Die Gartenlaube (1857)/Heft 38
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No. 38. | 1857. |
Die traurige Nachricht von dem Tode des Assessor Bärmann verbreitete sich am anderen Tage mit Schnelligkeit durch die Stadt. Alle Welt bedauerte den Verlust des bescheidenen, reich begabten Mannes und beklagte die arme Mutter und seine junge Braut. Clementine wurde auf die schonendste Weise von ihrem Unglück durch die Präsidentin in Kenntniß gesetzt; sie überließ sich, wie alle sanguinische Naturen bei ähnlicher Gelegenheit, den Ausbrüchen der heftigsten Verzweiflung; aber nach und nach schenkte sie den Trostgründen ihrer Mutter ein williges Gehör. In ihrem Wesen lag es nicht, einem Schmerze fortwährend nachzuhängen; dazu fehlte es ihr an der nöthigen Tiefe und Innigkeit des Gefühls. Sie hatte in ihrer Weise Theodor geliebt, sie wäre ihm gewiß eine treue und zärtliche Gattin geworden, vorausgesetzt daß ihr keine zu großen Opfer auferlegt worden wären; aber mehr durfte man nicht von ihr fordern. Ihr Herz war weich und elastisch, jedem Eindrucke offen, der eben so schnell wieder verschwand und keine, oder nur leichte Spuren zurückließ. Im ersten Augenblicke überließ sie sich ganz und gar der Heftigkeit ihres aufrichtigen Schmerzes; sie beweinte den Tod Theodors, sein frühes Ableben und vor Allem ihr eigenes Geschick; nebenbei dachte sie aber schon an ihre Trauertoilette und wie der schwarze Flor zu ihrem weißen Teint stehen würde.
In Begleitung der Präsidentin war sie in das Haus der Commerzienräthin geeilt; sie fand die würdige Matrone weit gefaßter, als sie dachte. Der Schmerz äußerte sich bei dieser in der edelsten Weise, indem sie mit erhabenster Selbstverleugnung der Braut ihres Sohnes Trost einzusprechen sich bemühte.
„Ich habe einen Sohn verloren,“ sagte sie mit rührender Resignation, „Du Deinen Bräutigam. Du sollst an mir nach wie vor eine Mutter finden, wie ich an Dir eine Tochter. Durch gegenseitige Liebe wollen wir sein Andenken ehren und heiligen.“
Tief erschüttert sank Clementine weinend an die Brust der Betrübten. Nachdem sie ihre leicht fließenden Thränen getrocknet, äußerte sie den natürlichen Wunsch, die Leiche des Geliebten zu sehen. Theodor lag vorläufig auf seinem früheren Lager. Die Commerzienräthin fühlte sich noch zu angegriffen, um den schmerzlichen Anblick zu ertragen; sie gab daher dem Bedienten den Auftrag, Clementine in die Todtenstube zu führen. In Gesellschaft ihrer Mutter betrat sie den traurigen Ort, aus dem ihrer aufgeregten Phantasie ein dumpfer Verwesungsgeruch zu kommen schien. Das unheimliche Halbdunkel, durch zwei brennende Kerzen erhellt, die herabgelassenen Vorhänge, die bange Stille, die Nähe des Gestorbenen erfüllten ihre Seele mit einem unüberwindlichen Schauer und sie bereute bereits im Stillen ihren Wunsch. Bei dem Geräusche, das ihr Erscheinen verursachte, erhob sich eine dunkle Gestalt; es war Gertrud, welche noch einige Anordnungen zu treffen hatte. Das holde Mädchen zog sich mit einem scheuen, flüchtigen Gruß zurück und ließ Clementine und die Präsidentin allein mit der Leiche, welche mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen, nur mit einem weißen Tuche vorläufig zugedeckt, auf dem Bette lag. Bei diesem Anblick stieß Clementine einen leisen Schrei aus, der mehr ihr Entsetzen als ihren Schmerz verrieth.
„Schrecklich!“ flüsterte sie der Mutter zu.
„Du hast es ja gewollt,“ eiferte diese, die Ehrfurcht gebietende Nähe des Todes nicht beachtend. „Wer hat Dich denn gezwungen, die Leiche aufzusuchen?“
„Es wäre unschicklich gewesen, so fortzugehen. Schon der Commerzienräthin und der Leute wegen mußte ich dies Opfer bringen. Der Anstand erfordert es, aber ich vermag kaum hinzusehen; er sieht ganz entstellt aus und welch’ ein Geruch! Ich fühle mich einer Ohnmacht nahe.“
„Hier hast Du mein Riechfläschchen und nun laß uns gehen. Wir haben hier nichts mehr zu suchen. Du hast Deiner Pflicht genügt. Denke an Deine eigene Gesundheit. Du bist noch jung und hast noch eine reiche Zukunft zu erwarten.“
„Vorläufig denke ich nicht daran.“
„Aber Du wirst später daran denken. Ich glaube doch nicht, daß Du Dein ganzes Leben den Verstorbenen betrauern willst. Es gibt noch andere Männer auf der Welt und bessere Partieen.“
„Liebe Mutter! Sprechen Sie leiser.“
„Ich würde an Deiner Stelle Gott danken, daß es so gekommen ist. Du bist jetzt frei und wenn mich nicht Alles täuscht, so blühen Dir die glänzendsten Aussichten. Der Kammerherr von Rummelskirch –“
Clementine machte eine abwehrende Bewegung, obgleich sie der Mutter nicht Unrecht geben konnte. Wohl regte sich im Stillen die frisch erwachte Lebenslust und neue Hoffnungen blühten wieder auf, aber die Scheu vor dem Todten hielt sie noch ab, ihre eigenen Gedanken auszusprechen. Es graute ihr vor der Leiche, deren erstarrte Züge ihr zu drohen schienen. Sie glaubte, ein schmerzliches Zucken um den fest geschlossenen Mund bemerkt zu haben. Jedenfalls täuschte sie ihre lebhafte Phantasie.
[514] „Kommen Sie,“ bat sie leise, „ich halte es in dieser Umgebung nicht länger aus.“
Noch einmal warf sie einen furchtsamen Blick auf den Verstorbenen, dann wandte sie sich schaudernd ab und ging. Erst als sie wieder im Freien war, athmete sie auf. Der Anblick der Leiche hatte sie nicht zu erheben vermocht; sie sah nur noch die der Verwesung verfallene Hülle, das schreckende Bild der Zerstörung und Fäulniß. Sie hatte den lebenden Theodor geliebt; der Todte war für sie eben todt. Ein flüchtiges Mitleid, eine oberflächliche Rührung war Alles, was sie noch für ihn empfand.
So nahte der Tag des Begräbnisses heran, wo Theodor in der gemeinschaftlichen Gruft der Familie beigesetzt werden sollte. Die Commerzienräthin hatte mit seltener Fassung die nöthigen Anordnungen getroffen, deren Ausführung sie der getreuen Gertrud überlassen mußte, da sie sich selber zu schwach fühlte, um all’ den traurigen Pflichten zu genügen. Am vorangehenden Abende wurde die Leiche angekleidet in den Sarg von Eichenholz mit silbernen Beschlägen gelegt. Frische Blumenkränze bedeckten den Körper und verbreiteten einen süßen, betäubenden Geruch; es waren Gaben der Liebe von sämmtlichen Hausbewohnern dargebracht; das Schönste, was dem Todten mitgegeben wurde, wie er dazu bestimmt, zu verwelken, zu verwesen. In den gefalteten Händen lag die prachtvoll gebundene Bibel, ein Confirmationsgeschenk seiner Mutter, das tröstliche Wort der Auferstehung enthaltend. Zwei Kerzen brannten zu seinen Füßen, zwei zu seinem Haupt und verbreiteten ihr mildes Licht über das Kreuz, woran der Erlöser hing, und über die Züge des Entschlafenen, welche einen wunderbaren Frieden zeigten. Der Todte schien nur zu schlafen, so wenig hatte er sich bis jetzt verändert; nur die große Blässe seiner Wangen und die Starrheit seiner Glieder verkündigten den letzten, schweren Kampf. So lag er da, als hätte er sich nur auf kurze Zeit zur Ruhe begeben und nicht für die große Ewigkeit.
Im Vorzimmer hielt der Bediente die Wache an dem Sarge seines jungen Herrn, sonst war das ganze Haus zur Ruhe gegangen. Auch die betrübte Mutter wurde von einem wohlthätigen Schlummer befallen; die Natur verlangte ungeachtet des wachhaltenden Schmerzes ihr Recht und träufelte den milden Balsam des Schlafes auf die rothgeweinten Augen. Nur Gertrud blieb wach; sie ließ das arme, mit schwerem Leid erfüllte Herz nicht schlafen. Noch einmal mußte sie den Geliebten sehen, denn sie liebte ihn von der ersten Stunde an, wo sie ihn gesehen, still und hoffnungslos, so lang er lebte, still und hoffnungslos noch jetzt im Tode. Ihre Neigung war die uneigennützigste von der Welt, denn Niemand hatte sie geahnt, selbst er nicht, dem sie die reinsten Gefühle ihres jungfräulichen Herzens gewidmet hatte. Ihre Liebe wuchs auf dem Boden der Entsagung, denn vom ersten Augenblicke erkannte sie die Kluft, welche sie, das arme Mädchen, von dem Sohne des reichen Hauses trennte. Sie verlangte ja nichts mehr, als ihn einmal flüchtig zu sehen, den Ton seiner Stimme zu hören, seinen gleichgültigen Gruß als Erwiderung des ihrigen zu vernehmen. Sie war schon beglückt gewesen, wenn sie nur sein Zimmer betreten und heimlich, ungesehen seine Bücher, seine Kleider berühren durfte; wenn sie in demselben Stuhle saß, worin er gesessen, dieselbe Luft athmete, die er geathmet. Der Lichtpunkt ihres Daseins war jene kurze Unterhaltung an dem Ballabende, wo sie Theodor auf seinem Zimmer überraschte. Sie hatte damals geglaubt, vor Schreck und Freude über seine Güte und Freundlichkeit sterben zu müssen. Die Erinnerung an diese Stunde hielt sie aufrecht in all’ ihrem Leid, davon zehrte sie, damit war sie befriedigt für die Ewigkeit. Er hatte sie wenigstens einmal bei seinem Leben freundlich angesprochen, angelächelt.
Wer eine solche Liebe nicht zu begreifen vermag und ihre Wahrheit vielleicht anzweifelt, der kennt nicht das Herz der Frauen. Gertrud’s Leidenschaft hatte zunächst aus der Unterhaltung mit der Commerzienräthin ihre erste Nahrung gesogen. Der treuen und theilnehmenden Gesellschafterin gegenüber öffnete sich das übervolle Mutterherz, ihr vertraute sie ihre Hoffnungen und Erwartungen an, vor ihr lobte sie den Sohn mit verzeihlicher Eitelkeit, seine Sittlichkeit, Klugheit und Feinheit im Umgange, alle edlen Eigenschaften seines gebildeten Geistes, seines trefflichen Herzens preisend. Mit Begierde nahm Gertrud diese Schilderungen auf, welche ihre Phantasie mit noch weit glänzenderen Farben ausschmückte. Unmerklich wurde Theodor für sie das Ideal, welches früher oder später jedes Mädchenherz erfüllt. Lange, ehe sie ihn noch gesehen, liebte sie ihn schon und seine Nähe war wohl geeignet, diese Neigung zu vermehren, statt zu vernichten. Selbst seine Verlobung mit Clementine störte nicht den schönen Traum Gertrud’s, sie hatte ja nie daran gedacht, ihn zu besitzen; er war der goldene Stern, zu dem sie emporschaute ohne Wunsch, ohne Verlangen. Was that es ihrer Liebe, daß eine andere Frau sein Herz besaß? Und doch regte sich zuweilen in ihrem Herzen ein bitteres Gefühl, das sie indeß schnell niederkämpfte, wenn sie an die Ungerechtigkeit des Schicksals dachte. Sie hätte eine Fürstin sein mögen, um ihn mit einer Krone zu beglücken. Das arme Mädchen mußte dulden und – schweigen.
