Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[101]

No. 8. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.


Das Waldblümchen.
(Fortsetzung.)

„Ich müßte sein Kind nicht sein,“ sagte das junge Mädchen stolz, „wenn ich um einen solchen Preis seine Ruhe erkaufen wollte. So mag denselben also Gott gegen Bosheit und Verrath beschützen, an welchem ich für ihn beten will, aber mit einem reinen, unbefleckten Herzen, wie bisher; verstehen Sie mich, Herr Julius?“

Mit diesen Worten schritt Marie entschlossen voran und suchte an der Seite ihres Verfolgers vorbei zu kommen. Dieser ergriff indessen dreist ihre Hand, und versuchte, sie an sich zu ziehen.

Ein Schrei des Schreckens entfuhr dem jungen Mädchen, während als Echo das kalte und herzlose Gelächter des Julius folgte. -

Die Lage, in welcher sich die Tochter des Försters befand, war bei der allgemein bekannten frivolen Leidenschaftlichkeit dessen, der ihr jetzt in dieser völlig einsamen Gegend gegenüber stand, eine beängstigende, ja sogar eine gefährliche. Das fühlte sie recht gut, und es entrollten daher auch Thränen ihren Augen, und Hülfe suchend durchirrte ihr Auge das Dunkel der Nacht. In diesem Augenblick brach der Mond aus den Wolken und gestattete eine freiere Umsicht.

Plötzlich fesselte ein großer Schatten, der am Rande des Hohlweges hinglitt, die Aufmerksamkeit Marien’s. Ein Hoffnungsstrahl schien bei dieser Wahrnehmung bei ihr aufzutauchen und ein neuer Gedanke sich ihrer zu bemächtigen. Sie warf noch einmal ihr Auge prüfend auf den Gegenstand, der ihre Aufmerksamkeit plötzlich in einem so hohen Grade in Anspruch genommen, und schien nun eine bestimmte Ueberzeugung erlangt zu haben. Ihre ganze Kraft zusammennehmend, stieß sie den immer ungestümer werdenden Julius einige Schritte zurück, während sie mit angsterfüllter Stimme rief:

„Hierher, Sultan! - Hierher, mein treues Thier!“

Ein lautes Geheul folgte diesem Rufe, und im nächsten Augenblick stand ein großer schöner Wolfshund an ihrer Seite, der seine glühenden Augen unter dumpfem Geknurr auf den Mann richtete, in dessen brutaler Gewalt sich seine Herrin befand

„Faß, Sultan! Faß!“ - rief die Bedrängte mit lauter Stimme, indem sie dem Hunde einen aufmunternden Blick zuwarf.

Ein mächtiger Bogensatz folgte dieser Mahnung, und im nächsten Augenblick lag Julius am Boden, niedergeworfen von der gewaltigen Kraft des Thieres, welches seine Vorderfüße zähnefletschend auf seine Brust setzte und seine Gebieterin fragend anblickte,

„Komm, mein treuer Freund!“ sagte das Waldblümchen, dem edelen Thiere ein Zeichen gebend, „komm, Sultan! Unter Deinem Schutze wird der Feigling sich nicht mehr an einem armen hülflosen Mädchen zu vergreifen wagen; - laß ihn los, mein treues Thier; ein Anderer wird ihn für die Schmach, die er seiner Tochter angethan, zur Rechenschaft ziehen.“

Der Hund befolgte gehorsam den Wink, indem er langsam seine breiten Klauen von Julius Brust herabgleiten ließ und seiner Herrin wachsam folgte, die sich mit schnellen Schritten von dem Orte entfernte, welcher der Schauplatz einer so großen Gefahr für sie gewesen war.

Auch Julius hatte sich erhoben, und sein finsteres von den Leidenschaften bewegtes Auge drückte Zorn und Rache aus.

„Du hast mich herausgefordert, stolzes Mädchens“ murmelte er vor sich hin, „aber Du weißt nicht, daß Du dadurch meine Leidenschaft nur noch mehr anfachst - Dein Vater? - Pah, ich fürchte ihn nicht! - ich lache seines ohnmächtigen Zornes! - Noch ehe acht Tage vergehen, werde ich Dich von seiner Seite reißen und Du wirst mein sein, und dann - ja dann, wenn ich Dich gedemüthigt und Rache genommen, dann magst Du meinetwegen dem lächerlichen Thoren, Eduard, oder dem fremden hochmüthigen Maler Deine Hand reichen!“

Ein kaltes, herzloses Gelächter folgte diesen Worten, und wie es schien, mit seinen Entschlüssen nicht mehr im Unklaren, entfernte sich der Rache brütende Mann langsam von dem Orte, dessen Schauplatz die eben beschriebene Scene gewesen war.


III.

Wir müssen den Leser ersuchen, uns für einige Augenblicke wieder nach dem Wirthshaus „Zur schönen Aussicht“ zu begleiten. Dort saßen abermals zwei Männer im Gespräch bei einem Glase Wein. In dem Einen erkennen wir einen alten Bekannten, den Gemeindeschreiber Eduard. Der Andere war bereits ein hoher Sechsziger, von offenen, aber strengen willenskräftigen Zügen, dessen stattliche Gestalt der Zahl seiner Jahre und seinem mit schneeweißem Haar bedecktem Haupte muthig Trotz zu bieten schien. Zu seinen Füßen lag ein Jagdhund von edler Race, und seine Rechte hielt ein schönes Doppelgewehr umfaßt.

„Aber“, mein liebster Herr Eduard,“ sagte der Alte, indem er einen Zug aus seinem Glase that, „Sie sprechen mir so vieles Zeug durcheinander daß ich Sie fast gar nicht verstehen kann.“

„Verzeihung! Verzeihung!“ sagte dieser, indem er in possierlicher Weise seinen Sessel hin und her schob, „aber in der That [102] – Ich gestehe, die Wichtigkeit des Augenblicks – der Drang meines Herzens –“

„Nun, ich errathe es schon, es ist wieder die alte Geschichte.“

„Ja, freilich, ja, freilich, wenn Sie es so zu nennen belieben, Herr Gruner! Aber gebieten Sie einem Herzen Schweigen, wenn es, dem Strome seiner Gefühle folgend, von diesen überwallt.“

„Romanphrasen!“ brummelte der Alte vor sich hin, „Romanphrasen, die ich unter meinen Hirschen und wilden Säuen nicht gelernt habe.“

„Nichts als die Ergüsse eines treuen Herzens!“ sagte Freund Eduard sich verbeugend, „erlauben Sie, daß ich auf das Wohl von Fräulein Marie dieses Glas leere.“

„Von Herzen gern. Das Wohl meiner Tochter ist mir viel zu lieb, um nicht darauf Bescheid zu thun.“

„In der That, Fräulein Marie besitzt alle Eigenschaften einer guten Hausfrau.“

„Das Kind ist einfach und sittsam erzogen, die Natur hat mehr als die Kunst an ihr gethan,“ erwiederte nicht ohne einen Anstrich von Selbstbefriedigung der Förster.

„Ja, und sie würde sich gewiß als Bürgermeisterin sehr gut ausnehmen.“

„Wie so? Was wollen Sie damit sagen?“

Herrn Eduard brachte diese unerwartete Zwischenfrage ganz aus dem Conzept, so daß er seine Verlegenheit hinter einem langen Räuspern zu verbergen suchte.

„Sie fragen, was ich damit sagen will? – Ja, hm! – In der That. – Nun, Sie kennen ja wohl das Sprüchwort: tempora mutantur et nos mutamur in illis –

„Zum Kuckuck, was weiß ich von Ihren fremden Brocken, ich verstehe nur Jägerlatein.“

Der Gemeindeschreiber zupfte bei diesem etwas derben Einwande verlegen an seinem Halskragen, bevor er fortfuhr:

„Um mich also im verständlichen Deutsch auszudrücken, würde das Ebengesagte, mit Ihrer Erlaubniß, etwa folgendermaßen zu übersetzen sein:

„Die Zeiten ändern sich, und man kann nicht wissen, ob nicht ein gewisser Jemand, welcher in diesem Augenblick die Ehre hat, Ihnen gegenüber zu sitzen, durch den souveränen Willen seiner Mitbürger zu dem Posten eines Bürgermeisters berufen wird.“

„Hm! – Ist Alles möglich in dieser gesetzlosen Zeit. Aber wenn man Sie zum Bürgermeister macht, so folgt daraus noch nicht, daß es meine Marie auch werden muß, oder meinen Sie, Herr Eduard, daß bis dahin Ihre Volksbeglücker auch die Emancipation der Frauen durchgesetzt haben? Ho, ho! In der That, eine schöne Zukunft, der wir entgegengehen!“

„O, Sie verstehen mich nicht, ich meine nur, angenommen, ein gewisser Jemand würde Bürgermeister und Fräulein Marie fände sich nicht abgeneigt, diesem gewissen Jemand mit einer zarten Neigung entgegenzutreten, würden Sie dann wohl geneigt sein, die Hand dieses gewissen Jemand mit der Ihrer Fräulein Tochter für immer zusammenzufügen?“

So einfach auch der Charakter des alten Waidmanns war, so vermochte er doch nicht bei der sonderbaren Rhetorik, welche der Gemeindeschreiber entwickelte, ein lautes, etwas derbes Gelächter zurückzuhalten.

„Ha, ha! Sie sind doch in der That ein drolliger Kautz! – Für immer zusammenfügen? – Und mit einem gewissen Jemand? – Das ist ein ebenso ernsthaftes wie mysteriöses Ding, mein lieber Herr Eduard. Junge Mädchen haben ihre Launen, und man muß ihnen zu einem solchen Schritte Zeit lassen.“

„Diese Launen sind mitunter sehr sonderbar,“ sagte der Gemeindeschreiber, durch das Gelächter des Försters etwas gereizt, „und wenn die Wachsamkeit eines Vaters darüber einschläft –“

„Was wollen Sie damit sagen?“ fragte der Alte sehr ernst.

„Nun, das Wohl von Fräulein Marien liegt mir am Herzen, und ich habe heute eine Entdeckung gemacht, welche hiermit in einem sehr engen Zusammenhange stehen dürfte.“

„So? – Bedenken Sie wohl, was Sie sagen!“

„Ich werde schweigen, wenn ich Gefahr laufen sollte, durch meine Worte Ihr Mißfallen zu erregen.“

„Zum Teufel, keine Winkelzüge! Ich bin ein alter gerader Mann, der die krummen Wege nicht liebt. Also heraus mit der Sprache, Herr! Was haben Sie für eine Entdeckung gemacht?“

Der Gemeindeschreiber räusperte sich von Neuem, that einen langen Zug aus seinem Glase und sagte dann mit einer Miene, in welcher sich die Erwartung über den Erfolg seiner Worte abspiegelte:

„Nun, meine Eröffnungen beziehen sich auf einen Herrn, welcher hier schon seit längerer Zeit damit beschäftigt ist, seine Malermappe zu füllen und dem das Glück zu Theil wurde, auch Fräulein Marie mitunter einige seiner Zeichnungen darlegen zu dürfen.“

„Wie, Ihre Mittheilungen betreffen Herrn Müller?“

„Herr Müller? – ja, da eben sitzt der Haken –“

„Wie so?“

Unser Freund faßte wieder nach seinem Halskragen und sagte, den Kopf in den Nacken werfend:

„Man hat im Interesse der Sicherheitspolizei sich veranlaßt gefunden, Nachforschungen über besagtes Individuum anzustellen, und ist dabei zu einer sehr wichtigen Entdeckung gelangt."

„Am Ende auch so ein verkappter Demokrat," murmelte der Förster.

„Keineswegs! – Ein ganz anderes Factum hat sich dabei ergeben."

„Wie?"

„Ja!"

„Nun?"

„Ein Factum, welches auf nichts Geringeres hinausläuft, als daß besagter Herr Müller keineswegs Müller, sondern Baron von Wildenhaupt heißt."

Der gute Eduard glaubte durch diese Mittheilung den Förster in große Verlegenheit zu sehen, und freute sich schon im Voraus des Triumphes, welchen er dadurch über denselben zu feiern Gelegenheit haben würde, aber er ward bitter enttäuscht. Die Züge des alten Mannes hatten sich krampfhaft zusammengezogen, sein Auge heftete sich zornglühend auf den armen Gemeindeschreiber. Seine breite Hand legte sich fest wie ein eiserner Ring um die seines Gesellschafters, und mit einer Stimme, deren Eiseskälte diesem eine Gänsehaut über den Rücken jagte, fragte er in einem dumpfen Tone:

„Baron von Wildenhaupt heißt der Fremde? – Nicht so? – Antworten Sie! Sagten Sie nicht Baron von Wildenhaupt?"

