu unsern Deklamationen und scenischen Vorstellungen. War er aber selbst der Leiter eines solchen Festes, oder beglückte er uns mit dem Vorlesen irgend eines Shakespeare’schen oder Calderon’schen Stückes oder seiner eigenenen Werke, so waren wir diese Zeit vollständig seine Leib- und Seeleigenen. Seinen Anordnungen hatte man sich unbedingt zu fügen, seine Auffassung war die allein richtige, die geringste Störung, die kleinste Vernachlässigung ließ seinen Zorn befürchten. Dieser aber pflegte sich nicht in viel Worte zu kleiden, sondern ging gleich zur That über. Hatte er z. B. eine Probe zu einem Festspiel angesetzt, und fünf Minuten nach der anberaumten Zeit waren nicht alle Mitwirkenden anwesend, so warf er ohne Weiteres sein Buch oder Manuscript in den Winkel, und verlegte die Probe auf den folgenden Tag, wäre auch die Zeit bis zur Aufführung noch so knapp zugemessen und für die Betheiligten – die sich schließlich nur dem allgemeinen Besten oder doch der allgemeinen Unterhaltung opferten – noch so ungelegen gewesen. „Ich will Pünktlichkeit,“ pflegte er zu sagen, „und bin nicht gewöhnt zu warten.“ Ach, welch Seufzen und Klagen erhob sich dann, war unglücklicher Weise die Verspätung einer mitwirkenden Dame die Schuld seines Zornes, die nun nicht nur diesen, sondern auch den Aerger aller übrigen Mitwirkenden auf dem Gewissen hatte!
Wie groß war aber auch hinterher die Freude, hatte sich das Ganze zu einer echt künstlerischen Lösung abgerundet! Zu diesem Zwecke scheute Immermann keine Mühe und keine Wiederholung, kein Vormachen und immer wieder Nachhelfen. Und wie geschickt wußte er die vorhandenen Kräfte zu verwenden, und mit welcher Umsicht und Feinheit Alles bis in’s Kleinste zu ordnen und in der Wirkung durchzuführen! Das kam daher, weil er nicht nur selbst ein erstaunliches Talent besaß, dem Wort durch Betonung und Gebehrde seine volle Bedeutung und Tragweite zu verleihen, sondern auch unter allen Umständen den festen, beharrlichen Willen hatte, mit allen Kräften einer möglichsten Vollendung nahe zu kommen. Dieser ernste Grundton verließ ihn nie ganz, selbst nicht, wenn er im traulichen Kreise hinter dem Glase Wein seiner Laune den Zügel schießen ließ, und mit drolligen Einfällen und Bezüglichkeiten um sich warf, wie wir ähnliche in seinem Münchhausen und Tulifäntchen in Menge vorfinden. Dann waren es besonders der geniale Humorist A. Schrödter und der ehemals so heitere Th. Hildebrandt, die mit ihm zu unser Aller Erbauung ein Witzturnier aufführten, bei welchem die umherfliegenden Splitter der gebrochenen Lanzen auch wohl allmählich noch Andere reizten, in die geöffnete Bahn einzureiten.
Daß eine solche Natur sich nicht mit dem cynischen und schrecklich heruntergekommenen Grabbe, den trotz alledem genialen Dichter des Hannibal, des Don Juan und Faust, des Napoleon und der Herrmannsschlacht, würde befreunden können, sagten wir Alle uns gleich bei des Letztern Ankunft in Düsseldorf. Gelegentlich will ich hier einschalten, auf welche seltsame Weise ich die nähere Bekanntschaft dieses ebenso unglücklichen als genialen Mannes machte, Zunächst war es mein Freund Hasenklever, der bekannte – leider zu früh verstorbene – Maler der Jobsiade, der mich eines Abends in jene Weinkneipe auf der Rheinstraße führte, die Grabbe zu seinem beständigen Absteigequartier erkoren hatte.
„Du wirst einen tollen, aber doch einen sehr gescheidten Kerl kennen lernen,“ sagte Hasenklever auf dem Wege dorthin; „vor Allem aber einen höchst originellen Menschen und das zieht mich ganz besonders zu ihm hin. Ich sage Dir, wenn Du den schimpfen hörst, so steigen Dir die Haare zu Berge, und doch ist er eigentlich im Herzen ein gutes Haus.“
Wir traten in die von Tabaksqualm verdüsterte Stube.
„Siehst Du, dort sitzt er; komm, ich will Dich vorstellen.“
Ich sah nach dem Bezeichneten hin. Es war ein kleiner, auf seinem Stuhle ineinandergesunkener Mann, dessen großer Kopf fast nur ans einer riesigen, von wenigen blonden Haaren umgebenen Stirn bestand. Er schwankte, vorn überhängend, unsicher hin und her.
Hasenklever trat begrüßend an ihn heran und stellte mich vor. Grabbe warf einen scheuen Blick zur Seite und sagte:
„Gut, Sie können mir gestohlen werden. – Ich bin kein Freund von Complimenten,“ setzte er nach einer Weile halbentschuldigend hinzu und rückte seinen Stuhl, damit wir Platz gewannen.
„Die Grobheit darfst Du ihm nicht übel nehmen,“ flüsterte mir Hasenklever zu; „so ist er immer.“
Und nun begann eine Unterhaltung, die nichts weniger als erquicklich war, obgleich sie sich meist auf historische Charaktere, auf Hannibal, Cäsar, Napoleon etc. bezog. Die Kraftausdrücke und Epitheta, mit denen dieselben von Grabbe abgefertigt und versehen wurden, waren allerdings meist von überraschender Charakteristik, geistvoll und schneidend, aber durchaus nicht zu einer weiteren Mittheilung geeignet. Je mehr er dem Glase zusprach, desto wilder, kolossaler und verzerrter wurden seine Vergleiche, die nicht selten das Widerwärtigste und Heiligste zusammenzuketten suchten.