Nun hatte der grausame Tod ihr Alles geraubt, aber auch die Scheidewand eingerissen, die sie von dem Geliebten trennte. Der Leiche durfte sie ungescheut jetzt nahen und die Liebe, die sie dem Liebenden verbergen mußte, offen zeigen. Deshalb ließ sie jetzt ihre Thränen doppelt reichlich fließen; die schönsten Kränze, welche seinen Sarg zierten, hatte sie mit ihrer Hand geflochten und den Thau der Liebe aus ihren Augen darauf fließen lassen. Sie brauchte ihr Gefühl nicht mehr sorgfältig zu verbergen; denn in dem allgemeinen Schmerz achtete Niemand mehr auf ihren besonderen und unter dem Schleier des Mitleids konnte ihre Liebe ungehindert sich ausweinen. – Aber vor allen Dingen mußte sie ihn noch einmal sehen, eh’ der Sargdeckel niederfiel und das dunkle Grab sein Opfer aufnahm; ganz allein, von keinem Menschen beobachtet, wollte sie an seiner Seite knien und ihm in das schöne, bleiche Antlitz schauen. Deshalb schlich sie jetzt leise wie ein Geist, die flackernde Nachtlampe in der Hand, durch das stille Haus, dessen sämmtliche Bewohner schliefen. Auch der Bediente im Vorzimmer, dem man die Bewachung der Leiche anvertraut hatte, war der Müdigkeit und der Anstrengung der letzten Tage erlegen. Sie schlüpfte ungesehn an ihm vorüber in den Saal, wo die geschmückte und vollkommen angekleidete Leiche ausgestellt war. Sie hatte keine Furcht vor dem Todten, dessen bleiches Antlitz sie mild anzulächeln schien. Mit leisen Schritten näherte sie sich dem Verstorbenen still weinend. So kniete sie an seiner Seite und betete aus tiefster Seele für die Ruhe und den Frieden des Geliebten. Gestärkt und getröstet erhob sie sich vom Boden, um den mitgebrachten Kranz von Cypressen auf den Sarg zu legen. Sie neigte sich zu der Leiche hernieder und ihre heißen Wangen berührten fast die seinigen; da vermochte sie nicht zu widerstehen; sie hauchte den ersten und den letzten Kuß auf seine kalten Lippen.
Mit einem Male fühlte sie eine leise Bewegung, zwei Arme umschlangen sie und hielten sie krampfhaft fest. Zugleich vernahm sie deutlich einen tiefen Seufzer, der aus dem Sarge zu kommen schien. Das arme Mädchen stieß einen lauten Schrei aus, sie zitterte vor Schreck und Aufregung und war einer Ohnmacht nahe. Sollte sie sich getäuscht haben? Aber nein, die Leiche saß mit geöffneten Augen, träumerisch lächelnd und halb aufgerichtet im Sarge da. Die ersten Strahlen der schönen Morgensonne beleuchteten den Auferstandenen. Ein Wunder war geschehen, der Kuß der Liebe hatte den Todten aufgeweckt.
Im nächsten Augenblick hatte Gertrud ihre ruhige Besinnung wieder erlangt; sie rief um Hülfe. Der Bediente, aus seinem Schlaf erwacht, eilte herbei.
„Schnell!“ rief sie ihm zu, „eilen Sie zu dem Medicinalrath; er soll sogleich herkommen.“
Theodor, der bisher im Starrkrampfe gelegen, war zwar noch zur rechten Zeit daraus erlöst worden, aber vor Schwäche wieder hingesunken. Gertrud rieb jetzt seine Schläfe mit stärkenden Essenzen, sie gab ihm die zärtlichsten Namen und stand nicht früher ab, bis er von Neuem verwundert seine Augen zu ihr emporschlug. Jauchzend vor Freude dankte sie im Stillen Gott.
Wenige Minuten später langte der Arzt an, den sie mit einigen Worten über die Lage des Kranken aufklärte. Er traf sogleich die nöthigen Anordnungen, um den durch die Krisis erschöpften Lebensfunken wieder anzufachen. Zugleich übernahm er es, die Commerzienräthin in schonender Weise von dem glücklichen Ereigniß in Kenntniß zu setzen, damit ihr zärtliches Mutterherz der plötzlichen Freude nach so vielen bittern Qualen nicht erliege. In den nächsten Tagen hatte sich der Patient schon so weit erholt, um eine ruhige Schilderung seiner Gedanken und Empfindungen während des Scheintodes zu geben.
„Ich war,“ erzählte er seiner Mutter und dem Medicinalrath, „mit einem Male wie an allen Gliedern gelähmt, als hielte mich [515] eine unsichtbare Macht in Ketten; dabei hörte und beobachtete ich Alles, was in meiner Umgebung vorging. Meine Sinne schienen sogar schärfer, als im gewöhnlichen Zustande, denn das leiseste Geräusch, jedes Wort, das nur geflüstert wurde, entging mir nicht. Ich wußte, daß man mich für todt hielt. O! das war entsetzlich! Ich wollte laut aufschreien, aber die Sprache versagte mir. Die fühlbarsten Schreckbilder tauchten vor meiner Seele auf, und ich erduldete Höllenqualen. Ich vernahm Deine Stimme, liebe Mutter, ich fühlte, wie Deine Thränen auf meine Hände fielen. Wie gerne hätte ich Dir zugerufen, Dich getröstet, aber so sehr ich mich auch anstrengte, eine eherne Gewalt hielt mich gefesselt, und die Zunge versagte mir ihren Dienst.“
„Schrecklich!“ unterbrach die Commerzienräthin Theodor’s Bericht. „Ich schaudere, wenn ich daran denke. Sollte es denn kein Zeichen geben, das den Scheintod von dem wirklichen Tode unterscheiden läßt?“
„Wenigstens kein sicheres,“ antwortete der Medicinalrath, an den die Frage gerichtet war. „Die Wissenschaft ist in dieser Beziehung, das gestehe ich offen ein, keineswegs ganz zuverlässig. Selbst die erfahrensten Aerzte können sich irren, wie leider mein eigenes Beispiel beweist. Ich danke Gott, daß es so gekommen ist.“
„So lag ich,“ fuhr Theodor fort, „als eine lebendige Leiche mit deutlichem Bewußtsein, als ein Gestorbener für die Welt, die sich mir ohne Maske und Schminke jetzt zeigte. Der Schleier war von meinen Augen weggenommen, und ich lernte den Werth der Menschen und der Dinge kennen. Niemand gab sich mehr die Mühe, mich zu täuschen und sich in meiner Gegenwart zu verstellen; ich war ja todt und nur die Todten dürfen die Wahrheit hören, welche man den Lebenden vorenthält. So erfuhr ich, wie wir uns selbst, und wie wir Andere belügen, wie falsch oft die Liebe, wie vergänglich die Treue sei. Ich habe manche bittere Erfahrung gemacht, manche traurige Lehre für mein ganzes künftiges Leben erhalten; aber auch den Werth eines reinen Herzens, den Preis einer edlen Seele schätzen und verehren gelernt. An den Pforten des Grabes fiel die Binde von meinen Augen, die Vorurtheile schwanden, und der gleißende Schein zeigte sich vor mir in seiner egoistischen Nacktheit, in seiner verdammungswerthen Schwäche. Noch zur rechten Zeit erkannte ich meine Verblendung, und ich preise und danke Gott dafür, daß er mich durch ein Wunder vor einer großen Thorheit behütet hat.“
Die Commerzienräthin schien die Gedanken ihres Sohnes zu ahnen, doch hütete sie sich, nach dem genaueren Vorgange zu fragen, auf welchen seine Worte zu deuten schienen; sie wollte ihn schonen und nicht von Neuem aufregen. Nach einer kleinen Pause, die er zu seiner Erholung nöthig hatte, nahm Theodor seine Erzählung wieder auf.
„Ich bemerkte all die Anstalten, welche im Verlaufe der Zeit zu meiner Beerdigung getroffen wurden; der Tischler kam und nahm das Maß zum Sarge an meinem Körper; er unterhielt sich in ganz ungenirter Weise mit dem Bedienten; das Gespräch drehte sich natürlich ausschließlich um meine Person, und ich bekam auch hier manche derbe Wahrheit zu hören. Der Sarg kam und ich wurde hineingelegt. Das war der furchtbarste Augenblick für mich, und ich begreife noch heute nicht, daß mich die Angst nicht tödtete. Du sollst lebendig begraben werden, tönte es fortwährend mir in’s Ohr, lebendig begraben werden. Dagegen müssen die Qualen der Hölle nur ein Kinderspiel sein. Ich raffte meine letzte Kraft zusammen, um mich aus dem Kerker, der mich gefangen hielt, zu befreien, aber es war vergebens. Ein Bleigewicht lastete auf meiner Brust, meine Glieder blieben gefesselt, mein Arm gelähmt. Die Furcht verwirrte meine Sinne; schon sah ich, wie der schwere Deckel des Sarges herniederfiel, ich hörte die dumpfen Schläge des Hammers, mit denen er festgenagelt wurde; schon öffnete sich das Grab, um den Lebenden zu verschlingen. Mein schwacher Körper war nicht im Stande, diese Folterqualen zu ertragen, und eine wohlthätige Bewußtlosigkeit endigte wenigstens für kurze Zeit meine unbeschreiblichen Leiden.“
„Armer Theodor!“ seufzte die Mutter, vor Entsetzen bleich. „Die Erinnerung greift Dich zu sehr an.“
„Mein Bericht ist bald zu Ende,“ sagte er mit sanftem Lächeln. „Wenn die Noth am größten, ist auch die Hülfe am nächsten. Der Himmel schickte mir einen Engel, der mich aus dem Grabe auferstehen hieß und mich dem Leben wiedergab. Wie lange ich in dieser vollkommenen Bewußtlosigkeit gelegen, weiß ich selber nicht. Als ich daraus erwachte, glaubte ich einen schwachen Lichtschimmer zu bemerken; ich fühlte die Nähe eines menschlichen Wesens, ich hörte ein frommes Gebet, das für mich zum Himmel stieg. Es war Gertrud, die treue, gute Seele, die noch einmal gekommen war, um von mir Abschied zu nehmen. Ich glaubte wirklich eine überirdische Erscheinung zu haben. Ihre Nähe wirkte wie ein Zauber, das Band war gesprengt, die Ketten gerissen, die Fesseln fielen ab, und ich erhob mich aus dem Sarge als ein Auferstandener.“
Die Commerzienräthin trocknete ihre Thränen; auch der Arzt war tief erschüttert. In diesem Augenblick erschien das liebliche Mädchen, demüthig wie immer. Sie schwebte leise, wie sie gewohnt war, durch das Zimmer mit niedergeschlagenen Augen.
„Sie sieht wirklich wie ein Engel aus,“ flüsterte der alte Medicinalrath der Mutter in das Ohr. Diese nickte ihm beifällig zu.
Gertrud näherte sich ihrer Gebieterin mit sichtbarer Befangenheit. Seitdem Theodor seiner Genesung entgegenging, hatte sie den festen Entschluß gefaßt, das Haus zu verlassen, um ihrer hoffnungslosen Liebe zu entfliehen. Nach schweren Kämpfen mit sich selber, nach mancher bang durchweinten Nacht stand dies Vorhaben fest in ihrer Seele. Es war aus der Ueberzeugung entsprungen, daß sie nie dem Geliebten angehören könne. Dazu kam das natürliche Schamgefühl, wenn sie daran dachte, daß Theodor um ihre Neigung wußte. Um sich jeden Rückweg abzuschneiden, hatte sie bereits eine andere Stellung als Wirthschafterin angenommen. Jetzt war sie gekommen, um für immer Abschied zu nehmen.
„Ich bitte,“ sprach sie zu der überraschten Commerzienräthin, „um meine Entlassung, da ich eine andere Condition habe.“
„Gertrud!“ rief die Herrin. „Das kann doch Ihr Ernst nicht sein. Sie dürfen mein Haus nicht verlassen.“
„Und doch muß ich darauf bestehen,“ entgegnete sie mit bewegter Stimme. „Schelten Sie mich, gnädige Frau, eine Undankbare, aber ich kann nicht anders.“
Thränen drohten ihre Stimme zu ersticken, doch sie raffte noch einmal ihre ganze Kraft zusammen, um ihr Gesuch zu wiederholen. Bisher hatte Theodor sich ruhig verhalten, als er aber den Ernst sah, womit das Mädchen auf seinen Entschluß bestand, so hielt er an der Zeit, das Wort zu ergreifen. Er allein kannte ihre edlen Beweggründe.