„Es thut mir leid," erwiederte der eitle, junge Mann, den leisen, jedoch vergeblichen Versuch machend, seine Hand der des Försters zu entziehen, „es thut mir leid, daß dieser Name über meine Lippen gekommen ist, denn, wie es scheint, habe ich Ihnen dadurch einen schlechten Dienst erwiesen.“

„Im Gegentheil. Ich bin Ihnen unendlich dankbar dafür und Marie wird es noch mehr sein.“

Diese Aeußerung fachte den entschwundenen Muth und das verlorene Selbstvertrauen des Gemeindeschreibers vom Frischen an und seine Eitelkeit baute einen neuen Plan auf bereits halb vernichtete Hoffnungen.

„Sie sprechen von Fräulein Marien’s Dankbarkeit," sagte er. „Hat mich denn etwas Anderes als die Besorgniß um deren Wohl veranlaßt, Ihnen diese vertrauliche Mittheilung zu machen?"

„Aber, wie kamen Sie hinter das Geheimniß?“

„Wie ich dahinter kam?“ sagte Eduard, die Augen verlegen zu Boden schlagend. „Nun, man hat so seine Mittelchen, die ein guter Polizeibeamter nicht außer Acht lassen darf. – Etwas spioniren, Freundchen, etwas spioniren – das wird nach unserem Katechismus als keine Sünde angesehen. Unsereins hat große Pflichten gegen den Staat und gegen die Gesellschaft zu erfüllen: beide wollen geschützt sein.“

„Weiter! Weiter!" sagte der Förster mit sichtbarer Ungeduld.

„Nun, sehen Sie, um das Wohl von Fräulein Marie besorgt, hatte ich schon längst beschlossen, diesen sogenannten Herrn Müller auf’s Korn zu nehmen."

„Daran haben Sie Recht gethan,“ sagte der Alte, indem sein Auge von Neuem zornig aufblitzte. „Der Verräther! – Ha, wenn meine Ahnung wahr wäre!“

„Wie gesagt also, einzig um das Wohl von Fräulein Marie zu wahren, die sonderbarer Weise eine auffallende Vorliebe für diesen Pseudo-Müller zu hegen scheint, begab ich mich heute in der Dämmerstunde, als ich besagtes polizeiverdächtiges Individuum abwesend wußte, nach seiner einsam gelegenen Wohnung, und nachdem [103] ich der alten Susanne, der Besitzerin des kleinen Häuschens durch eine geschickte Manipulation, die ihre Hand mit meiner Börse in Verbindung brachte, Stillschweigen auferlegt hatte, betrat ich das Zimmer des angeblichen Malers.“

„Und was fanden Sie da?“

„O, derartige Leute hüten sich wohl, ihre Geheimnisse zur Einsicht von Jedermann offen liegen zu lassen. Ich fand daher auch, wie ich dies vermuthet hatte, Alles fest verschlossen.“

Bei diesen Worten stützte der Förster enttäuscht das greise Haupt in die Hand.

„Aber,“ setzte der Gemeindeschreiber mit Selbstbefriedigung hinzu, „das eben ist die Kunst eines polizeilichen Genies, da Etwas zu finden, wo Nichts ist. Indem ich meine Blicke spähend umherwarf, gewahrte ich unter einem Haufen Schriften ein kleines Miniaturbild.“

„Ein Bild?“ – fragte der Förster gespannt, indem er aus seinen Träumereien auffuhr.

„Ja, ein Bild, und noch dazu ein weibliches. Ein sehr verdächtiges Object, wie Sie zugeben werden, für einen Mann, dem das Wohl von Fräulein Marie am Herzen liegt.“

„Aber der Name? Wie kamen Sie zu dem Namen?“

„O man muß Kombinationsgabe und einen gewissen Instinkt bei derartigen Dingen besitzen. Ich wendete das Bild um und fand, daß auf der Rückseite in etwas verbleichter Schrift der Name Herrmann von Wildenhaupt stand.“

„Herrmann von Wildenhaupt!“ rief der alte Gruner, indem er in der höchsten Aufregung aufsprang und, seine beiden Hände auf den Tisch gestützt, den bestürzten Gemeindeschreiber starr anblickte, – „Herrmann von Wildenhaupt, sagen Sie? – Und wo ist das Bild? – Sprechen Sie, wo ist das Bild, wenn Ihnen meine Ruhe etwas werth ist!“

„Ich habe es zu mir gesteckt als corpus delicti für kommende Fälle.“

Der alte Mann streckte seinem Gesellschafter die Hand zitternd entgegen und sagte mit dumpfer, fast tonloser Stimme:

„So bitte ich Sie bei der Barmherzigkeit Gottes, zeigen Sie mir das Portrait.“

„Aber was ist Ihnen?“ fragte der bestürzte Eduard.

„Das Portrait, das Portrait!“ donnerte der Greis.

„Nun hier ist es!“ sagte der Erstere, langsam in den Busen greifend und ein kleines, auf Elfenbein gemaltes, mit Gold eingefaßtes Bild hervorziehend, das er kopfschüttelnd dem Förster überreichte.

Dieser warf einen Blick auf dasselbe und sank dann betäubt in seinen Sessel zurück.

„Ja sie ist es!“ rief er, das Bild an sein Herz drückend. „Es sind die Züge meiner theuren Schwester! – Und dies – ja dies ist die Handschrift des treulosen Verräthers, der sie zu einem Schritte verleitete, welcher unsäglichen Kummer über eine Familie brachte. Ha, Schlange, hast Du nicht genug in meinem Busen gewühlt, läßt Du jetzt auch noch Deine Brut gegen mich los, um durch sie das letzte und einzige Glück eines alten Mannes in gleicher Weise, wie Du es gethan, zu zerstören! – Aber hüte Dich, junge Natter, hüte Dich! Der Feind Deines Geschlechtes ist Dir näher, als Du glaubst!“

„Er redet irre!“ murmelte der Gemeindeschreiber, sich schüchtern nach allen Seiten umsehend. „Ich will ihm zureden, daß er sich nach Hause begiebt.“

Diese Ermahnung wäre indessen unnöthig gewesen. Bereits hatte sich der Greis erhoben und stand stolz und aufrecht auf sein Gewehr gestützt. Aber ein furchtbarer Ernst, aus welchem der eiserne Wille eines zur Reife gelangten Entschlusses sprach, drückte sich auf seinem Gesicht aus. Das Portrait zu sich steckend, schritt er schweigend an dem überraschten Eduard vorüber und das Dunkel der Nacht durchschneidend, eilte er mit einer Schnelle, die nicht ohne Absicht sein konnte, seiner im Forste gelegenen Wohnung zu.



IV.

Während wir so eben den Förster das Wirthshaus „Zur schönen Aussicht“ in der größten Aufregung haben verlassen sehen, herrschte im Forsthause selbst eine tiefe Stille und nichts deutete darauf hin, daß sich daselbst irgend Jemand befinde, der in seinem Frieden gestört sei. Aber dennoch gab es dort ein Wesen, dessen Herz von Unruhe nicht ganz frei war, obgleich sich darin offenbar nur eine frohe Erwartung aussprach, welche vermöge irgend eines seiner Enthüllung nahen Ereignisses veranlaßt wurde. Der Mond warf seine hellen Strahlen durch das dichte Laubwerk der alten Eichen und beleuchtete gleichzeitig das liebliche Gesicht Marien’s, die, ein Buch vor sich aufgeschlagen, in einem im Erdgeschloß gelegenen freundlichen Stübchen am geöffneten Fenster saß, ihre Lectüre indessen nur wenig beachtete, und sich statt dessen in sichtbarer Aufregung von Zeit zu Zeit mit ihrem Blick in das magische Dunkel des Forstes verlor.

Plötzlich tönte durch die Stille der Nacht der Schlag einer Wachtel, welchem unmittelbar darauf das heisere Geschrei einer Eule antwortete. Das junge Mädchen zuckte bei diesen Tönen erröthend zusammen, und legte gleichzeitig die Hand auf sein Herz. Aber kaum hatte es diese Bewegung ausgeführt, als es auch schon den Druck einer andern Hand fühlte und eine ihm wohlbekannte Stimme mit unverstellter Innigkeit leise seinen Namen aussprach, während sich zwei Augen zu ihm emporrichteten, deren zärtlicher Ausdruck Diejenige, der er galt, schüchtern und mit zartem Erröthen auszuweichen bemüht war.

„Marie, meine geliebte Marie!“ sagte der junge Mann, der niemand anders als der unter dem Namen Müller uns bekannte Fremde war, „wie unendlich muß ich Ihnen danken, daß Sie mir dies Zusammenkunft bewilligt haben.“

„Es mag sein, daß ich Unrecht that,“ sagte diese, „ohne das Wissen meines Vaters hierauf einzugehen, allein wenn die Gründe, welche Ihre Bitte begleiteten, sich wirklich als so triftig bewähren, wie Sie angegeben haben, so hoffe ich, es wird für mich hierin wenigstens theilweise eine Entschuldigung liegen.“

„Meine Absichten sind rein, hierüber wird bei Ihnen kein Zweifel herrschen.“

„Ich glaube es,“ sagte Marie, den jungen Mann mit dem Ausdruck eines unverkennbaren Vertrauens anblickend, „und es würd mich sehr unglücklich machen, daran zweifeln zu müssen.“

„Ihre Worte sind eine neue Aufforderung für mich, jeden Schein zu entfernen, welcher dieses Vertrauen schwächen könnte. Lassen Sie uns nicht verbergen, was in unserem Herzen vorgeht, meine Marie; schlagen Sie das Auge nicht zu Boden – nein, heben Sie es empor, wenn Sie das für mich empfinden, was ich hoffe.“ –

In der That folgte das junge Mädchen mit holder Schamhaftigkeit dieser Aufforderung, indem sie gleichzeitig, halb abgewendet, ihrem Gesellschafter ihre Hand reichte, die dieser tiefbewegt an seine Lippen drückte. Dann wurde sein Blick plötzlich ernst und eine gewisse Melancholie bemächtigte sich seiner Züge.

„Es ist ein eigenthümliches Verhängniß, welches uns zusammengeführt hat, meine Marie,“ begann er, „und es wird Pflicht für mich, daß ich den Schleier von Verhältnissen lüfte, die uns für die Zukunft voraussichtlich noch harte Kämpfe bereiten werden. Haben Sie den Muth, für die Erreichung eines Zieles, an welches sich das künftige Glück unseres Lebens knüpfen soll, mit Beharrlichkeit in den Kampf zu treten?“

„Sie werden mich hierzu zu jeder Zeit entschlossen finden.“

„Selbst wenn die Nothwendigkeit sie zwänge, dem Willen Ihres eigenen Vaters entgegentreten?“

„O mein Gott! Meinem eigenen Vater?“

„Hören sie, Marie, mein Name ist nicht Müller, ich heiße – “

Hier ließ sich der bereits früher von dem Fenster vernommene Schlag der Wachtel von neuem sehr laut hören.

„Ihr Vater!“ sagte der Jüngling erschrocken aufspringend. „Es ist Wilm, welcher uns das verabredete Zeichen giebt.“

Kaum waren diese Worte ausgesprochen, als der ungestüme Druck einer Hand das Zimmer öffnete.

In stolzer Haltung, doch leichenblaß und mit zornglühendem Auge trat der Förster ein.

Marie stieß einen Schrei aus und flog ihrem Vater entgegen. Dieser ergriff ihre Hand und führte sie ohne ein Wort zu sagen zu ihrem Sessel zurück.

Der Maler stand stumm, in zwar nicht trotziger, aber in ruhiger Haltung in der Mitte des Gemaches und schien entschlossen, den Sturm zu erwarten, dessen Ausbruch die finster zusammengezogenen Brauen des Alten verkündeten.

Dieser ließ sich auf einen Stuhl nieder und sein starres Auge heftete sich durchbohrend auf den Fremden.

[104] Eine peinliche, durch keinen Laut unterbrochene Stille herrschte einen Augenblick. Endlich sagte der Vater Marien’s und mit Eiseskälte:

„Herr von Wildenhaupt!"

Der Jüngling zuckte überrascht zusammen und Marie erbebte. „Herr von Wildenhaupt, Sie spielen die Rolle eines Nichtswürdigen." -

Eine hohe Röthe übergoß des Fremden Gesicht und sein Auge begegnete funkelnd dem des Försters. Doch schon in der nächsten Sekunde nahm sein Blick wieder den Ausdruck der Sanftmuth an und mit weicher, obgleich tiefbewegter Stimme antwortete er:

„Meine Ehre ist eben so unbefleckt wie meine Absichten rein sind; ich weise eine solche Beschuldigung mit der Ruhe, die ein gutes Gewissen verleiht, zurück."

