Die Gartenlaube (1857)/Heft 11
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No. 11. | 1857. | |
Während der Waffenschmied so mit seinen Freunden über des Landes Noth und seine Errettung aus des Landvogts und der burgundischen Herrschaft Händen berieth, saß der Freiherr von Hagenbach mit seinen zwei vertrautesten Freunden und Räthen, den Baronen Bilgeri von Hewdorf und Konrad von Eptingen, in einem Gemach des Herrnhauses zu Breisach, sich mit ihnen über die Maßregeln besprechend, die gegenüber dem aufgeregten Volke und den drohenden Bündnissen zwischen der Eidgenossenschaft, dem Erzherzog Sigismund und den Städten der sogenannten niederen Vereinigung, an deren Spitze Basel und Straßburg standen, zu ergreifen wären. Denn dem scharfen Blick des burgundischen Statthalters war die dumpfe Gährung im Lande, der verbissene Grimm und Trotz der Leute, der besonders in der letzten Zeit zu Tage getreten, nicht entgangen und er wußte auch, daß es nur eines geringen Anlasses bedurfte, um das Land aller Orten in hellen Aufruhr zu bringen. Dazu kam noch, daß ihm ein Gerücht zu Ohren gekommen, nach welchem die Herren von Bern und Straßburg entschlossen seien, eine Gesandtschaft an den Herzog Karl von Burgund zu senden, die sich über Hagenbach’s Regiment, so er im Lande führte, so wie über seine unnachbarliche, feindselige Gesinnung gegen die Eidgenossenschaft beschweren sollte. Er und die beiden Barone von Hewdorf und Eptingen wußten nun aber recht wohl, daß dem Herzog Karl vor allen Dingen an Frieden und Freundschaft zwischen Burgund und der Eidgenossenschaft gelegen war und daß er einen offenen Friedensbruch seines Gouverneurs in den Vorlanden mit schwerer Ahndung getroffen haben würde. Aber der Landvogt und seine zwei Freunde, die Barone von Hewdorf und Eptingen, die, nachdem sie ihre Besitzungen in den Fehden mit der Eidgenossenschaft verloren, in burgundische Dienste getreten waren, wollten eben diesen Krieg zwischen Burgund und der Schweiz, sie wollten sich rächen dadurch an diesen übermüthigen Kuhbauern, wie die Edlen die Schweizer nannten. Besiegt in allen Fehden von den Bauern aus den Waldstetten, brannten die stolzen Barone, die Schmach ihrer Niederlagen in dem Blute der Eidgenossen zu ersticken, und in wem konnten sie ein besseres Werkzeug ihrer Rache finden, als in dem mächtigen Burgunderherzog Karl dem Kühnen, dem es nach der Königskrone des arelatischen Reiches gelüstete, eines Reiches, das bis jetzt nur in den Träumen des ehrgeizigen, phantastischen Fürsten bestand, dessen Grenzen aber von der Schelde bis hinunter zu den Ebenen der Lombardei sich erstrecken sollten.
Unterstützt von einer kleinen, einflußreichen Partei am burgundischen Hofe, war es Hagenbach und seinen Freunden bis jetzt auch gelungen, die Klagen des Volkes in den Vorländern über seine tyrannische Herrschaft und die der benachbarten Eidgenossen über sein herausforderndes, übermüthiges Wesen gegen sie von des Herzogs Ohr fern zu halten, und so die wahre Lage der Dinge zu verbergen. Es galt jetzt noch eine Anstrengung, um auch diesen letzten Versuch einer Aussöhnung der Eidgenossenschaft mit Burgund zu vereiteln, und das Spiel der Barone war gewonnen: Krieg zwischen Burgund und der Schweiz unvermeidlich.
Dies war der Gegenstand des Gesprächs, welches die drei Männer in des Freiherrn Cabinet mit leidenschaftlicher Erregung führten. Der Landvogt war dieses Mal anderer Ansicht, als seine zwei Freunde, die Barone von Hewdorf und Eptingen, und in lebendiger Rede suchte er ihnen das Richtige seiner Ansicht zu beweisen.
„Sprecht, was Ihr wollt,“ rief er endlich, vor den beiden Herren stehend bleibend und die Arme übereinander kreuzend, „sprecht, was Ihr wollt, Ihr Heren, ich bleibe bei meiner Meinung. Der Herzog ist kein Feind der Eidgenossen; kann er den Krieg vermeiden, so thut er es sicherlich. Und dies geschieht, falls die Herren von Bern und Straßburg vor Euch zu ihm in’s Lager kommen. Ich kenne das Bürgerpack der beiden Städte. Sie werden den Herzog mit ihren Beschwerden und Querelen über mein Regiment in diesen Landen, so wie über mein wenig freundnachbarliches Benehmen gegen sie so lange in den Ohren liegen, bis er den niederländischen Duckmäuser, seinen Kanzler van Hugonnet, mir über den Hals schickt. Und dann gebt Acht, was geschieht! Dann wird das Bürger- und Bauernvolk gelaufen kommen und dem alten griesgrämigen Federfuchser klagen, wie ich ihnen den Daumen auf’s Auge gehalten und mich zuweilen mehr, als es meiner landesväterlichen Fürsorge ziemte, mit ihren Weibern und Töchtern beschäftigte, und die von Bern und Basel und Mühlhausen, und wie die Nester alle heißen, werden in den Chorus einstimmen und die Geschichte von den Fahnen zu Schenkenberg ihm vorlamentiren, und ein Jedes wird seine Litanei vorbringen, bis das Sündenregister voll ist und der Kanzler mich zum Teufel schickt. Doch kommt Ihr zuerst zum Herzog, so wendet sich der Spieß, wir spielen das praevenire und unser ist das Spiel.“
„Bedenkt Euch noch einmal, Herr Landvogt,“ warf Bilgeri von Hewdorf ein, indem er sich von seinem Sitz erhob und an das Fenster trat, von dem aus man die vom Mond beglänzte Landschaft, [146] den breiten, silbernen Rheinstrom, die weite Ebene und die dunklen Berge des Schwarzwaldes erblicken konnte, „bedenkt Euch wohl, ehe Ihr uns zu Herzog Karl sendet. Das ganze Land, das Euer Auge von diesem Fenster aus überschauen kann, haßt die burgundischen Farben bis auf’s Blut. Aber noch mehr haßt es Euch, haßt es uns, die wir die Freiheiten der Städte dieses Landes vernichtet, ihre Rechte niedergetreten haben. – Aber wenn es uns haßt, so fürchtet uns auch das Volk. Traut Ihr Euch nun allein Macht zu, ohne uns dies empörungslustige, rachsüchtige Volk niederzuhalten? Ihr wißt es, Landvogt, es geht ein Geist des Aufruhrs und der Rebellion durch’s ganze Land. Selbst hier zu Breisach schwankt der Boden unter unseren Füßen. Fühlt Ihr nun den Muth und die Kraft in Euch, in solcher schweren Zeit die Zügel des Regiments allein, ohne unseren Beiralh und Hülfe zu führen – wohlan, so reiten wir noch heute zum Herzog und die Berner Botschaft wird unverrichteter Dinge wieder abziehen.“
„Ob ich den Muth und die Kraft in mir fühle?“ rief der Freiherr von Hagenbach mit gerötheter Stirn und sichtlich gereizt durch den Zweifel des Barons von Hewdorf, dem der Andere, Konrad von Eptingen, durch sein bedeutsames Schweigen beizustimmen schien, „ob ich die Kraft in mir fühle,“ wiederholte er, „Gottes Tod! Herr Bilgeri von Hewdorf, ich habe in mehr als zwanzig Gefechten und Feldschlachten gegen den eilften Ludwig von Frankreich und die Herren von Gent unter meines gnädiges Herrn, des Herzogs, Fahne gefochten, und niemals dem Feind den Rücken gezeigt oder gezittert und werde es solchem armseligen Volke gegenüber niemals lernen. Tragt Ihr nur deshalb Sorge, werthe Herren, so zieht in Frieden.“
„Es sei denn,“ sprach Herr von Eptingen, indem er aufstand und nach seinem Reitermantel griff, „Ihr Wille geschehe, Freiherr, aber ich spreche wie Pilatus, ich wasche meine Hände in Unschuld, und wenn Euch etwas Menschliches in diesen bedenklichen Zeitläuften widerfahren sollte: animam meam salvavi.“
„Ein bibelfester Herr, unser Baron von Eptingen,“ sprach mit spöttischem Ton der Landvogt zu dem Herrn von Hewdorf, der düster und sinnend in die Nacht hinaus sah, „er kennt das Evangelium, wie der Meßpriester das Credo.“ Bilgeri von Hewdorf zuckte stumm mit den Schultern und Hagenbach, dem die Situation unangenehm wurde, und der sich trotz seines Spottes bei den wie prophetisch klingenden Worten eines leichten Schauers nicht erwehren konnte, brach die Unterhaltung mit den Worten ab: „Und nun gute Nacht, wir sprechen uns noch, bevor Ihr morgen aufbrecht. – Seid gegrüßt, Ihr Herren!“
Die beiden Barone erwiederten den Gruß und verließen das Cabinet, den Landvogt allein in demselben zurücklassend.
Wie spöttisch auch der Freiherr des Herrn von Eptingen Mahnung hingenommen, so kamen ihm doch, als er so allein in dem großen mit dunklen Tapeten ausgeschlagenen Gemach blieb, das nur matt von den zwei Wachskerzen auf dem silbernen Leuchter erhellt wurde, die düsteren Worte jener Prophezeihung wieder in den Sinn, und vergebens suchte er die unheimliche Stimmung, die sich seiner bemächtigte, zu bemeistern. Mit einem Male sprang er heftig von seinem Sitz auf, indem er ausrief: „Narr, der ich bin, sitze hier und grüble und vergesse, daß unten in der Stadt ein hübsches Weibchen, deren Mann im Thurme sitzt, sich härmt und traurig bei ihrer einsamen Lampe sitzt. – He, Duval!“ Und er klingelte seinem burgundischen Leibdiener. „Meinen Mantel und Regenhut,“ befahl er, „die Nacht ist windig und kühl, und ich muß noch hinab zur Stadt. Erwarte mich bis zur Nachhausekunft, Duval.“
Der Diener reichte dem Freiherrn Hut und Mantel, worauf dieser das Zimmer verließ, um hinunter nach der Stadt zu gehen. –
Dem Rathhause auf dem Markt zu Breisach gerade gegenüber stand damals ein schmales, zweistöckiges Haus mit einem Erkerfenster im ersten Stockwerk und einem Verkaufsgewölbe im Erdgeschoß. In diesem Hause wohnte der junge Goldschmied, Meister Heinrich Vögelin, den der Landvogt am heutigen Mittag draußen am Rheinbau von seinen burgundischen Reitern hatte in Haft nehmen lassen, und der schwache Lichtschimmer, der durch die Gardinen auf die Straße fiel, strömte von der großen kupfernen Lampe, bei welcher Frau Elsbeth, des Meisters junges Weib, mit verweinten Augen und in einander gefalteten Händen saß. Zur Linken stand ein Spinnrocken, dessen Faden, von Thränen befeuchtet, den Fingern der jungen Frau entglitten, und zu ihrer Rechten schaukelte sich in leiser Bewegung die Wiege, in welcher das erste Kind des jungen Paares, ein Knäblein von kaum einem Jahre mit rosigen Wangen und hellem, blondem, goldig schimmerndem Haar, jenen süßen ruhigen Schlaf schlummerte, der dem Menschen nur in seiner unschuldigen Kindheit beschieden. Von Zeit zu Zeit beugte sich die junge Mutter über das schlummernde Kind, um einen leichten Kuß auf seine weiße Stirn zu hauchen, dann aber versank sie stets wieder in ihren Trübsinn, und ihre schönen blauen Augen begannen von Neuem sich mit Thränen zu füllen. – Die jungen Gatten hatten bis auf den heutigen Tag ein so stilles, zufriedenes, heiteres Leben geführt; glücklich in ihrer Liebe und in der Liebe zu ihrem Kinde, und eine verhängnißvolle Stunde zerstörte dieses ganze Gebäude stillen, häuslichen Glückes! Der Landvogt war genugsam als ein harter, grausamer Herr bekannt, um Frau Elsbeth das Schlimmste für ihren Gatten fürchten zu lassen, und hatte er nicht mehr als einmal die Männer der Frauen, nach denen sein wildes, zügelloses Gelüste stand, in den Thurm werfen und unter nichtigem Vorwand foltern und quälen lassen, bis er seinen Zweck erreicht?
War es nicht eine Ahnung ihres Ehegatten gewesen, als er am heutigen Morgen, da Elsbeth den kleinen Johannes zu der alten Base, die mit im Hause wohnte, tragen wollte, damit sie ihn, so lange die Eltern draußen am Rheinbau wären, warte und pflege, zu ihr sagte: sie solle heute daheim bleiben, er wolle das Bußgeld von fünf Gulden für sie zahlen; sie wisse doch, daß der Landvogt, seit er sie einst beim Vorbeireiten am Fenster gesehen, ihr nachstelle, und wenn auch sage, daß er in Freiburg sei, so könne doch der Böse seine Hand im Spiele haben, und den Vogt nach Breisach herauf führen. –
Aber sie hatte dazu gelacht und gemeint, der Freiherr werde ihretwegen nicht von Freiburg nach Breisach reiten, die fünf Gulden könnten sie besser in der Wirthschaft anwenden, junge Anfänger, die vorwärts kommen wollten, müßten den Heller zusammennehmen, geschweige fünf Gulden, und dergleichen Dinge mehr. – Und nun war auf einmal doch das Unglück gekommen und stand riesengroß vor ihr! Die junge, kaum neunzehnjährige Frau konnte den Gedanken nicht ertragen, daß es mit ihrem Glücke und ihrer Lebensfreude nun zu Ende sein sollte, und wie der Gedanke daran sie mit Gewalt erfaßte, verbarg sie ihr Gesicht in ihre schwarzseidene Schürze und brach in lautes Schluchzen aus, so daß das Kleine in der Wiege unruhig wurde und Frau Elsbeth alle Schlummerlieder singen mußte, um den kleinen Johannes wieder einzuschläfern.