„Mein lieber Auditeur,“ (Grabbe war bekanntlich preußischer Auditeur) sagte ein neben ihm sitzender Arzt, „ich glaube, Sie werden gut thun, aufzubrechen. Ich halte es für meine Pflicht, Sie zu warnen; es könnten die Wallungen von gestern –“
„Halt’s Maul, Doctor; was geht’s Dich an, wenn ich mich zu Tode saufe!“
Ich drückte mich aus der Gesellschaft und verspürte nach diesem Abend nicht das geringste Verlangen mehr, mit dem genialen Dichter des herrlich sprudelnden Lustspieles „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“ und des großartigen Gedichts „Don Juan und Faust“ in eine nähere Berührung zu kommen.
Aber der Zufall fügte es anders.
Einige Tage später passirte ich Morgens gegen halb acht Uhr die Ratingerstraße, als ich in einiger Entfernung Grabbe gewahrte, der, bald stillstehend, bald unsicher weiterschlotternd, sich nach den Häusern umsah. Ihm näher kommend, grüßte ich.
„Sie da!“ sprach er mich an,’ „können Sie mir sagen, wo hier der Auditeur Grabbe wohnt?“
„Sie können Ihre Wohnung nicht finden, Herr Auditeur?“
„Ah, Sie kennen mich? waren Sie gestern bei uns?“
„Gestern nicht, aber vor einigen Tagen. Erinnern Sie sich - -“
„Nein, ich erinnere mich nicht - - aber wissen Sie meine Wohnung?“
„Im schwarzen Horn, nicht wahr?“
„Ja, im schwarzen Horn.“
„Sie sind hier gleich bei der Thüre; soll ich Sie hinaufführen?“
„Ja, kommen Sie! Nun, hol’ mich der Teufel, ich dachte schon, die Spelunke wäre ganz vom Erdboden verschwunden gewesen.“
Mühsam erstiegen wir die engen Treppen.
„Immer höher!“ rief er und dann, im zweiten Stockwerk angelangt: „halt! da – das ist die Thüre.“
Wir traten in eine schmale, ziemlich knapp möblirte Stube. Ein simpler Arbeitstisch, eine kleine Bibliothek, ein Bett, ein Schrank und ein paar Stühle verliehen dem Raume ein wohnliches Ansehen. Sofort warf er sich auf’s Bett.
„Klingeln Sie, damit mir das – mein Frühstück bringt.“
Ich willfahrte und bald nachher trat das Stubenmädchen mit dem Verlangten ein. Es bestand aus einem großen Glase Kornbranntwein und einem entsprechenden Stück rohen Speck, nebst einer trockenen Brodschnitte.
Während er diese Dinge mit einer gewissen Hast zu sich nahm, räumte ich einige an der Erde zerstreut liegende Manuskripte zusammen und legte sie auf seinen Arbeitstisch.
„Werfen Sie den Schund in’s Feuer!“ schnarrte er.
„Das wollen wir einstweilen nicht thun; Sie würden es vielleicht später bereuen.“
„Nein, sage ich; es ist dummes Zeug, es sind Polypen, die [365] ich meinem Hannibal aus der Nase geschnitten; ausgemerzte und umgeänderte Scenen!“
„So würden Sie wohl erlauben, daß ich sie zu mir steckte?“
„Meinetwegen!“
Ich dankte und versicherte zugleich, daß ich ein großer Verehrer der kernigen, kräftigen Auffassung und der plastischen Behandlung seiner dramatischen Charaktere sei.
„Schweigen Sie, schweigen Sie!“ rief er und kehrte sein Gesicht gegen die Wand. „Ich bin ein unglücklicher Mensch,“ murmelte er in’s Kissen und schluchzte krampfhaft.
Meinen Versuch, ihn zu beruhigen und zu Kosten, ließ er gar nicht aufkommen.
„Wenn Sie mir einen Dienst erzeigen wollen, so reichen Sie mir das Glas; da – da – steht’s,“ unterbrach er mich, ohne sich umzuwenden.
„Kann ich Ihnen mit weiter nichts dienen?“
„Nein! – Doch, ja, gehen Sie zu Immermann, sagen Sie ihm, daß ich heute Morgen nicht kommen könnte – daß ich in sechs Wochen nicht kommen könnte – daß ich todtkrank sei – und daß ich wünschte … Aber nein –“ und er wandte sich um und maß mich mit mattem Blick – „Sie sind noch zu jung, um die Courage zu haben, ihm dies zu sagen … Ich werde es ihm schreiben, daß ich ein armer, verlorener, zu Grunde gerichteter – auf ewig verlorener Mensch bin.“
Alle seine Gesichtsmuskeln arbeiteten heftig und seine schlaffen Lippen bebten. Tief erschüttert trat ich näher, ich wollte seine Hand fassen.
„Scheren Sie sich zum Teufel!“ rief er; „aber,“ setzte er fast weinerlich hinzu, „kommen Sie morgen früh wieder. Nicht wahr, Du kommst? – Morgen werde ich ein ganz anderer Mensch sein.“
Ich versprach es ihm, fand aber jedes Mal denselben zerrissenen, unglücklichen Menschen, dessen Geist sich nur dann aufzurichten vermochte, wenn es ihm gelang, im dichterischen Schöpfungsdrange sein eigenes trauriges Ich zu vergessen. Wie recht, dachte ich, hat doch unser Meister Schadow, wenn er behauptet, auch das größte Talent, ja selbst das wirkliche Genie gehe auf halbem Wege zu Grunde, wenn ihm nicht eine gewisse Charakterfestigkeit von Zeit zu Zeit unter die Arme greife.