„Gertrud,“ rief er ihr zu, „Sie müssen bleiben. Die Retterin meines Lebens darf mich nicht mehr verlassen.“
„O,“ murmelte sie in tiefster Bewegung, „schonen Sie mich, halten Sie mich nicht zurück. Es ist dies die einzige Bitte, die ich noch habe. Leben Sie wohl, Herr Theodor!“
Sie streckte ihm die zitternde Hand zum Abschiede entgegen, und wieder wie damals, als sie ihn im Sarge fand, sah sie sich von zwei Armen umschlungen, die sie festhielten und nicht mehr los ließen.
„Lassen Sie mir diese Hand,“ bat er leise, bat er dringend, „für immer, ewig.“
„Was hat das zu bedeuten?“ fragte die Commerzienräthin ganz betroffen.
„Eine Verlobung,“ entgegnete der gerne scherzende Arzt, welcher mit seinem gewöhnlichen Scharfblick schon längst Alles errathen hatte.
„Hören Sie mich, liebe Mutter!“ sagte Theodor mit feierlicher Stimme, indem er noch immer Gertrud fest umschlungen hielt. „Meine Erzählung ist noch nicht zu Ende. Dieses Mädchen hier kniete an meinem Sarge, hingerissen im heißesten Gebet. Was sie dem Lebenden keusch verschwiegen, gestand sie dem Scheintodten; ich erfuhr, wie ich von ihr geliebt wurde, so rein, so innig, wie nur ein Engel des Himmels lieben kann. Durch sie lernte ich erst das hohe, unschätzbare Gut eines treuen Herzens, eines liebenden Weibes kennen. Leise neigte sich Gertrud zu mir herab, um mit einem Kusse von mir Abschied zu nehmen. Dieser Kuß hat mich vom Tode aufgeweckt, ihre Liebe ließ mich auferstehen.“
Eine tiefe Stille herrschte in dem Zimmer, nur von dem leisen Schluchzen des Mädchens unterbrochen, das seine verschwiegensten Gefühle so verrathen sah. Der alte Medicinalrath wischte emsig an seinen Brillengläsern, um seine Rührung und die herabströmenden Thränen zu verbergen. Die gute Mutter aber legte schweigend die Hand Gertrud’s in die ihres einzigen Sohnes.
„Du hast ihn verdient,“ fügte sie hinzu, die still Weinende an ihr Herz ziehend.
[516] Das war eine köstliche Zeit der Genesung für Theodor. Wie schön kam ihm das Leben vor, wie freute er sich mit dem goldenen Sonnenschein, mit dem Duft der ersten Veilchen, mit der milden Frühlingsluft, wenn er in Begleitung Gertrud’s und seiner Mutter in’s Freie fuhr. Im Mai führte er seine liebliche Braut als glücklicher Gatte heim. Die Hochzeit wurde ganz im Stillen gefeiert; natürlich befand sich der Medicinalrath unter den geladenen Gästen; er ließ es nicht an dem üblichen Toast für das Brautpaar fehlen.
„Wohl dem,“ schloß er seine gehaltvolle Rede, „der noch zur rechten Zeit erwacht, dem die Wahrheit am Rande des Grabes noch die Augen öffnet, den die Liebe vor dem Tode rettet. Er feiert im eigentlichsten Sinne schon hienieden seine Auferstehung und zählt lebend zu den Seligen.“
Am Hochzeitstage schenkte die Commerzienräthin zehntausend Thaler zur Errichtung eines Leichenhauses für Scheintodte. Der Fall ihres Sohnes hatte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen und eine Verbesserung des Leichenwesens herbeigeführt, wozu hauptsächlich die genannte Summe verwendet wurde.
Theodors frühere Braut nahm die Nachricht seiner Verheirathung ziemlich gleichgültig auf, da sie eben im Begriffe stand, ihre Hand dem Kammerherrn von Rummelskirch zu reichen. Sie lebt viel am Hofe, aber nicht glücklich mit dem ältlichen Gatten, der überdies häufige Anfälle von Podagra hat und in ziemlich zerrütteten Vermögensumständen sich befindet. Desto glücklicher ist der auferstandene Theodor mit seiner Gertrud, die ihn mit einem reizenden Knaben beschenkt hat, bei dessen Taufe die gute Großmutter mit dem alten Medicinalrath als Pathen standen.
Eisenbahnen, viele großartige gewerbliche Etablissements und in ihrem Gefolge die Menge, gleich über Nacht aufgeschossenen Pilzen entstandener Häuser und Stadttheile in allen Orten haben in unseren Tagen zwar den Sinn für Anlagen und Verschönerungen neu geweckt, leider aber auch den poetischen Hauch mancher idyllischen Landschaft hinweggenommen, den stillen Reiz kleiner Landstädte und Dörfer zerstört und die Anhänglichkeit an alte von den Voreltern ererbte Häuser und Grundstücke beeinträchtigt und vernichtet. Mit den alten Gebäuden, die uns durch tausendfältige Erinnerungen und Erzählungen lieb geworden waren, in denen wir uns heimisch fühlten, weil wir sie durch und durch kannten und von ihnen gekannt zu sein meinten, sind auch die vielen alten Bäume verschwunden, die unsere Spielplätze der Knabenzeit beschatteten, unter denen wir nach vollbrachter Arbeit Abends mit Freunden und Freundinnen plaudernd saßen, die aufmerksam dem ernsteren Gespräch der älteren Nachbarn auf den Bänken vor ihren Häusern zuhörten und heimliche Lauscher und Zeugen waren, wenn der Bursch in schöner Sommernacht verstohlen Abschied nahm von der Meisterstochter, Treue gelobte auf der anzutretenden Wanderschaft, oder wiederkehrend nach langjähriger Trennung in’s alte, liebe, heißersehnte Heimathhaus singend und jubelnd einzog.
Die poetische Seite ist es jedoch nicht allein, die hier in Betrachtung kommt. Es ist erwiesen, daß Baumanlagen, namentlich in größeren Städten, der Gesundheit dienlich sind, und es ist daher wünschenswerth, daß die Pietät für alte Bäume lebhafter würde und bei neuen Anlagen und Bauten auf deren Schonung mehr gebührende Rücksicht genommen werde, als jetzt geschieht, wo so oft die herrlichsten Exemplare von Bäumen aufgeopfert werden, lediglich um den einmal entworfenen Bauplan eines untergeordneten Gebäudes eigensinnig festzuhalten, anstatt den gebotenen Bedingungen anzupassen. Ja, es ist bedauerlich zu sagen, daß selbst mitunter Architekten den landschaftlichen Werth, den die Bäume für die Gebäulichkeiten haben, nicht zu würdigen verstehen und nicht bedenken, daß die architektonischen Formen erst den höchsten Reiz durch den Contrast erhalten, den die Contouren von Gehölzgruppen mit ihnen bilden.
Erscheint es vielleicht auch als übertriebene Rücksicht, daß König Friedrich Wilhelm II. von Preußen das Marmorpalais im neuen Garten bei Potsdam weit in den heiligen See hinausbauen ließ, um einige, freilich von ihm selbst gepflanzte Pappeln zu erhalten; und erlaubte es auch nur die besondere Großartigkeit des Krystallpalastes bei London, die großen Ulmen im Innern des Gebäudes stehen zu lassen, so sollte doch wenigstens an allen Orten, wo ein Ausweichen möglich ist, wie auf Promenaden, Plätzen und Vorstädten, bei den Bauten auf die bereits vorhandenen Bäume, als legitime Inhaber des Platzes, Bedacht genommen werden; und man bedenke, daß mit den gehörigen Mitteln eine Mauer sich in kurzer Zeit herstellen läßt, für einen großen Baum aber achtzig Jahre gehören.
Oft ist es jedoch der Fall, daß solche Bäume geschont werden könnten, wenn man sie um einige Schritte aus dem Wege rückte, oder einer Allee eine etwas andere Richtung gäbe. Hier nun muß die Technik des Gärtners helfen und die Bäume verpflanzen. Es ist dies eine Arbeit, die, wenn man bedenkt, daß es oft darauf ankommt, einer Stadt eine Allee hundertjähriger Linden oder Kastanien zu erhalten, verhältnißmäßig nur gering ist und keine bedeutenden Kosten veranlaßt. Wir lassen hier die Beschreibung eines Verfahrens folgen, nach welchem es nun mit dem besten Erfolge gelungen ist, Bäume, bis zu einer Höhe von siebzig Fuß und über zwei Fuß Stammstärke, auf hundert und mehrere Schritt fortzurücken.
Das Verpflanzen größerer Bäume geschieht am besten im Winter mit sogenannten Frostballen, denn die Anwendung der Pflanzmaschinen, um die Bäume ohne den zwischen den Wurzeln haftenden Boden aus der Erde zu heben und zu transportiren, ist durch Anschaffung der Maschinen eine theure, im Erfolge weniger sichere und mehr auf den weiten Transport berechnete. Wir haben es hier mit alten hohen Stämmen zu thun, die aufrecht stehend fortgeschafft werden müssen. Man umzieht zu diesem Zweck den zu versetzenden Baum vor Eintritt des Frostes mit einem Graben, dessen Entfernung vom Stamm sich nach der Größe des Baumes und dessen Wurzelvermögen richtet. In der Regel sind bei zwei Fuß starken Stämmen zehn bis zwölf Fuß genügend. Der Graben wird so breit gemacht, um bequem darin arbeiten zu können, und circa 11/2 Fuß tiefer, als die Hauptmasse der Faserwurzeln in den Boden geht, was nach Beschaffenheit des Letzteren sehr verschieden ist, häufig aber drei Fuß nicht übersteigt. Durch dieses Aufgraben rings um den Stamm entsteht ein Erdballen, der von den Wurzeln durchwachsen ist. Beim Eintritt des Frostes thut man gut, besonders bei sandigem Boden, diesen ganzen Erdballen anzufeuchten, damit er zu einer festen Masse zusammenfriere. Ist dies geschehen, so kann die Fortschaffung beginnen. Man untergräbt zuerst ein Drittel des Ballens, legt in die Höhlung auf den Boden einige Bretter, kurze Walzen von hartem Holze darauf und auf diese einen oder zwei Balken, je nach dem Umfang des Ballens. Reichen die Balken noch nicht bis an den Ballen hinan, so treibt man einige Keile und Holzklötze dazwischen, damit die Ballen die Last des Baumes zu tragen bekommen. In derselben Weise wird nun von der andern Seite her verfahren und zuletzt in der Mitte unter dem Stamme das letzte Drittel des Ballens unterminirt und mit Brettern, Walzen und Balken unterbaut. Finden sich hierbei noch Wurzeln, die etwa noch tiefer als die Hauptmasse des Ballens in die Erde gehen, so werden sie weggeschnitten.
Sämmtliche Walzen und Balken müssen unter sich genau parallel gelegt werden und dabei zugleich auf die Richtung, in der der Baum fortgewalzt werden soll, Bedacht genommen werden. Auch sind die Balken gut unter sich zu verklammern, damit sie ein unverschiebbares Gerüst bilden. Das Pflanzloch am neuen Standorte des Baumes ist schon zuvor bei frostfreiem Wetter zu machen und zwar mindestens zwei Fuß tiefer und anderthalb mal weiter, als der Ballen auszugraben. Hierauf wird es mit nahrhaftem Boden wieder angefüllt, und mit Laub zum Schutze gegen den Frost bedeckt. Es wird dann, wenn die Arbeiten zum Transport des Baumes fertig sind, wieder aufgenommen und zwar so tief, daß der Baum genau so hoch zu stehen kommt, wie er gestanden hat.
