Textdaten
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Autor: Paul Niemeyer
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Titel: Die örtliche Faradisation
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 36, S. 486–487
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[486]
Die örtliche Faradisation.
Eine neue Methode der Elektrisation.

Zu den verschiedenen Methoden der Elektrisation ist wiederum eine neue hinzugekommen, welche endlich diesem Heilverfahren einen ebenbürtigen Platz unter den ärztlichen Kunstfächern errungen hat. Nur wenig wissenschaftlich gebildete Aerzte wandten vordem diesem Gegenstände ihre Aufmerksamkeit zu; höchstens veranlaßten augenblickliches Bedürfniß, neuerungssüchtigen Patienten gegenüber, oder Laune einmal den Erwerb einer Maschine, die aber nur allzubald wieder in einem entlegenen Winkel dem Staube preisgegeben wurde; bleibende Stätte fand der Apparat nur in den physiologischen Laboratorien zum Studium der Funktionen gewisser Körpertheile und Gewebe und es erfuhr namentlich die Lehre von der Thätigkeit des Nervensystems dadurch eine bedeutende Bereicherung; den elektrischen Strom in gleicher Weise am lebenden Menschen anzuwenden, daran dachte man nicht sogleich; erst nach und nach eröffneten sich Gesichtspunkte, welche eine derartige praktische Ausbeute versprachen. Was Nobili, A. v. Humboldt, Matteucci u. A. vermuthet und angedeutet, bewies der geniale Dubois-Reymond nach Jahre langem Studium als positive Wahrheit; daß nämlich das in den Nerven thätige Princip, das sogenannte „Nervenfluidum“ gleichbedeutend mit dem elektrischen sei; er definirte den Nerven als einen aus bipolaren Molekeln zusammengesetzten Elektricitäts-Erreger und Leiter und wies auch im Muskel einen solchen Strom nach. Somit lag die Vermuthung nahe, daß ein dem Nerven- und Muskelleben so nahe verwandter Reiz auch ganz vorzugsweise sich zur Belebung kranker Nerven und Muskeln eignen müsse; spätere Forschungen ergaben sogar, daß ein dermaßen in den „elektrotonischen“ Zustand versetzter Nerv für andere Reize unempfänglich sei. Der [487] gelehrte Froriep versuchte zuerst, die elektrische Behandlung rheumatischer Affektionen wissenschaftlich zu begründen. In England wurde ferner die wichtige Beobachtung gemacht, daß von zwei nur noch mittelst der Nerven mit dem übrigen Körper zusammenhängenden Froschschenkeln der eine, sich selbst überlassen, rasch abmagere und verkomme, der andere, täglich elektrisirt, noch lange seinen natürlichen Umfang beibehalte und fortvegetire; auffallend war auch bei derartigen Versuchen der größere Blutgehalt der eben elektrisirten Muskeln. Johannes Müller endlich äußerte sich folgendermaßen: „die Nervenkraft nimmt zu durch dieselben Mittel, durch welche sie beständig wieder erzeugt wird, nämlich die beständige Reproduktion aller Theile aus dem Ganzen und des Ganzen durch Assimilation. Für einen geschwächten Theil sind gelinde Reize daher nicht darum nützlich, weil sie die Reizbarkeit erhöhen, sondern weil ein gereizter Theil mehr die Ergänzung des Ganzen anspricht und daher vorzugsweise wieder ergänzt und erzeugt wird.“

Dieses reichhaltige Material lag zur praktischen Verwerthung bereit, als die medicinische Gesellschaft zu Gent eine Preisfrage „über die Wirksamkeit der Electricität bei Behandlung von Krankheiten“ ausschrieb und, durch diese angeregt, widmete Duchenne zu Paris dem Thema seine volle Kraft, und seine Bemühungen wurden wie mit dem Preise auch mit dem schönsten praktischen Erfolge gekrönt; er wußte die gelehrte Welt im vollsten Maaße für seine Ergebnisse zu interessiren und dieselben wurden auch in Deutschland von den angesehensten Männern der Wissenschaft verfolgt und fortgeführt.

Zunächst verdient Erwähnung, daß D. einen neuen Namen, der recht glücklich gewählt ist, einführte: er nannte seine Kunst „Faradisation“ nach Faraday, dem Erfinder der durch Induktion galvanischer Ströme gewonnenen Elektricität; er operirte fast ausschließlich mit diesem und sein Apparat unterscheidet sich außer durch größere Bequemlichkeit und besondere Vorrichtungen zur genauern Dosirung der Elektricität nicht wesentlich von den bisher gebräuchlichen.

Viererlei Punkte kommen bei dem neuen Verfahren in Betracht:

1) Die Beschaffenheit der Conduktoren d. h. der Endvorrichtungen, welche den Strom zum Körper leiten; die genauere Prüfung verschiedener Stoffe ergab, daß trockne Metalle eine andere Wirkung haben als feuchte Leiter von Leder oder Schwamm; jene erregen in schmerzhafter Weise die Haut, ebenso diese wenn sie gleichfalls trocken, und Drähte, zu einer Art Bürste vereinigt, wirken schneller und eindrucksvoller als andere Hautreize z. B. die spanischen Fliegen („die elektrische Geißel“). Gegentheils afficiren feuchte Schwämme das Hautorgan viel weniger, sie wirken vielmehr durch dieses hindurch auf die unterliegenden Muskeln und Nerven; so ist man im Stande, bedeutende Bewegungen hervorzurufen, ohne die Empfindlichkeit der Haut in Anspruch zu nehmen. Auch auf innere Organe, wie die Blase, den Kehlkopf, wird mittelst passender Conduktoren direkt eingewirkt.