Zwei Jahre später hatte ich Gelegenheit, auch Immermann, mit dem ich bis dahin nur in außerhäusliche Berührung gekommen, in seinen vier Pfählen, wie man zu sagen pflegt, kennen zu lernen. Welcher Contrast!
Es sollte dem damaligen Kronprinzen von Preußen, dem jetzt regierenden Könige, bei seiner Anwesenheit in der Rheinprovinz von den Künstlern Düsseldorfs ein großes Fest gegeben werden. So etwas konnte nie ohne dramatische Vorstellungen, lebende Bilder, Festzüge u. dgl. abgehen. Am wenigsten durften diese Dinge diesmal fehlen, da es galt, einem geistvollen, für Kunst und Poesie enthusiasmirten Prinzen, dessen geniales Urtheil notorisch war, eine Unterhaltung zu bereiten, die zugleich unser künstlerisches Getreibe in ein günstiges Licht zu stellen geeignet wäre. Solche Vorstellungen aber kosteten den Mitwirkenden allemal schwere Opfer an Zeit und Geld und kaum erst hatten wir uns von den Anstrengungen eines nicht lange vorher stattgehabten Festes erholt. Viele litten noch an den pecuniären Nachwehen desselben. Theils die noch brühwarme Erfahrung, theils eiserne Notwendigkeit bestimmte uns daher, diesmal möglichst ökonomisch zu Werke zu gehen, das heißt den Festplan so einzurichten, daß die noch von früher vorhandenen Decorationen und Costüme mit geringer Abänderung wieder verwendet werden könnten.
So hatten wir in den Vorberathungen, denen Immermann nicht beiwohnte, weil er zu dieser Zeit verreist war, beschlossen. Ja, wir verhehlten es uns nicht, daß dessen Abwesenheit für die mindere Kostspieligkeit des Festes ein günstiger Umstand wäre, und hofften, wie es schon einmal geschehen, auch ohne ihn etwas Vortreffliches zu Stande zu bringen. Aber schon in den nächsten Tagen kehrte Immermann zurück und zwar zu unserm nicht geringen Schreck, denn hätte er erfahren, daß wir die Absicht gehabt, ihn zu umgehen, er würde es uns sobald nicht verziehen haben. Indeß fand sich ein Ausweg, der geeignet schien, jede Bedenklichkeit zu heben. Man ernannte in aller Eile unter dem Vorwande, daß sie den Zweck habe, Immermann mit Rath und That beizustehen, aus unserer Mitte eine Commission. Ihre geheime Aufgabe aber war, ihm die Zügel zu halten, daß er nicht allzu rücksichtslos in’s Zeug gehe. Dieser Commission gehörten – so viel ich mich dessen nach nun zwanzig Jahren zu erinnern vermag – u. A. Hildebrandt, Kiederich, Steinbrück, Heubel, Haach und meine Wenigkeit an.
Wir wurden von Immermann auf den folgenden Abend in seine Wohnung eingeladen, die sich eine Viertelstunde vor der Stadt auf dem in Derendorf gelegenen freundlichen Gute „Kollenbach“ befand. Er bewohnte das Erdgeschoß des geräumigen, von einem schönen Garten umgebenen Landhauses und seine Freundin, Gräfin von Ahlefeld, die erste Etage desselben. Die häusliche Wirthschaft Beider war äußerlich eine streng geschiedene.
Er empfing uns überaus freundlich, und drückte Jedem zum Willkomm herzlich die Hand. Er war im Schlafrock, was ihm ein cordialeres und gemüthlicheres Wesen verlieh, als er sonst zu zeigen pflegte. In dem Vorzimmer, welches wir passirten, um in sein Arbeitszimmer zu gelangen, stand auf einem kleinen runden Tische eine Art Götzenbild, ein braunes, dunkles, ungestaltetes Ungethüm und – was uns günstige Auspicien eröffnete – rund um dasselbe eine Anzahl Flaschen und Gläser. Das Arbeitszimmer selbst war ein sehr geräumiges. Theils eine reiche, wohlgehaltene Bibliothek, theils mehrere antike Statuen in Gypsabguß, darunter ein paar schöne Venus-Torsen, dann Zeichnungen, Kupferstiche, Bildnisse seiner Freunde etc. bedeckten die Wände. In der Mitte stand ein großer runder Tisch, hochbeschwert mit Büchern, Acten, Briefen; Alles ohne kleinliche Pedanterie in bester Ordnung. „Setzt Euch, Ihr Männer!“ begann er in humoristischem Tone und schob jedem mit großer Dienstbeflissenheit einen Stuhl hin. „So, und nun wollen wir, ehe wir das wichtige Werk berathen, die rechte Stimmung beschwören.“
Und behändig holte er die im Vorzimmer aufgepflanzten Flaschen und Gläser herbei. „Ein echter Rüdesheimer; stoßt an!“ Dann ließ er sich behaglich nieder und fixirte uns mit prüfendem Blick.
„Nun, was wollt Ihr von mir?“ –
Hildebrandt, sein näherer Freund, übernahm die Auseinandersetzung und bemerkte unter Anderm, man wünsche ein Festspiel, so in der Weise wie jenes, was Reinik und meine Wenigkeit für den Vater Schadow’s damals arrangirt hätten.