[517] Ist die Entfernung vom alten Standort des Baumes bis zum neuen nicht groß, so thut man am besten, die an beiden Orten gemachten Löcher durch einen Graben zu verbinden, damit der Baum horizontal fortbewegt werden kann, und die Last von 800 und mehr Centner nicht gehoben zu werden braucht. Ist die Entfernung aber größer, so erweitert man die Aufgrabung beim Baume nach einer Seite in der Art, daß die Bahn für denselben rampenartig eine sanft ansteigende Ebene bildet, und verfährt ähnlich beim Pflanzloche, wo die Bahn sich wieder abwärts neigen muß; oder der Baum wird an seinem Standorte senkrecht gehoben, indem man vermittelst mehrerer starken Wagenwinden, wie Maurer und Steinmetzen sie brauchen, die Balken zuerst an einem Ende einige Zolle anhebt, und die darunter entstandene Lücke mit Erde, Holzklötzen etc. ausfüllt, dann am andern Ende hebt und in dieser Art behutsam fortfährt, bis der Ballen über der Erde steht und nun horizontal fortgewälzt werden kann. Aehnlich wird beim Niederlassen verfahren. Zum Fortbewegen bedient man sich entweder eines sogenannten Tummelbaums oder Erdwinde, wobei der Baum durch das sich aufwindende Seil fortgezogen wird. Weniger Menschenkräfte, obwohl mehr Zeit, gebraucht man aber, wenn man den Baum mit Wagenwinden (wie die Zeichnung weist) fortschiebt, die beim Fortrücken durch dahinter eingeschlagene Pfähle und dazwischen gelegte Hölzer unterstützt werden. Es sind dann nur sechs Mann zu dieser Arbeit erforderlich. Steht endlich der Baum an seinem neuen Standorte, so wird zuerst eine Reihe Balken, Walzen und Bretter entfernt, und die Lücken gut und fest mit Boden ausgestopft, dann dasselbe nach und nach mit den andern Hölzern gethan, bis das Pflanzloch unter reichlichem Zugießen von Wasser mit Boden vollständig ausgefüllt ist. Gegen den Wechsel der Temperatur sind endlich die Wurzeln des verpflanzten Baumes durch eine dichte Decke von Laub zu schützen.
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Bei der steigenden Theilnahme, welche das Publicum der wissenschaftlichen Entwickelung der medicinischen Elektrisation widmet, erscheint es zeitgemäß, auch über die elektrischen Apparate ein Wort zu reden, umsomehr als in der Benennung derselben noch immer eine große Verwirrung herrscht.
Der „Magnetiseur“ zwar liebt es, sich in ein geheimnißvolles Dunkel zu hüllen und zu der blindgläubigen Menge in einer fremden Sprache zu reden; es paradirt auch so manches unbrauchbare Schaustück als heilkräftige Vorrichtung in dergleichen Zaubersalons –; betrachten wir hier nur die nach physikalischen Grundsätzen gefertigten Apparate:
Der Magnet, früher höchstens zur Entfernung eingedrungener Metallstückchen und ähnlichen mechanischen Zwecken benutzt, wurde Anfangs dieses Jahrhunderts in Mesmer’s Hand zu einer Universal-Heilpotenz, zum Vermittler des sogenannten Lebensmagnetismus (Mesmerismus); später fand sich, daß das Streichen mit der bloßen Hand ganz dieselben wunderthätigen Wirkungen habe: auch so entstand ein kritischer Schlaf (magnetischer Somnambulismus) und viele Leiden, besonders Nervenübel, waren wie weggeblasen. Immermehr entfernte sich der sonderbare Schwärmer vom physikalischen Boden und träumte nun von einer „Allfluth“ in der gesammten Schöpfung. Seine Nachfolger (die Puysegurs etc.) zogen vollends den Gegenstand auf’s Gebiet des Phantastischen und, die Glaubwürdigkeit der Berichte dahingestellt, so spielte Einbildung, geistige Aufregung und willkürliche Mitwirkung eine Hauptrolle beim Mesmerisiren.
Zu dem Magnetismus als physikalischem Begriff hat unser Organismus durchaus keine Beziehung. Die Vorgänge im Nervensystem sind vielmehr elektrischer Art, und es wird heutzutage in der Medicin nur elektrisirt, nicht magnetisirt.
Je nach der Quelle der Elektricität sind auch die Elektrisirmaschinen verschieden; die Namen beziehen sich also stets auf die besondere Art der Entwickelung der Elektricität und sind in der Regel nach den Erfindern gewählt: hiernach unterscheidet man:
1) Reibungs-Elektricität: da dies die zuerst bekannte, von O. v. Guericke entdeckte, von Dufay studirte Gattung ist, so heißt der Apparat, welcher durch Reibung von Glas und Leder Elektricität entwickelt, noch immer vorzugsweise die Elektrisirmaschine; die bekannten Funken, welche man in der Leydener Flasche sammelt, ertheilen sehr empfindliche Schläge, die man aber zu wenig in seiner Gewalt hat; dabei ist die Erregung nur eine vorübergehende, so daß dieses Verfahren fast gänzlich außer Gebrauch gekommen ist.
2) Berührungs- (Contact-) Elektricität, Galvanismus: Galvani entdeckte, daß zwei verschiedene Metalle in Berührung gebracht einen elektrischen Strom entwickeln; Volta vereinigte eine Anzahl solcher Metallpaare zu der nach ihm benannten (trocknen) Säule und erzielte so eine bedeutende Verstärkung des Stromes; dieser blieb auch ein beständiger (constanter), als man zwischen die Metalle flüssige Leiter einschaltete, und die zweckmäßigste Combination der Art bildet eine sogenannte constante Kette, deren mehrere vereint eine galvanische Batterie bilden.
Dieser „constante“ Strom wird in neuester Zeit benutzt, um kranke Nerven und Muskeln zu galvanisiren, nachdem Experimente an Thieren gelehrt hatten, daß der Galvanismus einen Nerven der Einwirkung anderer Reize entziehe, daß er die gesunkene Erregbarkeit wieder herstelle und mittelbar die Muskeln dehnbar mache. Von diesen Gesichtspunkten aus wendet man ihn jetzt bei gewissen Lähmungen, Krampfformen (Veitstanz, Schreibekrampf) und besonders bei Muskelcontracturen an, und in der That versprechen die ersten Erfahrungen eine große Zukunft. Setzt man die Pole einer 20–25paarigen Batterie über einen Nerven auf die befeuchtete Haut, so empfindet man alsbald längs der ganzen Nervenbahn einen eigenthümlichen Wärmestrom; öffnet man nach einiger Zeit die Batterie, so entsteht eine Zuckung in der ganzen zugehörigen Muskelprovinz; diese Erscheinungen bieten Verschiedenheiten dar, je nachdem der Strom den Nerven nach auf- oder abwärts durchläuft. Die Fähigkeiten des galvanischen Stromes, Eisen (beim Oeffnen und Schließen) magnetisch zu machen – der Elektro-Magnetismus – findet keine Verwendung zu Heilzwecken, erfüllt aber beim volta-elektrischen Inductions-Apparat eine höchst wichtige Aufgabe, wie wir sehen werden.
3) Inductions-Elektricität, Faradismus. Endlich entsteht Elektricität durch Induction (Einleitung); in einem Leiter (einer Kupferspirale) wird nämlich ein elektrischer Strom nach Faraday’s Entdeckung erzeugt, eingeleitet auf doppelte Weise:
1) bei abwechselnder Annäherung und Entfernung eines Magnetes,
2) bei Oeffnung und Schließung eines genäherten galvaninischen Stromes.
Die Inductionsapparate sind somit entweder magnetisch-elektrische oder volta-(galvanisch-)elektrische: der faradische Strom hat die Eigenthümlichkeit, daß er nur von momentaner Dauer ist; will man ihn beständig haben, so muß für stete Annäherung und Entfernung des Magnetes und respective Oeffnung und Schließung des galvanischen Stromes Sorge getragen werden. Diese Aufgabe wird beim magnet-elektrischen Apparate durch Drehung der Pole der Inductionsspirale bei fixirtem Magnet erfüllt und diese Drehung durch Menschenhand verrichtet, er heißt daher auch Rotations-(Drehungs-) Apparat.
Bei der volta-elektrischen Inductionsmaschine ist zu diesem Zwecke ein elektro-magnetisches Hammerspiel zwischen den Endpunkten der Bahn des galvanischen Stromes angebracht. Die beigefügte Abbildung stellt einen solchen Apparat, wie er neuerdings hier in Magdeburg gefertigt wird, in der vollständigen Zusammenstellung dar; Fig. 2. durchschneidet im Durchschnitte das Innere desselben.
Der Apparat besteht im Wesentlichen aus zwei auf einer hölzernen Sohlplatte gelagerten, in einander zu schiebenden Holzcylindern, von denen jeder mit einer Kupferspirale mannichfach umwunden; dieselben umgibt nach Außen ein Mantel von Eisenstäben (C), [519] welcher wesentlich zur Verstärkung beiträgt. Die Sohlplatte ist mit einer Schiebervorrichtung versehen, welche den mittlern Cylinder (D) theilweise oder ganz über den innern (H) zu führen gestattet. Das zum Betrieb benutzte galvanische Element (E) ist in der Regel ein Daniel’sches aus Kupfer (Cu) und Zink (Zk); als flüssige Halbleiter dienen Cypervitriollösung außerhalb und Kochsalzlösung innerhalb des Thoncylinders (Th). Die Menge der Elektricität wächst mit der Zahl der Elemente, die Stärke (elektrische Spannung) mit der Größe der Metallflächen. Bei Vereinigung mehrerer werden die ungleichnamigen Metalle (Cu mit Zk des nächstfolgenden u. s. w.) verbunden. Der galvanische Strom wird nun durch die Drähte (d) auf eine behufs der Isolirung mit Seide übersponnene Kupferspirale geleitet, welche den innersten Holzcylinder (H) umwickelt und auf diesem nach G zurückkehrt. Hier ist das Hammerspiel (FG) eingeschaltet; der Eisenkern F wird durch den galvanischen Strom elektro-magnetisch und zieht daher den Hammer an, welcher an einer Messingfeder haftend, durch diese Entfernung von der Schraube G den Strom öffnet; er wird daher wieder von F losgelassen, und schließt nun den Strom von Neuem, daher abermals Anziehung erfolgt u. s. f.
Auf dem Holzcylinder D verläuft der Draht, auf welchen der faradische Strom inducirt wird, und dieser geht durch die Schrauben auf B in die Leitungsdrähte über; letztere sind zur Isolirung und bequemern Handhabung ebenfalls mit Seidenfaden umwickelt. Mit der Länge der Spirale wächst die Stärke des inducirten Stromes, sie ist am bedeutendsten, wenn a und b sich berühren.
Der ursprüngliche galvanische Strom heißt auch wohl der primäre, der inducirte im Gegensatz der secundäre; jeder kann besonders in Anwendung gezogen werden.
Hierüber, so wie über die Beschaffenheit der Conductoren und die Methode der localen Faradisation nach Duchenne ist bereits in Nr. 36 v. J. dieses Blattes ausführlich berichtet. Es erübrigt noch ein Wort über die sogenannten elektrischen Ketten, welche am Körper getragen werden. Dieselben sind zum Theil, wie namentlich die Goldberger’schen und ihre zahllosen Nachahmungen, von gar keiner physikalischen Wirkung; mehr Sinn hat der Romershausen’sche Bogen, welcher ein einfaches galvanisches Element darstellt; am wirksamsten sind die Pulvermacher’schen Ketten, die auf höchst sinnreiche Weise construirt, einen merklichen Strom entwickeln, doch erstreckt sich die Wirkung aller dieser Vorrichtungen nur auf die Haut, welche dadurch gereizt und geröthet wird; dieser Reiz wird beträchtlicher, wenn die betreffende Hautstelle durch Blasenpflaster der Oberhaut beraubt ist.