Das Kind war schon längst wieder eingeschlafen, die kleinen Händchen, die aus dem weißen Nachthemdchen hervorsahen, vorn auf der Brust zusammengefaltet und Elsbeth sang noch immer mit leiser Stimme, als sie die Stiege unter einem festen Tritt knarren hörte, die Thüre sich öffnete und ein in einen Mantel gehüllter Mann in’s Zimmer trat. Wie Elsbeth den dunklen Schatten dieses Mannes an der Wand erblickte, glaubte sie im ersten Augenblick der Ueberraschung, es sei ihr Gatte, den der Landvogt in einer Aufwallung gnädiger Laune seiner Haft entlassen, und mit dem Ausruf: „Heinrich, Heinrich!“ flog das junge Weib ihm entgegen. Aber bleich und zum Tode erschrocken prallte sie zurück, als der Eintretende, den Mantel rasch zurückschlagend, auf sie mit den Worten zutrat:
„Es ist nicht Heinrich, mein schönes Weibchen, aber ein Mann, der Euch eben so wie Heinrich und vielleicht noch glühender liebt.“
„Um Gott, Herr Landvogt,“ stammelte, an allen Gliedern bebend und sich mit der Hand auf den Rand der Wiege ihres Kindes stützend, die junge Frau, „was begehrt Ihr noch zu so später Stunde in unserem stillen Hause?“
„Was ich begehre,“ entgegnete der Freiherr von Hagenbach, einige Schritte vorwärts tretend und mit stechenden Blicken die junge Frau, die ihn mit entsetzter Miene anstarrte, betrachtend, „was ich begehre? Bei Gott, Niemand als Dich – aber so tritt doch näher, sehe ich denn so fürchterlich und schreckhaft aus?“ Und er streckte seine Hand nach dem jungen, zitternden Weibe aus.
„Um der hochgelobten Jungfrau willen, gnädiger Herr,“ flehete, die Hände faltend und wie Espenlaub zitternd, Elsbeth, während sie sich scheu zurückbeugte, „Ihr werdet nichts Böses gegen mich im Sinne führen –“
„Böses gegen Dich im Sinne,“ lachte der Freiherr und ließ [147] seinen Bart in fieberhafter Erregung durch durch die Finger seiner Hand gleiten, „bewahre, im Gegentheil, nur Gutes und Liebes – nur darfst Du nicht so blöde sein.“
„O, gnädigster Herr,“ entgegnete, die Hände gegen ihn aufhebend und mit einem rührenden Ausdruck von Unschuld und Herzenseinfalt das junge Weib, „wenn Ihr nur Gutes mir erweisen wollt, so gebt mir den Gatten wieder frei, und mein Lebelang will ich für Euch beten, und meinem Kinde ein Gleiches zu thun lehren.“
Ueber des Freiherrn Züge flog ein seltsames Lächeln.
„Kind, ich bin mein Lebelang ein gottloser Patron gewesen, und habe es nicht viel mit dem Beten gehalten, aber desto mehr mit dem Küssen. Das Beten will ich Dir deshalb erlassen, wenn Du mich aber küssen und ein wenig lieb haben willst, so gebe ich Dir mein Wort, daß Dein Gatte noch morgen Abend sein Gefängniß verlassen soll.“
Die dunkle Röthe der Scham verdrängte bei diesen leichtfertigen Worten des Landvogts die bleiche Farbe der Angst aus Elsbeth’s Gesicht und mit leiser, aber fester Stimme entgegnete sie: „Herr Landvogt, Ihr könnt nicht verlangen, daß ich so Böses gegen meinen Gatten thue. Seid Ihr nicht des Herrn Herzogs Statthalter und uns von ihm zur Obrigkeit verordnet, wie dürft Ihr also Solches von mir verlangen?“
„Närrchen, ich verlange ja nichts Böses, sondern nur Liebes von Dir!“ rief ungeduldig der Freiherr, indem er seinen Arm nach der jungen Frau ausstreckte, „und nun sträubt Euch nicht länger, denn ich bin nicht gewohnt, so lange um ein Weibsbild zu girren.“
Bei dieser dreisten Geberde und Rede des Landvogts stieß Elsbeth einen lauten Angstschrei aus und zugleich schrie das Kind, aus dem Schlafe geweckt, laut auf.
„Um dieses unschuldigen Kindes willen habt Barmherzigkeit mit mir, gnädiger Herr,“ wimmerte die geängstigte Elsbeth, indem sie das Kind, das weinend seine Aermchen um der Mutter Hals schlang, wie einen Schild, der sie schützen sollte, an ihre Brust drückte. Aber noch ehe der Landvogt etwas entgegnen konnte, legte sich eine breite Hand schwer und fest auf seine Schulter und eine tiefe ernste Stimme sprach hinter seinem Rücken: „Laß Dich nicht gelüsten nach Deines Nächsten Weib, spricht der Herr.“
Bei dem Klänge dieser Stimme stieß die junge Frau, indem sie sich rasch nach der Richtung, von der sie kam, umdrehte, einen Freudenschrei aus, der Landvogt aber drehte sich mit hastiger, zorniger Geberde nach dem Störer seines Zwiegesprächs mit Elsbeth um, während seine Rechte mit jäher Bewegung nach der Waffe an seinem Gürtel griff. Aber er stieß die Klinge wieder in die Scheide zurück, als er das Gesicht des Eingetretenen erblickt hatte. Es war der Waffenschmied, der jungen Frau Schwager, der vor ihm stand, das Gesicht geröthet von eiligem Lauf und innerer Aufregung, mit wirrem, von Blut und Schweiß auf der Stirn zusammengeklebtem Haar. Betroffen von dem Anblick wich der Freiherr unter dem Eindruck der ersten Ueberraschung einen halben Schritt zurück, doch bald faßte er sich wieder und sprach mit rauhem, hartem Tone: „Was führt Euch zu so später Stunde noch hierher, Meister Schmied, habt Ihr“ und ein höhnisches abscheuliches Lächeln spielte um seinen Mund, „vielleicht auch ein Auge auf Eure Schwägerin geworfen, oder,“ und seine Stimme wurde drohender und seine Stirn zog sich in Falten, „oder spürt Ihr mir nach und seid mir vielleicht gar nachgeschlichen? Dann hütet Euch, hütet Euch, denn ich habe manchen Kopf fallen lassen, der so fest wie der Eure zwischen seinen Schultern saß.“
„Es ist meines Bruders Haus, den Eure Soldaten in den Thurm gesperrt, wo wir sind; was führt Euch hierher, Herr Landvogt?“ entgegnete der Waffenschmied ernst und ohne irgend welche Furcht vor des Landvogts Drohung zu zeigen.
Der Freiherr antwortete dem Bürger nicht sogleich, aber er maß ihn mit einem so stolzen und verächtlichen Blick, daß ein weniger entschlossener Mann, als der Waffenschmied, ihn kaum würde ertragen haben; dann sprach er, nach seinem Baret greifend und dicht an den Meister herantretend, kalt und geringschätzend:
„Wisset, mein Bursche, daß ich noch niemals Eures Gleichen Rede und Antwort gestanden und zu Gott hoffe, daß es auch niemals geschehen werde.“
Und ohne eine Entgegnung abzuwarten, schritt er an dem Waffenschmied vorbei zur Thüre hinaus; der Meister aber blickte ihm mit einem düsteren Blicke nach und sprach für sich:
„Wahrlich, Landvogt, dies wird eher geschehen, als Du Dir träumen läßt.“
Dann wendete er sich zu Elsbeth, die, das Kind in den Armen, stumm und zitternd dem Ende dieses Auftrittes entgegengeharrt, und erzählte ihr, wie er, eben von seinem Gange über Land in die Stadt zurückgekommen, Licht in dem Erkerfenster gesehen; um ihr Trost einzusprechen, wäre er heraufgekommen, gerade zur rechten Zeit, um dem Landvogt eine neue Frevelthat zu ersparen –
„Und nun gute Nacht, Elsbeth,“ sprach der Waffenschmied, der jungen Frau die Hand zum Abschied reichend, „gute Nacht, und grämt Euch nicht allzu sehr um den Heinrich. Zum Osterfeste wird er wieder frei, dessen seid versichert – und bis dahin ist keine Ewigkeit mehr. – Und nun gute Nacht und schließt Euer Haus wohl zu.“
Er ging, und nachdem die junge Frau die Hausthür hinter ihm geschlossen, eilte sie wieder zur Wiege ihres Kindes, wo sie auf die Kniee niedersank und in heißem Gebet Gott für die unerwartete Hülfe, die er ihr gesandt, dankte und ihn um die Befreiung ihres Mannes bat. Die Stirn auf das Kissen ihres Kindes gedrückt, blieb sie in dieser Stellung, bis ein sanfter Schlaf ihre Augenlider schloß.
Am anderen Tage – es war der Sonnabend vor dem Feste – liefen dunkle, beängstigende Gerüchte durch die Stadt. Die Abreise der beiden Barone von Hewdorf und Eptingen zum Herzog Karl von Burgund, so geheim sie auch gehalten worden, war dennoch bekannt geworden, und diese Nachricht vernichtete die letzte Hoffnung des Volks auf eine friedliche Aenderung der Zustände. Man kannte den Haß der Herren von Hewdorf und Eptingen gegen die Eidgenossenschaft und die Städte der niederen Vereinigung und wußte nur zu gut, daß die Berner Gesandtschaft, welche dem Herzog Vorstellungen wegen des harten, rücksichtslosen Waltens seines Statthalters sowohl gegen das Volk in den Vorlanden, als gegen die benachbarte Schweiz machen sollte, wenig oder nichts ausrichten würde, wenn es den beiden Baronen gelingen sollte, vor den Berner und Straßburger Herren zu dem Herzog zu gelangen. Man wußte, wie Hagenbach und die beiden Barone, so wie ein Theil des Adels Alles aufboten, um einen Krieg zwischen der Eidgenossenschaft und dem mächtigen Burgunderherzog herbeizuführen, und die Stimmung war deshalb eine sehr gedrückte, beklemmende. Zugleich munkelte man, daß Erzherzog Sigismund von Oesterreich, den das Loos seines Volkes in den Vorlanden jammerte und der vergebens dem Herzog Karl die Einlösung gegen Rückerstattung des Pfandschillings angeboten, mit Bern und den übrigen eidgenössischen Orten einen heimlichen Vertrag zum Schutz und Trutz wider Burgund geschlossen – ein Gerücht, welches durch die von Jobst von Sillinen, Administrator des Hochstifts zu Grenoble und Propst des Beromünsters in Luzern, bewirkte Aussöhnung zwischen der Eidgenossenschaft und dem Hause Oesterreich an Wahrscheinlichkeit gewann – daß der französische König Ludwig XI., der noch von der Schlacht bei St. Jacob an der Birs her die eidgenössische Tapferkeit kenne, das Feuer der Zwietracht durch schlaue Intriguen schüre, um dadurch Burgund zu schwächen und ihm ein Theil seines Gebiets abzunehmen, und daß endlich der Landvogt einen neuen Gewaltstreich gegen die Bürger von Breisach im Schilde führe –
Dieses letzte Gerücht erzeugte vor Allen am meisten böses Blut unter der Bürgerschaft, und in den Wirthshäusern und Weinschenken sprachen sich einige hitzige Köpfe ungescheut dahin aus, daß nun der Zeitpunkt gekommen sei, wo man Gewalt mit Gewalt vertreiben müßte.
So verstrich der Tag und die Nacht und der Morgen des ersten Ostertags 1474 brach an – Es war ein heiterer, sonniger Frühlingsmorgen; ein reiner, blauer Himmel wölbte sich über der Landschaft, warme Frühlingsluft wehte in den Straßen und in den Fluthen des Rheins funkelte und glitzerte hell und goldig das Sonnenlicht. Das Gebetbuch in der Hand, eilten schon aus dem und jenem Hause Frauen und Mädchen nach der Frühmetten und vom Dome klang ein frohes Ostergeläute weit [148] hinaus in’s Land. Da schallt vom Herrenhause her, in dem der Landvogt residirt, durch die sonntägliche Stille ein heller, scharfer Trompetenstoß und zugleich erblicken einige der anwohnenden Bürger einen Trompeter des Landvogts in Begleitung burgundischer Soldaten vom Herrenhause hinunter zum Marktplatz reiten, wo er still hält und nach einer schmetternden Fanfare der Bürgerschaft kund und zu wissen thut: daß der Landvogt, der hier im Namen des Herzogs von Burgund das Regiment führe, ihnen bei schwerer Leibes- und Lebensstrafe gebiete, binnen vierundzwanzig Stunden alle Wehr und Waffen in seine, des Statthalters, Hände abzuliefern.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich dieser neue Befehl des Landvogts in der ganzen Stadt und rief eine unbeschreibliche Aufregung hervor. Auf allen Plätzen und Straßen strömten die Bürger zusammen und riefen laut und drohend, daß sie sich nicht wie wehrlose Lämmer dem Metzger an’s Messer liefern würden. Nicht der Herzog von Burgund, sondern der Erzherzog Sigismund von Oesterreich wäre ihre rechte Obrigkeit, der hätte ihre Freiheiten geachtet und gewahret, der Landvogt aber trete sie mit Füßen.