„Junge Schlange, glauben Sie einen alten Mann zu täuschen?"

„Mein Vater!" rief Marie, einige Schritte vortretend und ihre Hände bittend erhebend.

„Still! Laß mich mit ihm Abrechnung halten, unverständiges, verblendetes Kind."

„Endigen Sie diesen Auftritt, der uns Beiden keine Ehre macht," sagte Wiidenhaupt - „machen Sie mich mit der Anklage, die Sie gegen mich erheben, bekannt, und ich werde Ihnen als ehrlicher Mann darauf antworten."

„Herr von Wildenhaupt, wissen Sie, in wessen Hause Sie sich befinden?"

„In dem Hause eines Mannes, den ich so gern Vater nennen möchte."

„Ha, ha!" lachte der Förster wild, „und darum schlichen Sie sich unter fremden Namen hier ein? - Nein, junger Mann, der Todfeind Ihres Vaters kann nie zu Ihnen in ein solches Verhältniß treten."

Der Fremde erblaßte und Marie stieß einen Schrei der Verzweiflung aus.

„Ich bin," sagte der Baron, „allerdings der Sohn jenes Herrmann von Wildenhaupt, den Sie so hassen.“

Bei diesem Namen flammte das Auge des Försters von Neuem und seine Hand weit von sich streckend, rief er:

„Fort! Aus meinen Augen, junger Wolf! Gleich ihm hast Du Dich hier eingeschlichen, um wie er das unschuldige Lamm zu rauben!“

„Genug!“ sagte der Baron plötzlich sehr ernst. „Ich habe getragen, was ein Mann einem Andern gegenüber zu tragen vermag, aber auch die von der Verblendung angefachte Leidenschaft muß ihr Ziel finden. Sie haben einen edelen Vater einem Sohne gegenüber mit Schmähungen überhäuft, dessen Andenken demselben theuer und heilig ist. Ich kam hierher, um Ihr hartes, unbeugsames Herz mit ihm zu versöhnen.“

„Nimmermehr!“ sagte finster der Alte.

„So soll mich dies doch nicht abhalten, seine Rechtfertigung zu führen," fuhr schmerzlich bewegt der Jüngling fort.

„Geben Sie diesen Versuch auf," rief mit Bitterkeit Marien's Vater. „Was könnten Sie noch sagen, was nicht schon bekannt wäre. Eine traurige Geschichte, die freilich leider nicht neu in der Welt ist. Ihr Vater war Offizier und wurde schwerverwundet in das Haus meiner Aeltern gebracht. Zum Dank für die Pflege, die er genoß, stahl er denselben die Tochter."

„Er und Ihre Schwester, meine theure, verklärte Mutter, liebten sich. Vergebens bat er um ihre Hand; unbefragt hatte man dieselbe einem reichen Pächter zugesagt."

„Kinder müssen gehorchen,“ bemerkte rauh der alte Graubart.

„Aber der Gehorsam hört aus, wo die Liebe gebietet. Sie flohen. Vergebens suchten später die zärtlichsten Briefe die erzürnten Aeltern von dem Glücke des verbundenen Paares zu überzeugen. Sie waren es - o, daß ich diese Anklage erheben muß! - Sie waren es, welcher jedesmal einer Versöhnung hartnäckig in den Weg trat, weil Sie Haß gegen meinen Vater im Herzen trugen, der sich für eine von Ihnen empfangene Beleidigung in einem Augenblicke der Aufwallung auf eine Weise gerächt hatte, die seitdem von ihm stets auf das Schmerzlichste beklagt worden ist."

„O, mein Vater! Mein Vater!" rief Marie schluchzend. „welches dunkele Gemälde der Vergangenheit öffnet sich vor meinen Blicken!"

„Still!" sagte dieser finster, „soll ich hier als Angeklagter stehen, wo ich als strafender Richter erschienen bin? - und dennoch, wer wagt es, meine Liebe gegen die Schwester in Zweifel zu ziehen?" fügte er weich hinzu. „War es nicht eben diese Liebe, die ihre Rückkehr in’s väterliche Haus als Bedingung der Versöhnung stellte, habe ich nicht in der Einsamkeit zu Gott gebetet, daß er ihr verblendetes Herz lenken und sie in die Arme ihres Bruders, zu den Füßen der trauernden Aeltern zurückführen möge.“

„Aber, war dieses Gebet wohl auch ein reines?" entgegnete der Baron. „Wollten Sie nicht die Gattin von dem Herzen des Gatten reißen, um sich an einem Manne zu rächen, der das Ihnen zugefügte Unrecht so oft und so aufrichtig bereut hatte.“

„Genug der Worte!“ rief der Förster mit einer Kälte, die einen unwiderruflichen Entschluß bekundete. „Verlassen Sie dieses Haus, in welchem bisher der Friede und das Glück wohnten. Vermeiden Sie es, die Schwelle desselben jemals wieder zu betreten, denn zwischen uns kann niemals eine Verständigung stattfinden.“

„Und Sie, Marie?" sagte der Baron zu dem jungen Mädchen gewendet, „stimmen auch Sie in diesen Urtheilsspruch ein?“

Eine convulsivische Bewegung durchzuckte den Körper des lieblichen Kindes. Leichenblässe überzog ihr schönes Gesicht. Plötzlich richtete sie sich muthig und entschlossen auf. Sie eilte auf den Baron zu. Dieser umfing sie mit seinen Armen. Ihr Haupt sank langsam auf seine Schulter. Der Alte sprang auf und wollte sie von dem Jüngling trennen. Aber eine zwar sanfte, jedoch entschiedene Handbewegung seiner Tochter verhinderte ihn daran.

(Schluß folgt.)




Ostindische Spiegel-Bilder.
(Schluß.)


Die heiligen Tempel der Indier. – Eine Pagodenstadt. – Das Leben in Indien und die Brahminen-Ochsen. – Wie man in Indien Weihnachten feiert. – Sommerqualen. – Indische Briefträger. – Die Moplahs.

Jetzt einen Besuch dem alten Indien, das noch in Tausenden von Trümmern und Tempel-Ruinen seine verknöcherten Hände aus dem Grabe in die jetzige Kultur emporstreckt. Einen der am Besten erhaltenen Buddha-Tempel finden wir in den dickumgrünten Trümmern der alten Stadt Halwad, in der Provinz Gujerat. Es war ein Haupt-Kultusort des Mahadöh, der von seinem himmlischen Throne stieg, um mit Menschen menschlich zu leben, und „mitzufühlen Freud’ und Qual“ und (nach Goethe) selbst die sündige Bajadere mit feurigen Armen in den Himmel zu tragen. Der Tempel bildet ein schwerfälliges, überdomtes Viereck mit einer Reihenfolge kleinerer Dome, deren elephantenköpfige Simse und Colonaden mit dem massiven Körper des Gebäudes den Eindruck des Schauerlichen und Erhabenen hervorrufen, zumal da ringsherum die grüne, blüthenglühende Natur in eben so tiefes Schweigen versunken liegt, wie der Tempel und die umhergestreuten Ruinengebirge. Nur wenn die Sterne am Himmel feurig aufblitzen und der kühle Nachtwind vom Meere her über das Land hinschreitet, wird es hier lebendig. Fledermäuse und große Nachtfalter flattern hinter den Säulen hervor, Elephantenheerden rauschen und krachen mit plumpen Füßen durch das Gebüsch, hinter dem Altare des Mahadöh, der noch immer mit beiden emporgehobenen Händen da steht, springt der bengalische Tiger hervor und blitzt mit wilden, rothglühenden Augen durch die Nacht, aus welcher das krachende Gebrüll des Löwen herandonnert. Dazwischen heulen Schakale und kreischen und toben Legionen von Affen, und in den Gewässern plätschern und spritzen scheußliche Alligatoren.

Der Tempel mit seinen vielen Buddha-Symbolen und Elephantenköpfen erinnert durchaus an die urältesten Tempelruinen [105] von Salselte, welche den alten, vielgötterigen Buddhadienst mit einem christlichen Deismus zu vereinigen suchten. Die Götter stiegen bei ihnen zu der Rolle von Heiligen herab. Auf den steinernen Altarwänden sitzen diese eingehauenen Heiligen zu Dutzenden wie Schneider auf ihren gekreuzten Beinen, versunken in andächtiges ewiges Nichtsthun und Nichtsdenken, die höchste Religiosität der Buddhisten. Zwischen den weißen, steinernen Figuren mit eingesetzten, silbernen Augen (ein schauerlicher Anblick, wenn vor diesen Augen das Licht der vor ihnen brennenden Lampe sich bricht) sitzt zuweilen eine größere schwarze, in welcher die Priester und Gläubigen die göttlichste Verkörperung der Gottheit sehen, ein Glaube, von dem man den weißen Amerikanern einen guten Theil eintrichtern sollte, damit sie in den Negern wenigstens Menschen achten lernen. In dem Tempel von Holwad machen noch zuweilen andächtige, bronzene Weiber und Kinder den silberäugigen Heiligen ihre Aufwartung und setzen ihnen Blumen und „Zuckerkant“ vor, sonst scheinen die Dschäns ziemlich dünn und spärlich geworden zu sein. Unter den vielen noch eifrig verehrten göttlichen Incarnationen treten besonders Kulte des Surya (Sonne), Buddhas, Krishnu’s und Bala-Rama’s hervor. Letzterer ist der Herkules Indiens, in dessen Verehrung eine Art revolutionärer Ermannung gegen den passiven, weichlichen Buddhismus gefunden wird.

Ostindischer Briefträger

Die großartigste alte Tempelstadt findet man einige Meilen von Cuttack, im Lande Gottes Bhobaneswar, zwischen dessen Ruinen noch 999 Tempel stehen (nicht einer mehr), deren Ursprung man weit vor Christi Geburt zurück verfolgen kann.

Diese seltsamen, höhlen- und backofenartigen Tempel mit feinem Schnitzwerk an den Eingangshallen, Löwen, Greifen und Elephanten, zerstreuen sich zwischen Deichen, Baum- und Buschwerk, Steinhaufen und verwitterten Säulen viele Meilen umher, so daß hier einst eine der riesigsten und prächtigsten Städte geblüht haben muß. Nach den Traditionen der Eingebornen wurde sie von einem mächtigen Rajah gebaut, der seine Unterthanen zwang, nichts zu thun als in den Pagoden den Göttern Andacht, ihm aber allein Steuern zu zahlen.

Ueber die Pagodenstadt stürmte verwüstend der Mongole im sechzehnten Jahrhundert, jetzt zieht der englische Soldat mit Weibern und Kindern über deren Ruinen und baut sich für die Nacht Zelte dazwischen auf. An die Stelle der alten indischen Gottheiten ist der englische Soldat der ostindischen Compagnie getreten, der mit seinen Zelten Civilisationsreisen in allen Richtungen des Landes macht und sich Wochen lang in seiner leichten Leinewandstadt zwischen den verfallenen Pagoden häuslich einrichtet.[1]

„Es ist herrlich, während der kühlen Jahreszeit unter den luftigen Zelten zu wohnen," schreibt man von dorther. "Die Tage sind zwar auch etwas warm, dafür aber die Nächte desto angenehmer. Die Sterne blitzen hell herab und wieder herauf aus den Wasserspiegeln unzähliger Teiche, auf welchen der kühlende Seewind mit riesenblätterigen Lotusblumen spielt, schneeweißen heiligen Lotusblumen, brennend rothen und den schönsten von allen, deren blasse Blüthen von rosigen Hauchen angeweht, der schönen Röthe reiner erglühender Wange der Unschuld gleichen. Daneben stieren silbergraue Pagoden-Ruinen in den lotusblumenreichen, glühenden Wassersternhimmel hinab. Aus dem Dickicht grunzen Bären, geifern mit gellem Schrei starrborstige Hyänen und musiciren in tausenderlei fremden Tönen allerlei raubgierige Thiere, die selbst den heiligen Ochsen nicht schonen, den sogar die Engländer noch nicht ungestraft verletzen dürfen. Wir schlafen unter diesem Raubgethier unter offenen Zelten, so daß wir tausend mal aufgefressen werden würden, wenn uns nicht ein stets brennendes Feuer und ein kleiner, couragöser Wachtelhund in Schutz nähme. Aber eines Nachts wurde ich doch mit nicht einem kleinen Schreck aus tiefem Schlafe durch ein furchtbares Grunzen und Schnauben dicht an meinen Ohren aufgeweckt. Ich schrie nicht schlecht nach meinem Ayah (Diener indischer Abkunft), der sofort herein sprang und mir verkündete, daß mich ein heiliger Brahminen-Bulle mit seinem Besuche beehre. Der Ochse stand eine Zeit lang ganz still und sah sich mit religiöser Würde um, nachdem er sich überzeugt haben mochte, daß wir nicht an seine Göttlichkeit glauben, drehte er sich mit mehr Grazie, als ich sonst lebendigem Rindfleisch zutraute, um und ging, indem er einige undeutliche Bemerkungen in [106] Form verschiedener Schnaub- und Grunztöne in den Bart zu murmeln schien.