Es mußte ein außerordentlicher Anlaß sein, der heute eine so ungewöhnliche Bewegung in den sonst so gleichmäßig ruhigen und soliden Haushalt des Herrn Geheim-Secretairs brachte. Die Vorboten außerordentlicher Wirthschaftsereignisse waren, wie immer in derlei Fällen, zuerst in der Küche bemerkbar geworden, und es fiel den Hausgenossen nicht wenig auf, daß die Frau Geheim-Secretairin, als sie am gestrigen Markttage mit ihrem Dienstmädchen vom Einkaufen zurückkehrte, den Succurs einer „Tragefrau“ hatte requiriren müssen, um die eingekauften Vorräthe nach Hause zu schaffen. Bald genug kam das große Geheimniß durch das Factotum der Familie, das erwähnte Dienstmädchen, zur allgemeinen Kenntniß: es handelte sich um nichts Geringeres, als um eine Abendgesellschaft in großem Styl: Thee und warmes Abendbrod, dazwischen Tanz und Spielpartieen. Das dreistöckige Haus der Alten Jacobsstraße kam schier in Aufruhr über so ungewohnte Dinge! Wußte doch Jedermann, wie sehr die Familie sich sonst einschränkte, sich einschränken mußte! Es ist wahr, er hatte ein schönes Gehalt, der Herr Geheimsecretair, mit den üblichen Weihnachts-Gratificationen vom Herrn Minister, über 800 Thaler. Aber dafür war auch der Kindersegen stark; zwei herangewachsene Mädchen und drei Knaben, die zum Theil noch die theuren Schulen besuchten und, wie die Frau Geheim-Secretairin einer vertrauten Nachbarin zu klagen pflegte, „gar nicht vom Schuhmacher und Schneider fortkamen.“ Dazu kam, daß der Mann erst seit wenigen Jahren in die gegenwärtige, auskömmliche Stellung gelangt war und, wie man munkelte, aus früherer, schlechterer Zeit Schulden hatte, die nach und nach getilgt werden mußten. Und so war es denn natürlich genug, daß die Familie sich einschränkte, wie es nur irgend anging. Freilich hatte dieses Einschränken seine Grenzen; man mußte doch einigermaßen seiner Stellung in der Gesellschaft Ehre machen, konnte die erwachsenen Töchter nicht wie Dienstmädchen gekleidet einhergehen lassen, und die Söhne nicht in die gewöhnliche Volksschule schicken, welche allenfalls für die Zukunft von Proletarierkindern ausgereicht hätte, die von Hause aus dazu bestimmt waren, das Handwerk ihres Vaters fortzusetzen oder ein entsprechendes zu ergreifen. Nicht eben, daß der Geheim-Secretair hoch hinaus wollte, aber es wollte ihm doch auch nicht zu Sinne, und noch weniger der Frau, die aus guter Familie stammte, daß seine Söhne gewöhnliche Professionisten werden sollten. Welcher Gedanke, daß ihm, dem Herrn Geheim-Secretair, wenn er mit dem Bündchen im Knopfloch und den Acten unter dem Arm aus dem Ministerium nach Hause ginge, sein Jüngster, der Blondkopf, mit klappernden Pantoffeln, im Schurzfell, in der obligaten Tracht eines „Schusterjungen“ begegnete, und das vielleicht, wenn zufällig einer der Herren Räthe dem Vater die Ehre erwiese, eine Strecke neben ihm herzugehen, wie das schon vorgekommen war. Entsetzlicher Gedanke!
Der bedeutungsvolle Abend war gekommen, und die vier Frontfenster der nach der Alten Jacobsstraße gelegenen Wohnung glänzten hell inmitten der bescheiden beleuchteten Nachbarhäuser. Der Gegensatz bürgerlicher Gastlichkeit gegen die billige Scheidemünze der Gastfreundschaft in den „höheren Gesellschaftskreisen“ machte sich sofort darin kenntlich, wie die Eingeladenen anlangten. Die Meisten kamen zu Fuße, wenige in Droschken, Niemand in einer Kutsche. Dieses und die Art der Bewirthung unterschied die Gesellschaft einzig von den Soiréen anderer Kreise, wenigstens was die äußere Erscheinung betraf; doch muß gewissenhafter Weise hinzugefügt werden, daß, wenn die Herren weniger Bänder und Orden im Knopfloche hatten, die Blumenfülle in den Haaren der Damen desto beträchtlicher war, und daß, was den Coiffüren an Eleganz und Kostbarkeit abging, reichlich durch jugendliche Gesichter, blühende Farben und munter blickende Augen ersetzt wurde. Man sah es den Gestalten dieses Kreises an, daß sie nicht müde und gelangweilt von einer Soirée in die andere eilten, daß sie sich nicht vergeblich in dem Ringen nach Unterhaltung abmühten, ohne selbst etwas Anderes in die Gesellschaft mitzubringen, als vornehme Blasirtheit.
Die Gesellschaft war so zahlreich, daß sie die vorhandenen drei Zimmer vollständig füllte. In dem mittleren fand der eigentliche Ball statt, zu welchem die Töchter des Hauses, abwechselnd mit den vorhandenen musikalischen Kräften der Gesellschaft, Clavier spielten. In dem Vorderzimmer, welches sonst die Arbeitsstube des Hausherrn war, hatten sich einige Spielpartieen zusammengefunden; in dem dritten hatten diejenigen Elemente der Gesellschaft Posto gefaßt, welche weder am Tanz noch Spiel Theil nahmen, und ihre Rechnung bei einer allerdings nicht brillanten, aber dafür auch nicht unnatürlich geschraubten Unterhaltung fanden.
„Wie, Herr Director, Sie entziehen sich heute unserer Whistpartie? Das ist eine Auflehnung gegen alle gesetzliche Ordnung!“
Mit diesen scherzhaften Worten näherte sich der Hausherr einem Manne des zuletzt geschilderten Kreises, und machte Miene, den sich Sträubenden mit freundlicher Gewalt in das Spielzimmer zu ziehen.
Der mit dem stattlichen Titel „Director“ Angeredete war ein noch junger Mann, etwa ein Vierziger; ließ ihn aber die schlanke, [520] hagere Gestatt und das blonde Haupthaar fast noch jünger erscheinen, so konnte man ihn dafür wiederum, nach der gefurchten Stirn und der gekrümmten Haltung, für einen Fünfziger halten. Ein aufmerksamer Beobachter, aber auch nur ein solcher, würde vielleicht bemerkt haben, daß der Anzug des Herrn Directors bei tadelloser Sauberkeit doch eine gewisse Fadenscheinigkeit verrieth, welche die offenbar angewandte größte Sorgfalt nicht vollständig zu verdecken vermocht hatte, und welche mit dem pomphaften Titel des Inhabers dieser Kleidung nicht ganz im Einklang stand. Es gehört eine ziemlich genaue Kenntniß der wunderlichen Nomenclatur des Beamtenthums dazu, um zu wissen, daß es Subalternbeamte mit diesem Titel gibt, der vollständig eigentlich „Canzlei-Director“ lautet, den Vorsteher einer Canzlei bezeichnet, und aus Courtoisie gewöhnlich in den wohlklingenderen „Director“ abgekürzt wird, bis der also Titulirte die seltsamer Weise höhere Rangstufe des „Canzlei-Rathes“ erreicht. Endlich wird er gar „Geheimer Canzlei-Rath“, ohne daß er trotzdem aufhört, ein Subalternbeamter zu sein, welcher nichtsdestoweniger als Herr „Geheimer-Rath“ unter den übrigen Geheimen-Räthen der Gerichtshöfe und Verwaltungsbehörden figurirt. So kommt es denn zuweilen, daß ein junger Assessor bei einer Behörde den Herrn „Geheimen-Rath“ anweist, dieses oder jenes Aktenstück herbeizuschaffen, oder eine Expedition zu erledigen.
Der Director, von dem wir reden, schien diese Einladung zur Theilnahme am Whist mit Besorgniß vorausgesehen zu haben, denn mit augenscheinlicher Aengstlichkeit suchte er sich durch unzusammenhängende Ausflüchte der ihm zugemutheten Betheiligung zu entziehen. Glücklicher Weise kam ihm seine Frau im entscheidenden Augenblicke zur Hülfe, und entwickelte mit geläufiger Beredsamkeit ausreichende Gründe für die Dispensation ihres Gatten, unter denen als der entscheidendste ein heftiger Kopfschmerz gelten gelassen wurde, den sich der Aermste durch übereifriges Arbeiten zugezogen habe. Als der Herr des Hauses den Director nach mancherlei Versicherungen freundlichen Bedauerns wieder verlassen hatte, athmete der Letztere erleichtert auf. Aber sein Kopfschmerz schien ihn während des ganzen Abends nicht zu verlassen, denn er blieb einsylbig, und trotz manchen leisen Winks seiner Frau war er zu keiner lebhafteren Theilnahme an der Unterhaltung zu bewegen. Auch an der Abendtafel nahm er stillschweigenden Antheil, obgleich die laute Fröhlichkeit um ihn her wohl geeignet gewesen wäre, ihn von seinen Gedanken abzuziehen. Von Zeit zu Zeit sandte seine Frau Blicke voller Besorgniß zu ihm herüber, um sich dann desto lebhafter zu dem Tischnachbar oder der Tischnachbarin zu wenden, welche die angenehme Unterhaltungsgabe der Frau Directorin zu gut zu schätzen wußten, um sie sich selbst oder der ausschließlichen Theilnahme für den Gatten zu überlassen. Aber auch sie schien das Ende des Mahls herbeizusehnen, denn nachdem die lange Reihe lächerlicher Complimente beendet war, mit denen eine wohlerzogene Tischgesellschaft sich marionettenartig zum Schlusse zu regaliren pflegt, gab sie ihrem Manne einen leisen Wink, und Beide verabschiedeten sich unter mannichfachen Versicherungen gegenseitigen Bedauerns über das frühe Scheiden.
Die Hausfrau wies das Mädchen an, eine Droschke für die Herrschaften herbeizuholen. Die Frau Directorin lehnte das Anerbieten eifrig ab.
„Es wird meinem armen Manne bei seinem Kopfschmerz wohl thun, wenn wir die kurze Strecke nach Hause zu Fuße zurücklegen.“
„Aber ich bitte Sie, Sie haben bis zum Rosenthaler Thore eine halbe Stunde zu gehen; außerdem ist Schnee gefallen, und Sie gewärtigen, sich zu erkälten.“
Mit munterem Lachen beharrte indessen die Directorin bei ihrer Ablehnung, und man verabschiedete sich endlich. Das Mädchen leuchtete voran, um das bereits verschlossene Haus zu öffnen. Auf der letzten Treppenstufe flüsterte die Frau ihrem Manne etwas in’s Ohr. Dieser zuckte statt aller Antwort mit den Achseln.
„Es ist schrecklich!“ stöhnte die Frau leise vor sich hin. Damit waren sie bis an die Thür gelangt. „Ich danke, liebes Kind – ein ander Mal –“
Sie waren auf die Straße getreten.
„Schäbiges Volk –“ brummte das Dienstmädchen, unwillig die Thür zuschlagend, daß das Licht beinahe erlosch – „tragen seidene Kleider und Glacéhandschuhe, gehen in feine Gesellschaften und geben nicht einmal einem armen Dienstmädchen ein Trinkgeld. Je vornehmer, desto ruppiger – na, kommt Ihr nur wieder!“
Wer weiß, ob Du also gesprochen hättest, derbes, aber treuherziges Geschöpf, wenn Du den Beiden gefolgt wärest, die jetzt schweigend in den beschneiten Straßen den Heimweg antraten. Sie sahen nicht aus, als kämen sie aus einer fröhlichen Abendgesellschaft, und auch sie, die sonst so gesprächige Frau, ging in trübem Schweigen an der Seite ihres Mannes einher.
Als sie eine geraume Zeit gegangen waren, unterbrach die Frau die unheimliche Stille.
„Ich dachte, Du hättest noch Geld bei Dir, mindestens einen Thaler –“
„Du hast vergessen,“ antwortete der Mann gereizt, „daß ich heute meinen Beitrag für den Festpokal zum Jubiläum des Hofraths geben mußte. Sollte ich der einzige Beamte sein, der sich ausschloß? Mein Beitrag war ohnehin der geringste.“
„Wir haben keinen Pfennig Geld im Hause – nicht einmal zum Frühstück morgen für die Kinder, und der Bäcker mahnt jedes Mal –“
Der Mann antwortete nicht; als sie aber an die Brücke gelangt waren, welche über den größeren Arm des Flusses führt, faßte er seine Frau bei der Hand und sagte mit einem Tone, aus dem die trostlose Lebensmüdigkeit sprach:
„Wie es kommt, wir müssen es tragen, so oder so, alles Jammern macht das Elend noch elender. Sonst lieber gleich hier hinein, dann wär’ mir wohl. Lange wird es ohnedies nicht mit mir dauern,“ setzte er leise hinzu.
Aber als hätte es dieser Anmahnung zur Standhaftigkeit nur bedurft, um die entgegengesetzte Wirkung hervorzurufen, so brach das arme Weib gerade jetzt in unaufhaltsame Thränen aus, und vorübereilende Nachtschwärmer blickten ihr verwundert nach, vermeinend, das Ehepaar fülle die Zeit der Rückkehr von einem fröhlichen Gelage mit einer Ehestands-Scene aus.