„So?“ betonte Immermann mit einem gewissen ernsten Nachdruck, „also in solche Fußstapfen soll ich treten? Also Ihr wollt mich zum Bänkelsänger machen?“
„Das heißt,“ fuhr Hildebrandt fort, „wir meinen nur, Du möchtest das Ganze so einrichten, daß wir das vorhandene Material, was wir noch besitzen, möglichst wieder verwenden können.“
„Ho ho!“ lachte er, „ich soll also meine Einfälle nach Euren Costumfetzen und Decorationen einrichten! Doch laßt hören, was habt Ihr denn noch?“
Und Jeder kramte aus, was er für brauchbar hielt, und Immerman schien geduldig zuzuhören. Als wir mit unserer Weisheit zu Ende waren, spielte er eine Weile den Nachdenkenden, als ob er sich den Kopf zerbräche, unsern Wünschen gerecht zu werden. Dann begann er in ernsthafter Weise die seltsamsten Projecte auszuspinnen, gegen die wir natürlich pflichtgemäß unsere Einsprache erhoben. Dies kümmerte ihn jedoch wenig, vielmehr gestaltete sich sein Plan immer abenteuerlicher. Um die Pausen zwischen den unvermeidlichen lebenden Bildern zu beseitigen, schlug er vor, eine Scheibe bauen zu lassen, deren Durchmesser die Breite der ganzen Bühne betrüge. Auf dieser sollten in ineinandergreifenden Gruppen die Hauptepochen der Kunstgeschichte dargestellt werden. Mittelst eines Räderwerks sollte die Umdrehung bewirkt werden, so daß ohne Unterbrechung Gruppe auf Gruppe vorüberschwebe. Allerdings nicht übel, aber für unsere ökonomischen Absichten wenig passend. Wir unterließen nicht, dies zu bemerken.
„Ja, Leute, wenn Ihr knickern wollt, so müßt Ihr mich nicht zu Rathe ziehen,“ erwiderte er halb ärgerlich, halb spöttisch und fuhr fort:
„Ist dann das letzte Bild vorüber, so erscheint am Schlusse der Genius der Kunst, feierlich auf Wolken niederschwebend, eine schöne weibliche Gestalt, nackt wie die Wahrheit, nur einen leichten Schleier um die Hüften, und begrüßt so den Kronprinzen.“
Erstaunt warfen wir ein, daß wir sehr daran zweifelten, eine von unsern Damen werde sich zu einem so leicht costumirten Genius hergeben.
Ein satirisches Lächeln zuckte auf seinen Lippen.
[366] „Wozu haben wir denn,“ erwiderte er ruhig, „all die adeligen Damen, besonders die Gräfinnen N. N., wenn sie das nicht einmal thun wollen? Sie wollen ja doch stets eine aparte Rolle spielen. Und den Herren Officieren wird dieser Theatercoup ganz besonders gefallen.“
Eine Weile weidete er sich an unseren verblüfften Gesichtern und sagte dann lachend:
„Nun, ich sehe schon, heute fehlt Euch und mir die Weihe, aber in zwei Mal vierundzwanzig Stunden sollt Ihr von mir ein Stück fix und fertig erhalten, das Euch hoffentlich genügen wird; wenn nicht, so macht damit, was Ihr wollt. Verderbt mir aber heute meine gute Laune nicht, denn seht, hier habe ich den ersten Band meines Münchhausens, das erste gebundene Exemplar. Bisher hat mir keine meiner Arbeiten so viel Freude gemacht, wie dieser Münchhausen.“
Schon bei früheren Gelegenheiten hatte er uns einzelne Capitel desselben vorgelesen, an die sich nun unsere Schlußunterhaltung knüpfte. – Wir schieden in heiterer Stimmung spät in der Nacht, das Schicksal des Festspiels gänzlich seiner Willkür überlassend, Es war wirklich das Einzige, was uns zu thun übrig blieb.
Seinem Versprechen gemäß lieferte er zwei Tage nachher das fertige Stück, das den Titel „Ost und West“ führte und vielfach auf die Verbindung der Rheinprovinz mit den östlichen preußischen Provinzen anspielte. Die Aufführung, welche im großen Galleriesaale der Akademie stattfand, verursachte viele Schwierigkeiten und erforderte einen großen Aufwand von mühsam herzustellenden Requisiten. Die Wirkung war nicht gerade eine schlagende, doch fesselte es durch seine tieferen Bezüglichkeiten. Desto brillanter fiel die auf dieses Vorspiel folgende Aufführung von „Wallenstein’s Lager“ aus. Es dürfte nicht leicht ein abgerundeteres Zusammenspiel und eine feinere Charakteristik der einzelnen Personen selbst von Schauspielern einer Hofbühne zu erreichen sein. Die Lebendigkeit der Dialoge und Situationen, die ungeschminkte Echtheit des Costums, die Vermeidung aller Bühnenflunkerei und nichtssagender Gestikulationen: Alles das ließ errathen, daß die Spielenden Künstler waren, die tiefere Gründe für ihr Spiel hatten, als das Herkömmliche nachzuäffen. Jedenfalls aber blieb Immermann das bei Weitem größere Verdienst. Er hatte die Regie mit einer Sorgfalt und Umsicht geübt, wie man sich kaum vorzustellen vermag, wenn man nicht selbst zugegen gewesen. Jede Bewegung, jede Position, jeder Uebergangsmoment war genau erwogen und angegeben und so – bei allem Trubel, den diese Lagerscenen erfordern – eine vollständig klare malerische Sonderrung der Gruppen erreicht worden.
Nur ein kleiner Unfall drohte einen Augenblick, den Zorn Immermarm’s, der sich hinter den Coulissen befand und mit dem Buche in der Hand jede Sylbe controllirte, auf unsere Häupter niederfahren zu lassen. Einer der höllischen Jäger nämlich ließ ein paar Worte weg, welche das Stichwort für den Folgenden abgaben. Drohend erhob Immermann die Faust gegen die Spielenden und sagte mit gedämpfter Stimme:
„Die verfluchten Kerle saufen Punsch aus dem Feldkessel und werfen mir das ganze Stück um!“
Das Eine war allerdings wahr, das Andere aber geschah nicht, vielmehr blieb Alles bis zum Ende im besten Gleise.