Der Freiherr von Hagenbach, welcher von seinem Fenster aus diese Zusammenrottungen sehen konnte, schickte einen seiner Offiziere auf die Straße hinab, der die Zusammenrottungen zerstreuen und die Bürger vor Meuterei warnen sollte. Aber das Volk antwortete dem Offizier mit Drohung und hie und da funkelten schon Waffen unter der Menge, die immer aufgeregter wurde. – Erstaunt über diese unerhörte Widersetzlichkeit und an sklavische Ausführung seiner Befehle gewöhnt, eilte der Landvogt, nur von einigen Hauptleuten seiner Wache begleitet, selbst hinunter auf die Straße, wo die Bürger jetzt mit lautem, tumultuarischem Geschrei die Zurücknahme des Befehls zur Ablieferung der Waffen verlangten. –
Die persönliche Erscheinung des Landvogts rief eine augenblickliche Stille hervor und so groß war die Macht der Gewohnheit des Gehorsams und der Furcht vor dem harten Mann, daß auf seine strenge Frage: „Was verlangt Ihr, was ist Euer Begehr, Männer von Breisach?“ für den Augenblick Keiner ihm Bescheid zu geben wagte.
Der Landvogt, der den Eindruck, den seine Erscheinung auf die Bürger hervorgebracht, wohl bemerkt hatte, wiederholte noch einmal seine Frage, indem er mit erhobener Stimme rief:
„So sprecht, was ist Euer Begehr?“
In dem Augenblicke entstand eine drängende Bewegung und eine tiefe Stimme rief: „Gebt den Gefangenen los, den jungen Goldschmied, den Ihr am Charfreitag habt ungerechter Weise in den Thurm werfen lassen, gebt ihn los, Ihr habt’s öffentlich vor dem Volke versprochen.“
Des Freiherrn Zornesader schwoll, seine Hand legte sich an den Griff seines langen, spanischen Stoßdegens und er rief: „Wer wagt es, dem Landvogt des Herzogs von Burgund Vorschriften zu machen!“
„Ich, Herr Landvogt, ich wage es,“ rief dieselbe Stimme, welche die Forderung gestellt, und der Waffenschmied arbeitete sich, gefolgt von neun andern bewaffneten Männern durch die Menge und trat dicht an den Landvogt heran, „ich, der Waffenschmied Friedrich Vögelin.“
Einen Augenblick schien der Freiherr außer Fassung zu sein, aber im nächsten Moment rief er, sich zu den ihn begleitenden Officieren wendend:
„Im Namen Sr. Hoheit, des Herzogs von Burgund, faßt diesen Mann als Meuterer und Rebell.“
Die Officiere, eingeschüchtert durch die drohende Haltung der Menge, zögerten und einer eilte vom Platze, um die burgundische Wache zu holen, aber noch ehe er zehn Schritte gegangen war, riefen die Männer, die den Waffenschmied begleiteten – es waren die Verbündeten, die in der Nacht jenen Eid geleistet – „Nieder mit dem Landvogt, nieder mit Burgund, hoch Oesterreich, hoch der Erzherzog!“ und der Waffenschmied faßte den Landvogt an der Brust, indem er mit lauter, weithin dröhnender Stimme ausrief: „Im Namen des Herzogs Sigismund verhafte ich Euch, Freiherr Peter von Hagenbach!“
Der Landvogt stieß einen Wuthschrei aus und machte eine verzweifelte Anstrengung, um sich von dem eisernen Griff des Waffenschmieds zu befreien, aber die anderen Männer umringten ihn und ehe noch die bestürzten Officiere und die allmälig herbeieilenden Burgunder – es lagen zwei Fähnlein in der Stadt – ihm beistehen konnten, ward er entwaffnet und inmitten der Volksmenge nach dem Rathhause als Gefangener abgeführt. Diese kühne That war so urplötzlich vor sich gegangen, daß die ihres Hauptes beraubte burgundische Besatzung, in vollständiger Rathlosigkeit und Bestürzung, gar keine Miene zur Befreiung des Landvogts machte, und als ihnen die Bürger erklärten, daß man ihnen nichts zu Leide thun wolle, falls sie ruhig abzögen, so eilten Officiere, wie Soldaten, die ohnehin an Zahl viel schwächer als die Bürger und das durch das Sturmgeläute herbeigerufene und von allen Selten in die Stadt strömende Landvolk waren, in schleunigem Abzug aus der Stadt. Dann brach das Volk die Gefängnisse auf, in denen noch eine Menge Gefangene, unschuldige Opfer der Willkür des Landvogts, saßen, und befreite sie.
Wer vermag das Entzücken Derer zu schildern, die so plötzlich und unerwartet der Freiheit, ihrer Familie und ihren Freunden wiedergegeben wurden? Wer die beseligende Freude, als der junge Goldschmied, Meister Heinrich, von seinem Bruder aus dem Kerker hervorgezogen, in die Arme seiner Elsbeth flog und seinen kleinen Johannes, der zappelnd und lachend ihm die Händchen entgegenstreckte, an seine Brust drückte?
Solche Augenblicke, voll von Schauern des Entzückens, vermag weder des Malers Pinsel noch des Dichters Feder treu zu schildern; die Farben und die Tinte sind zu bleich und matt.
Auf den schnellen Fittigen des Gerüchts flog die Kunde von der kühnen That der Bürger zu Breisach durch’s ganze Land, bis hinauf zu den einsamsten Waldhütten des Gebirges und bis in die einsamsten Alpenthäler des Berner Landes. Tausende von Herzen klopften rascher und freudiger, als sie die Nachricht vernahmen, und der Sonnenschein der Freude glänzte auf allen Gesichtern. –
Nur Einer theilte nicht jene allgemeine Freude des Volks; es war der Berner, dem die Barone von Eptingen und Hewdorf den Bruder erschlagen. Vergebens war er ihnen, auf die Kunde ihrer Abreise in’s Lager des Herzogs von Burgund, mit einigen vertrauten Freunden nachgesetzt; sie entrannen, um durch ihre unheilvollen Rathschläge jenen Brand der Zwietracht zu schüren, der einen der zerstörendsten, verhängnißvollsten Kriege herbeiführte und dem Herz Europa’s eine ganz andere Staatengestaltung gab.
Wenige Tage später, nach der Gefangennehmung des Landvogts, erschien der Erzherzog Sigismund in den Vorlanden, begrüßt wie ein Vater und Erlöser von dem Volke, nach dem Zeugniß des alten Chronisten. Mit ihm und seinen Truppen kamen zugleich zweihundert Züricher, die zu Basel im Namen aller übrigen Eidgenossen zu ihm gestoßen waren und gemeinschaftlich mit des Erzherzogs Kriegsvolk die Vorlande zur Abwehr eines burgundischen Ängriffs besetzten.
Die erste Handlung des Erzherzogs war die, daß er dem Volke in den Vorlanden die ihm unter der burgundischen Herrschaft entrissenen Freiheiten und Rechte wiedergab, die zweite, daß er dem gefangenen Landvogt wegen seiner willkürlichen, grausamen und tyrannischen Amtsführung einen Rechtstag auf den 9. Mai des Jahres 1474 zu Breisach setzte, damit jeder komme, der gegen ihn zu klagen habe.
Eine dichte Volksmenge füllte schon in den frühen Morgenstunden des 9. Mai 1474 den Markt zu Breisach, auf welchem im Namen des Erzherzogs und der Vorländer, öffentlich vor dem Landgericht, Klage erhoben werden sollte wider den Freiherrn Peter von Hagenbach, durch Hermann von Eptingen, einen Verwandten jenes Konrad von Eptingen, welcher von dem Erzherzog zum Landvogt in den wiedergewonnenen Vorlanden eingesetzt worden war. Umsonst hatte der Herzog von Burgund, den dieses Verfahren gegen einer seiner vornehmsten Diener auf das Tiefste erbittert, den Erzherzog und die mit ihm verbündete Eidgenossenschaft abgemahnt von dem Proceß gegen seinen Landvogt, der nur ihm, seinem Souverain, Niemandem weiter verantwortlich wäre; der Erzherzog, auf den Beistand der Eidgenossen bauend, ließ dem Recht seinen Lauf und in der siebenten Morgenstunde des genannten Tages wurde der Freiherr von Hagenbach vor seine Richter geführt, sechsundzwanzig an der Zahl, aus den Orten: Breisach, [149]
Bern, Basel, Solothurn, Colmar, Schlettstadt, Freiburg, Kitzingen und Neuenburg. Sechzehn darunter waren Ritter, also Standesgenossen von dem Angeklagten. Vorsitzender des Gerichts war Schultheiß Thomas Schütz aus Ensisheim, Anwalt des Erzherzogs und des Landes Herr Heinrich Iselin aus Basel, Vertheidiger des Angeklagten der Rechtsgelehrte Herr Hans Irmi aus Basel. Als der Angeklagte, der noch vor Kurzem[WS 1] so gefürchtete Landvogt, vor den Richtern erschien, bleich, aber gefaßt und mit unerschrockener Miene um sich schauend, trat eine Todtenstille in der summenden Menge ein und Aller Augen richteten sich auf den Mann, der, so schwerer Verbrechen angeklagt, barhäuptig vor die Richter trat.
Nachdem der Vorsitzende das Volk zur Ruhe vermahnt und die Richter an ihren Eid erinnert: Recht zu sprechen, nach bestem Wissen und Gewissen, ohne Ansehen der Person, ohne Groll und ohne Haß, erhob sich der öffentliche Ankläger, Herr Heinrich Iselin, und schilderte in lebendiger, ergreifender Rede des Landvogts Gewaltthaten, die Hinrichtungen vieler unschuldiger Männer zu Tann und Freiburg, die Vernichtung der städtischen Rechte in den Städten des Landes, die grausame Bestrafung der Freiburger Verschworenen und endlich die rohe, brutale Gewalt, die er zu Breisach und anderer Orten an Ehefrauen, Jungfrauen und Nonnen geübt. Der Eindruck war ein außerordentlicher, überwältigender, als Herr Heinrich Iselin mit den Worten schloß:
„Solcher schweren Missethat klage ich Dich, Peter von Hagenbach, als verordneter Fürsprech dieser Länder vor Gott und den Menschen öffentlich an. Ihr aber, Richter und Schöppen, die Ihr meine Worte gehöret und in deren Hand ruht das Schwert der Gerechtigkeit, bestimmt zu richten die Bösen und Missethäter, zeiget durch Euren Spruch, daß in diesen Landen einem Jeden, Hoch und Niedrig, mit gleichem Maße gemessen wird und vor Euch weder Rang noch Ansehen der Person gilt, sondern nur jenes Wort des großen Königs und Kaisers des heiligen, römischen Reiches, Friedericus II.: Fiat justitia, si pereat mundus.“
Nachdem der Fürsprech geendet, erhob sich Hagenbach und [150] erhob zuvorderst Einsprache gegen die Competenz des Gerichts; nur seinem Herrn, dem Herzoge von Burgund, habe er Rede zu stehen, nicht den Bürgern und Bauern, die hier beisammen säßen.
Doch die Einrede wurde verworfen und er ermahnt, zu sagen, was er gegen die schweren Anklagen vorzubringen habe. Da der Freiherr schwieg, ergriff sein verordneter Rechtsbeistand, Herr Hans Irmi, das Wort, und nachdem er alle Schuld von dem Angeklagten ab auf den Herzog, nach dessen Befehl der Landvogt gehandelt, zu wälzen suchte, hoffte er, den Angeklagten zu retten. Seine Bemühungen waren umsonst. Nachdem man vom Morgen bis zur siebenten Abendstunde gesprochen und berathen, erhob sich der Vorsitzende, Schultheis Thomas Schütz nebst den übrigen Beisitzern des Gerichts und indem er über den Angeklagten den Stab brach, erklärte er ihn, nach dem Wahlspruch der Richter, für schuldig und verurtheilt, mit dem Schwerte vom Leben zum Tode gerichtet zu werden.
Bei der Verkündigung dieses Urtheils entfärbten sich des Landvogts Wangen und seine Kniee bebten. Er drehte sich um und bat um einen Trunk Wein. Der Mann, der ihm zunächst stand, eilte in die gegenübergelegene Weinschenke „zum wilden Mann“ und kehrte eilig mit einem Becher Rheinweins zurück, den er dem Landvogt mit den Worten reichte:
„Trinkt, Herr Freiherr, und seid gefaßt wie ein Christ, der Tod sühnt alle Schuld und Gott möge Eure Seele zu Gnaden aufnehmen und Euch Eure Sünde vergeben, wie ich Euch das Böse vergebe, das Ihr gegen meinen Bruder und mich im Sinne führtet.“
Der Landvogt, dessen Trotz und Muth im Angesicht des Todes immer mehr wich, drückte dem Manne die Hand und murmelte:
„Der Allmächtige lohne Euch dieses Wort, Meister Schmied, das Ihr mir jetzt gesagt –“
Eine Stunde später fiel sein Haupt unter dem Schwerte des Nachrichters. Der Goldschmied war nicht bei der Execution gegenwärtig, sein weiches Gemüth konnte den Anblick einer solchen blutigen Scene nicht ertragen. Der Waffenschmied brachte ihm die Kunde davon, indem er hinzusetzte, daß der Landvogt ihm noch aufgetragen, Frau Elsbeth um Verzeihung wegen des Bösen zu bitten, das er gegen sie im Sinne gehabt.