„Und bei alledem noch in Gesellschaften gehen zu müssen,“ schluchzte sie, „es hat mir fast das Herz abgedrückt. Die üppige Rendantin hat mir fortwährend auf die ausgewaschenen Handschuhe geguckt und ein Mal über das andere Deinen Canzlei-Frack gemustert.“
„Ich konnte nicht anders,“ sagte der Mann resignirt, „der Geheim-Secretair hätte unser Ausbleiben übel genommen, und Du weißt, welche Verbindlichkeiten wir ihm schuldig sind.“
„Aber ein Entschluß muß doch gefaßt werden, Wilhelm, es muß doch etwas geschehen,“ fuhr die Frau wieder fort, „der Wirth drohte schon gestern, die Exmissionsklage anzustellen –“
„Jawohl,“ versetzte der Mann mit leisem Hüsteln, „es wird recht spaßhaft für meine Canzlisten sein, wenn sie die Vorladungen oder gar die Executions-Mandate gegen ihren Chef ausfertigen.“
Er mußte stärker husten und suchte sich fröstelnd fester in den dünnen Ueberrock zu wickeln. Die Frau schmiegte sich dichter an ihn, als wollte sie ihn so vor der kalten Nachtluft besser schützen.
„Sprich nicht mehr,“ bat sie, „Du mußt sonst husten. Wenn nur erst wenigstens das Frühjahr da wäre, das ist doch immer ein Trost, daß dann die ewige Noth um Licht und Feuerung geringer wird!“
Sie hörte nicht, wie der Mann leise vor sich hinmurmelte: „Zum Frühjahr! das ist auch mein letzter Trost!“
Sie waren an ihr Haus gelangt und schlossen eben die Hausthür auf, als sie schwere Schritte hinter sich hörten. Es war der wohlbeleibte Wirth, der aus seiner Tabagie zurückkehrte. Das Begegniß konnte sich nicht unglücklicher für das Ehepaar treffen.
„Ei, sieh da, Herr Director und Frau Gemahlin, guten Abend! Gewiß in vornehmer Gesellschaft gewesen – ja, ja, so geht’s, zu Allem langt es, nur nicht, dem armen, geplagten Hauswirth die Miethe zu bezahlen –“
„Bester Herr Ehrenberg,“ bat die geängstigte Frau, „haben Sie noch einige Tage Geduld, wir sind Ihnen ja sicher –“
„Hoho!“ lachte der Wirth mit grober Stimme, „ich danke für die Sicherheit! Sie glauben, ich hätte den Wechseljuden nicht bei Ihnen ein- und ausgehen sehen? Ich weiß recht gut, daß Sie sich von einem Termin zum andern nur durch Prolongation gegen hohe Zinsen hinschleppen. Ich muß Ihnen sagen, Herr Director, daß mir an solchen Miethern gar nichts gelegen ist. Da ziehe ich mir lieber einen reputirlichen Handwerker vor, der keinen großartigen Titel hat, der aber dafür seine Miethe pünktlich bezahlt, anstatt sich mit Wechseljuden und solchem Pack abzugeben.“
„Sie sind vollkommen in Ihrem Rechte, Herr Wirth,“ nahm [521] der Mann das Wort. „daß Sie auf Ihrer Forderung bestehen, aber Sie sind wohl ungerechter in Ihrem Urtheil, als Sie selbst es vermuthen. Glauben Sie mir, man kann unverschuldet in Verhältnisse gerathen –“
„Niemals –!“ polterte der in Eifer gerathene, von reichlich genossenem Weißbier erwärmte Hausmann, „niemals darf ein honetter Mann, am Allerwenigsten ein königlicher Beamter in die Lage kommen, zu Wucherern und Halsabschneidern seine Zuflucht zu nehmen. Miethsleute, die Wechselreiterei treiben, passen nicht in anständige Häuser –“
Der Canzleidirector wollte nochmals etwas entgegnen, um dieser peinlichen Scene ein Ende zu machen, aber ein erneuerter Hustenanfall ließ ihn nicht zu Worte kommen. Das Gespräch hatte in der Zugluft zwischen zwei offenen Thüren stattgefunden, und der Husten des Directors wurde so heftig, daß die Frau es ihre nächste Sorge sein ließ, den fast Athemlosen von der unheimlichen Stelle fort und nach der Wohnung zu bringen.
Einen Augenblick hatte der Wirth sich durch das heftige, keuchende Husten seines Miethers in seinen Vorhaltungen unterbrechen lassen, als er aber das hartbedrängte Ehepaar die Treppe zur Wohnung hinaufsteigen sah, rief er dem Manne noch nach:
„Richten Sie sich danach, Herr Canzleidirector, habe ich bis morgen früh um neun Uhr nicht die rückständige Miethe, so reiche ich die Klage ein! – Lumpenvolk, hochmüthiges, weiter nichts,“ brummte der pünktliche Mann vor sich hin, indem er sorglich die Hausthür schloß und sich im Gefühl erhöhter Würde zur Ruhe begab.
Die Wohnung des Canzleidirectors lag im zweiten Stock und war für eine aus sechs Köpfen bestehende Familie eng genug, denn sie bestand nur aus drei verhältnißmäßig kleinen Zimmern, deren Miethpreis nichtsdestoweniger beinahe den vierten Theil des Gehaltes in Anspruch nahm.
In dem ersten Zimmer ließ sich der Director erschöpft nieder. Er fühlte sich von Fieberschauern geschüttelt und der erstickende Husten hatte ihm den hellen Angstschweiß auf die Stirn getrieben, von der die dicken Tropfen jetzt auf die krankhaft gerötheten Wangen niederrieselten. Die Frau brachte ihm eilig etwas lauwarmen Thee, der in der Ofenröhre stand; er machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand –.
„Sieh nach den Kindern,“ sagte er, „ich höre sie.“
Sie eilte in das Nebenzimmer, in dem die drei jüngsten Kinder schliefen, und hatte genug zu thun, das Kleinste zu beschwichtigen, das von dem Balle etwas mitgebracht haben wollte, die andern zuzudecken, welche über Kälte klagten, und das Dienstmädchen zu Bette zu schicken, welches sorglos bei den Kindern eingeschlafen war. Dann eilte sie wieder zu ihrem Manne, der die Hände fest auf die Brust gepreßt hielt, um einen wiederholten Hustenanfall zu unterdrücken. Er saß auf dem Rande seines Bettes, die Brust arbeitete schwer und die abgemagerten Hände waren eiskalt. Mit dem Ausdrucke der schmerzlichsten Theilnahme beugte sich die Frau über ihn, wischte ihm den Schweiß von der Stirn und suchte seine kalten Hände in den ihrigen zu erwärmen. Sie half ihm, sich zu entkleiden und als er zu Bette gebracht war, winkte er ihr, sich zu ihm zu setzen. Aber sie mußte sich ganz zu ihm hinunterbeugen, um seine leise geflüsterten Worte zu verstehen.
„Versprich mir, mich ruhig und gefaßt anzuhören …“
Sie rang in stummer Verzweiflung die Hände, denn sie ahnte das Schreckliche. Was sollte aus ihr, aus den vier unmündigen Kindern werden! Aber dieser Gedanke war es nicht, der sie zunächst mit grenzenlosem Jammer ergriff, sie dachte zunächst nur an den geliebten Mann, den Vater ihrer Kinder, der, ein Muster der Hingebung, sich unablässig für die Seinen gemüht und geplagt, bis die Frohnarbeit des Tages im Verein mit nächtlicher Arbeit seine Kraft aufgezehrt und aus der einst so blühenden Mannesgestalt einen Schwindsüchtigen gemacht hatte.
„Wilhelm, einziger, guter Mann, ich will zum Doctor laufen, der Anfall wird vorübergehen –“
„Wenn Du mich lieb hast, so thue nichts dergleichen, sondern füge Dich in’s Unvermeidliche. Laß den letzten und größten Liebesdienst sein, den Du mir erweisest, daß Du mir das Scheiden nicht noch bitterer machst, als es schon ist. Vertrau’ auf Gott, den Vater der Wittwen und Waisen …“
Sinke nur immer nieder auf Deine Knie, armes Weib! schmiege Dein thränenüberströmtes Antlitz an die keuchende Brust des Sterbenden und lehne Dein Ohr an seine zuckenden Lippen, um sein letztes Vermächtniß zu hören! Was Du in mancher Stunde banger Sorge zitternd ahntest, die Trennung für immer von ihm, mit dem Du Freud’ und Leid, mehr noch Kummer und Sorge lange Jahre hindurch getragen hast, – sie tritt jetzt in schreckensvoller Nähe an Dich heran, und Du darfst nicht laut jammern, um seine letzte Stunde nicht noch mehr zu erschweren.
„Ich habe ein Testament errichtet und Dich zur befreiten Vormünderin der Kinder ernannt. Das ist Alles, was ich Dir hinterlassen kann … mein Vertrauen und meine Liebe, über’s Grab hinaus …. Du wirst keine Weitläufigkeiten mit dem Vormundschaftsgericht haben und hast über die Zukunft der Kinder zu bestimmen. Du wirst sie zu tüchtigen Handwerkern erziehen oder zu sonst einem anständigen Gewerbe bestimmen, … das Elend des Beamtenthums möge ihnen, so Gott will, erspart bleiben … Du wirst mit den paar Thalern Wittwengehalt nicht fertig werden, aber Ihr werdet Euch einschränken können, wenn ich … wenn Ihr allein seid, werdet Ihr eine kleine Wohnung vor dem Thore beziehen, und Du wirst als arme Beamtenwittwe mit den Mädchen getrost arbeiten können, ohne daß es Deine bürgerliche Stellung schändet … Ich habe heute früh ein Schreiben an den Präsidenten aufgesetzt … das gib ihm … morgen … segne Dich Gott! … mir wird mit einem Mal so leicht … Deine Hand …!“
Zur Mittagsstunde des nächsten Tages ließ sich ein bleiches, abgehärmtes Weib bei dem Präsidenten der Behörde anmelden, an welcher der Canzleidirector angestellt war.
„Was bringen Sie mir, liebe Frau?“ sprach der Präsident, indem er theilnehmend in das blasse Antlitz der Supplicantin blickte, „ist Ihr Mann etwa erkrankt? Er soll sich ja schonen, seine Gesundheit ist nicht die beste, und ich werde Bedacht nehmen, daß ihm zum Sommer eine Unterstützung zu einer Badereise bewilligt wird –“
„Er leidet nicht mehr, Herr Präsident!“ war Alles, was die Wittwe zu antworten vermochte.
Der Präsident war sichtlich betroffen und sprach in herzlichen Worten seine Theilnahme, sein Bedauern aus. Sie reichte ihm das Schreiben und er las mit lebhafter Bewegung:
„Da ich meinen Tod herannahen fühle, so mag ich nicht scheiden, ohne Ihnen, innigst verehrter Herr Präsident, ein letztes Lebewohl und den innigsten Dank für die vielen Beweise des Vertrauens und der Theilnahme auszusprechen, deren ich mich während meiner ganzen Dienstzeit zu erfreuen hatte. Leider vermochte alles mir unverdient gespendete Wohlwollen nicht, mich der nagenden Sorge zu überheben, die mich frühzeitig elend gemacht hat und meine unversorgten Kinder bald zu Waisen machen wird. So weit es einem vor Gott demüthigen Herzen ansteht, sich von wissentlicher Schuld freizusprechen, so weit darf ich von mir sagen, daß ich mein Unglück nicht verschuldet habe. Erst seit einigen Jahren habe ich durch Ihr Wohlwollen eine Stelle erhalten, von deren Besoldung ich meine Familie hätte ernähren können, wenn nicht das frühere, ganz unauskömmliche Gehalt, von dem ich eine zahlreiche Familie bei immer zunehmender Theuerung aller Lebensbedürfnisse zu erhalten hatte, mich in Schulden gestürzt hätte, die mir die Früchte einer vermehrten Einnahme nicht zu Gute kommen ließen. Und so gehe ich meinem Ende entgegen, ohne den Meinen etwas Anderes zu hinterlassen als den, wie ich hoffe, unbefleckten Namen eines pflichttreuen Beamten. Ich weiß, daß mir von Ihrer Gnade eine Unterstützung zu einer Badereise zugedacht war – möge diese Unterstützung meiner Frau zu Theil werden, damit sie in ihrem Schmerze wenigstens der Sorge überhoben sei, wie sie den Todten geziemend zur Erde bestatte …“
Der Präsident las nicht weiter, er reichte der Wittwe liebreich die Hand und sprach ihr mit herzlichen Worten Trost zu, Hülfe verheißend, so weit es in seinen Kräften stand. Sie schied mit strömenden Thränen des Dankes.