Noch war der Vorhang nicht ganz gefallen, als der Kronprinz auf die Bühne trat und unserem Immermann die Hand reichte:
„Lieber Immermann, ich danke Ihnen herzlich; die Aufführung war ganz meisterhaft und Ihr „Ost und West“ hat mir sehr gefallen.“
Wie heiter diese Anerkennung Immermann gestimmt hatte, zeigte sich erst recht nach Beendigung des Festes, wo wir im anstoßenden kleinen Galleriesaale, der zum Garderobezimmer gedient hatte, uns bei der gefüllten Bowle von den Strapazen des Tages erholten und über einzelne drollige Zwischenfälle unsere Glossen machten.
Noch einmal zwei Jahre später – es war am 24. August 1840 – saßen mehrere von uns plaudernd an derselben Stelle, als der jetzt leider auch schon längst verstorbene talentvolle Haach mit tiefbetrübter Miene eintrat.
„Habt Ihr schon vernommen,“ sagte er, „daß unser Löwe Immermann todkrank am Typhus darnieder liegt?“
„Immermann?“ fuhren wir bestürzt auf; „diese Riesennatur?“ – Und noch vor acht Tagen wollten ihn Mehrere gesund und rüstig gesehen haben.
„Es mag sein letzter Ausgang gewesen sein,“ entgegnete Haach. „Gestern zeigte man ihm die Gefahr seines Zustandes an und rieth ihm zu ordnen, was er noch zu ordnen wünsche. Da soll er sich im Bette emporgerichtet und mit aller Kraft seiner Stimme gesagt haben: „Es ist nicht wahr – ich bin so krank nicht – ich will durchaus noch nicht sterben – ruft mir noch einen Arzt!“ – Gleich nachher sei er aber kraftlos zusammengesunken, und seitdem soll auch die letzte Hoffnung geschwunden sein.“
Am folgenden Tage war Immermann nicht mehr. – Betäubt von dem entsetzlichen, plötzlichen Schlage brachen wir weniger in Worte der Trauer als in den übereinstimmenden Ausruf aus: „Ein schreckliches, grausames Verhängniß!“ – Denn kurz vorher waren seine schönsten Wünsche in Erfüllung gegangen; er hatte die allgemeinste Anerkennung gefunden, lebte seit einem Jahre in glücklicher Ehe, und am Tage seines Erkrankens hatte ihn seine junge Frau mit einem Töchterchen beschenkt.
Die Blätter grün, die Lüfte lauer,
Im Blüthenkleide prangt der Mai,
Das Fenster öffn’ ich und den Bauer,
Leb’ wohl, mein Vogel, du bist frei!
Bald schaukelt dich der schwanke Ast,
Nicht hielt ich ruchlos dich gefangen.
Du warst im Winter nur mein Gast.
Du hast, ein Gruß der grünen Halde,
Ein lebend Heimweh nach dem Walde,
Getheilt des Dichters Einsamkeit.
Zwei müde Sänger, Haftgenossen,
An einer Kette lagen wir
Und seiner Veilchen blaue Zier.
Jetzt ist er da, du hörst sein Klingen,
Er weht dich an mit frischem Duft,
Auf! rege fröhlich deine Schwingen
Was kümmert’s dich, daß ich mit nassen,
Umflorten Augen nach dir seh’ –
Du kannst mich ohne Schmerzen lassen,
Mir aber thut der Abschied weh!
Er schlägt um dich sein schattig Zelt,
Und jubelnd schmettern deine Lieder
Den Pfingstgruß durch die schöne Welt.
All ihre Wunder wirst du schauen,
Wirst dir ein heimisch Nestchen bauen –
Ich aber bleibe ganz allein.
O, könnt’ ich deinen Flug begleiten!
Daß ich gefesselt, ist mein Schmerz,
Erfüllt im Frühling mir das Herz.
Die Thür’ ist auf, nicht säume länger,
Leb’ wohl! Dort sitzt er auf dem Strauch –
Jetzt juble laut, befreiter Sänger,
Du hörtest seufzen mich und klagen,
Vielleicht zuweilen unbewußt
Hallt nach in deinem frohen Schlages
Ein Laut der kranken Menschenbrust.
„Mutter, Du trugst sie wohl auf unserem Hochzeitgange? Ich hatte sie selbst heimlich angefertigt, es war ein Art Meisterstück, das ich freiwillig mir auferlegte – denn wir Goldschmiede haben eine freie Kunst und brauchen kein Zunftstück zu machen. Ich legte sie Dir selbst plötzlich um den frischen Nacken. Alle Hochzeitsgäste kamen herbeigesprungen, die schöne Kette zu bewundern, wie sie in der Morgensonne glitzerte. – Ich sah Dir in die Augen, da glitzerte auch etwas, edler und reiner, als das Gold des Geschmeides, das war eine Thränenperle, eine Freudenzähre, welche Dir in dem Auge stand. Ich küßte sie Dir weg, – o, ich weiß es noch wie heute! Es war der letzte glückliche Augenblick. Von Stund’ an zog das Unglück über die neue Schwelle, immer finsterer, immer düsterer – jetzt steht es uns knapp hinter den Füßen und droht, uns jeden Augenblick niederzuschmettern. Nimm die Kette, das treubewahrte Kleinod, und hänge sie hinaus in den leeren Laden, damit doch noch etwas drin hängt. Hätten sie freilich lieber aufbewahrt für die Schwiegertochter, die uns unser Heinrich einmal in’s Haus bringen wird, aber – Noth bricht Eisen.“
Die Frau des Goldschmieds – denn es war der Goldschmied Hartmann im freundlichen Städtchen W., welcher dies sprach – hatte für diese Worte, wie für ähnliche seit längerer Zeit nur Thränen, schwere, langsam rieselnde, von tiefen Seufzern unterbrochene Thränentropfen. Stumm stand sie vom Stuhle auf, holte aus einem verschlossenen Schreine die Hochzeitskette und hing sie im Laden auf.