„Diese Brahminen-Ochsen sind die größte Plage für uns, die wir sie nur gebraten lieben. Sie gehen, wohin sie wollen, und kommen zuweilen selbst in unsere Gesellschaftszimmer, niemand darf ihnen etwas zu Leide thun. Ein Herr, der unlängst einen tödtete, brachte Brahminen und Volk in Masse auf die Beine. Sie beruhigten sich nur, als das englische Gericht dem Schuldigen eine schwere Geldstrafe auferlegt hatte. In Jaggernaut, dem Brennpunkte indischen Priesterthums, giebt es für keinen Preis Kalb- ober Rindfleisch, und ein Engländer, der dort Beefsteak oder Roastbeef äße, würde vom Volke zerrissen werden.

„Die vielen Pilgrime nach Jaggernaut sterben zu Tausenden vor Hunger auf dem Wege, ehe sie Fleisch oder Brot von uns über ihre Lippen bringen. In Cuttack giebt es ein Hospital für diese Pilgrime, wo sie mit Reis versehen werden, so viel sie haben wollen. Etwas Anderes nehmen sie gar nicht an. Von dem Fanatismus und dem Märtyrerthum mancher dieser Wallfahrer könnte man haarsträubende Dinge erzählen. Ich sah einmal einem mit Schmutz bedeckten, zum Skelett abgemagerten Individuum zu, das den ganzen Weg nach Jaggernaut (über 300 englische Meilen von seinem Geburtsorte aus) dadurch zurücklegte, daß es Zoll für Zoll den ganzen Weg mit seiner eigenen Länge maß. Jedesmal warf er sich da, wo er mit dem Kopfe hingereicht hatte, mit den Füßen wieder an und legte so wörtlich die ganze Reise zurück.

„Jetzt laßt mich Euch erzählen, wie wir hier Weihnachten feierten. Ich ging am frühen Morgen hinaus in unsern Garten, eine bloße Abzäunung dessen, was hier die Natur gegärtnert, um mir einen frischen Blumenstrauß und frische Früchte für unser Mittagsessen zum ersten Feiertage zu pflücken: Orangen, Apfelsinen, Plantanen, Guaven, Ananas, schneeweißen Jasmin mit göttlich betäubendem Aroma, Rosen, Verbenen, Heliothropen und riesige glühende Blumen, die ich hier zum ersten Mal sah und noch mehr roch, ohne mich seitdem darum zu kümmern, wie sie der gelehrte Botaniker Hooker nennen mag. Gegen Mittag waren alle unsere Zelte und Bungalows (mit Stroh gedeckte extemporirte Hütten) auf das Ueppigste mit Blumengirlanden behangen. Auf dem Frühstückstische dufteten deliciöse Kuchen und Früchte, auf dem Mittagstische, der alle Offiziere und deren Frauen vereinigle, glänzte das gewaltigste Stück Roastbeef, zu welchem sich auch der rosinen- und gewürzreichste Riese von Plumpudding gesellte. Von Blumendüften mehr trunken, als vom Wein, durch die offenen Thüren warm und weich angeweht, von schwarzbraunen Dienern in leichten weißen Roben umgeben, umrauscht von Militärmusik und englischen Melodien, und spät in der Nacht uns spiegelnd in dem ringsum illuminirten, lotosblumenstrotzenden Deiche, auf welchem die Himmelslichter des Mondes und der Sterne erbleichten – so feierten wir hier Weihnachten!“

Das sieht von Weitem für die Vorstellung ganz herrlich aus, aber es giebt auch einen indischen Sommer und tausend andere Plagen, von denen wir hier uns nichts träumen lassen. „Von der Glühhitze, der wir hier im Juni ausgesetzt waren,“ schreibt derselbe Berichterstatter, „könnte man sich bei Euch nur einen Begriff machen, wenn man, wie die drei Männer der Bibel, direkt in einen feurigen Ofen ginge. Wir haben während der ganzen Zeit kaum des Nachts gespürt, daß wir leben, während der Tage vegetirten wir nur, und thaten nichts, als Thermantica (Mittel gegen die Wärme) und in Salpater gekühltes Pole Ale (blasses Ale, Bier) verschlucken. Wir lechzten hier mehr nach der untergehenden, als ihr für die aufgehende Sonne. Der Sommer ist hier für die Vegetation, was der Winter für Grönland. Alles versengt bis auf den letzten Grashalm, und die größten Flüsse werden zu einem steinharten, gebrannten, trockenen Bette. Luftdicht eingeschlossen in unsere dick mit Stroh gedeckten Bungalows waren wir den ganzen Tag über lebendig begraben. Von Nah und Ferne schwieg Alles todtenstill bis tief in die Nacht. Ich hätte oft Wunder was gegeben für ein einziges Geheul des Schakals oder ein Affengequiek. Nach Sonnenuntergang erhebt sich gewöhnlich ein erquickender Wind vom Meere her und dann schreit und brüllt und flattert und schwirrt es die ganze Nacht hindurch in Tausenden schrecklichen Mißtönen, und der große Frosch, der sich den Tag über in unser Putzzimmer versteckt, springt quakend und kraxend hinaus, um mit 10,000 Collegen Chor zu singen. In unserm besten Zimmer zu Cuttock logiren auch Sperlinge, und weiße Krähen schreiten gravitätisch mit steifen Beinen, wie gichtische Herren, auf unserem Frühstückstisch einher. Jeder Winkel ist den Tag über mit Fröschen angefüllt. Moschus-Ratten schießen in unsern Zimmern umher, als hätten sie alle Hände voll zu thun, und manchmal findet man während des Nachts einen schlanken, glatten Schlafcollegen in Gestalt einer Cobra die Capella (Schlangenart). Aber diese eben nicht sehr beliebten Beischläfer sind Götter gegen die Ameisen, Mosquito’s, die unsere Zimmer durchwimmeln. Jeder Tisch, jeder Stuhl, jedes Bettbein muß in einem Gefäße voll Wasser stehen, wenn uns erstere nicht alle Vorräthe und uns selbst aufzehren sollen, und gegen die Mosquito’s muß man sich in Kasten mit Thüren von Gaze einsperren, wenn man’s haben kann. Auch die Veranda, mit der hier jedes Haus versehen ist, hat ihre Bewohner, die keine Miethe zahlen. Eulen und Fledermäuse, geschwätzige Minah-Vögel und eine thätig Mosquito’s vertilgende, wunderliebliche, muntere Eidechse von hübschem Silbergrau mit rothem Schwanze. Auch darf ich die grausame Mauerwespe nicht vergessen. Sie sieht braun und schwarz aus, baut ihr Nest an Bilderrahmen, Stuhlbeine oder sonst an Orte, an denen sie Gefallen findet, und macht es in Form eines Taubeneies bis auf eine kleine Oeffnung fertig. Jetzt legt sie ihre Eier hinein, fliegt dann mehrmals aus und kehrt hierauf mit kleinen grünen Käfern zurück, deren sie etwa ein Dutzend lebendig in die Wiege ihrer Nachkommen mit einmauert, damit sie sich erst stärken können, ehe sie ihr Ei-Haus durchbrechen.

Als die Regenzeit mit fürchterlichen Gewittern kam, fanden wir eines Tages in dem noch trockenen Bett eines Flusses eine ganze Heerde halbverwes’ter Affen, kein seltener Fund hier, da sie und andere Thiere, wie Menschen, oft in Flußbetten, wo sie nach einem Tropfen Wasser suchen, verdursten und zu Mumien zusammentrocknen.

Und was dem Menschen in Indien sonst noch Alles passiren kann, darüber muß man die Briefläufer fragen, welche hier statt der Posten, Eisenbahnen und Telegraphen dienen. Sie gehören größtentheils der untersten Kaste, den Schuliahs oder Paria’s an, sind von der Regierung angestellt und wohnen durch das ganze Land hin in allen Richtungen an bestimmen Stationen. So laufen sie beinahe mit Schnellpostgeschwindigkeit Tag und Nacht ihre Touren ab, wo die nächsten sofort die Briefpackete, die nicht selten auch Uhren, Juwelen und sonstige Kostbarkeiten enthalten, in Empfang nehmen und ihre Station absolviren. Kein Wetter, kein Sturm, kein Strom, kein reißendes Thier hält sie auf, und wenn sie Einem des Nachts mit ihren Fackeln im Dickicht, das von giftigen und reißenden Thieren strotzt und diese beleuchtet, begegnen, kann man wohl behaupten, Lebensbilder von dem höchsten malerischen Effect gesehen zu haben. Die beiden Briefträger (denn es laufen deren allemal zwei) werden des Nachts von zwei Fackelträgern begleitet, welche mit ihren geschwungenen Feuerbüscheln fast stets die wilden Thiere, die von allen Seiten, Unten und Oben lauern, zurückscheuchen. Mit Stürmen, Strömen, Gewittern, Felsen, Sümpfen haben sie oft lebensgefährlicher zu kämpfen, doch neuerdings sind die Wege größtentheils so geregelt, daß man nicht mehr von so viel umgekommenen Briefläufern hört. Am Schlimmsten haben’s die Reisenden, die sich oft an diese Briefläufer anschließen müssen, um gewisse Orte zu erreichen. Als Beamte, denen eine gewisse Zeit vorgeschrieben ist, können sie ihren Schritt nicht nach der Kraft des Reisenden messen, so daß letztere nicht selten liegen bleiben und verschiedenen Raubthieren zur Beute werden.

Doch größere Schrecken drohen dem Menschen vom Menschen, als von der Natur. In vielen Gegenden hausen noch die Dacoits, d. h. Banden von je 30, 40 professionellen Räubern, Dieben und Mördern, welche des Nachts die Häuser der Wohlhabenden überfallen, ausplündern und deren Bewohner systematisch in einer Art von Religiosität todtmartern. Lord Dalhousie und Halliday, die obersten Gouverneurs Indiens, haben inzwischen ernstliche Schritte gethan, dieses furchtbare Uebel auszurotten. Sie haben durch eine der großartigsten Polizei-Untersuchungen Person, Wohnung und Signalement jedes Dacoit-Anführers ausfindig gemacht, um sich nach jedem Verbrechen ihrer Art an sie zu halten und für sie den Drei-Instanzen-Prozeß aufzuheben, so dass der Schuldige nach der ersten Verurtheilung sogleich gehangen werden kann.

Ein noch entsetzlicheres Uebel sind die Mörder aus Profession [107] und Religion, die Moplahs, deren es allein an der malabarischen Küste über 100,000 geben soll. Es sind von Hause aus wechabitische Muhamedaner, welche in absoluter Sinnlichkeit fest an die schönen Houri’s glauben, in deren Schooße sie sofort nach ihrem Tode in Ewigkeit schwelgen sollen. Sie kennen daher nicht nur keine Todesfurcht, sondern suchen oft den Tod aus demselben Triebe, der sonst zur Liebe treibt. In wollüstiger Aufregung ziehen sie ihre Messer, ermorden den ersten, besten Hindu und lassen sich dann ruhig verurtheilen und hinrichten. Man findet sie in der Regel heerdenweise beisammen. Die Sepoys (englische Soldaten von Eingebornen rekrutirt) sind nie gegen sie zu gebrauchen, weniger aus Feigheit, als Aberglauben. So kann man ihnen blos mit englischen Soldaten beikommen, von denen in der Regel eben so viel fallen, als Moplahs da sind. So wie sie eine Salve bekommen haben, springen sie mil brauner, nackter Brust in die Bayonnette hinein, indem sie das lange Messer mit Wucht und Sicherheit in das Gehirn des Soldaten hineinschleudern. Die Regierung von Malabar hat jetzt auch Maßregeln getroffen, diese wahnsinnigen Fanatiker unschädlich zu machen. Jeder Ort ist für seine Einwohner verantwortlich gemacht worden, so daß die Magistrate scharf aufpassen und die Schuldigen ausliefern müssen, die nicht mehr gehangen, sondern verbrannt werden sollen. – Die Zerstörung des Körpers durch Feuer soll dem überlebenden Moplah den wollüstigen Aberglauben ausbrennen, daß er direkt aus dem irdischen Tode in sein Paradies fliege.