„Möge Gott ihm vergeben, wie ich es thue,“ sprach, erschüttert und sich weinend an des Gatten Brust werfend, die junge Frau, „er ruhe in Frieden.“
„Amen!“ setzte der Waffenschmied bewegt hinzu.
Die Darstellung des weiteren Verlaufs dieser Ereignisse gehört nicht mehr in das Bereich dieser Erzählung. Nur soviel sei noch mitgetheilt, daß es den beiden Baronen von Hewdorf und Eptingen vollständig gelang, den durch die Hinrichtung Hagenbach’s auf’s Aeußerste erbitterten Herzog von Burgund zur Zurückweisung der Berner Gesandtschaft sowie zu Feindseligkeiten gegen die Vorlande und die Eidgenossenschaft zu bewegen. Die Namen von Granson und Murten, diese Namen der Schlachten, in denen die burguudische Macht den Todesstoß erhielt, erzählen selbstredend den Verlauf jenes verhängnißvollen Kriegs, der Karl dem Kühnen zuletzt das Leben kostete.
Die Folgen dieses Krieges für die politische Gestalt Europa’s waren schwer und verhängnißvoll und ihre Wirkungen dauerten Jahrhunderte. –
Als ich in Petersburg den General Klinger besuchte, der bekanntlich Goethe’s Jugendfreund war, erzählte mir der greise Dichter folgende liebliche Anekdote, die den Stoff zu einem schönen Gedicht abgeben könnte.
Ich war noch nicht lange in Petersburg, hub der General an, als ich eines Tages die Kaiserin Mutter nach Zarskoi-Selo begleiten mußte. Indem ich auf einem einsamen Spaziergange die weitläufigen Gärten durchstrich, gewahrte ich an einer Stelle einen Wachtposten aufgestellt, und ich konnte nicht entdecken, welchen Gegenstand dieser Posten bewachte. Es befand sich kein Gebäude in der Nähe, auch war die Stelle des Gartens nicht so gelegen, daß man glauben konnte, irgend ein frequenter Spaziergang des Hofes führe hier vorbei; es war ein Stück grünen Rasenplatzes und eine überall angebrachte Einfassung. Ich blieb stehen und sah mir dieses Räthsel an. Der Soldat, schweigend und ernst, ging in seinem Diensteifer immer auf derselben unerklärlichen Stelle seine vorgeschriebenen zehn Schritte auf und ab. Endlich entschloß ich mich, ihn zu fragen, und brachte mit einigem Zögern die Worte hervor:
„Brüderchen, warum stehst Du hier?“
Er blieb stehen, sah mich an, und da er einen Orden an meinem Halse erblickte, glaubte er, daß es seine Pflicht sei, mir zu antworten, er stellte sich gerade und antwortete in einem respectvollen Tone: „Väterchen, weil es mir so befohlen worden ist.“
Ich wußte, daß eine zweite Frage unbeantwortet bleiben würde, ich mühete mich daher von Neuem, zu entdecken, wo der Gegenstand und welcher Art er sei, der hier bewacht wurde. Ich fand nichts. Zuletzt wurde mir der stumme Soldat und das Stück Rasen ordentlich unheimlich. An der Mittagstafel sah ich den wachthabenden Lieutenant, und während ich unterdessen an tausend andere Dinge gedacht hatte, kam mir, als ich die Epaulettes erblickte, doch rasch wieder der Soldat und seine räthselhafte Bestimmung in’s Gedächtniß. Ich fragte und erhielt dieselbe Antwort: „Er ist an die Stelle commandirt worden.“
„Wer hat ihn commandirt?“
„Das Wachreglement.“
„Weshalb?“
„Da müssen Sie den General fragen, der die Ordres vertheilt.“
„Offenbar ist doch an jener Stelle nichts zu bewachen!“
„So scheint’s.“
„Und dennoch!“
Der junge Mann sagte jetzt mit einem etwas impertinenten Accent:
„Excellenz sind ja selbst Militair, werden wissen, daß wir niemals erfahren, weshalb wir etwas thun, genug, wir müssen es thun.“
Mit diesem Satze hatte es allerdings seine Richtigkeit, und ich mußte nun warten, bis ich nach Petersburg zurückkehrte, um dem fraglichen General, der mir näher befreundet war, mein Anliegen vorzutragen. Es fand sich bald dazu eine Gelegenheit; aber auch hier erfuhr ich nichts.
„Wir stellen diesen Posten schon über fünfzig Jahre aus, und immer steht nur in den Büchern: der Posten, fünfhundert Schritte vom östlichen Pavillon.“
„Ach,“ rief ich, „was sind das für sonderbare Dinge! Wer läßt denn ein Stück freies Feld bewachen? Die Sache muß eine andere Bewandtniß haben. Geben Sie doch Befehl, daß der unnütze Posten eingezogen wird.“
„Das darf ich nicht. Der Befehl muß von Oben kommen; geschieht dies nicht, so wandert der Soldat noch nach hundert Jahren an dieser Stelle.“
Mein Eifer, dem Geheimniß auf den Grund zu kommen, wurde jetzt fast ein nervöser. Ich träumte von Schätzen, die dort begraben lagen, und von denen Niemand als die höchste Person des Staates und ich Kenntniß hatten; dann fand ich’s wieder ergötzlich, daß man die Natur als Natur bewachte, gleichsam der freien Wolkenbildung, dem üppigen, ungezwungenen Wehen der Winde einen Wink ertheilte, der ihnen Kunde gab, daß sie bewacht seien, also daß sie vorsichtig zu sein hätten. Ich kam öfters nach Zarskoi-Selo, lediglich um meinen geheimnißvollen Wachtposten zu sehen. Endlich wurde meine ungestillte Wißbegier auch in weiteren Kreisen bekannt. Ein Umstand, der Niemand bis jetzt aufgefallen war, bekam plötzlich eine Wichtigkeit, und sehr Viele bei Hof und in der Stadt fragten jetzt, wie ich gefragt hatte.
[151] Eines Abends winkte mich die Kaiserin Mutter bei Seite und sagte lächelnd:
„Wissen Sie, weshalb der Soldat dort steht?“
„Nein, Majestät – in der That –“
„Nun, so hören Sie; man hat mir Bericht erstattet und ich will Ihnen diesen Bericht nicht vorenthalten. Die Kaiserin Katharina ging eines Tages in ihren Gärten spazieren, und entdeckte eine frühzeitig aufgeblühte, besonders schöne Moosrose. Da den Morgen darauf der Geburtstag eines ihrer Enkel fiel, so wollte sie diesem die Rose geben, und gab darum Befehl, daß, damit die Rose nicht unterdessen gepflückt werde, man eine Wache dabei stelle. Der Morgen des nächsten Tages kam, aber die Kaiserin vergaß ihre Rose. Die Wache blieb; man wagte nicht, ohne ausdrücklichen Befehl diesen Posten wieder einzuziehen. Die Rose war längst dahin – die Wache blieb, und so ist sie geblieben, ohne daß Jemand gefragt hat, weshalb sie da war.“
In Rußland fragt man überhaupt nicht. So wußte ich denn Bescheid über das Geheimniß des Wachtpostens, setzte Klinger hinzu.
Es war die erste, mit militairischer Macht bewachte Rose, von der ich gehört. – Der Posten wurde jetzt eingezogen.
Seit Jahren ist Diesterweg der Vorkämpfer für die Stellung der Schule; die meisten Feinde auf dem Gebiete der Kirche überhaupt, namentlich der orthodoxen, mag er sich durch diesen Streit gemacht haben. Seine Entscheidung ist Lebensfrage für das wahre Gedeihen der Schule. Man mag dieselbe auf einige Zeit durch Mittel aller Art zu verzögern suchen, endlich muß sie doch erfolgen, erfolgen nach den Grundsätzen einer rationell entwickelnden nationalen Erziehung. Die Volksschule ist ursprünglich nach Entstehung und Zweck Kirchschule. Die Kirche rief sie in’s Dasein, jede Confession die ihrige, oder bildete sie darnach um. So ward die Schule Confessionsschule, die Erziehung oder Belehrung der Kinder im kirchlich-confessionellen Glauben die wesentliche Bedingung des Lehrers. Auf die Bekenntnißschriften seiner Confession wird er als solcher verpflichtet, der Geistliche zur Ueberwachung seiner Bekenntnißtreue ihm zum Inspector und Vorgesetzten gegeben, die kirchlichen Lehrbücher ihm vorgeschrieben. Dies seine innere Stellung zur Kirche, die äußere, namentlich der früheren Zeit, doch auch noch an vielen Orten der Gegenwart, ist derselben entsprechend. Der Lehrer bekleidet meist kirchliche Aemter, er ist Küster, Cantor, Organist. Diese sind sein Hauptamt, gewähren ihm den Haupttheil seines Einkommens in Geld, Liegenschaften (Aeckern) und Nahrungsmitteln (Getreideschutt, Brot u. s. w.). Das Schulgeld war und ist noch meist gering. Dies Verhältniß hat sich im Laufe der Zeit etwas geändert, die Schule ward mehr weltlich. Die weltliche Obrigkeit, zum Theil der Staat, stellte die Lehrer an, das Schulamt ward zur Haupt-, die Küsterei zur Nebensache. Die Oberaufsicht geschah im Namen des Staates, aber nebenbei blieb der Geistliche in seinem Verhältnisse zum Lehrer. Diesterweg kämpft für Selbständigkeit der Schule als besondere Anstalt, will sie von der kirchlichen Aufsicht und Leitung befreit haben, ihr eigene, vom Staate ernannte, sach- und fachkundige Behörden vorsetzen, die Achtung und Stellung der Lehrer erhöhen, die Kirchschule in eine Nationalschule verwandeln, im Religionsunterrichte nur das Sittlich-Religiöse, nicht das Speciell-Confessionelle behandelt haben, so daß Kinder aller Confessionen dieselbe Schule besuchen (England und Holland haben bereits dergleichen Nationalschulen als Gegensatz zu Kirchschulen) und verlangt ausschließlich eine Bildung fürs Leben. Den Lehrern ist ein auskömmliches Gehalt zu sichern. Das Wenigste von alle Diesem ist erreicht, im Gegentheil ist man in neuester Zeit bemüht, den Schulen einen speciell konfessionellen Charakter einzuprägen, den Lehrer vom Geistlichen noch mehr abhängig zu machen. Als in neuester Zeit ein Franzose, Herr Rendu, Chef im Ministerium des öffentlichen Unterrichts, die norddeutsche Volksschule mit Heftigkeit dieser Strebungen halber angriff (der Mann hatte Deutschland im Fluge durchreist und dabei sein Schulwesen „gründlich“ studirt, auch einen öffentlichen Bericht darüber in höchst abfälliger Weise abgelegt – Arago nennt die herrschende Leidenschaft seiner Landsleute, Alles mit größter Geschwindigkeit zu thun, „Tollheit“ –) so fand er an Diesterweg seinen Mann, gleichwie ihn seiner Zeit Cousin für die Lobhudeleien des deutschen Schulwesens fand.
Die Unterrichtsgegenstände der Schule des sechzehnten Jahrhunderts waren Religion, Lesen und Singen. Dem Religionsunterrichte ward mehr als die Hälfte der Zeit gewidmet, Lesen und Singen standen nur im Dienste desselben. Allmälig kam das Schreiben, noch später das Rechnen zu den obigen Gegenständen. Schon das siebzehnte Jahrhundert brachtn einiges aus den sogenannten gemeinnützigen Kenntnissen dazu, das achtzehnte erweiterte diesen Kreis, das neunzehnte stellte den Lectionsplan so her, wie wir ihn noch vor Kurzem fanden. Dies Alles ging nicht ohne Kampf ab, man brachte gegen solchen „gottlosen, verweltlichenden“ Unterricht die trivialsten Gründe vor. Die Mädchen sollten nicht schreiben lernen, damit sie nicht Liebesbriefe schrieben, die Knaben aber nicht zu querulirenden Suppliken an Serenissimum und an die hohe Obrigkeit befähigt werden, woraus für letztere nur Incommodirung und Molestirung entständen, auch würde der Bauer und gemeine Mann durch solchen Unterricht nur weltlich gesinnt, übermüthig, superklug und widerspenstig, die Berufsarbeit werde ihm verleidet[WS 2], sei ihm zu niedrig. In neuester Zeit, namentlich nach dem Erscheinen der sogenannten preußischen Regulative vom 1., 2. und 3. October 1854, sucht man den Unterricht in diesen Fächern sehr zu beschneiden, dagegen die Religionsstunden bedeutend zu vermehren. Diesterweg kämpft seit Erscheinen jener Verordnungen mit Entschiedenheit gegen sie, und kann er auch der physischen Macht nicht gebieten, so befestigt er doch die moralische in den Herzen aller strebsamen Lehrer für seine Sache. Eine strenge, dauernde Durchführung jener Vorschriften über den Unterricht ist nicht glaublich, das deutsche, namentlich das preußische Volk ist in seinen intelligenten Provinzen zu weit vorgeschritten, als daß ihm Stillstand und Rückschritt geboten werden könnte. Mag es sein, daß man die strebsamen Lehrer entmuthigt, daß man gegen andere deutsche Staaten zurückbleibt, eine Zukunft haben jene Regulative ebenso wenig, als Wöllners Religionsedicte zu Ausgang des vorigen Jahrhunderts. Mag Englands Machtstellung im Capitale ruhen, die des deutschen Volkes liegt in der Bildung. Bildung ist Macht! Ihre Verkümmerung ist Schmälerung des Nationalwohlstandes und rächt sich sicher. Die „Rheinischen Blätter“ von 1855 und 1856, sowie die besondern Broschüren Diesterwegs bekämpfen die Tendenzen jener unterrichtlichen Verordnungen mit außerordentlicher Schärfe.