„Ich will ja Alles gern opfern und wenn’s zuletzt an mein Herzblut gehen sollte, wenn nur das Geschäft unserm einzigen braven Sohne, unserem Heinrich, erhalten wird,“ sagte sie endlich gefaßter.
„Das ist’s eben, Mutter, was mir so an die Seele geht. Wenn wir Beide allein wären, ohne Kind, so könnten sie uns meinethalben noch heute aus unserem Hause hinauswerfen auf die Straße. Die Unbarmherzigen – sie möchten Alles versiegeln und verkaufen, wir zögen dann Beide bettelnd, aber getrosten Muthes von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, bis sie uns, wenn wir des Lebens überdrüssig wären, einmal in einem Flusse auffischten, aber so müssen wir bleiben, müssen uns wehren bis auf den letzten Blutstropfen, denn es ist unsere Pflicht, wir sind es unserem Kinde schuldig.“
„Wie’s ihm wohl jetzt gehen wird in der Fremde?“ sprach die Mutter.
„Ihm geht’s wohl! Er hat einen braven Meister. Ich kenne den Mann von früher her. Ihm geht’s wohl. Er ahnt nichts von dem Unglücke zu Hause. Mag’s ihm auch nicht schreiben, so sauer es mir auch ankömmt, ihm vorlügen zu müssen, es stände Alles gut.“
Dieser abgelauschte Dialog hat uns einen kurzen Einblick in die Verhältnisse der Goldschmiedsfamilie gewährt. Sie sind traurig. Der alte Kampf der menschlichen Combination mit der der äußern Verhältnisse war hier zu keinem harmonischen Abschluß gekommen, vielmehr lief er zu immer weiteren Dissonanzen aus. Die Verhältnisse drohten, jener spottend, den Sieg davon zu tragen. Der Goldschmied hatte sich als Fremdling in dem Städtchen, was ihm durch die Liebe zu seiner jetzigen Frau zur neuen Heimath geworden war, nicht ohne Schwierigkeit und unter sehr ungünstigen Verhältnissen niedergelassen. Ueber alle Bedenklichkeiten ließ ihn die Liebe nur zu leicht und schnell hinwegsehen und seinem redlichen Muthe und seiner Arbeitslust schenkte er ein zu großes Vertrauen. Er ließ sich von der Schuldenlast, die er durch den Ankauf der Concession und des Hauses sich aufbürdete, nicht abschrecken. Er meinte, die übernommenen Hypotheken schon bald zurückzahlen zu können, denn er „hatte etwas gelernt“ und in seinen Händen ein reiches Capital, das nie abnehmen könne, sondern stets wachsen müsse.
Im Anfange, unter der Aegide der Hoffnung, ging in der That Alles recht wohl, trotzdem daß die Concurrenz bedeutend war und der Neuling wenig Kunden hatte wegen Mangel an „Connexionen“. Aber auch die Hoffnung ist keine ewige, sie muß immer von Zeit zu Zeit Nahrung haben, um immer wieder neu fortleben und ihr gesegnetes Kind, den Muth, erhalten zu können. Als diese Nahrung immer mehr ausblieb, als die hereinbrechende Noth der Zeit auch die Nachfrage nach den theuren Luxusartikeln des Goldschmiedladens sehr verringerte, da sank auch immermehr die Hoffnung zusammen und mit ihr auch – die Arbeitslust. Die bedeutenden Zinsen, diese gefräßigen Kinder des Capitals, nahmen einen großen Theil des Einkommens weg. Die Ausgaben der Familie wuchsen daneben mehr, besonders verlangte die Erziehung und Ausbildung des Sohnes nicht geringe Opfer. Auch er hatte die edle Goldschmiedekunst gelernt und war jetzt auf der Wanderschaft. Er hatte nie einen hellen Einblick in den heimlichen Ruin des Hauses gehabt; es war ihm derselbe von seinen Eltern auch immer sorgsam verheimlicht worden. So war er heiter und lustiger Dinge in die Welt hinausgegangen.
Jetzt nahte auf einmal ein entscheidender Moment. Der Hauptgläubiger war gestorben und seine Schuld auf seine Erben übergegangen, welche mit Nachdruck und ohne Rücksicht die Auszahlung der Erbschaftsschuld zur Theilung unter sich forderten. Der alte einzige Gläubiger hatte für Vorstellungen und Bitten ein offenes Herz, jetzt waren es mehrere geworden, es galt also mehrere Herzen zu erobern. Das wollte dem alten Goldschmied nicht gelingen. Durch das durch die Erbschaft herbeigeführte Gemeinschaftsverhältniß hatten die Gläubiger eine Ausrede bekommen, womit sie, ohne ihr Billigkeitsgefühl verleugnen zu müssen, den Schuldner immer auf die Andern wiesen, ohne welche sie als Einzelne nichts unternehmen könnten. Noch um zwei Mal vierundzwanzig Stunden und die Zahlungsfrist war abgelaufen – Haus und Hof, all’ die goldigen Ringlein und Zierrathen verfallen. Wer schaffte da Rath?