So wird sich die westliche Civilisation auch in Ostindien und darüber hinaus bis China fort- und durchsetzen, zumal nachdem sie durch Krisen und Kriege mit dem Osten, materielle und moralische Niederlagen sich gezwungen gesehen haben wird, ihre eigenen dünkelhaften Vorurtheile, ihre mittelalterlichen Barbareien und ihre geldmachende Habgier abzulegen und einen neuen Adam anzuziehen.




Das spanische Espartogras.

Manchem meiner Leser, welche das Hôtel de Pologne in Leipzig besucht haben, sind gewiß schon die bunten, zierlich gemusterten, scheinbar aus einer Art von Binsen oder Stroh geflochtenen Matten aufgefallen, welche in dem großen Corridor an dem Eingange zu den Sälen den Boden bedecken, aber weder ihnen noch den Eigenthümern des Hotels wird es bekannt sein, daß jene Decken aus einem Stoffe bestehen, der ein Produkt des fernen Spaniens ist, ja daß sie vielleicht gar selbst ein spanisches Fabrikat sind. Viel häufiger als in Deutschland trifft man dergleichen Fußmatten in Frankreich, wo man sie nattes d’esparte, auch wohl nattes de jonc espagnol, am Häufigsten kurzweg nattes nennt. In Paris giebt es fast keine Haushaltung, wo man nicht dergleichen, meist schwarz und roth, oder roth und gelb (die spanischen Nationalfarben) gefärbte Decken in den gewöhnlich nicht gedielten, sondern mit einem lackirten und polirten Ziegelboden versehenen Zimmern findet. Mir fielen diese Decken auf meiner ersten Reise nach Spanien zuerst in Genf auf, wo ich sie im Hause eines reichen Naturforschers, welcher einige Jahre zuvor ebenfalls in Spanien gewesen war, in seltner Schönheit sah. Dort erfuhr ich auch, daß diese Matten nicht aus Binsen, sondern aus den Blättern einer in Spanien häufig wachsenden und diesem Lande, sowie dem nördlichen Afrika eigenthümlichen Grasart verfertigt würden, welche in Spanien den Namen Esparto führt, von den Botanikern aber Macrochloa tenacissimagenannt wird. Schon in Marseille bemerkte ich große Magazine, welche theils mit Espartomatten und andern aus diesem Stoffe gearbeiteten Gegenständen, theils mit unverarbeiteten, aber getrockneten und gebleichten Espartoblättern angefüllt waren, und gleich bei dem ersten Hafenbesuch fielen mir mächtige aus demselben Stoffe gemachte Ankertaue in die Augen, welche sich schon von fern durch ihre gelbliche Farbe von den hänfenen unterschieden.

Alles dieses, noch mehr aber die Nachricht von der Ankunft eines großen mit rohem Esparto beladenen Schiffes von Alicante, die ich zufällig am andern Morgen im Hafenberichte las, überzeugte mich, daß jene Grasblätter und alle daraus verfertigten Gegenstände einen wichtigen Artikel des spanischen Exporthandels bilden müßten, wie es in der That der Fall ist.

Ich war nun sehr begierig, die Pflanze, welche diesen nützlichen und vielfach benutzten Stoff liefert, im lebenden Zustande zu sehen, fand sie aber erst in der Gegend von Valencia. Sie wuchs dort auf dürren steinigen Kalkhügeln, doch nur in sehr geringer Menge, weshalb ich damals nicht begreifen konnte, wo all der Esparto herkäme, von dem in Valencia noch viel größere Vorräte vorhanden waren, als in Marseille. Allein bald führte mich meine Reise in Gegenden, wo Räume von mehreren Quadratmeilen Areal fast gänzlich mit Espartogras bedeckt waren, und nun wunderte ich mich nicht mehr über die ungeheuren Massen von unverarbeitetem und verarbeitetem Esparto, die ich in Marseille, Barcelona, Valencia und Madrid gesehen hatte.

Das Espartogras gehört zu denjenigen Gräsern, deren Blätter eine lederartige Beschaffenheit besitzen und sich länger als einen Sommer frisch erhalten. Die Mehrzahl dieser Gräser wächst in den Umgebungen des mittelländischen Meeres und gern nicht dicht beisammen stehend, wie die Gräser unserer Wiesen, sondern in einzelnen Büscheln. Diese lederblättrigen Gräser bilden daher niemals Rasen, zwischen ihren starren Blätterbüscheln blickt überall der nackle Erdboden hervor. Nicht selten laufen die Blätter in eine harte stechende Spitze aus, aber selbst, wo dies nicht der Fall ist, können die Blätter wegen ihrer Härte nicht als Viehfutter benutzt werden, im Gegentheil wird das Vieh davon krank, wenn es dergleichen Grasblätter zufällig mit seinem Futter bekommt. So wächst an den Abhängen der schneebedeckten Kämme der Sierra Nevada ein solches Gras mit kurzen, stechenden Blättern in großer Menge.[2] - Trotz der Starrheit seiner Blätterbüschel werden diese bisweilen von hungrigen Ziegen verschlungen, aber nur selten kommt ein solches Thier mit dem Leben davon, indem die harten, stechenden Blätter ihm den Magen förmlich durchbohren. Deshalb wird dieses sehr verhaßte Gras von den Hirten jenes Gebirges „Rompebarriga“, d. h. Bauchaufreißer genannt. Auch das Espartogras würde eher eine Plage als ein Segen der Gegenden, wo es wächst, zu nennen sein, wenn seine Blätter nicht jene außerordentliche Zähigkeit, Biegsamkeit und Elasticität besäßen, welche sie zur technischen Benutzung in so hohem Grade geschickt machen.

Das Espartogras besitzt einen ausdauernden, ästigen, holzigen, oft unter dem Boden fortkriechenden Wurzelstock, aus dem zahlreiche Faserwurzeln und Blätterbüschel entspringen (s. die beigedruckte Abbildung, welche eine vollständige Espartopflanze im blühenden Zustande, aber stark verkleinert und daneben bei a. eine Blüthe in natürlicher Größe darstellt). Die jungen Blätter sind grasgrün, zart und weich und werden deshalb von den Schafen und Ziegen, besonders aber von manchen Schneckenarten gern gefressen, weshalb man nur selten junge Blätter findet. In der ersten Jugend sind die Blätter eben, wie die Blätter unserer meisten Gräser; aber sehr bald, wenn das Blatt kaum einen Zoll lang geworden ist, beginnt der schmale, linealische Blattstreifen sich von den Rändern an auf seine obere Fläche zusammenzurollen, so daß das Blatt sehr bald die Form eines im Querschnitt vollkommen runden und fest zusammenschließenden Cylinders bekommt (Fig. c.), welche es nun beibehält. Die vollkommen ausgewachsenen Blätter sind ungefähr anderthalb Fuß lang, drei Viertellinien dick, der Länge nach feingestreift, aber ganz glatt, wie auch die Blüthenhelme von graugrüner Farbe, weshalb eine von Espartogras bedeckte Landstrecke ein sehr fahles Colorit und tristes Aussehen hat. Jedes Blatt verschmälert sich von seiner Basis an, wo es in eine breite, an ihrem Eingange mit feinen, wolligen Haaren bärtig umsäumte Scheide übergeht, nach oben hin ganz allmälig und läuft zuletzt in eine starre, steife, feststehende Spitze aus. Die aus dem Wurzelstock entspringenden Blattbüschel, welche allein zum Flechten brauchbare Blätter liefern, bestehen aus einer unbestimmten Anzahl ineinander gesteckter Blätter, indem, wie Fig. b. zeigt, immer die Scheide des zunächst vorhergehenden Blattes die des zunächst folgenden, und die Scheide des untersten und ältesten Blattes alle übrigen Blätter umfaßt. Die Blätter streben anfangs gerade aufwärts, [108] biegen sich aber bald nach außen und beschreiben mit ihrem obern Theile einen mehr oder weniger kreisförmigen Bogen, wodurch die Blätterbüschel ein sperriges Ansehen bekommmen.

Das Espartogras scheint selten zu blühen, wenigstens habe ich dasselbe nur einige Mal in Blüthe getroffen. Dann bietet es einen ungemein schönen Anblick, denn es belebt die kahlen Landschaften, in denen es zu wachsen pflegt, in eigenthümlicher Weise. Der gegen vier Fuß hoch werdende straff emporstrebende Halm trägt nämlich eine oft über einen Fuß Länge erreichende, ährenförmige Rispe, welche aus einigen hundert großen Blüthen besteht, deren jede mit einer über zwei Zoll langen, in der Mitte knieförmig gebogenen, und in ihrer untern Hälfte von feinen seidenglänzenden Haaren bartförmig bekleideten Granne versehen ist (s. Fig. a.). Jede Blüthe befindet sich in einem aus zwei großen, lang zugespitzten, braungelb gefärbten und glänzenden Spelzen gebildeten Kelche. Die ganze Rispe sieht daher von fern, besonders im Sonnenlichte wie ein aus feinen braungelben Federchen bestehender Federbusch aus. Der Halm ist nicht hohl, wie derjenige unserer Gräser, sondern inwendig mit Mark angefüllt. Er führt nur wenige Blätter, welche ungemein lange, etwas aufgetriebene und bräumlich gefärbte Scheiden, aber einen kurzen Saum besitzen und deshalb zum Flechten nicht benutzt werden können.

Das spanische Espartogras.


Man bedient sich zur Verfertigung der Espartogeflechte vorzüglich der einjährigen Blätter, und pflegt dieselben im Frühlinge einzusammeln, indem man sie aus den Büscheln herausreißt. Dieselben werden sodann entweder an der Luft getrocknet und unmittelbar verarbeitet, oder abwechselnd in’s Wasser und an’s Sonnenlicht gelegt und auf diese Weise gebleicht. Die unmittelbar getrocketen Blätter, welche von hell grünlich-grauer Farbe sind, lassen sich nur zu grobem Flechtwerk benutzen und werden gewöhnlich von den Einsammlern selbst verarbeitet, welche daraus Stricke, grobe Matten, Körbe und Sandalen verfertigen. Mit dergleichen Arbeiten beschäftigen sich namentlich die Hirten, welche, wenigstens in den Espartogegenden, immer selbstgefertigte und daher sehr plumpe Espartosandalen zu tragen pflegen. Durch das Rösten und Bleichen erhalten die Espartoblätter eine viel größere Härte, Zähigkeit und Elasticität und werden dadurch zum Flechten geeigneter. Aus solchen gebleichten Espartoblättern verfertigt man in Spanien alle erdenklichen Arten von grobem und feinem Flechtwerk, als Stricke, Seile, Taue, Körbe, Netze, Matten (esteras, Sandalen, Schuhe, Wedel zum Feueranfachen, Tragsättel und Halftern für Maulthiere und Esel, feine Handbesen [3], Geflechte für Stühle und Bänke, Fenstervorsetzer, Schirme, Peitschen u. s. w. Noch feinere Arbeiten macht man aus Espartofasern, welche durch Klopfen des gebleichten und im Wasser geweichten Esparto mittelst hölzerner Schlägel gewonnen werden. Aus solchen feinen Fasern werden Cigarrenetuis, feine zierliche Körbchen, künstliche Blumen u. dgl. gemacht. Durch verschiedene Färbung der gebleichten Espartoblätter und Espartofasern hat man es möglich gemacht, Muster aller Art aus Esparto zu flechten. Ich habe auf der im Herbst 1850 in Madrid veranstalteten Industrieausstellung Espartomatten mit hineingeflochtenen bunten Arabesken und andern Mustern gesehen, von solcher Vollendung und Schönheit, daß man sie auf den ersten Blick für Teppiche zu halten geneigt war. In Spanien und Portugal – zum Theil schon in Frankreich – vertreten die Espartomatten allgemein die Stelle unserer gewöhnlichen Zimmerteppiche. Sie sind nicht allein viel haltbarer als letztere, sondern auch viel billiger und sehen dabei fast eben so hübsch aus. Auch zum Emballiren der Waarenkisten, Koffer u. s. w. bedient man sich allgemein der biegsamen und dauerhaften Espartomatten. Besonders geschätzt sind die Espartoseile und Espartotaue, weil sie bei fast gleicher Dauerhaftigkeit viel weniger kosten, als die Hanfseile und Hanftaue. Dasselbe gilt von den Espartosandalen, von denen jährlich gewiß viele Miilionen Paare in Spanien gefertigt und consumirt werden. In den holzarmen Gegenden des südöstlichen Spanien, welche die eigentliche Heimath des Espartograses sind, wird der rohe frisch gedörrte Esparto auch als Brennmaterial benutzt. Aus alledem geht zur Genüge hervor, daß das Espartogras eine außerordentlich nützliche Pflanze und für den Spanier ein unentbehrliches Bedürfniß ist. Es bildet aber zugleich einen [109] sehr wichtigen Handelsartikel, indem die Espartogeflechte, besonders die Matten, Seile und Taue in Frankreich, Italien, England und Amerika allgemein beliebt und geschätzt sind. Aus den südspanischen Häfen werden daher alljährlich große Massen von rohem und verarbeitetem Esparto auf spanischen und fremden Schiffen nach den genannten Ländern ausgeführt. Den meisten Esparto exportirt Murcia über die Häfen von Alicante, Cartagena und besonders von las Aguiles. Der Werth der Ausfuhr soll sich jährlich im Durchschnitt auf 400,000 Realen (29,332 Thaler) belaufen.