Auch für die Lehrerbildung ist Diesterweg vielfach in die Schranken getreten. Stellte das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert Handwerker, ehemalige Schüler der Lateinschulen und verdorbene Theologen als Lehrer an, so begann man, namentlich in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, mit der Errichtung besonderer Lehrerbildungsanstalten, und fuhr im Laufe des gegenwärtigen damit fort. Auch diese Anstalten, deren Mängel nicht in Abrede gestellt werden sollen, wurden vielfach, besonders von den Strenggläubigen unter den Geistlichen angefeindet, indem man den daraus hervorgegangenen Lehrern Mangel an religiösem, besonders kirchlichem Sinn, Halbbildung und Hochmuth vorwarf. Die Männer der Reaction stimmten mit ein, und so ist man an Beschränkung und Verlegung der Seminare in neuester Zeit gegangen, während die Geschichte bereits das Resultat feststellt, „daß sich das Schulwesen besonders seit Errichtung der Seminare und durch dieselben gehoben hat.“ Man vergleiche in dieser Beziehung das englische, französische und österreichische Schulwesen mit dem des übrigen Deutschland. Diesterweg ist allezeit für tüchtige, durchgebildete Lehrer in die Schranken getreten, und als man um die sogenannte wechselseitige Schuleinrichtung Dänemarks der deutschen Schule empfahl, die Regierungen Fachmänner zur Prüfung derselben nach Dänemark abordneten, von denen Einige günstig berichteten, so trat Diesterweg, er war auch in jenen Schulen gewesen und hatte schärfer als viele gesehen, entschieden gegen sie [152] auf. Heute spricht Niemand mehr davon, Kinder können nicht Lehrer von Kindern, Unterofficiere die Leiter von Schulen sein. Der Lehrer muß selbst ein geistig entwickelter Mann sein, soll die geistige Entwickelung der Kinder ihm gelingen.
Wir könnten dem geehrten Leser noch Vieles über Diesterwegs literarische Thätigkeit und seine beständigen Kämpfe mit allen Gegnern der Volksbildung berichten, namentlich auf dem großen Gebiete der Methodik, müßten wir nicht fürchten, ihn zu ermüden. Wir eilen deshalb zum Schlusse dieses Artikels.
Diesterweg ward im Juli des Jahres 1847 mit Belassung des ganzen Gehaltes seines Amtes entbunden, ja erhielt noch ein ansehnliches Reisegeld, um Pestalozzistiftungen besuchen zu können. Anfeindungen von kirchlicher Seite hatten es, namentlich seit 1840, dahin gebracht. Selbst die strengste Untersuchung konnte keinen Grund zur Amtsentsetzung gegen ihn vorbringen. Es geschah unter dem Ministerium Eichhorn. Diesterweg schied ungern aus dem ihm liebgewordenen Amtskreise. Noch vor der Entscheidung suchte er um eine Audienz beim Minister nach. Sie ward ihm bewilligt. Er erzählt darüber: „Ich verließ dieselbe mit mehr Achtung, als ich gekommen. Der Herr Minister war offen und entschieden. Dies weckte auch in mir die Offenheit. Als ich eine halbe Stunde mit ihm gesprochen, ergriff er meine Hand und sagte, er bedaure, mich nicht früher kennen gelernt zu haben, dann wäre es wohl soweit nicht gekommen; dieses Weitgekommensein bestehe darin, daß beschlossen worden, mich aus dem Amte zu entfernen. Warum? Welche Thatsachen? Welche Amtsverletzungen? u. s. w., u. s. w.? Auf solche Fragen erklärte der Herr Minister, es sei einmal beschlossen, er könne selbst nichts mehr daran ändern. Ich wurde dann noch aufgefordert, selbst Vorschläge zu machen, wohin mit mir. Meine Rathschläge wurden nicht angenommen, der unwiderruflich gefaßte Beschluß aber wiederholt.“
Hören wir Diesterwegs Vertheidigung über seinen amtlichen Schiffbruch.
„Wir Lehrer haben es mit der Schule, d. h. mit der Jugend des Volkes zu thun, und ich habe es nur damit zu thun gehabt. Mir ist es nie in den Sinn gekommen, direct auf Staatsformen wirken zu wollen. Denn ich betrachte diese, wenn sie gut sein sollen, als eine Wirkung und nothwendige Frucht der Entwickelung des Menschen und der Nation. Auf diese nach Kraft und Gelegenheit zu wirken, war auch meine Aufgabe, wie es die jedes Lehrers ist. Der Pädagog will die Bildung der Nation befördern, die Bildung der Erkenntniß, des Gefühls, des Willens. Menschen dieser Art folgen der Vernunft, stiften ein Reich der Vernunft und der vernünftigen Freiheit. Nach ihrer Ansicht gibt es nichts Tolleres, Naturwidrigeres und Verderblicheres, als die nach ihrer Idee freieren und beglückenden Zustände machen, auf dem Wege der Ueberredung oder der Gewalt einführen zu wollen. Oeffentliche Zustände, Einrichtungen, Verfassungen, welche, dem Bildungsgrade einer Nation nicht entsprechend, künstlich eingeführt worden sind, dauern nie lange, verschwinden mit Nothwendigkeit nach kurzer Zeit wieder, verbreiten dadurch Mißmuth und Mißtrauen und versenken das Volk in niedrigere Zustände. Wie daher ein wahrer Pädagog niemals auf die Entwickelung des Menschen verzichten kann und wird, eben so wenig wird er jemals ein Demagog sein. Er will Alles auf dem Wege der natürlichen Entwickelung; diese aber will er immer und überall. Ihre Folgen können nur gute, nur beglückende sein. Denn die Bestimmung des Menschen liegt in der ihrer Natur entsprechenden Thätigkeit, und das menschliche Glück fällt mit der Erreichung der Bestimmung zusammen. Diese Sätze bezeichnen den Grund, das Ziel und die Grenze meiner Thätigkeit. Weniger, als sie setzen, habe ich nicht gewollt, aber auch nicht mehr.“ –
Möge nun der geehrte Leser das Schuldig oder Nichtschuldig über Diesterweg aussprechen!
Doch Diesterweg sollte noch Bittreres erleben. Das Jahr 1848 brachte ihm unter dem Minister Graf von Schwerin Aussicht auf Wiedereinsetzung in sein Amt. Doch das Ministerium war bald, wie auch das des Herrn Rodbertus, der Sense der Zeit verfallen. Im Frühjahr 1849 ward ihm die commissarisch zu verwaltende Stelle eines evangelischen Schulrathes in Marienwerder, später eine dergleichen in Hinterpommern, in Köslin, vom Minister von Ladenberg angetragen. Er konnte sich nicht entschließen, in jene entfernte Provinz auf Zeit und unter Umständen zu gehen, in denen er voraussichtlich nichts wirken konnte, zumal seine Anstellung keine definitive war. Die zweite Kammer strich im Februar 1850 seinen bisher bezogenen vollen Gehalt vom Budget, trotz der Verwendung von Ladenberg’s, und so ward er im Juli 1850 unfreiwillig in den Ruhestand versetzt.
Zum Schlusse noch Einiges über Diesterweg’s Persönlichkeit. Sein Angesicht zeichnet sich durch eine hohe Stirn aus, diese selbst klar, gewölbt, faltenlos, nichts weniger als düstere Fläche. Das Blitzen seiner fast tiefliegenden Augen kann unser wohlgetroffenes Portrait nicht wiedergeben. Ihr Blick ist scharf und durchdringend, in das Innere des Menschen hineintastend, doch allezeit von Wohlwollen, das ihn bis in den innersten Nerv durchdringt, freundlich und zutraulich verklärt. Die Bewegung der Augenlider ist schnell und aufeinanderfolgend. Die etwas gebogene Nase dünn und spitz, der Mund von dünnen, schmalen Lippen umschlossen; das mit einem Grübchen versehene Kinn hervorstehend und kühn. Diesterweg ist mittelmäßig groß, aber breitschultrig. Sein Gang außerordentlich rasch, doch fest, er läuft mehr spazieren als daß er geht; seine Körperhaltung ist durchaus männlich, die ganze Haltung äußerst beweglich, fast unruhig; die Muskeln spielen häufig. Geht er spazieren oder sitzt er im Freien, so wird jeden Augenblick die Mütze gelüftet, die innere Bewegung seines Geistes setzt auch den Arm in stete Bewegung.
Wo Diesterweg hinkommt, da ist Leben und Streben, da heißt es: vorwärts! da regt und bewegt sich Alles. Es ist unmöglich, theilnahmlos zu bleiben. So war’s am Rhein, so an der Spree, Keiner hat wie er den vieltausendgliedrigen Schulkörper in Bewegung zu setzen vermocht. Seine Schreibweise ergreift, beherrscht den Leser, läßt ihn nicht wieder los. Und neben dieser Thätigkeit nach Außen, welche Thätigkeit in stiller Klause, am Schreibtische und unter seinen um ihn herum auf Repositorien aufgestellten Büchern. Einen Tag verloren zu haben, dies ist ein schrecklicher Gedanke für Diesterweg. In früher Morgenstunde erhebt er sich vom Lager, setzt sich an sein Arbeitspult, und nun rauschen alle Flügel seines schöpferischen Geistes; bis gegen die achte Morgenstunde – so war es früher – gelangen ihm die trefflichsten Arbeiten. Die Morgenstunde hat bei ihm nicht blos Gold im Munde, sondern auch Eisen, womit er auf seine Gegner niederschlägt. Die Stunden, die ihm übrig bleiben, verwendet er zum Studium der eingegangenen, seinen Arbeitstisch bedeckenden Bücher und Zeitschriften. Auf der Höhe der Schule stehend, weiß er sofort das Tüchtigste aus jeder Schrift herauszufinden, alles Andere überschlägt er. Außerordentlich federgewandt, streicht er selten aus, der Strom der Gedanken fehlt ihm nie, die Form beherrscht er vollkommen. In geselligen Kreisen, in freundschaftlicher Debatte ist er der toleranteste, humanste Streiter gegen Jeden, dem es um die Besprechung edlerer Gegenstände zu thun ist. Man glaubt gar nicht, den immerwährenden Kämpfer auf der offenen Arena der Schule vor sich zu haben. Er geht auf jede Meinung ein, vorausgesetzt, daß sie nicht zu fade ist, oft unterstützt er seinen Gegner mit neuen Waffen gegen sich selbst. Alles Niedrige, Gemeine haßt er; glaubt er gute Eigenschaften an einem Menschen entdeckt zu haben, so duldet er nie, und wäre er sein schärfster Gegner, daß er ins Niedrige heruntergezogen wird. Stets nimmt er sich des Geschmäheten mit Entschiedenheit an, er ist ein Mann des Rechts, ein unerbittliches Gerechtigkeitsgefühl wohnt in ihm. Darum spricht er auch: „So viel aber stehet vor meiner Seele, dies eine fühl’ und erkenne ich klar: jede an einem Menschen verübte Unbill ist ein Vergehen; die unverdiente Drangsalirung eines Lehrers aber, dessen Beruf, wie die eines wohlklingenden Instrumentes, eine klare Stimmung fordert – ist ein Verbrechen, ein Verbrechen am Seelenleben des Menschen und an dem der Jugend. Johannes von Müller hat Recht, wenn er sagt: Das wisse jeder Fürst, jedes Volk, daß die Unterdrückung eines gerechten Mannes ein Schandfleck in allen Geschichtsbüchern ist.“
[153]
Beim Kranksein liegt zwischen dem Nichtsthun (d. h. dem in gewohnter Weise Fortleben) und dem Mediciniren (Arzneischlucken) noch eine Behandlungsart des erkrankten Körpers mitten inne, die freilich, aber ganz ungerechter Weise, von Laien und leider auch noch von vielen Aerzten für Nichts angesehen wird, obschon sie, wir wollen dieselbe die „diätetische“ nennen, die naturgemäßeste (physiologische) ist und, da sie die genaueste Kenntniß von der Einrichtung und Oekonomie unseres gesunden und kranken Organismus verlangt, auch nur von wirklich wissenschaftlich gebildeten Aerzten ängeordnet werden kann. Sie allein ist es, welche Krankheiten verhüten, im Keime ersticken oder am gefahrvollen Umsichgreifen verändern kann. Es gehört wahrlich dazu kein großes Wissen und kein besonderes Genie, um dieses oder jenes von den angepriesenen Arzneimitteln bei dieser oder jener ausgebildeten Krankheit verschreiben zu können, oder gar, wie dies die homöopathischen Aerzte und Laien thun, gegen hervortretende Krankheitserscheinungen ein im homöopathischen Haus-, Familien- und Reisearzte u. s. f. empfohlenes Mittelchen aus der homöopathischen Haus-, Taschen- und Reiseapotheke hervorzulangen. Wohl bedarf es aber großer Umsicht und richtigen Wissens, bei einem Kranken ein passendes Verhalten in Bezug auf Nahrung, Luft, Licht, Wärme oder Kälte, Ruhe und Bewegungen u. s. w. anzuordnen. Denn es ist ein gewaltiger Unterschied, ob beim Unwohl- und Kranksein leicht- oder schwerverdauliche, flüssige oder feste, warme oder kalte, fett- oder elweißstoffreiche Nahrung, ob warmes oder kaltes Wasser, warme oder kalte Luft, ob helles oder gemäßigtes Licht, heiße, warme oder kalte Umschläge, Ruhe oder Bewegung u. s. f. in Anwendung gezogen werden.