„Entweder muß die Hülfe vom Himmel oder von der Hölle kommen,“ sagte am Abend der Goldschmied, unruhig im Zimmer umherwandelnd.
„Vom Himmel wird sie kommen – Hab’ nur Vertrauen zu ihm, er hat brave Leute noch nie verlassen,“ antwortete die Frau.
„Vertrauen? Haben wir ihm nicht schon lang genug vertraut und er hat’s nicht besser werden lassen? Ist’s nicht immer schlimmer geworden, trotzdem daß Du alle Sonntage in die Kirche gelaufen bist?“
„Wie kannst Du so gottlos reden, Mann! Ist die Noth am größten, ist die Hülfe am nächsten.“
„Recht hat sie,“ murmelte der Goldschmied vor sich hin, „aber nicht vom Himmel. Der Teufel bietet sie an. – Frau,“ fuhr er nach einer Weile fort, indem er den Rock anzog und Hut und Stock ergriff, „ich habe noch einen Gang zu thun, einen Gang, der uns vielleicht rettet.“
„So geleite Dich der Himmel! – Aber geh’ nur auf redlichen Wegen –“
Bei diesen Worten, welche einen stillen Vorwurf zu enthalten schienen, wollte er auffahren und die Frau zurechtweisen ob solch’ verletzender Rede, aber er that es nicht, es fehlte ihm der Muth dazu, der Muth, den allein die Wahrheit und Herzenslauterkeit gibt – er hätte ja heucheln müssen. Er ging.
Es war schon ganz dunkel auf der Straße, aber doch noch reges Leben. Scheu wich er dem Strome der Gehenden auf beiden Seiten des Straßentrottoirs aus, er ging gerade in der Mitte, still vor sich niedersehend. Manchmal hielt er dann plötzlich an, warf einen Blick nach dem verlassenen Hause und schien dahin umkehren zu wollen, aber rasch eilte er nach kurzer Ueberlegung in schnelleren Schritten wieder fort. Aber es wiederholte sich dies öfter. Als er an einem Wirthshause vorbeikam, wo er Abends immer einkehrte, hielt es seinen Fuß wieder fest. Er schien zu überlegen, ob er nicht lieber dahin gehen solle, aber kurz vor der Thür kehrte er rasch entschlossen wieder um und setzte seinen Weg fort; bald war er am Erde der Stadt, da „wo die letzten Häuser stehen“, wo das Lichtreich des Gases seine Grenzen hatte. Dichte, wie bodenlose Finsterniß, Alles unheimlich still, nur das Zetergeschrei schleichender Katzen, die sich auf den niedern Dächern umherjagten. Sieh, da kommt’s heran, gerade auf den Goldschmied zu – eine tiefverhüllte Gestalt. Es bleibt stehen und flüstert ihm zu:
[368] „Seid Ihr’s, Meister? – Das ist gescheidt von Euch. ’s war hohe Zeit. Wir wissen, wie’s um Euch steht. Kommt.“
Willenlos, stumm ließ sich der Goldschmied fortführen in die Finsterniß hinein,
„Ihr zittert? Pah! ’s wird schon vergehen, wenn Ihr die blinkenden Häuschen seht. Wir brauchten Euch sehr, Ihr versteht die Sache, kennt die Mischungen – Ihr wollt doch nicht gar wieder umkehren? Ihr wißt wohl nicht, daß Ihr morgen keine Heimath mehr habt, als die der Straße?“
Die Stadt war schon ganz verlassen. Ein Seitenweg, überwuchert von Gestrüpp und Domen, war eingeschlagen. Er führte in den nahen Wald, der sich gleich vor der Stadt auf einer mäßigen Anhöhe ausbreitete. Der Goldschmied strauchelte oft.
„Geduld, wir haben nicht mehr weit, seht Ihr den Glanz nicht durch die Zweige schimmern? Der Ort ist gut gewählt. Dahin dringt kein polizeilich Auge und keine Gensd’armennase hat Spürkraft genug, den Schlupfwinkel zu entdecken, – Paßt auf, Meister, jetzt müssen wir aber hintereinander gehen und uns bücken. Geht Ihr voran. Ihr sträubt Euch?“
„Laßt mich, ich will wieder nach Hause. Meine Frau, mein Sohn –“
„Die werden’s Euch Dank wissen, daß Ihr sie verhungern laßt.“
„O Gott! O Gott! Gibt’s kein anderes Mittel?“
„Ich weiß keins. Uebermorgen ist die Frist abgelaufen.“
„Das Mitleid wird sie noch verlängern. Lebt wohl!“
„Halt, Bursche! Gegen solche Anwandelungen von Schwäche haben wir ein eigenes Mittel.“
Dabei zog der Mann ein Pistol aus dem Mantel hervor und hielt es dem Goldschmied vor die Brust.
„Siehst Du? Entweder – oder –“
„Ich will – ich will – kommt – es geschehe, was da will.“
Und der Weg ging weiter in das Dickicht. Ein Geflüster ließ sich hören, eine Felsenthür ging auf, brodelnd flieg eine weiße Rauchsäule heraus, eine gluthrothe Flamme, welche zischend aus Pfannen und Tiegeln aufstieg, ließ mehrere Gestalten sehen. Die Thür schloß sich gleich wieder. –
Am andern Morgen zahlte der Goldschmied die Schuld in lauter goldenen Münzsorten ab, ein reicher ferner Verwandter habe es ihm vorgeschossen.
Es war ein düsteres Bild, was wir betrachteten, um so freundlicher ist das, was sich jetzt vor uns aufrahmt.