So großen und vielfachen Nutzen nun aber auch das Espartogras gewährt, und so viel diese Pflanze dem spanischen Handel einbringt, so ist dieselbe doch für die Bodenbeschaffenheit der Gegenden, wo sie in Menge wächst, ein schlechtes Zeichen. Sie liebt nämlich vorzugsweise einen dürren, des Humus entbehrenden Mergelboden, d. h. einen Boden, welcher dem Ackerbaue die größten Hindernisse entgegensetzt. Sie ist mit einem Worte eine Steppenpflanze, und in der That verdienen die ungeheuern von Sträuchern und Bäumen gänzlich entblößten und wasserlosen Niederungen und Hügelgelände Südvalencia’s, Murcia’s und Ostgranada’s, welche fast nur mit Espartobüscheln bedeckt sind, den Namen von Steppen mit vollstem Rechte. Nichts geht über die Einförmigkeit und Traurigkeit einer solchen Espartosteppe. So weit das Auge reicht, breiten sich graue Flächen oder Hügel aus, deren fernste Contoure endlich im Blau des dort meist wolkenlosen Himmels verschwimmen, wenn die Steppen nicht durch Gebirge oder durch das Meer begrenzt werden. Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, ob jene Einöden, die ohne das Espartogras ganz unbenutzbar sein würden, von Anfang an vorhanden waren oder ob sie in Folge der Vernichtung der Wälder und der dadurch bedingten Versiegung der Quellen entstanden, folglich künstlich hervorgebrachte sind, so viel aber steht fest, daß Spanien schon im Alterthum wegen jenes Grases und dessen Benutzbarkeit berühmt war, denn schon Plinius erzählt, daß die Iberer oder die Bewohner von Hispania Tarraconensis (des östlichen und südostlichen Spaniens) Geiseln, Schleudern, Stricke, Matten einst aus einer Grasart machten, welche er Spartum nannte. Die Espartoflechterei ist also jedenfalls der älteste Industriezweig Spaniens.

Dr. Willkomm. 




Zur Gesundheitspflege.
Der Respirator.


Nicht erst wenn Brustkranke schon mit einem Beine im Grabe stehen, müssen sie sich zum Tragen des Respirators bequemen, sondern gleich beim Beginne ihres Leidens. Thäten sie dies, dann würden weit weniger Menschen in der Blüthe ihrer Jahre an der Lungenschwindsucht dahin gerafft. Es sollten deshalb Alle, welche öfters und auf leichte Veranlassung hin oder auf längere Zeit hindurch (wochen- und monatelang) von leichtern Brust- oder Halsbeschwerden heimgesucht werden, sofort zum Respirator greifen. Jedenfalls ist er allen den Hustenden ganz unentbehrlich, die bleich und mager werden, Blut aushusten und an hartnäckiger Heiserkeit leiden. Für diese ersetzt der Respirator, wenn er mit Consequenz angewendet wird, den Aufenthalt in warmen Klimaten, wo übrigens viele Brustkranke ihres Heimwehs wegen nur noch kränker werden und zu Grunde gehen. Aber nicht blos für Kranke, auch für Gesunde, und zwar für Alle, welche ihre Stimme und Lunge anzustrengen haben, ist der Respirator ein ausgezeichnetes Schutzmittel, insofern er nämlich diese Organe nach ihrer Anstrengung vor der krankmachenden Einwirkung kalter Luft schützt.

Der große Vortheil, welchen der vor den Mund gebundene Respirator gewährt, wenn er nämlich richtig construirt ist, besteht darin, daß man durch denselben ganz ungenirt stets eine solche warme Luft einathmet, welche dem Athmungsapparat, zumal dem schon erkrankten, sehr zuträglich ist, abgesehen davon, daß er nebenbei auch noch das Eindringen unreiner (also schädlicher) Luft in die Luftwege verhüten kann. Kalte, rauhe und unreine (staubige und rauchige) Luft ist nun aber vorzugsweise die Ursache, welche Brustbeschwerden nicht blos unterhält, sondern auch zu unheilbaren Lungenübeln steigert. Wer von den Brustleidenden sonach vom Respirator einen reellen Nutzen haben will, muß denselben immer und überall tragen, wo er eine kalte und unreine Luft einathmen könnte, bei Nacht ebenso wie bei Tage. Vermeidet er daneben noch Alles, was starkes Herzklopfen erregt und den Blutzufluß zu den Lungen vermehrt, so ist alles weitere Kuriren vollkommen überflüssig.

Der Respirator erfüllt seinen Zweck aber nur dann, wenn er sehr schnell durch die ausgeathmete Luft gehörig erwärmt wird und seine Wärme hierauf der eingeathmeten Luft leicht wieder mittheilt. Um dies zu können, muß er, wie der von Heffrey erfundene Respirator, aus sehr vielen feinen Metallfäden bestehen, welche ebenso schnell Wärme aufnehmen, wie ausstrahlen. Alle billigeren Nachäffungen des Jeffrey’schen Respirators, welche aus einem Paar durchlöcherter, schwer zu erwärmender Metallplatten bestehen, zwischen denen (um alle Wirkung zunichte zu machen) die Wärme schlecht leitende Haargeflechte liegen, taugen weit weniger, als ein vor den Mund gebundenes Tuch und werden, wenn sie auch noch so billig sind, doch immer zu theuer bezahlt. Leider schaden viele Arten von untauglichen Respiratoren auch noch der richtigen Würdigung und der häufigeren Anwendung der, wahrhaft segensreichen Erfindung, und man sollte ihre Verfertiger deshalb wie Falschmünzer behandeln. Der Jeffrey’sche Respirator besteht aus einem außen mit dünnem Zeuge (Seide oder Gaze) überkleideten Gitterwerke, welches aus einer größeren oder geringeren Anzahl von hinter einander liegenden Tafeln

feiner Metallfädchen gebildet ist. Die aus der Lunge durch dieses Gitterwerk strömende warme Luft erwärmt dieses sehr schnell und erzeugt so zwischen den Fädchen eine feucht-warme Atmosphäre vor dem Munde, durch welche die von außen eingezogene kalte Luft bedeutend erwärmt wird. Je mehr solcher Gitter (10–20 Stück) in einem Respirator hinter einander angebracht sind, desto wärmer muß natürlich die eingeathmete Luft werden (+12 – 20° R.), aber freilich um so theurer (3 – 12 Thaler) ist auch der Respirator, da die Metallstäbchen aus Silber oder Gold bestehen. Wer den Respirator in einer weniger auffälligen Form wünscht (denn es giebt noch viele eitele Schwächlinge, die sich schämen, einen Respirator zu tragen), braucht denselben ja nur die Gestalt eines Shawls zu geben. Vielleicht ist aber die Zeit nicht mehr so fern, wo man, ohne sich zu schämen, lieber bei Zeiten einen Respirator als Schutz für seine Athmungsorgane trägt, als daß man mit dem geringen Reste von Lunge im skelettartigen Körper erfolglos nach Italien Salzbrunnen, Ems u. s. w, wandert.
(B.) 



[110]

Der König des Humbug und der nordamerikanischen Republiken.

Barnum! Phineas Taylor Barnum, der ehemalige Kuhjunge und Schweinetreiber-Gehülfe, jetzt Millionär in Dollars, nicht gemeinen Thalern, hat seine glorreichste Heldenthat gethan, nämlich für ein Honorar von 100,000 Dollars ein Buch von 246 Seiten geschrieben, und zwar sein Leben, auf deutsch seine „Selbstbiographie“ unter dem anspruchslosen Titel: „Leben des P. T. Barnum. Geschrieben von ihm selbst.“ Das Büchlein ist schon als buchhändlerische Erscheinung das unerhörteste Ereigniß. Drei Tage nach der ersten Ankündigung, daß es erscheinen werde, waren in und der nächsten Nähe New-Yorks über 60,000 Exemplare bestellt worden. In England erschienen an einem Tage bei einem Verleger (Sampson Low, Sohn und Comp.) drei verschiedene Ausgaben, eine elegante, mittlere und wohlfeile (1 Schilling) und in einer Woche noch eine Menge Winkelausgaben, die alle weggingen, wie nichts vorher, so daß man nicht sagen kann, wie warme Semmel. Das Buch ist in den beiden freiesten Staaten der Welt das eigentliche literarische Ereigniß des Jahres. Wie wird uns gemüthlichen, soliden, gesinnungstüchtigen Deutschen bei diesem Triumphe des größten aller Schwindler zu Muthe? Können wir uns nicht auf den Markt stellen und beten: Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute, wie dieser Amerikaner und Engländer, die den Schwindelkönig und sein Buch vergöttern, während die edelsten deutschen Dichter, Novellisten und Romanschreiber ihre schönsten Manuscripte nicht umsonst gedruckt bekommen können? Gemach, ich bin auch ein gemüthlicher Deutscher und ganz ohne Talent und Passion für Schwindel, und gönne dem amerikanischen König doch seine ganze Krone und die 100,000 Dollars Honorar für sein Buch und seine Million und seinen Palast Iranistan (Zransitan) und allen seien Ruhm. Barnum ist nicht blos ein großer, nicht blos der größte Schwindler, sondern auch der größte Betrüger. Nun ist aber das Sprüchwort bekannt, daß die Welt betrogen sein will. Eine gewisse Sorte von Betrug gehört zu dem Willen, d. h. zum Himmelreiche der Menschheit. Des Menschen Wille ist sein Himmelreich, seine Freiheit; Betrug ist Freiheit.

Das Geheimniß der ganzen Million Barnum’s liegt in seinem herrlichen Talente, die Welt so zu betrügen, wie sie betrogen sein wollte. Dieser Beweis ist auch ein Schwindel, aber ein anständiger, ein nobler, für welchen uns keine Polizei etwas anhaben kann, ein Schwindel, für den man kein besonderes Wort hat, das unübersetzbare englische Humbug. Humbug ist Schwindel, wie man ihn will, Betrug, der als komischer Selbstbetrug Trommelwirbel auf unserm eigenen Zwerchfell schlägt, wenn wir dahinter kommen, wie dumm wir waren, als wir uns selbst betrogen, und wie genial der Mann, der mit uns diesen „Humbug“ trieb. Der Mann rüttelt uns auf, er macht uns zu lachen, er macht uns frei. Humbug, gut, es sei Humbug, aber etwas muß man doch sagen, um sich die 100,000 Dollars für ein gewöhnliches Octavbändchen, um sich die Hunderttausende abgesetzter Exemplare, um sich die Million Barnum’s, um sich das Drängen der ehrlichsten, hochgestelltesten, solidesten Herrschaften um ihn zu erklären. Warum steckt man ihn nicht lieber ein? O, ihr sagt, weil er eine Million hat. Nun, er hatte bis hoch in seine Zwanziger gar nichts, und doch schon von Kindesbeinen an immer geschwindelt. Warum steckte man ihn nicht früher ein? Weil Niemand jemals umhin konnte, ihn lieber auf die Schulter zu klopfen und unser heller Lache auszurufen: ein prächtiger Junge! Ein allerliebster Vocativus! Unter seinen Jugendfreunden zeichnete sich besonders John Haight aus, der einmal für hundert Dollar Ochsenhörner für einen Kammmacher stahl. Als der Dieb ertappt war, klopfte ihm selbst der Richter ganz glücklich auf die Backe und sagte:

„Famoser Junge!“

Der Kammmacher hatte ihn nämlich bei Seite genommen und gesagt:

„John, du bist ein Genie, stiehl mir aus dem großen Ochsenhörnerwaarenlager Hörner, daß ich Kämme daraus mache. Ich bezahle Dir für jedes einen Schilling.“