Sehr oft sind es nur diese (physiologischen) Heilhülfsmittel, denen man die Besserung von Krankheitszuständen zu verdanken hat, während dies ganz mit Unrecht den medizinischen Eingriffen zugeschrieben wird. So ist z. B. in sehr vielen Fällen von äußeren und inneren Leiden die Wärme (in Gestalt warmer Luft, warmen Wassers, warmer Umschläge, warmer Bekleidung u. s. f.) das eigentlich Heilsame und Wirksame, nicht aber die nebenbei angewendeten Blutegel, Schröpfköpfe, Einreibungen, Pflaster, schweißtreibenden und anderen Mittel. So wirkt bei vielen Badecuren vorzugsweise das Wasser und die Luft heilend, nicht aber die im Wasser enthaltenen Mineralbestandtheile oder gar der Brunnengeist. Kurz die physiologischen Heilhülfsmittel, zu denen natürlich auch der in und auf unsere Nerven wirkende Elektro-Magnetismus zu zählen ist, die sind es, welche beim Kranksein hauptsächlich und weit mehr in Gebrauch gezogen werden müssen, als dies zur Zeit geschieht. Es versteht sich übrigens von selbst, daß man nicht etwa einem dieser Mittel bei allen oder sehr vielen Krankheiten aus besonderer Liebhaberei anhängen oder aus fanatischem Aberglauben eine ausschließliche Heilmacht zutrauen darf, wie dies leider noch viele Kaltwasserfanatiker, Badeärzte, schwedische Heilgymnasten und Magnetiseure thun. Jeder Fall von Kranksein muß gehörig durchschaut werden, soweit dies nämlich zur Zeit beim jetzigen Stande der Wissenschaft möglich ist, und er will dann auf diese oder jene passende Weise in seinem Verlaufe zum Gesundwerden unterstützt sein. Läßt er sich nicht durchschauen, dann sind, des Verf.’s Ansichten nach, die diätetischen Regeln zu beobachten, bei denen ebensowohl die Ernährung des ganzen Körpers wie der einzelnen, besonders der erkrankten Theile richtig von statten gehen kann; niemals darf aber blind und auf gutes Glück bald mit diesem oder jenem Mittel darauf loscurirt werden.
Als der wichtigste Anhaltspunkt bei Beurtheilung und Behandlung von Krankheiten muß die schon öfters angeführte, aber viel zu wenig anerkannte Thatsache gelten, daß unser Organismus von Natur so eingerichtet ist, daß Veränderungen in der Ernährung und Beschaffenheit der festen oder flüssigen Körperbestandtheile (d. s. die Krankheiten) solche Processe nach sich ziehen, durch welche jene Veränderungen entweder vollkommen, bald schneller bald langsamer gehoben werden (d. s. die Naturheilungsprocesse), oder die wohl auch bleibende, mehr oder weniger beschwerliche und gefährliche Entartungen, ja sogar Absterben des kranken Theiles oder des ganzen Körpers veranlassen. Natürlich muß bei jedem Kranksein der Naturheilungsproceß, so weit dies in unserer Macht steht, erstrebt und befördert werden oder man wird, wo dies nicht möglich ist, wenigstens denjenigen Proceß anzuregen versuchen müssen, welcher für die Zukunft den geringsten Nachtheil bringt. Von der kindischen Ansicht, die noch sehr viele Laien von der Heilkunst haben, daß der Arzt mit seinen Arzneien die Krankheit wie ein bestimmtes feindliches Etwas aus dem Körper austreiben oder auf erkrankte Organe seine Medicin wie ein Jäger seinen Hund auf einen Hasen hetzen, dadurch aber dieselben wie der Uhrmacher die schadhaften Theile der Uhr repariren könne, von dieser Ansicht sollte man sich doch endlich einmal trennen.
Die Ursachen, welche jene Veränderung in der Ernährung und Beschaffenheit unserer Körperbestandtheile, also Krankheiten hervorrufen (d. s. die Krankheitsursachen, Noxen, Schädlichkeiten), bleiben uns zur Zeit in den einzelnen Krankheitsfällen größtentheils unbekannt, obschon man im Allgemeinen recht gut weiß, was unserm Körper schadet, oder sie sind für uns, wenn wir sie auch kennen, sehr oft insofern nicht wichtig, wenigstens beim schon eingetretenen Kranksein, als sie jetzt nicht mehr in Wirksamkeit und überhaupt nicht mehr vorhanden sind. Nur in wenigen Fällen von Kranksein ist die Krankheitsursache noch auffindbar und zu entfernen, dadurch aber das Kranksein abzukürzen, selten sofort zu heben. – Auch die Folgen der Einwirkung einer Noxe sind für uns, hinsichtlich ihrer Heftigkeit, Dauer und Ausbreitung, sowie in Bezug auf ihren Sitz und ihre Art, in der Regel gar nicht zu bemessen, denn sie verhalten sich nach der Einrichtung (nach dem Grade der Reizbarkeit) unseres Körpers und nach dem Zustande seiner einzelnen Organe unendlich verschieden. So kann ganz dieselbe Ursache, welche bei dem einen Menschen eine sehr unbedeutende, schnell vorübergehende Störung in dem einen Organe erzeugt, bei einem andern ein lebensgefährliches oder unheilbares Leiden in einem ganz anderen Organe hervorrufen. Eine Erkältung z. B. veranlaßt bei dem Einen nur einen leisen Nasenkatarrh (Schnupfen), beim Andern dagegen tödtliche Herzbeutelentzündung, oder sie zieht wohl auch bleibende organische Herzfehler nach sich. – Sind in Folge schädlicher Einwirkung auf unsern Körper bestimmte krankhafte Veränderungen in demselben hier oder da eingetreten, dann lassen sich allerdings dieselben in vielen, leider aber nicht in allen Fällen, mit Hülfe der Wissenschaft erkennen und annäherungsweise auch in ihren etwaigen Folgen beurtheilen. Man kann dann ungefähr, aber in den meisten Fällen auch nur ungefähr und niemals mit Sicherheit, wissen, wie diese krankhaften Veränderungen durch bestimmte nachfolgende Processe entweder vollständig getilgt oder in andere, bleibende Leiden übergeführt werden können. Auch läßt sich dann, glücklicher Weise gar nicht so selten, ein günstiger Einfluß auf diesen oder jenen Ausgang einer Krankheit ausüben; aber freilich muß man, um diesen Einfluß ausüben zu können, den im bestimmten Falle etwa möglichen Verlauf einer Krankheit genau kennen. Einige Beispiele mögen vorläufig das Gesagte erläutern. Vom sogen. Schnupfen oder der katarrhalischen Entzündung (dem Katarrh) der Nasenschleimhaut weiß der Laie, daß derselbe in der Regel ohne alle ärztliche Hülfe ganz von selbst vergeht, dem gebildeten und vorsichtigen Arzte schwebt dabei aber immer auch noch die Möglichkeit vor, daß der Schnupfen, zumal bei Mißhandlung, Verdickung der Nasenschleimhaut (Stockschnupfen, Verstopfung der Nase und Geruchslosigkeit), Nasenpolypen, Geschwüre (Stinknase) und selbst Knochenfraß in der Nasenhöhle nach sich ziehen kann und er wird deshalb danach in jedem besondern Falle seine besondern Maßregeln ergreifen. – Beim Husten in Folge von Katarrh der Athmungsschleimhaut, der freilich in sehr vielen Fällen auch ohne alle Behandlung und Vorsicht vergeht, trifft trotzdem der gewissenhafte Arzt solche Anordnungen, daß aus diesem Katarrh, besonders bei kleinen Kindern, nicht etwa Croup (häutige Bräune), Keuchhusten, Lungenentzündung, Lungenerweiterung (Emphysem) u. s. w. erwächst. – Aeltere und fette Personen mit starren oder zu weichen, leichtzerreißlichen Blutgefäßwänden weiß der richtige Arzt dadurch vor Schlagfluß zu hüten, daß er ihnen das vermeiden läßt, was eine [154] Zerreißung der Gefäße im Gehirn veranlassen kann. – Den von Gicht Heimgesuchten kann der Arzt, ebenso wie den an Fettsucht oder Blutarmuth Leidenden sehr oft schon durch bloße Regulirung der Diät von allen seinen Beschwerden befreien; den Brustkranken wird er durch Athmungsregeln, den an Magen- und Darmübeln Erkrankten durch Trink- und Speiseregeln Hülfe schaffen können. Kurz der mit den Vorgängen im gesunden und kranken Menschenkörper vertraute Arzt wird in den allermeisten (freilich nicht in allen) Fällen von Kranksein ohne jede Arznei, nur durch Anordnen eines zweckmäßigen diätetischen Verhaltens hülfreiche Hand reichen können. Aber freilich nennt das die unwissende Menge „Nichtsthun,“ während sie das Quacksalbern von Charlatanen und Heilkünstlern, die den Kranken niemals untersucht und wohl gar nicht einmal gesehen haben, oder die wie die Homöopathen nur gegen die hervorstechendsten Krankheitserscheinungen eine Masse von Nichtsen mit Arzneimittelnamen ganz ernsthaft durchprobiren, für gelehrtes Thun ansehen.
Was ist denn nun hiernach des Vf.’s Ansicht und Behauptung? Jeder, wer sich unwohl oder krank fühlt, soll sofort „Etwas“ dagegen thun und zwar Das, was die unwissende Menge ebenso der Laien wie Aerzte „Nichts“ nennt, d. h. er soll eine zweckmäßige diätetische Behandlung seines Körpers einschlagen und nicht in seinem alten Schlendrian so lange fortleben, bis er nicht mehr fort kann, was der Bf. „Nichtsthun“ nennt. Thäte man gleich beim Beginne von Krankheiten dieses Etwas, es würden sicherlich viele Leiden bald nach ihrem Entstehen wieder vergehen oder doch keine so große Ausbreitung, Dauer und Gefährlichkeit erreichen, wie dies zur Zeit sehr oft der Fall ist, zumal bei Kinderkrankheiten. Fragte man aber schon bei gesunden Tagen einen wissenschaftlich gebildeten Arzt um Rath und ließe sich über die seinem Körperzustande dienliche Lebensweise unterrichten, dann käme es weit seltener zum Krankwerden, als jetzt, wo man lange suchen muß, ehe man einen ganz gesunden Menschen findet; gesunde Frauen scheint es gar nicht mehr zu geben. – Bei dieser Ansicht, wenn sie einmal ordentlich Eingang bei der großen Masse gefunden haben wird, hofft der Vf., daß „der Arzt der Zukunft“ der Menschheit weniger durch Curiren, als durch Abhalten von Krankheiten Nutzen schaffen wird. In der Gegenwart freilich, wo der Bildungsgrad ebenso der hoch- wie niedriggestellten Menschheit in Bezug auf die Kenntniß und Behandlung ihres Körpers und ihrer Gesundheit ein so äußerst geringer ist, würde der Arzt der Jetztzeit, der blos nach obiger Ansicht handeln wollte, sehr bald verhungern müssen, denn „mit der Dummheit kämpfen Götter selbst vergebens“ und „populus remedia cupit“ d. h. ohne Medicin geht’s heutzutage nun einmal nicht. Deshalb wird auch noch lange der allopathische, homöopathische, isopathische, hydropathische, dynamische, schrothsche, rademachersche, sympathische, mystische und gymnastische Curir-Hokuspokus und Schwindel großen Anklang finden; auch werden noch lange zu ihrem Aerger die bedoctorhuteten Heilkünstler neben sich Hufschmiede, Schäfer, alte Weiber, Somnambule, lebens-magnetische Kraft-Secretaire, Tischrücker und Geisterklopfer, buchhandelnde Geheimmittelkrämer u. dgl. heilmächtige Personen als Collegen sehen. Man sollte sich eigentlich darüber freuen, daß die jetzige Menschheit bei ihrem hartnäckigen Sträuben gegen die Aufklärung durch die Naturwissenschaften, bei ihren blödsinnigen Ansichten über die Naturerscheinungen und über die Beschaffenheit ihres eigenen Körpers, sowie wegen ihrer Willensschwäche, ihrer Inhumanität und Selbstsucht, zu Schande gedoctert, gerademachert, geschrothet und geprießnitzt wird, denn wer nicht hören will, muß fühlen; aber es ist doch gar zu traurig, ruhig und freudig zuzusehen, wie der so großer körperlicher und geistiger Ausbildung fähige Menschenkörper aus purer Dummheit ruinirt wird. Wer sollte da, wenn er in Folge dieses Ruins die Menschheit fast in jeder Hinsicht ihren Menschenwerth tagtäglich immer mehr verlieren sieht, nicht Weltschmerz und Lebensmüdigkeit empfinden, auch wenn sich darüber genußsüchtige, eitele Egoisten lustig machen?