In ein kleines, sauber gehegtes Gärtchen treten wir ein. Es ist in der Stadt B., von der Stadt des Goldschmieds in Mitteldeutschland viele Meilen südlich gelegen. Es ist gerade so Mitte Juli, wo die Blumen ihre größte Pracht entfalten – und Blumen sind es hauptsächlich, womit das Gärtchen besät ist. Sie schlingen sich überall um die Gemüsebeete, als wollten sie mit ihrer Poesie die Prosa verdecken, welche in den Kohlrabi- und Salatpflanzen, den Gurken und Bohnen steckt. Da wechselten rothe und weiße Rosen ab neben blauen Lilien, die schon die Kronen welk zu neigen begannen; Nelken im bunten Farbengesprenkel sandten aus ihrer niedrigen Stellung ihr erquickendes Arom empor. Und die Reseda daneben gab auch ihr Scherflein drein. Ueber all’ dem waltete ein anmuthender Zauber der Ordnung, daß man sich des aufsteigenden Gedankens nicht erwehren konnte, es sei hier irgend eine liebesprudelnde sorgende Menschenhand thätig, die für die holde Blumenfamilie mütterlich sorge.
Wer konnte dies wohl anders sein, als das frische blonde Kind, das dort in der Weinlaube beim Nähzeug sitzt? Neugierig möchten wir wohl näher treten und sie durch die Zweige, welche die Hütte sonnescheuchend überranken, belauschen und betrachten – sie macht es uns aber bequemer – sie tritt eben selbst heraus, Nadel und Scheere auf den Tisch hinwerfend. Sie streicht sich die blonden Haare, welche sich über der Stirne in Löckchen geringelt haben, aus dem Gesichte und schaut nach der Thüre, welche aus dem Garten heraus auf die Straße geht.
„Immer noch nicht? Und es hat doch schon längst sieben Uhr geschlagen? Warum er mich nur heute so lange harren läßt?“ Und ein flüchtiger Schatten der Wehmuth glitt über das frische Gesicht, wurde aber bald wieder durch die unbefangene Heiterkeit verdrängt, welche fast immer eine Zugabe aller blauäugigen und rosenwangigen Blondinengesichter ist.
„Aber nähen“, fährt das liebe Kind in seinem Selbstgespräche fort, „kann ich nicht mehr; ich habe keine Ruhe dazu. Ich will ihm lieber einen schönen Strauß pflücken – er verdiente ihn heute zwar nicht, weil er ungehorsam ist; ich weiß aber, es geht mir doch wie immer; wenn ich mir auch vornehme, mit ihm zu schmollen und ihn recht auszuzanken, ich komme doch nie dazu. Zunächst Rosen,“ fuhr sie fort, Rosen abpflückend; „wenn ich nur Etwas von der Blumensprache verstände – am Ende pflücke ich sonst, ohne es zu wissen, auch Blumen, die Schlimmes bedeuten, mit ab – Rosen können nichts Böses bedeuten und Nelken – ach! die duften ja gar so süß – den blauen Rittersporn darf ich wohl auch mit aufnehmen, ich weiß zwar nicht, was er wohl sagen könnte?“
„Sieh, Dein treuer Ritter naht!“
„Ach!“ rief erschrocken das Mädchen und ließ die Blumen aus den Händen nieder in den Schooß fallen. „Wie Du mich nun auch noch erschrecken kannst, nachdem Du mich so lange hast warten –?“ Weiter konnte sie nicht reden, denn zwei Lippen verschlossen ihr den Mund.
„Hättest Du nur den Rittersporn früher schon gefragt, er hätte Dir gesagt, daß Dein treuer Heinrich nicht ausbleiben würde und daß es nicht seine Schuld war, daß er heute später kommt.“
„Ich will Deine Entschuldigungen gar nicht hören, aber es war recht quälend, so lange warten zu müssen, zumal wenn man so böse Träume die Nacht über gehabt hat.“
„Träume? – Du bist wohl gar abergläubisch?“
„Ach nein! – Ich mag auch nicht glauben, daß in meinem Traume etwas Wahres liegt, aber er war so seltsam und furchterregend. Denke Dir, ich sah im Traume Deine beiden guten Eltern vor mir, wie Du sie mir immer beschriebst, ganz deutlich standen sie vor mir, Deine Mutter im weißen Häubchen und Dein Vater mit seinem schwarzen Sammetkäppchen. Anfangs sahen sie ganz freundlich aus und ich sprach mit ihnen, ich weiß aber nicht mehr was; auf einmal fingen ihre Gesichter an, sich ganz zu verzerren, sie wurden alt und welk und rückten immer weiter von mir weg. Und auf einmal fingen die Gold- und Silberwaaren, die im Fenster zur Schau hingen, an zu schmelzen und in breiten Strömen lief das flüssige Metall aus dem Laden heraus gerade auf die Beiden zu, daß sie bald von demselben umgeben waren, und da schlug noch dazu eine helle Flamme aus dem flüssigen Strome heraus und im Nu stand das ganze Zimmer in Flammen, Deine armen Eltern mitten drin und hinter ihnen tauchte plötzlich eine Gestalt auf – ach! ich kann sie mir gar nicht wieder vorstellen, wie scheußlich die aussah, die lachte und grinste so und nahm Deinen Vater beim Schopfe und tauchte ihn lachend immer tiefer in die glühende Masse. Ich bin vor Seelenangst bald umgekommen, da kamst auf einmal Du und wolltest auf Deinen Vater zu, aber die schreckliche Gestalt hatte ihn Plötzlich ganz untergetaucht. Deine Mutter hatte sich selbst schon hineingestürzt, da fielst Du ohnmächtig hin, ich wollte Dich auffangen – da bin ich erwacht und der schreckliche Traum war fort.“
Soeben erschien:
Leipzig, Juni 1858.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: Federderlesens