„Gut,“ sagte John, „danke für den geehrten Auftrag: woll’n wir besorgen.“

Und so stahl er für den Kammmacher jede Nacht eine hübsche Portion Hörner, für hundert Dollars Hörner à Stück einen Schilling, also eine gehörige Portion, stahl so lange, ohne sich fassen zu lassen, bis der Kammmacher endlich merkte, daß John die Hörner immer aus dessen eigenem Waarenlager hinten geholt und sie vorn ihm verkauft hatte. Als solider Bürger muß man sagen, das war ein niederträchtiger Betrug, aber dem Kammmacher schon ganz recht, setzen wir mit amerikanischem Leichtsinn hinzu, warum wollte er den Jungen zum Diebe machen? Solchen Betrug lieben wir, so solid wir auch sonst denken mögen. Das ist Barnum aus der Freundschaft. Barnum selbst ward in einer Schenke ungemein oft gequält, er solle doch einmal auf etwas wetten. Der Quäler war ein Kerl, der sich, wie diese in Amerika förmlich feiner Ton ist, ungemein viel darauf einbildete, die Leute am Besten „humbugen“ zu können. Barnum sucht ihm lange auszuweichen, da er den Meister in ihm erkenne. Ach was, sagt der Meister, es ist nur Geiz oder Feigheit. Und dabei geht er immer so fein, der Barnum, und, ich möchte fünf Flaschen Champagner darauf wetten, daß er kein ganzes Hemde auf dem Rücken hat. Da ist nichts zu wetten, sagt Barnum, denn ich weiß, daß mein Hemd ganz ist. Und ich wette fünf, nein, ich wette zehn Flaschen Champagner, daß Sie kein ganzes Hemd auf dem Rücken haben. Barnum versichert, daß seine Leibwäsche ganz gut im Stande sei. Zerrissen! Fetzen! Schein! Renommisterei, schreit der Meister. Barnum ärgerlich, nimmt endlich die Wette an und fängt an, die Weste aufzuknöpfen (Bitte um Entschuldigung, meine Damen, aber Sie können getrost hier bleiben). Nun bemühen Sie sich nur weiter nicht, schreit der Meister triumphirend, denn Jeder weiß, daß Sie nicht ein ganzes Hemd blos auf dem Rücken haben. Die ganze Gesellschaft überschüttet den gehumbugten Barnum mit Hohngelächter, während er langsam und bedächtig ein ganzes, fein-geglättetes und sauber zusammengelegtes Hemd just von seinem Rücken hervorzieht.

Ich bin ein großer Verehrer des schlechten Witzes, wenn er nämlich gut ist, und so gestehe ich offen, daß ich dem Barnum wegen dieses einzigen Hemdes die Hälfte seiner Million gönne. Für die andere Hälte steht in dem Buche so viel blühender Humbug, daß ihm anständiger Weise Niemand etwas abhandeln kann. Es ist Alles höherer, liebenswürdiger Humbug, Humbug für den das Volk noch Entree bezahlt, um zu erfahren, wie es gehumbugt ward und dann in ein dreimaliges Hoch! ausjubelt.

Barnum ist das freie, in seiner Freiheit übermüthig und lebenslustig-schalkhaft sprudelnde Amerika, das wahrhafte Volksleben Amerikas, wo nichts über einen „praktische Jok“ (practical joke) geht. Es ist Spiritus, Wein, Bier und Branntwein der wassertrinkenden Amerikaner. Wo man hinsieht, Alles foppt, neckt, humbugt sich gegenseitig, und in dem Augenblicke, wenn der Blitz der Einsicht durch den Gefoppten zuckt, lacht Alles gesund auf und der Gefoppte macht dem Meister, sich über sich selbst herauslachend, freudig sein Compliment. Es sind Alles „gesunde Jungen,“ lauter Schwindel, nichts als Humbug, aber frische, flüssige, stets frisch zugreifende und so ehrliche Leute, daß Barnum ein gutes Geschäft machte, als der endlich einmal einen auf dem Jahrmarkte ertappten Taschendieb (einen gebornen Engländer) hinter einen Vorhang stellt und für Geld sehen ließ. Ausstellen, für Geld zeigen, war das eigentliche Pathos, die Profession des Genius Barnum. Er hat in seinem Leben alle Curiositäten der Erde ausgestellt, und was nicht Curiosität war war, machte der dazu als großer Dichter und Künstler. Zuletzt hat er sich bekanntlich für 100,000 Dollars selbst als die größte seiner Curiositäten ausgestellt und zwar mit seltener Ehrlichkeit und Meisterschaft, freilich auch mit „Humbug,“ aber so, daß ich das Buch, wenn ich Arzt wäre, gegen die hartnäckigsten Fälle der Hypochondrie verschreiben würde.

Der Humbug-König wird uns Deutschen noch lange unübersetzbar bleiben, wie der Humbug selbst. Er ist eine allerliebste Schmarotzerpflanze der Freiheit. Wo Jeder handthieren, denken und thun kann, was er will, treibt das Leben Blumen und Früchte, die unter der Sonne der Polizei und des Gewerberathes sich niemals nur mit eiem Blatte hervorwagen, so daß die Lebensbäume hübsch rein bleiben. Botaniker wissen aber, daß die wunderbarsten und schönsten Blumenlaunen der Natur, die Orchideen, [111] Schmarotzerpflanzen sind. Unser Humbug, unser Schwindel ist gemein, criminalistisch und reißt aus oder wird eingesteckt, der amerikanische ist Freiheitsübermuth, freie Kunst, Poesie und führt zur Million, auf der Menschheit Höhe, auf welchen bei uns blos Könige stehen. Barnum wurde viel betrogen, auch von einem deutschen Kompagnon, aber nie in seinem buntscheckigen Vagabundenleben kam jemals nur ein Gedanke an Betrug vor, wie ihn die Welt nicht haben will. Sein Leben ist reich an großen, edeln, humanen Zügen, an Generosität, an Beispielen, wie er Tausende von Dollars zur Thür hinauswirft, weil ihm die Annahme derselben gemein erscheint. Bekanntlich hatte er Jenny Lind für Amerika mit 800 Dollars für jedes Concert engagirt. In Havannah wurde Jenny Lind mit Zischen empfangen, weil den spanischen Granden das Entree zu hoch war. Sie endete mit einem südlich-glühenden Triumphe, und die Caballeros baten um mehr Concerte. Barnum wies die Herren ab. Ein Graf bot 25,000 Dollars. „Ganz Cuba hat nicht Geld genug, um meine Einwilligung zu erkaufen,“ sagt Barnum und weist den stolzen Spanier wieder ab. Das erste Concert der Jenny Lind fiel so erstaunlich glänzend aus, daß Barnum den Contract brach und ihr sofort für jedes Concert 1000 Dollars bot, statt der contractlich ausgemachten 800. Es war freilich nicht sein Schade, denn er verdiente dabei immer noch 535,486 Dollars, nachdem er der Sängerin 176,675 Dollars und alle Kosten ihrer glänzenden Unterhaltung und Reisen bezahlt hatte. Ein Wunder! Aber kein Wunder, wenn man bedenkt, daß die Billets verauctionirt und bis 225 Dollars pro Stück gekauft wurden.

„Ist Niemand hier, der so gefällig sein will, mich tüchtig durchzupeitschen?“ fragte zwar ein Mann, der bei einer solchen Auction auch zu hoch gegangen war, aber was half’s? Gegen Epidemien giebt’s keinen Schutz. Und der von Barnum meisterhaft präparirte Lind-Schwindel war eine Epidemie, welche ganze Städte dahinraffte.

„Da ist das Verdienst eines halben Monats,“ rief ein Fabrikmädchen, als sie das Billet zum Concert hingab.

Jenny Lind erfuhr dies zufällig, und schickte ihr einen goldenen Doppeladler (20 Thaler), wie sie denn überhaupt während ihrer 95 amerikanischen Concerte noch etwa 100,000 Thaler für Arme sang. Rührend ist die Geschichte von dem blinden Knaben, der nur von und für Musik lebte, und Meilen weit hergekommen war, um die Lind zu hören. Sie hörte davon und überschüttete ihn mit Zärtlichkeiten und Belohnungen.

Die Fackelzüge, die Vergötterungen, die Hunderte Equipagen vor ihrer Thür waren ihr zuwider und wies sie nicht selten ab. Aber den armen Vivalla und seinen Hund nahm sie an. Das ist eine rührende Idylle. Er hatte dem als Kunstreiter-Director herumziehenden Barnum früher als berühmter balancirender Teller-Dreher gedient. In der Concertzeit mit Jenny Lind fand er ihn nach vielen Jahren in Havannah wieder, abgerissen, auf der linken Seite vom Schlage gerührt, verstoßen von Allen, nur nicht von seinem Hunde, der noch sein Möglichstes that, ihn durch seine Kunststücke und Spinnen zu ernähren. Jenny Lind schickte ihm 500 Dollars von einem ihrer Wohlthätigkeits-Concerte, von dessen Ertrage 4000 Dollars an zwei Hospitale vertheilt wurden. Die Priester und Kinder derselben kamen dafür den folgenden Morgen mit Bannern und Fahnen in prächtiger Procession, zu danken. Sie ließ die Procession rund abweisen. Kurz darauf klingelt der arme Italiener, mit einem Körbchen gewählter Früchte und Thränen, daß er nun die Seinigen in der Heimath wieder sehen werde. Und wenn sie doch erlauben wollte, ihr seinen einzigen Freund zu zeigen – den Hund. Ach, er kann so wunderschön spinnen. Vielleicht freut sich die gute Dame, und dann habe ich ihr doch auch etwas gegeben.

„O, laßt den Mann kommen,“ ruft sie lebhaft, „er soll den Hund mitbringen. Armer Kerl, es wird ihn so glücklich machen!“

Vivalla wird zu einer bestimmten Stunde bestellt. Eine volle halbe Stunde vorher sitzt Jenny Lind am Fenster und wartet. Wie sie ihn ankommen sah, springt sie hinunter und öffnet ihm die Thüre selbst.

„O, das ist sehr schön von Ihnen, daß Sie kommen und den Hund mitbringen. Folgen Sie mir. Ich will das Spinnrad tragen, und so nimmt sie das Spinnrad und führt den glücklichen invaliden Balancir-Teller-Dreher in ihr Putzzimmer, ruft ihre Umgebung zusammen und läßt den Hund spinnen und Kunststücke machen, die er diesmal mit seltener Präcision ausführt. Jenny kniet nieder, nimmt den vierbeinigen Kollegen auf den Schooß und liebkost ihn mit freudigster Herzlichkeit. Der Hund ist ganz glücklich und versucht ihr alle Augenblicke in’s Gesicht zu lecken. Vivalla steht daneben mit der Mütze in der einen Hand und mit der andern die Freudenthränen abwischend, während er mit dem Munde von einem Ohr bis zum andern lacht. Nun singt sie für ihn und spielt für ihn und fragt nach seinen Lieben in der weiten Heimath und nötigt ihn, Erfrischungen zu nehmen, die er kaum dem Namen nach kennt und trägt ihm dann das Spinnrad wieder hinunter und schickt’s ihm nach mit einem Bedienten und giebt ihm die Hand und dem spinnenden Künstler einen allerliebsten Patsch auf den klugen Kopf.

„Armer Vivalla!“ setzt Barnum hinzu. Wahrscheinlich war er nie in seinem Leben so glücklich gewesen, aber seine Freude war nicht größer, als die von Jenny Lind. Diese Scene allein würde mich für alle meine Mühen während der musikalischen Campagne belohnt haben.

Das ist kein Humbug. Das verstehen wir gemüthlichen Deutschen vollkommen. Es war dem Schwindel-König hier um’s Herz, wie so oft in seinem Buche, und er hat es gefühlt und sehr hübsch in Holz schneiden lassen.

Das Buch Barnum ist nicht arm an treu-menschlichen und humanen Zügen, aber reich an That, Witz und Abenteuer der originellsten Art und als solches schon allein eine der lebenslustigsten Bereicherungen aller komischen Literatur. Als solches ist es ein Schatz, gleichviel ob wir Barnum als unmoralischen Glücksritter über die Achsel ansehen oder in ihm den Menschen und Millionär verehren,

Phineas Taylor Barnum ward gleich nach dem großen amerikanischen Freiheitsfeste, am 5. Juli 1810, dem Capitain, Schneider, Schenkwirth, Dorfrichter und Spaßvogel Ephraim Barnum in Bethel als Enkel und dem Sohne desselben, Philo, als Sohn geboren. Er hatte vierzehn Tanten und Onkels, lauter Spaßvögel. Unter ihnen und listigen, lustigen Jugendgespielen wuchs er auf, Kühe hütend, Holz tragend, pflügend, Heu, aber noch viel lieber Humbug machend. Bald, d. h. schon vor dem zwölften Jahre, handelte er Sonntags mit Näschereien und half im zwölften Jahre Schweine nach New-York treiben. Sein Vater legte auch einen Kramladen an, worin er Bursche und Diener ward. Hier kauften die Leute oft für Waaren. Zucker für ein Paar Felle, Kaffee für Käse, wobei es Grundsatz war, falsche oder zu wenig Waare für falsche und zu wenig zu geben, so daß der gegenseitige Betrug sich aufhob und gleich Ehrlichkeit war. Man hätte von beiden Seiten direkt ehrlich sein können, aber das war zu nüchtern ohne Spaß und Humor im Geschäft. Auf dem Lande in Amerika ziehen große Heerden von „Hausirern“ mit Einspännern herum, die Tauschhandel treiben. So hält auch einmal einer vor Barnum’s Laden an und bietet Streichriemen an.