Drei Tage darauf bewegte sich an einem hellen Februartage ein stattlicher Leichenzug vom Sterbehause die Straße entlang, zum Thore hinaus. Der majestätische Hauswirth selbst folgte in einem eleganten Trauerwagen, und aus der Art und Weise, wie er sich mit dem Präsidenten begrüßte, schien hervorzugehen, daß sie unlängst eine Conferenz gehabt hatten, welche die Gesinnungen des strengen Mannes in Beziehung auf die Familie des Canzleidirectors [522] wesentlich umstimmte. Wenigstens behaupteten die Hausbewohner allgemein, daß die Trauerkleidung der Wittwe und Kinder durch die Frau des Wirthes in höchsteigener Person in die Sterbewohnung gebracht worden waren.
In den Zeitungen aber war am folgenden Tage unter den „Todesanzeigen“ zu lesen:
„Am vierzehnten Februar starb hierselbst der königliche Canzleidirector Wilhelm August … im eben vollendeten dreiundvierzigsten Jahre an den Folgen einer Brustkrankheit, welche durch eine hinzugetretene Erkältung einen schnellen tödtlichen Ausgang nahm. Der Dahingeschiedene war während seiner zwanzigjährigen Dienstzeit ein Muster der Pflichttreue und Hingebung an seine dienstlichen Obliegenheiten gewesen, und hatte sich in gleichem Grade des Vertrauens seiner Vorgesetzten, wie der Achtung und Liebe seiner Collegen und Untergebenen zu erfreuen gehabt. Sein Name wird für immer in ehrenvollem Andenken bleiben.“
(Fortsetzung.)
Die schöne, etwas heißblütige Nachmittagssonne erlaubte den beiden Wanderern nur modice ac temperanter den Weg über die Justinshöhe, Zeigernhain, nach der prächtigen Ruine Greifenstein zu verfolgen. Eine Menge Umfassungsmauern schließen die bedeutenden, in malerischer Unordnung umherstehenden Reste der ehemaligen Burg der Schwarzburger ein, die in ihren Spitzbogenthüren und feingegliederten Fenstern eine ehemalige Schönheit vermuthen lassen. Eine alte knöcherne Frau, Ruine in der Ruine, lebt in einem hergerichteten kleinen Zimmer mit herrlicher Aussicht und Fremdenbuch, und trabt bergauf bergab, von und nach Blankenburg, um ein paar magere Pfennige durch den gestillten Durst der Kletterer zu verdienen. Eine Gesellschaft, die schon den herrlichen Sonnenuntergang über der üppigen Landschaft betrachtete, und auch noch den bleichen, gehörnten Nachtschwärmer erwarten wollte, löste eines seiner Glieder ab, welches uns hinab begleitete. Es war ein origineller Mann. Er hatte eine gewisse, aber fast ausartende Zuthulichkeit. Mit meisterhafter Geschicklichkeit wußte er plötzlich dem Gespräch über Staatsökonomie eine andere Wendung zu geben, behauptete (wie die Haruspices aus den Eingeweiden wahrsagten) aus den Zähnen den Charakter eines Menschen beurtheilen zu können, und war unvermuthet mit der Forderung da: „Ach, zeigen Sie einmal ihre Zähne“ (Aha! ein Zahnbrecher!)
Die Gutmüthigkeit meines Vetters gab dies zu, wofür er zum Dank im nächsten Augenblick einen Spiegel im Munde hatte, den der triumphirende Ausruf begleitete: „Sehen Sie doch diese Zahnformation!“
Der Dentiste mußte ein so unendliches Wohlgefallen an unsern ruinirten Gebissen finden, daß er uns absolut nicht über Blankenburg hinauslassen wollte und ganz kühl Abschied nahm, als ich anfing, ihm im metaphorischen Sinne die Zähne zu zeigen, und darauf bestand, noch wenigstens bis zum Anfange des Schwarzathales zu gehen. Dies geschah. Es nahm uns der „Chrysopras“, ein früheres Zechenhaus von „Hannchens Grube“, gastlich auf, und noch lange saß es sich gut bei dem blakenden Talgstümpfchen, während der Mond durch die dunkeln Tannen über die Berge lugte.
Die Schwarza entlang, in der einst Gold gewaschen wurde, gingen wir am nächsten Morgen den engen, melancholischen Pfad, der von Bergen mit Laubholzwaldungen (hin und wieder von Weißtanne und Lärchbaum unterbrochen) begrenzt ist. Jede der unzähligen Biegungen des Weges gibt ein neues schönes Bild des romantischen Thales. Am Ende desselben, bei einer Brücke mit Steingeländer, öffnet sich plötzlich die Aussicht und in einem herrlichen, von üppigen Bergen umgebenen Kessel liegt vor uns ein Juwel des thüringer Landes, das Schloß Schwarzburg. Hier war ein langer Augenblick der Ruhe, denn unbeschreiblich war der Anblick der in den zauberhaftesten Sonneneffecten schwimmenden Landschaft.
Das das schwarzburger Felsenschloß umgebende Dörfchen ist eine wahre Idylle, dessen Bewohner sich aus frühester Zeit „die Männer vom Thale Schwarzburg“ nennen. In diesem vermieden wir weise die Prosa der weißen sonntäglichen Kleider und aufgestutzten Frisuren der nach und nach sich einfindenden Kleinstädter.
Am Nachmittage stiegen wir drei (denn ein zuerst schweigsamer und abstoßender Fremder, ein Maler W. aus Dresden, war uns jetzt ein lieber Gefährte geworden) den Trippstein, in dessen Borkenhäuschen uns noch einmal der überraschende Anblick des üppigen Schwarzburger Wiesengrundes wurde.
Die Wanderung wurde fortgesetzt und wir gelangten zunächst nach der sogenannten Fasanerie, einem schönen Vergnügungsparke mit düsteren, labyrinthischen Gängen, und dann über Allendorf und das malerische Millwitz, Dörfer, die sich durch eine gewisse Wohlhabenheit und dunkel gestrichene Balkenlagen auszeichnen, nach Paulinzelle, in dem wir in der Finsterniß ankamen.
Das Abendbrod und die fast elternhafte Aufmerksamkeit der Wirthsleute erwarben sich sofort unsere vollständige Hochachtung, nur störte uns in dem nebenliegenden Versammlungszimmer das unausstehliche Geplärre der jüngeren Mitglieder einer Familie, accompagnirt von dem in Töne gebrachten Leichtsinn eines jungen Mädchens, die sie einem alten Pianoforte abwürgte, und das burschikose Auftreten zweier nackthalsiger Musensöhne, die ihre ersten Bartfasern zum ersten Male in die Welt trugen.
Die Nacht hatte uns gestärkt und wir betraten an dem nächsten, leider regnerischen Morgen die imposanten Reste des einstigen Klosters.
Paulinzelle wurde im zwölften Jahrhundert von der frommen Tochter Moricho’s als kleines Nonnenkloster Mariazelle gegründet, erhielt jedoch nach dem Tode und der bald darauf erfolgten Canonisation (Paulina reclusa) den Namen der Stifterin und wurde Mönchs- und Nonnenkloster zu gleicher Zeit. Unwissenheit und Sittenlosigkeit herrschten natürlich darin, bis es im Bauernkriege geplündert und 1534 gänzlich aufgehoben und verlassen wurde. Um ihm die jetzige Gestalt zu geben, that zunächst ein Blitzstrahl, dann aber eine fürsorgliche Renovation das Nöthige.
Es muß ein großartiges Bauwerk gewesen sein, da die wenigen Trümmer (romanischen Styls) noch einen so wunderbaren Eindruck machen. Hübsche Rasenanlagen, welche die grandiosen Säulenreihen umgeben, beweisen die Sorgfalt, die jetzt auf Erhaltung dieses historischen Denksteines gerichtet wird. Einige halbverfallene [523] bemooste Grabsteine bedecken die Gebeine einiger Aebte des funfzehnten Jahrhunderts. Wie gern hätte ich unter diesem Erdreiche gewühlt, um möglicher Weise noch einen Blick in die Vergangenheit zu thun!
Wie in den Wirthschaftsgebäuden die größte Ordnung und Sauberkeit herrschte, so trat sie auch unter der weithin schattenden Linde auf das Eclatanteste hervor, und das Gabelfrühstück selbst war nur geeignet, das am Abend vorher gefaßte Vertrauen auf das Glänzendste zu rechtfertigen. Die Bouillon, die gebackenen Forellen, das filet de boeuf stempelten den Wirth von Paulinzell zum Bery des thüringer Waldes. Ein Trupp Bergleute, die von einem ländlichen Feste zurückkehrten, wurden engagirt, hinter uns auf den waldigen Hügeln postirt und die Cavatine aus Euryanthe, der Marsch aus dem Tannhäuser, ja selbst das Sextett aus dem Don Juan schallten herrlich herüber. In heiterster Stimmung, unter dem Schall der Instrumente, nahm W. Abschied von uns, welche Lücke aber sogleich durch einen Ersatzmann in Gestalt eines jungen Landmannes ausgefüllt wurde. Wir hatten durch den Tausch nicht gewonnen, denn als dieser sich uns auf der Tour nach Ilmenau enger und immer enger anschloß, und unsere auf Reisen üblichen Spirituosen auf das Nachdrücklichste untersuchte und so gut fand, daß er eine fast krankhafte Vorliebe für dieselben zu empfinden schien, wurde er langweilig und wir mußten ihn in der Schenke zu Wimbach als „sehr schwer“ den sorglichen Händen der Wirthin überlassen. Wir selbst waren nach einer Stunde in Ilmenau.
Ach! welch’ ein Unterschied! Die Bewirthung von Paulinzell zu letzterem verhielt sich wie W. zum Oekonomen, und wenn in Paulinzell der Bery von Thüringen war, so war hier nur – der Gasthof „zum Löwen.“ Der kalte Regenmorgen zwang uns, zuvörderst die Ausstellung des thüringischen Kunstvereins in einem Gebäude am Felsenkeller zu besuchen, zu der der Eingang an leeren Biertonnen vorübergeht. Sie wurde mit großem Gepränge auf den Affichen angekündigt, aber enthielt außer einigen neuen guten Bildern für uns nur die „vieilles croûtes“, die wir schon vor Jahren gesehen und die als unverkäuflich aufgegebenen Atelier-Decorationen in mannigfachster Gestalt. So mancher Freund sah trübselig von der Wand herab und seufzte die zwei einzigen Besucher an als ultima spes. Arme Freunde, wenn wir etwas aufhängen wollten, dürften wir nur selber malen.
Ein wenig Sonnenblick erlaubte uns einen Spaziergang über die die Stadt umgebenden Hügel, und dieser beruhigte uns in Bezug auf die hier die Wassercur gebrauchenden Fremden. Liebliche Landschaften breiten sich vor den einzelnen Punkten aus, die ihren Namen irgend einem Wohlthäter zu verdanken haben, wie „Ravené’s Ruh“, „Löffler’s Höh“ etc. etc. Wieder hinabgestiegen, fanden wir es nicht möglich, uns mit einem Fuhrmann über die Fahrt nach Suhl zu einigen; unverschämte Forderungen bewogen uns, trotz Wetter und alledem, wiederum unsere Ränzel zu schnüren, und so sagten wir mit keiner sehr schmerzhaften Empfindung, wie sie sich wohl in Paulinzell einstellte, dem theuren Kalt-Wasser-Badeort Valet, und patschten, um über die Schmücke zu gehen, nach Mannebach. Unsere Hydroparastaten, die Stiefel, bewogen uns, in der Schenke dieses Ortes zu rasten. Eine alte Mama kochte uns Kaffee, während uns einige weißhaarige Jungen mit ihren hellen Augen freundlich betrachteten, und ein krummbeiniger Mann, im blauen Kittel, verschämt die Einladung zum Mittrinken annahm. Diese Aufforderung schien ihm eine besondere Würde beizubringen, denn er nahm ein ernstes, reservirtes Wesen an, verschwand dann einen Augenblick, und trat bald wieder adonisirt hervor, indem er sorgfältig sein langes schwarzes Haar in der Mitte gescheitelt und glatt auf beiden Backen in zwei enorme Crochet’s zusammengeklebt hatte. Die Tassen, woraus wir den Trank der braunen Bohne schlürften, hatten eine schaurige Auszeichnung an sich. Um würdig die Zusammengehörenden zu bezeichnen, stand auf der Untertasse das Ende des auf dem Oberkopf angebrachten Spruches, was aber durchaus nicht deren Umtausch verhinderte. So hatten wir z. B.: Zum Anden–schaft und Aus Freund–ken. –
Der Krummbeinige brachte uns einige hundert Schritt auf den richtigen Weg, und da jetzt der Regen der Sonne vollständig gewichen war, stiegen wir ruhig die köstliche Waldung entlang, zwischen
[524]den zum Terpentingewinn eingeschnittenen schlanken Tannen hindurch, über die mit üppig sammtenem Moos überwachsenen Wurzeln und Steine.