Also hübsch bei Zeiten dazu gethan, die Gesundheit zu erhalten und Unwohlsein zu heben, nicht so lange mit den Vorsichtsmaßregeln gewartet, wie dies gewöhnlich geschieht, bis nicht mehr zu helfen ist. Denn was machen beim Unwohlsein viele Aerzte und die meisten Laien jetzt? Sie warten, ja wenn sie sogar schon die Krankheit deutlich herannahen sehen, bis das Uebel sich zu einem solchen Grade ausgebildet hat, daß von einer völligen Wiederherstellung gar nicht die Rede sein kann, und so wandern dann die meisten Patienten aus der Hand des einen Quacksalbers in die des andern, um endlich durch die dunklen Kräfte der Somnambulen, der Wunderdoctoren und Geheimmittel viele Jahre früher, als dies nöthig wäre, in das dunkle Grab gestoßen zu werden. Manche Aerzte beruhigen sich freilich dann damit, daß sie sich bei der Behandlung alle Mühe gegeben und Alles gethan haben, um es, wie Göthe den Mephistopheles von der Medicin sagen läßt, am Ende gehen lassen zu können, wie es Gott gefällt. Hätten sie es doch lieber gleich vom Anfange an gehen lassen, aber wie’s Gott gefällt. Auch gibt es noch Heilkünstler, die sich darüber Vorwürfe und Gewissensbisse machen können, daß sie einem Verstorbenen vor seinem Tode nicht noch etwas Blut abgezapft, einige Blutegel ge- und dieses oder jenes Medicament versetzt haben, nicht aber darüber, daß sie dem Kranken durch falsche diätetische Behandlung, besonders in Bezug auf Nahrung und Luft, umbrachten. Sie gleichen jenem Arzte, der zu seiner Beruhigung, um bei gefährlichen Krankheiten Alles gethan zu haben, schließlich dem Patienten noch einen gesunden Zahn auszog.
Im Folgenden will der Verf. versuchen, den Leser mit denjenigen diätetischen Regeln bekannt zu machen, welche beim ersten Unwohl- und Krankwerden, bei innern und äußern Leiden zu beachten sind, zugleich aber auch andeuten, wo und wenn ein Kranker sich sobald als möglich der Behandlung eines rationellen Arztes unterziehen muß. Denn ganz unentbehrlich werden die Aerzte wohl nie, obschon ihr Geschäft in der Zukunft sicherlich mehr im Verhüten als im Heilen von Krankheiten bestehen wird. Laßt Euch einmal das Wirken eines „rationellen Hausarztes der Zukunft“ in Kürze beschreiben. Zuvörderst würde Euch derselbe über das Klima und den Ort, welchen Ihr eben bewohnt, solche Aufklärung geben, welche zur Erhaltung Eurer Gesundheit beitrüge; sodann würde er Euch in der Wahl und Einrichtung der Wohnung unterstützen und hier vorzüglich die gesündeste Stube zum Schlafzimmer und zum Aufenthalte für die Kinder auswählen; ja sogar die Geräthschaften der Küche und die Beschaffenheit der Abtritte und Gruben dürfen dabei nicht unbeachtet von demselben bleiben. Was Eure eigne Person betrifft, so würde Euch ein solcher Arzt auf diejenigen Eurer Gewohnheiten (in Bezug auf Essen und Trinken, Kleidung, geistige und körperliche Thätigkeit u. s. f.), welche nach und nach die Gesundheit untergraben können oder schon untergraben haben, aufmerksam machen und zugleich die passenden Mittel und Wege zur Kräftigung Eures Körpers angeben. Sein Hauptaugenmerk würde aber auf die Kinder gerichtet sein und diese sollten von demselben nicht blos in körperlicher, sondern auch in geistiger Beziehung strenge überwacht werden. Da es nun jetzt derartige rationelle Hausärzte der Zukunft nur noch wenige gibt, und die unwissende Menge selbige zur Zeit nicht einmal wünscht, so schenkt beim Krankwerden wenigstens blos solchen Heilkünstlern Euer Vertrauen, die Euren Körper (besonders an den kranken Stellen) genau untersuchen (befühlen, beklopfen, behorchen), Euch hinsichtlich Eurer Lebensweise bis in’s Kleinste examiniren, Euch in Bezug auf Essen und Trinken, Wohnung und Kleidung, Luft, Bewegung und Ruhe, Wärme und Kälte u. s. w. Verhaltungsmaßregeln geben, die dem Ausspruche Wunderlich’s beistimmen: „wo die Receptensucht aufhört, fängt die Therapie an,“ oder mit Griesselich behaupten: „die edelste Aufgabe der Heilkunst bestehe darin, sich selber (nämlich die Aerzte) überflüssig zu machen.“ Solche Aerzte nennt man rationelle oder vernünftige (von ratio, die Vernunft), und die neuere Heilkunde, welche durch die richtige Einsicht in den gesunden und kranken menschlichen Körper solche Heilkünstler zu bilden strebt, heißt die rationelle Medicin, aber nicht etwa Allopathie, Homöopathie u. s. f. Diese Vernunftmedicin strebt danach, die Unordnungen in der Erhaltung (Ernährung, Stoffwechsel) unseres Körpers und deren Ursachen zuvörderst richtig zu erkennen, lehrt dann dieselben zu vermeiden und auf naturgemäßem Wege wieder in Ordnung zu bringen, und zeigt auch, wie die meisten Krankheiten ohne Arzneimittel, nur bei gehöriger Einwirkung der richtigen Lebensdürfnisse und naturgemäßen Heilhülfsmittel in Gesundheit ausgehen. Heil der Vernunftheilkunst, Schmach über jede Quacksalberei und Charlatanerie!
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Was in aller Welt ist das für ein Titel Qui hy? Eines Buches, einer neuen „haarwachsenden“ Pomade oder einer neuen Arznei gegen alle Uebel des Lebens, wie die Revalenta Arabica? Ist’s Hebräisch, Russisch oder Hochholländisch? Nichts von alledem, sondern Neu-Sanscrit aus der Sprache der braunen Ostindier dieser Tage, die den Engländern millionenweise aufwarten und dadurch einen Theil der ihnen abgedaumschraubten Steuern wieder zurück verdienen, und heißt wörtlich: „Wer wartet?“ Wer wartet auf? Wo ist der Sclave? Es ist, was bei uns die Klingel für den Dienstboten. Der in Indien herrschende Engländer versteht in der Regel nichts von der Sprache seiner Sclaven, als dieses Qui hy? Er schreit es des Tages fünfzig Mal, worauf jedesmal einer von den Dutzend Dienern geräuschlos eintritt und das Uebrige in Form von Zeichen und Pantomimen befohlen bekömmt. In der Regel errathet er sofort den souverainen Willen des Herrn, handelt danach und schleicht geräuschlos, wie ’ne Katze, wieder davon.
Indien, das Sebastopols Rolle in der europäisch-asiatischen Politik eingenommen hat, Mutter neuer Kriege und faul gährender Fragen, angeblich die kostbarste, kolossalste Perle in der Krone Englands, ist das „Capua der Geister,“ das Grab englischer Größe, und dermalen Hauptsitz des bösen Gewissens „westlicher Civilisation.“ Wem das zu weit liegt, kann in jeder Zeitung Belege dafür finden, daß es wenigstens Pathos des englisch-persisch-russischen Krieges, des Bombardements von Canton, eines neuen und umgearbeiteteten Opiumkrieges gegen China und Preis der Hegemonie in Asien geworden. England und Rußland streiten seit Menschenaltern um die Oberherrschaft in Asien. Der Streit ist wieder zum Kriege geworden. Dem Sieger wird Indien gehören. Unter diesen Umständen wird jeder Beitrag zu den Untersuchungen, welchen Halt die Engländer in Indien haben, interessant und wichtig.
Wie sie kaufmännisch und politisch in Indien wirthschaften und verwalten, mögen wir vorläufig aus der Tortur beim Steuereintreiben, dem Opiumkriege, dem Bombardement Cantons, dem Monopole der „Compagnie“ auf Mohnbau und Opiumfabrikation und dem Umstande, daß die Compagnie gewaltsam oder schmuggelnd gegen das von ihr selbst anerkannte und unterschriebene Gesetz China’s 1856 nicht weniger als 75,000 Kisten Opium (für 6 Millionen Pfund Sterling) den Chinesen zur Vergiftung verkaufte und Lord Dalhousie mit der Hoffnung sein indisches Gouvernement abgab, daß man es dies Jahr auf 120,000 Kisten monopolisirten Opiums bringen werde – daß englische Beamte aus Indien größtentheils krösusreich zurückkehren und General Malcolm einmal wöchentlich 5000 Pfund von seinem indischen Einkommen zurücklegte – mag man hier im Allgemeinen aus diesen Thatsachen schließen. Jetzt kommt’s uns blos darauf an, ein Bild des häuslichen Lebens der Engländer in Indien zu geben.
Der Engländer ist sonst ziemlich geschäftig und unruhig, aber in Indien, dem Paradiese der Menschheit, wird ihm unter dem entnervenden Klima sein strohgedecktes, Hitze abhaltendes „Bungalow“ bald zum Schlosse der größten Indolenz und Faulheit. Alle seine Entschlüsse und Willenskräfte schmelzen unter der Hitze dieser Sonne zusammen, und es bleibt nichts übrig, als eine unter dem schattigen kühlen Strohdache lebendig begrabene, exotische Gestalt, die nur Lebenszeichen von sich gibt, wenn sie essen, trinken, sich anziehen oder eine Fliege von der Nase weggejagt haben will. Sie ruft dann jedesmal, ohne sich zu bewegen: Qui hy? Ein schwarzbrauner, weißumkleideter, dienstbarer Geist schleicht herein, jagt die Fliege allerunterthänigst weg, schleicht davon, und die Indien beherrschende Gestalt vegetirt weiter.
Der talentvolle Mensch kann Alles leicht in der Welt lernen; aber auch der ganz talentlose Engländer bringt’s in seiner indischen Haupttugend, Faulheit, unterstützt vom Klima und einem Dutzend eingebornen Dienern, wunderbar schnell zu fabelhafter Vollkommenheit. Kaum ist er als Mohnkopfwächter oder Steuereintreibungs-Vicesupernumerarassistenten-Gehülfe angestellt, und er thut nichts mehr selber, als Essen, Trinken, Schlafen. Hat er, „im Schlafe lesend,“ ein Buch fallen lassen, will er seine langen Beine höher legen oder das Nasentuch aus seiner eigenen Tasche ziehen, so ruft er nur Qui hy? und ehe der Ton verklungen, gleitet klanglos der speckschwartenfarbige, dünn- und nacktbeinige, callicoschneeweiß gekleidete Sclave aus der Veranda herein in seinen dunkeln kühlen Saal, hebt das Buch auf, legt die müden langen Beine höher oder weicher, zieht das weiße mouchoir hervor und putzt wohl gar seinem importirten neuen Großmogul oder Nabob die allerhöchste Nase, um dann wieder eben so geisterhaft zu verschwinden, wie er erschien.
Die englische Aristokratie zu Hause vertraut niemals einem Barbier ihre Nase an und selbst der Premier-Minister aller großbritanischen Reiche und Colonieen zieht in seinem 74sten Jahre und während seines diesjährigen fünfzigjährigen Hochstaatsdienstjubiläums sich immer noch selbst seine Wellingtonstiefeln an (wenn er nicht wegen Gicht in Filzschuhen das Parlament zu lachen macht). In Indien weiß man sich diese Mühseligkeiten auch vom Halse zu schaffen. Der englische Nabob streckt sich, ermüdet vom vielen Faullenzen, auf seinem Sopha und geruht, Lust zum „Luftessen“ zu verspüren. Qui hy? und er zeigt auf seine schlafschuhgeschmückten Füße. Sofort nimmt ein Sclave den rechten, ein anderer den linken Fuß sanft und vorsichtig wie aufgeweichten Honigkuchen zwischen die Hände, und im Nu ist der kleine Großmogul gestiefelt und bespornt, ohne daß er einen Finger zu rühren brauchte oder in seiner Lectüre, an der Decke oben, unterbrochen ward. Für die Anstrengung des Selbstrasirens ist der Anglo-Indier bei dieser Hitze viel zu schwach. Ein „Künstler in Haar“ tritt ein, wirft sich vor Sr. Excellenz nieder, faßt ihn ehrfurchtsvoll bei der Nase und verläßt nach einer halben Minute das frisch gemähete Stoppelfeld zu neuem, heißen, raschen Wachsthum.
Das „Qui hy?“ ist überall in Bengalen, dem Punschab, in den nordwestlichen Theilen des englischen Indiens und bald auch in Kaschmir Mode (wenn für die „Einverleibung“ dieses Theils ein plausibler Vorwand gefunden sein wird) und vertritt überall die Stelle der noch unbekannten Klingeln für die dienstbaren Geister.