2) Die praktische Unterscheidung eines primären und secundären Stroms: jener, direkt aus der galvanischen Batterie abgeleitet, hat eine besondere Beziehung zur Muskelfaser: er ist mehr Erreger für die Bewegungsnerven und wird kaum empfunden; der secundäre, d. h. in der Induktionsrolle erzeugte, spricht mehr die Empfindung an und erzeugt daher, auf die Muskeln geleitet, immer auch in der Haut eine eigenthümliche Empfindung. Der primäre Strom eignet sich sonach vorzugsweise für eine Muskellähmung, der secundäre wird angewendet, wo gleichzeitig das Gefühlsvermögen darniederliegt.

3) Die diagnostische Verwerthung der Symptome, mit welchen ein kranker, insbesondere ein gelähmter Theil auf den faradischen Reiz reagirt; in Fällen, wo die Erkennung einer Nervenkrankheit aus den übrigen Erscheinungen nicht mit absoluter Gewißheit gelingt, bietet das Verhalten gegen den elektrischen Strom ein entscheidendes, werthvolles Zeichen; Gehirnlähmung wird dadurch von Rückenmarkslähmung, die rheumatische von reiner Muskelschwäche u. s. w. unterschieden. Ueberdies hat das Studium faradisirter Muskeln am lebenden Körper die Lehre von deren Funktionen wesentlich berichtigt und erweitert.

4) Die Application der Conduktoren, der Kernpunkt der D.’schen Erfindung. Während früher mit ziemlicher Willkür der elektrische Strom meist von den Extremitäten aus durch den ganzen Körper gejagt wurde, und so auch Theile betroffen wurden, denen diese Erregung unnöthig, selbst schädlich sein mußte, wird jetzt jeder Muskel und jedes Organ ganz für sich faradisirt und diese „locale Faradisation“ läßt sich bis auf die kleinsten Muskeln durchführen, so daß ein französischer Gelehrter sie nicht unpassend als eine Anatomie vivante bezeichnet hat. Die Anwendung in dieser Weise setzt eine genaue Kenntniß des anatomischen Details voraus; es kommt darauf an, den gemeinten Muskel an zwei bestimmten Punkten zu treffen, von denen der eine dem Eintritte des bezüglichen Nervens entspricht; andererseits müssen Hautstrecken vermieden werden, unter denen Empfindungsnerven verlaufen, da sonst die Erregung schmerzhaft sein würde.

Nur ein streng wissenschaftlich gebildeter Arzt ist daher im Stande, die lokale Faradisation zu üben. Abgesehen von der Wichtigkeit des Gegenstandes gewährt es ein interessantes Schauspiel, zu sehen, wie ohne Willenszuthun des Individuums die Conduktoren die verschiedensten Bewegungen hervorrufen: die Gesichtsmuskeln gehorchen willig dem scheinbaren Zauber mit jedwedem Mienenspiel und nicht minder prompt erfolgt das starrkrampfähnliche Zusammenzucken der großen Arm- und Rückenmuskeln. So wird am gesunden oder blos muskelschwachen Individuum eine wohlthätige Gymnastik geübt, welche exakter jeden einzelnen Muskel trifft, als es der schwedischen Heilgymnastik gelingt; auch der Orthopädie bietet sich in der localen Faradisation ein mächtiger Bundesgenosse dar. Die überraschendsten Heilerfolge leistet sie aber bei gelähmten Bewegungsorganen. Hier schafft sie, konsequent und methodisch angewendet, ein schlaffes, abgemagertes, kaltes Glied zu einem bewegungskräftigen, vollen um, vorausgesetzt, daß die Krankheit örtlichen Ursprungs, sei es vom Muskel selbst, oder vom Nerven einer Muskelgruppe ausgehend, sei. Lähmungen in Folge von Gehirn- oder Rückenmarksleiden heilen selbstredend nur nach Beseitigung des Grundübels. Den Wirkungskreis der Faradisation bilden hienach vorzugsweise die rheumatischen, hysterischen Lähmungen, die Muskelschwäche, welche sich bei Arbeitern in Bleihütten und Fabriken einzustellen pflegt, sowie die nach Verletzung von Nerven zurückbleibenden gleichen Zustände. Bei Duchenne befindet sich ein gewisser Musset, dem in Folge einer Verletzung der Vorderarmnerven die Hand dermaßen verunstaltet war, daß man zur Amputation schreiten wollte, der Erfinder der localen Faradisation heilte diesen Schaden so vollständig, daß M. jetzt Schreiberdienste bei ihm versieht.

Aber nicht allein gegen Lähmungen erweist sich dies Kunstverfahren heilsam, auch gegen alle andern Muskel- und Nervenleiden, so weit solche örtlicher Natur und nicht mit zu bedeutenden Alterationen des Gewebes oder der Gesammtconstitution verbunden sind. Die in der Einleitung gegebenen physiologischen Data liefern den Anhaltspunkt zur Beurtheilung eines concreten Falls. Alle Beispiele aufzuzählen würde hier zu weit führen; um Mißverständnisse zu vermeiden, sei schließlich ausdrücklich bemerkt, daß die Faradisation nicht etwa ein Universalmittel ist gegen „Hypochondrie, Gicht, Podagra, scrofulöse Fußgeschwüre, Leberverhärtungen und Gebärmutterkrebs“, nur Charlatans eignen sich ohne sonderliche Prüfung alle Krankheiten in Pausch und Bogen zur Beute an; der wissenschaftliche Arzt „distinguit et curat“ und so ist auch der Elektrisation, auf den besseren Boden der rationellen Medicin verpflanzt, ihr bestimmtes aber sehr fruchtbares Feld abgesteckt.

Dr. P. Niemeyer.