Fast 3000 Fuß hoch, zwischen Nadelholz und Wiesengrund, liegt auf einer flachen Bergkuppe eine einsame Wirthschaft. Es ist das Gasthaus auf der Schmücke. Jedem Fremden ist der Aufenthalt wegen der freundlichen und vortrefflichen Bedienung hier zu empfehlen, wenn auch die Aussicht nicht den Vorstellungen entspricht, und mir der Weg dahin ungleich besser gefiel, als das Ziel selbst. Nach der so nöthigen Erquickung stiegen wir daher den steilen Weg hinab, und zogen mit der rückkehrenden Heerde durch das in jedem Winkel malerische Goldlauter, grüßten rechts und links die neugierigen, oft hübschen Gesichter, und stürmten, um uns nicht von der Nacht überrumpeln zu lassen, an der Lauter entlang, über Hammer und die Schleifwerke hinaus nach Suhl.
Viel Wirthschaft empfing uns da, und nur mit Mühe erhielten wir ein Diminutiv-Zimmerchen, das eher einer Puppenstube glich, als bestimmt zu sein schien, die zwei märkischen Kinder zu beherbergen. Es war natürlich Schützenfest und, nachdem wir an der Abendtafel noch das sinnreiche Gespräch dreier junger Officiere über das Anziehende des Uniformtragens wißbegierig eingesogen hatten, zogen wir es doch vor, dem Geiste einige Ruhe zu gönnen und uns, trotz der späten Zeit, noch auf den Hauptschauplatz des Festes zu begeben.
Es war zehn Uhr, als wir auf einem finstern Platze außerhalb der Stadt ein großes, trübe erleuchtetes Haus erblickten und vor diesem, von einem Caroussel her, die Glocken und Paukenwirbel hörten, welche die verwegenen Reiter durch die Nacht heranlockten. Zwei andere haus- und budenartige Räume tauchten noch nach und nach aus der Finsterniß hervor, nachdem wir unsere Sehorgane an dieselbe gewöhnt hatten. Das angesehenste der Gebäude enthielt einen in seinen Verhältnissen schönen, großen Saal, mit ungefähr 36 Stearinlichtern, die wie Sterne vereinzelt in dem Dunstkreise schwebten. Eine Polka, in der verwegensten Behandlung, dursäuselte die Luft und die Schützen, also auch Honoratioren der Stadt, huschten als dämmerige Phantome vorüber, und wirbelten weibliche Toiletten mit sich hinweg, die uns einen eben nicht glänzenden Aufschluß über Suhls beau monde gaben.
In der andern kleinen Baracke war Biergenuß und Harfenklang, ausgeführt von vier erwartungsvollen Sirenen, während in der dritten, einer Art Bude, nur noch der historische Fusel verabreicht wurde. Durch diese absteigende Linie jedem Stande und Geschmacke genügen zu wollen, flößte uns eine hohe Achtung vor den Vätern der Stadt ein.
Eine Gerichtsscene in Mexico. Es war zu Cosala in Mexico – erzählt ein englischer Reisender – wo ich mich einige Tage aufhielt. Es war zu jener Zeit gerade ein gewisser Joachim Pachero, ein gefürchteter Straßenräuber, eingefangen und ins Gefängniß gebracht worden. Die ganze Stadt war auf den Beinen und wallfahrtete förmlich nach dem Gefängnisse, um den kühnen Straßenräuber durch das Gitter zu beobachten, der in seiner Zelle in der vollkommensten Ruhe und Sorglosigkeit die Zeit damit todtschlug, Cigarren zu rauchen, von denen er allerdings einen nicht unansehnlichen Vorrath zu besitzen schien.
Am folgenden Tage sollte er verhört werden; da ich durch eine Empfehlung Gelegenheit hatte, dem Verhöre beizuwohnen, so entschloß ich mich, hinzugehen, und wahrlich, die Originalität desselben, sowie des ganzen richterlichen Actes wird mir stets unvergeßlich bleiben. Das Gerichtszimmer war sehr imposant, denn die Ausstattung desselben bestand aus einer von Gras geflochtenen Hängematte, die vermittelst zweier Haken an der Decke befestigt war, einigen Stühlen von Bambusrohr, einem Tisch von Mahagoni, der vor Zeiten auch einmal neu gewesen, gegenwärtig aber von Würmern so ziemlich ganz zerfressen war. Ferner war das Zimmer mit Steinen gepflastert; an der Thür war eine schlechte Strohmatte. In der Hängematte ruhte, halb sitzend, halb liegend, auf den Ellnbogen gestützt, die Hand unter dem Kinne, ein kleiner, spindeldürrer Mann mit ruhigem Gesicht, dessen schäbige und schmutzige Kleidung von der hohen richterlichen Würde eben keinen hohen Begriff gab. Auf dem Tische stand ein Gefäß mit glühenden Kohlen, welches den Zweck hatte, daß Jeder, der rauchen wollte, sich eine Cigarre aus einem daneben liegenden Bündel, aus dem einige herausgefallen und sich über den Tisch zerstreut hatten, anzünden konnte. In der Mitte des Tisches stand ein staubbedecktes Tintenfaß, aus welchem das Bruchstück einer vergilbten kurzen Feder herausschaute; Papier war nicht zu sehen. Um das Bild des Gerichtshofes von Cosala zu vollenden, braucht sich der Leser nur noch den Angeklagten zu denken, wie er, ganz phlegmatisch auf einen Stuhl hingestreckt, auf dessen Hinterbeinen sich hin und her schaukelt und seinen Wächtern, zwei Dragonern, den Rücken zukehrt, die neben einander auf der Strohmatte sitzen und, den Carabiner zwischen den Knieen, emsig beschäftigt sind, Papiercigarren zu drehen, bis der Dienst sie wieder ruft.
„Nun, hombre (Mann),“ sagte der Mann, sich aus seiner bequemen Stellung etwas aufrichtend, „nun wollen wir Euch verhören.“
„Mit Eurer Erlaubniß, Señor,“ sprach Pachero, indem er, ohne dem Richter zu antworten, aufstand, zum Tische ging und eine Cigarre, welche er vorher zwischen den Fingern gehalten hatte, am oben erwähnten Kohlenbecken anzündete.
„Macht keine Umstände, Mann,“ sagte der Richter zu ihm, „rauchen ist eines der wichtigsten Geschäfte im ganzen Leben; aber seit die Regierung das Tabacksmonopol an sich genommen hat, wird der Taback von Tage zu Tage schlechter.“
„Allerdings. Doch gibt es immer noch einige brave Burschen, die sich nichts daraus machen, mit den Zollbeamten ein paar Kugeln zu wechseln,“ erwiderte der Angeklagte, „und wenn Euer Gestrengen sich davon überzeugen wollen, so brauchen Sie mir nur die Ehre erweisen, und dieses Bündel Cigarren anzunehmen.“
„Mit Vergnügen, bester Freund,“ war des Richters Antwort, indem er das ihm dargereichte Cigarrenbündel nahm, eine herauszog und sie an dem Kohlenbecken anzündete. „Wahrhaftig!“ rief er, als er schweigend einige Minuten lang den Dampf der Cigarre von sich geblasen hatte, „Ihr habt Recht, das ist etwas Köstliches! Ihr Räuber seid heutzutage die einzigen Caballeros, welche gute Cigarren zu rauchen bekommen. Mein lieber Junge,“ fuhr er mit seiner süßesten Stimme fort, „Ihr müßt wirklich bei dem Contrabandista, der Euch diese herrlichen Cigarren geliefert har, ein gutes Wort für mich einlegen. Es wird Eurem Freund nicht zum Schaden gereichen, denn außer dem Gelde, das er in die Tasche steckt, kann man nicht wissen, ob ich ihm nicht einmal nützen kann, wenn er über kurz oder lang in Unannehmlichkeiten kommen sollte. Doch nun zum Geschäft, wenn’s Euch recht ist. Sagt mir einmal, beim Teufel, weshalb habt Ihr den armen Kerl, den Antonio, umgebracht?“
„Um Euch die Wahrheit zu gestehen, Richter,“ antwortete der Angeklagte mit der größten Kaltblütigkeit von der Welt, „so bin ich niemals im Stande gewesen, das genau zu begreifen. Wenn ich mich nicht irre, so waren an jenem Morgen meine Nerven sehr aufgeregt, und dadurch war ich sehr reizbar geworden.“
„Das ist allerdings ein Entschuldigungsgrund, muß ich sagen,“ entgegnete der Richter, „aber doch von nur geringer Bedeutung, und deshalb kann ich diese Entschuldigung nicht gelten lassen. Doch was ich sagen wollte, wie hoch läßt sich denn Euer Contrabandista die Nuda (ein großes rundes Packet) von seinen Cigarren bezahlen?“
„Zwölf Realen, und in jedem Packet sind 32 Bündel.“
„Und dafür läßt die Regierung uns zwei Piaster, das sind doch 16 Realen, bezahlen!“ rief der Richter heftig. „Das ist ja Diebstahl, offenbarer und schamloser Diebstahl. Sprecht mir nur nicht von den Regierungen, die bestehen alle aus Spitzbuben, einer immer ärger, als der andere.“
„Darin bin ich vollkommen mit Euch einverstanden,“ sagte der Angeklagte, „nur lassen sie sich gegenseitig nicht erschießen, wenn sie sich dabei erwischen.“
„Richtig, alter Bursche, aber dabei fällt mir etwas ein: die Untersuchung ist zu Ende, und ich will jetzt das Urtheil sprechen.“ Mit diesen Worten streckte der würdige Richter die Hand aus, um seine Feder zu ergreifen; aber sie steckte so fest in der eingetrockneten Tinte, daß er sie nicht herausziehen konnte. „Caramba!“ rief er aus, „ich habe ja auch ganz vergessen, Stempelpapier holen zu lassen. Was soll ich nun machen?“ Dann, wie plötzlich von einer Idee inspirirt, wandte er sich zu den beiden Dragonern mit den Worten: „Da ich gerade kein Papier habe, um mein Urtheil darauf zu schreiben, so nehme ich Euch, meine beiden Söhne, zu Zeugen, daß ich hiermit den Joachim Pachero, den Mörder des Don Antonio, verurtheile, nach Verlauf von 48 Stunden erschossen zu werden, auf der Stelle, wo das Verbrechen verübt wurde. Die Untersuchung ist geschlossen, bringt den Verurtheilten wieder in’s Gefängniß.“
Während Joachim das Zimmer verlassen wollte, sprang der Richter aus der Hängematte, und ihn am Arme fassend, sagte er: „Mein armer Freund, Ihr werdet es mir nicht nachtragen, daß ich diese kleine Formalität in Eurer Geschichte habe vornehmen müssen, und vergeßt nicht. Eurem Freunde, dem Contrabandista, wenn Ihr ihn noch einmal sprechen solltet, ein Wörtchen in Betreff meiner zu sagen, wie Ihr mir eben versprochen habt.“
Zwei Tage darauf wurde Joachim erschossen.
- ↑ Unter diesem Titel werden wir eine Reihe Artikel bringen, worin die innern Zustände unseres Beamtenthums in scharfen, aber getreuen Strichen von sachkundiger Hand gezeichnet werden. Den heutigen wollen unsere verehrten Leser als einleitende Skizze ansehen. D. Redact.