Die „Mulls“ und „Ducks,“ wie die Engländer in und um Madras und auf der Bombaiseite genannt werden, führen ein fabelhaft luxuriös-vegetabiles Leben, wie die alten indischen Götter, die sich Jahrtausende lang in Lotosblumen auf überblühten stillen Gewässern wiegten. Sie sind fast alle Beamte – fünf bis zehn für je eine Stelle, auf welche bei uns trotz der „Büreaukratie“ noch nicht ein Viertel von einem Beamten kommen würde, und der subalternste von ihnen hält sich etwa ein Dutzend braune Diener, ausgewählt aus den unterjochten Eingebornen. Jeder dienstbare Geist hat sein eigenes Departement, über welches er nicht so leicht hinausgreift. Der feine, braune, dünne Geist, der dem dicken, kühlen, blonden Nabob die Socken und Schuhe anzog, darf sich nicht unterstehen, eine Tasse Thee zu bringen. Der „Künstler in Haar“ würde sich für ewig beschimpft halten, wollte er die abgemähten Haarlocken auch aufnehmen. Das ist auch gar nicht nöthig. Die Bezahlung der englischen Beamten in Indien ist bis unten sehr gut (die Indier müssen’s schaffen, kostet ja dem „Lande“ nichts) und die Diener sind mit fabelhaft niedrigen Löhnen zufrieden. So ist es Mode, Styl, Gesetz geworden, daß man sich bis zum letzten Schreibergehülfensupernumerarstellvertreter herab 6 bis 8 bis 12 Dienstboten hält, nach oben hin mehr, oft bis dreißig.
Die Hauptclassen dieser dienenden Legionen stufen sich in folgenden Namen und Functionen ab.
Obenan steht der „Gopant,“ Träger, wofür wir Kammerdiener, vielleicht auch zuweilen Kammerherr sagen würden, der Major Domus und erste Beamte des Haushalts, aus einer nobeln Classe, fein gegliedert, schlank und sehnig, wie von Mahagoni gedrechselt und dunkel polirt, ohne ein Loth überflüssigen Fleisches, dem fetten, feisten, faulen, ausdruckslosen Nabob gegenüber ein Gott an Feinheit und Eleganz der Gestalt, Haltung und Physiognomie. Schon seine leichte, ätherische Kleidung, weiße, vorn offene, lose Jacke, lachsfarbige „Dhoties“ (weite, faltige Beinkleider, eine Vermittelung zwischen den Hosen der Zuaven und dem Unterrocke der Hochschotten), die sich um die Kniee herum malerisch [156] zusammenfalten und ein artistisches weißes Geflecht von Turban um das schöne Haupt mit den blitzenden Augen geben ihm das Ansehen einer natürlichen Ueberlegenheit, welche nur durch die Kunst englisch-ostindischer Diplomatie niedergehalten wird. Wenn er in die Bazars zum Einkaufen geht, stecken seine dünnen Mahagonibeine in Schuhen, die dann wie Kähne aussehen, wozu die nackten Beine Segelstangen bilden. Zu Hause gleitet er immer barfuß leise herum, wie eine Katze, die überall Mäuse, wenigstens etwas zum Mausen wittert. – In einem Lande, wo Silber die laufende Münze, das Gold selten und das Gewicht eines „Vatermörders“ am Halse schon eine Last ist, würde es der regierenden Race unerträglich sein, selbst Geld zu haben. So wird der „Gopant“ Banquier, Cassirer und Zahlmeister. Er nimmt den monatlichen „Tullup“ (Gehalt), einen Sack voll Rupien, in Empfang, als wäre er der Mann, der sich für diesen Betrag um’s Vaterland monatlich verdient macht. Er bezahlt alle Rechnungen, wobei ihm immer ein „Dustorée,“ d. h. ein Disconto vom Gläubiger, genannt die „schwarze Post“ an den auszahlenden Fingern kleben bleibt. Unter seiner speciellen Aufsicht stehen alle Knöpfe, Risse und Löcher der herrschaftlichen Garderobe, die er stets beim ersten Erscheinen ersetzen, stopfen, flicken und sticken läßt. In dem Junggesellen-Departement der Verzweiflung, nämlich abgesprungener Hemdenknöpfe, welche schon manchen Engländer so wüthend machten, daß er sich Knall und Fall verheirathete, ist der „Gopant“ den durchweg unverheiratheten englischen Nabob’s mehr, als das mikroskopisch aufmerksamste Weib. Jedes Kleidungsstück muß jeden Morgen vor seinen scharfen Augen Revue passiren. Der leiseste Verdacht einer schadhaften Stelle führt zum Schneider, der natürlich auch stets mit „schwarzer Post“ bezahlt wird. Tag und Nacht horcht er draußen in der Veranda, um auf das leiseste „Qui-hy?“ hereinzutrippeln und, wenn es ihm nicht gilt, den betreffenden dienstbaren Geist zu citiren. Namentlich ist er ein eben so sanfter, als geschickter Krankenwärter. Er wird für alle diese Dienste mit etwa 5 Thlr. monatlich belohnt, wobei die Sporteln natürlich nicht eingerechnet sind. Wenn er den Herrn principiell betrügt und plündert, thut er das auch nicht ohne Gegenvergütigung; er paßt auf wie ’n Luchs, daß ihm kein Anderer in dieses Handwerk pfusche. Unter den regierenden Classen Englands und Indiens ist das ganz anders: sie plündern alle, ohne daß dabei eine Krähe der andern die Augen aushackt. Der Gopant ist Banquier, feuerfeste Geldspinde, Assecuranz-Gesellschaft, Schloß und Riegel und bekömmt, außer was er sich selbst zu seinem Gehalte macht, noch alle abgelegten Kleidungsstücke, die er dem Herrn deshalb auch jeden Tag dringend als unfähig, die Glieder eines Gentleman zu decken, darzustellen weiß. Aus den Titulaturen, die ihm in der Hindusprache zugeworfen werden, wie „Hund, Schwein, Sohn einer Eule“ u. s. w., ja aus Fußtritten, die dort auch zum guten Tone gehören, macht er sich nicht viel. Sie sind von den Herren Engländern, welche dort „westliche Civilisation“ verbreiten, daran gewöhnt worden. Ein solcher Gopant wurde ’mal geprügelt, weil er beim Entschuhen des Herrn dessen Lieblings-Hühnerauge zu stark gedrückt zu haben beschuldigt ward.
Nach dem Gopant ist der „Khidmutscher“ oder Tafeldecker die Hauptperson unter den dienstbaren Geistern. Er ist Muhamedaner mit langem Bart und Haar, im schneidenden Contrast zu dem Hindu-Gopant, der bis auf eine Locke auf dem Wirbel oben und dem Schnurrbart stets Alles rasirt. Weiße, weite Beinkleider, weißer Schlafrock mit einer dicken Leibbinde und eine eierkuchenartige Kopfbedeckung charakterisiren ihn, noch mehr eine auffallende Feistigkeit, die beweist, daß der Tafeldecker vorher immer gut zu kosten weiß. Größere Herrschaften halten sich noch zu mehreren untern einen Obertafeldecker (Khausaman), der immer besonders langbärtig und dickleibig ist.
In der Küche ist der „Bowadschi“ oder Oberkoch König, der bei Zubereitung fabelhafter indischer Speisen dirigirt und im Kosten dem Khidmutscher zuvorkommt. In seinem Reiche der Küche sieht es immer furchtbar aus, riecht aber noch schlechter. Beide Eigenschaften der Küche werden gut cultivirt, um dem Herrn die Lust zu nehmen, jemals in die Geheimnisse dieser Hölle einzudringen. Unter dem Koche steht der Musaldschi (eigentlich Fackelträger), das Mädchen für Alles, aber als Junge, der aufwäscht, putzt, schabt und alle Sorten schmutziger Küchenarbeiten verrichten muß. Er liebt es, sich mit hohen Namen zu belegen, so daß er gewöhnlich Hyder (Löwe) oder Mirza[WS 3] (Mogul) gerufen wird. In der Regel hat er eine große Fertigkeit im Benaschen und im Zuckerstehlen. Spricht er dabei noch Englisch, ist er jedesmal ein abgefeimter Hallunke, weil er im langen Dienste und in fortgesetzter Unterdrückung „westliche Civilisation“ angenommen hat.
Im Ganzen ist das Küchendepartement unter Direction des Khidmutscher den ganzen Tag geschäftig. Mit Tagesanbruch, wenn die Morgen-Kanone donnert (die Beamten haben stets Gewehre und Soldaten und Kanonen um sich, um der Erhebung Indiens auf die Stufe „westlicher Civilisation,“ besonders aber der Erhebung von Steuern mehr Respect und Nachdruck zu verschaffen), muß fürs „Schota Hazarii“ (erste Frühstück), bestehend aus Thee und Toast, gesorgt werden. Nach dem Morgenritte muß „Luncheon“ zweites Frühstück, Fisch, Fleisch, Geflügel, Häring, Sardinen und eingemachte Früchte, fertig sein. Dies zu verzehren, kostet so viel Anstrengung, daß sich der Herr nur durch ein tüchtiges Diner davon erholen kann, nachdem er bis gegen 7 Uhr Abend mit Verdauung des Frühstücks zugebracht. Sehr oft ist der Herr zum Diner ausgebeten in eine benachbarte militärische Steuereinnehmungs-Station. In diesem Falle gürtet der Khidmutscher seine Lenden, bindet seinen wallenden Schlafrock in die Höhe, wickelt seinen Staats-Turban in ein Schnupftuch und begleitet den Herrn, um hinter dessen Stuhle die Honneurs zu machen. Jeder Gast hat seinen Khidmutscher hinter sich mit blinkendem Turban. Jeder Khidmutscher macht es sich zur Ehrensache, andere Khidmutschers in Bedienung seines Herrn zu übertreffen, so daß sie sich oft thatsächlich hauen und stechen, wenn zwei Khidmutschers zugleich auf Befehl ein und dieselbe Schüssel zu serviren sich beeifern.
Wenn er alle befohlnen Schüsseln errungen und die Tafel zu Ende ist, setzt er die Cigarrenbüchse hin, verschwindet mit andern Khidmutschers, schlägt die Schlachten noch einmal und raucht dann seine Pfeife, bis die Gesellschaft aufbricht. Hyder der Löwe ab. Dhoby tritt auf. Wer ist Dhoby? Der Wäscheschläger. Waschfrauen sind unter den Anglo-Indiern unbekannt, also auch das Waschen. Der Dhoby schlägt und drischt die Wäsche deshalb im nächsten Flusse oder Teiche so lange, bis sie ziemlich rein und ziemlich zerdroschen ist, so daß der Schneider, der immer in’s Haus kommt, jeden Knopf ersetzen und jede Wunde heilen muß, aber selten öfter als zweimal. Zum dritten Male kommt selten schmutzige Wäsche unter die Keule des Dhody. Ihm zur Seite im gesellschaftlichen Range des dienstbaren Hauptpersonals steht der „Bhiistii,“ Wasserträger, wörtlich „Bewohner des Himmels“ von Bihisht, Himmel, da Wasser im heißen Indien der Himmel auf Erden ist. Arm und Reich, Hoch und Niedrig, Schwarz, Weiß und Kupferfarbe, Alles planscht und plätschert jede müßige Stunde im Wasser umher. Der Wasserträger muß die Herren vom Stande zu Hause mit Wasser begießen und dabei auch dieses Element für die Küche und andere Dienstboten für 3 Sgr. täglich besorgen. Der „Sahip“ (Herr) setzt sich in einem Zelte auf einen Stuhl, und der Bhiistii öffnet seine ziegenledernen Schläuche über ihn hin. Das nennt man in Indien ein herrschaftliches Bad. Nur Crethi und Plethi gehen in’s Wasser selbst. Der Wasserträger ist ein Gläubiger Muhameds und trägt stets eine rothe Schürze. Den untersten Rang in den Diener-Kasten nimmt der Mehtur oder Kehrer ein, aus dem Kehricht Indiens, den Pariahs. Sein Orden ist der Besen, in dessen fegenden Functionen er sehr fleißig von Hunden, Krähen, Schakals und Reptilien unterstützt wird. Er ist der Verworfene. Aber „Niemand,“ sagt Longfellow, „ist so verworfen, daß er nicht könnt’ ein Herz gewinnen.“ Und so hat dieser Pariah fast stets nicht nur eine zärtliche, schmutzige Frau, sondern auch viele nackte, schmutzige Kinder, die wie Ratten in den Schlupfwinkeln des Hauses herum sich ihres Lebens mehr freuen, als der Sahip.
Jeder englische Beamte in Indien hat ein Pferd, also auch einen Seyii, Stallknecht, der stets bereit sein muß, dem fußfaulen Sahip das Pferd vorzuführen, wenn dieser auch nur hundert Schritte weit fort will. Auch der „Molly“ (Gärtner) gehört zu den unentbehrlichen Meubles, selbst wenn der Herr keinen Garten hat. Dies kommt ihm oft zu Gute, weil dann der Molly die besten Früchte und Blumen aus den Gärten anderer Leute stiehlt. Von den übrigen Dienerclassen, (dem Klassii, Zeltbauer, Cooli, Luftfächler, Pfarii, Hügelmann oder Führer in Gebirgen, dem Sänftenträger, Dschombu, und der weiblichen Ayah, dem Kindermädchen in Familien ließe sich noch Manches sagen, doch wird die Skizze schon genügen, uns zu einer Vorstellung zu verhelfen, daß die Engländer durch bloße Unterwerfung des schönen, braunen Indiervolks, durch Ausbeutung desselben in Müßiggang, Uebermuth und Dienstbotenluxus weder westliche Civilisation verbreiten, noch Halt oder wirklich Vortheil davon haben. Die Kriege um Indien haben viel zum Ruine Englands beigetragen. Die jetzigen Kriege mit China und Persien um dasselbe Indien können es nur noch mehr ruiniren, wenn sie nicht am Ende in den Verlust Indiens, in welchem sie keinen moralischen Halt gewonnen, auslaufen.