„Wie viel soll einer kosten?“ fragt Barnum, der Großvater.

„Ein Dollar per Stück,“ antwortet der wandernde Kaufmann.

Großvater: „Ein Dollar? Ich wette, die werden für die Hälfte, 50 Cents, verkauft, ehe das Jahr herum ist.“

Kaufmann: „Wenn das der Fall sein sollte, schenke ich Ihnen einen Streichriemen.“

Großvater: „Gut, unter dieser Bedingung kauf’ ich einen. Die Wette gilt?“

Kaufmann: „Versteht sich, ein Wort, ein Mann!“

Großvater: „Na denn mal her mit ’nen Streichriemen für’n Dollar.“

Er nimmt den Streichriemen, steckt ihn in die Tasche, besinnt sich aber, zieht ihn heraus und sagt zu seinem Nachbar mit dem gottlosesten Angenzwickern:

„Ben, ich brauche eigentlich den Streichriemen gar nicht. Was giebst Du mir dafür?“

„I nu,“ sagt Ben, 50 Cents, weil Sie’s sind.“

„Na denn fort mit Schaden.“ sagt der Großvater und giebt ihn für 50 Cents und guckt den Streichriemen-Trödler so aufgeklärt an, daß diesem sofort ein Seifensieder aufgeht.

„Schon gut,“ sagt der Gehumbugte, „was hab’ ich zu bezahlen?“

„Halt uns frei, mein Junge, und gestehe, daß wir Witz haben.“

„Ich gestehe nichts und halte Niemanden frei, aber hier ist ein Streichriemen für Euern Witz.“

[112] So giebt er den zweiten Streichriemen umsonst und die ganze Gesellschaft lacht laut auf.

„Nicht wahr, scharfe Kerle hier in Bethel?“

„O ja, leidlich,“ sagt der Gefoppte, „aber diesmal sehr leidlich. Ich habe immer noch 75 Cents bei dem Schwindel verdient. Mir kostet jeder Streichriemen 121/2 Cent: einen verkauft’ ich für einen Dollar, den andern für’n Humbug, macht 75 Cents Profit.“

Er hätte zwei Streichriemen à 50 Cents per Stück verkaufen können mit demselben Profite, aber wo blieb dann der Humor und Humbug davon? Die Amerikaner wollen nicht blos handeln, sondern auch ihren Spaß dabei haben, und so bezahlen sie lieber den einen Streichriemen doppelt, um den andern umsonst für einen Spaß zu gewinnen. Das ist ein Beispiel für ein ganzes Museum voll in dem Buche Barnum.

Bald war dem Humbug-König diese kleine Schule zu eng. Er etablirte sich selbst Humbugereien, machte Verloosungen, Lotterien ohne Nieten, wobei außer ihm, Alle verloren, ward Lotterie-Agent für große Geschäfte der Art, Diener in einem Rosinenladen zu New-York, führte dann ein eigenes Kramgeschäft in Bethel, spielte in einem Prozesse den Vertheidiger, gründete und redigirte gegen die damals furchtbar wüthende Sucht der Priester, die Kirche über den Staat zu stellen, eine Zeitung (Herald of Freedom), ward eingesteckt und mit Pauken, Trompeten, Fahnen und Flaggen, Equipagen und Volksversammlungen aus dem Gefängnisse in die Freiheit geführt (12. December 1832), zog 1834 mit Familie nach New-York, nährte sich kümmerlich von Brocken verschiedener Geschäfte, kaufte die angebliche Amme des Befreiers von Amerika, George Washington’s, die angeblich 161 Jahr alte Negersklavin Irice Heth und ließ sie für durchschnittlich 1500 Dollars Entree wöchentlich sehen (eins der besten Barnum-Capitel), ließ den Balancirkünstler Vivalla (den er engagirt, weil er sah, daß „Geld“ in dem Manne stecke), spielen, und zog dann lange mit einer Kunstreitergesellschaft umher, bis er selbst Direktor einer solchen ward. Manchmal war er auch ganz abgebrannt und allein. In solchen Fällen nährte er sich als Taschenspieler. Auch predigte er eines Sonntags, um Abends als gefärbter Negersänger auf dem Theater Lorbeeren zu erwerben (der ungefärbte war davongelaufen und das Publikum auf die Gesänge desselben besonders eingeladen worden). Später machte er in New-York wieder mit einem deutschen Compagnon, Proler, in Eau de Cologne, Bären-Pomade, Stiefelwichse und wasserdichtem Kleister, wurde aber von unserm biedern Landsmanne um all sein Geld betrogen. Er engagierte sich wieder Künstler und vermiethete sie an Theater, sehnte sich aber endlich nach soliderem Einkommen, obgleich er stets seiner Abneigung gegen bestimmte Arbeit mit fixem Gehalt folgte. Er handelte stets als der Genius freier Spekulation. Er schrieb inzwischen für Zeitungen, durch die er seine Ernten so golden zu machen verstand. Das Geheimniß seiner Million liegt hauptsächlich in seiner genialen Benutzung der Macht des Anzeigens in den Zeitungen. Endlich 1841 kaufte er sich – ohne einen Pfenning Geld – das amerikanische Raritäten-Museum in New-York für 12,000 Dollars, alle Concurrenten, die Geld hatten, todt machend. Er bezahlte pünktlich aus dem Ertrages des Museums und vergrößerte es während seiner weltfamosen Direktion auf mehr als 500,000 Sehenswürdigkeiten, unter denen das zusammengeflickte Meerwunder, halb Affe, halb Fisch, als der größte Humbug am Berühmtesten ward. Das Museum hatte in den drei letzten Jahren vor Barnum (1839–41) 33,811, in den ersten drei Jahren Barnum’s (1842–44) 100,429 Dollars eingebracht, 1853 stieg der Ertrag auf 136,250 Dollars, in dem einen Jahre mehr, als vor ihm in sechs Jahren. Nächstdem ist sein General-Tom-Thumb-Humbug die eigentliche Weltberühmtheit, der kosmopolitische Humbug, dem der ganze Adel Englands, die Königin an der Spitze, sich freudig beugte, eben so Louis Philippe, der König von Belgien, der Kaiser Nikolaus und alle Großen der Erde. Barnum’s europäische Tom-Thumb-Tour ist der welthistorisch strahlende Beweis, wie die Welt betrogen sein will. Als er mit dem kleinen gemietheten Jungen ankam, rieth man ihm, ihn für 1 Penny Entree, dem üblichen Preise für Zwerge, sehen zu lassen. Er nahm aber vom 20. März bis 20. Juli 1843 in London durchschnittlich täglich 700 Thaler ein und machte dabei noch Privatvisiten bei allen Großen des Landes, bei der Königin dreimal, für 10 Guineen, 70 Thaler, per Stück. Er wußte dem Penny-Zwerg den nöthigen Schein zu geben, wie ihn die Welt gegen baar einzulösen liebt. Nächstdem ist das Jenny-Lind-Engagement mit mehr als einer Million Thaltern Einnahme das interessanteste Capitel im Buche Barnum.

Er wohnt jetzt in seinem Schlosse Iranistan, Mittelpunkt von unzähligen fixirten und wandernden Ausstellungen und Unternehmungen und schließt sein Werk mit den goldenen Regeln für den Erfolg aller geschäftlichen Unternehmungen:

1) Wähle das Geschäft, das Deinen natürlichen Neigungen und Anlagen am Besten entspricht (kaufe Alles und bleib beim Besten, ist in Amerika Geschäftsstyl, so daß unter völliger Gewerbefreiheit die Leute oft ein halbes Leben lang unglücklich versuchen, um das rechte Geschäft zu finden, und dann plötzlich reich werden).
2) Dein gegebenes Wort sei Dir stes heilig (Barnum ist Muster davon).
3) Alles was Du thust, thue mit ganzer Lust und Kraft.
4) Und zersplittere nie Deine Kraft.
5) Trink keine Art von Spirituosen (Barnum ist beiläufig jetzt leidenschaftlicher Apostel Absoluter Enthaltsamkeit von spirituosen Getränken).
6) Hoffe, ohne Dich Visionen hinzugeben.
7) Strebe nach guten Agenten und Dienern.
8) Zeige an in den Zeitungen (hierin war Barnum das größte Genie).
9) Lebe stets bedeutend unterhalb Deiner Mittel.
10) Verlaß Dich nicht auf Andere. Jeder muß seines Glückes Schmied sein. Halte diese zehn Gebote streng und Du wirst in ältern Tagen mit Familie, Kindern und Kindeskindern glücklich leben und sterben.

Das klingt ganz wie Benjamin Franklin, der in der That auch an Barnum erinnert, nur daß er nie so lustig, wenn auch so listig war.



Literarisches Anliegen.




Bei Gelegenheit des Erscheinens meines culturgeschichtlichen Werkes:

„Deutschland im 18. Jahrhundert“, I. Band,

sind mir von mehreren Seiten dankenswerthe Ergänzungen und Berichtigungen zu diesem I. Bande, aus handschriftlichen und sonstigen unmittelbaren Quellen geschöpft, zugegangen. Indem ich nun den zum Theil mir persönlich unbekannten, ja ungenannten Einsendern hierdurch für ihre Freundlichkeit meinen Dank abstatte, fühle ich mich zu dem Wunsche gedrungen: es möchten auch Andere, die im Besitze ähnlicher Quellen (z.B. Ortschroniken, Criminal-, Polizei- oder Verwaltungsakten, Familienpapiere, Tagebücher, Correspondenzen, endlich auch verbürgte mündliche Ueberlieferungen) sich befinden, mit dergleichen Zuvorkommenheit mich bei meiner Arbeit unterstützen. Besonders willkommen würden mir sein: Mittheilungen über inneres Familienleben, gesellschaftliche Sitten und Gebräuche, häusliche Erziehung, religiöse und moralische Gemüthsstimmungen, freundschaftlichen und sonstigen Geistesverkehr einzelner (wenn auch nicht gerade namhafter) Personen, Sittlichkeitsverhältnisse einzelner Orte oder einzelner Gesellschaftsklassen, und andere dergleichen, gewöhnlich zum größern Theil der Oeffentlichkeit und der Aufbewahrung in gedruckten Geschichtsurkunden sich entziehende Seiten des Culturlebens aus dem 18. oder auch der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Auf diesem Wege würde es möglich sein, eine Masse des werthvollsten culturgeschichtlichen Materials, zu welchem auf andere Weise kaum zu gelangen ist, für die Darstellung jener Zeit zu verwerthen und diese selbst dadurch um Vieles anschaulicher und inhaltvoller zu gestalten. Wünschenswerth wäre eine genaue Bezeichnung der benutzten Quellen behufs der erforderlichen Bürgschaft für die Zuverlässigkeit der Angaben. Die Verlagshandlung des Werkes (J. J. Weber in Leipzig) ist bereit, derartige Einsendungen (auf buchhändlerischem oder einem ähnlichen Wege ihr zugestellt) an mich zu übermitteln.

 Leipzig, im Februar 1855.
Karl Biedermann. 

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Kleine militärische Züge begleiten und unterstützen die Civilisation und die Civil-Beamten, welche Steuern eintreibend durch die Lande ziehen, wenigstens da, wo die Gottheit der Kraft Bala Rama mehr verehrt wir, als die entmannenden buddhistischen Gottheiten. Diese englischen Civil-Aemter, deren Besetzung bis jetzt ein Privilegium der Direktoren in London ist, sollen, besonders auf Anregung Macaulay's, der allgemeinen Concurrenz des Verdienstes eröffnet werden, worüber in England freudige Aufregung herrscht, da diese Stellen in der Regel bald mit einem jährlichen Einkommen von 10,000 Pfund und mehr in's freie Privatleben zurückführen, um andern Steuereintreibern Platz zu machen. Wie über den Tausenden von Leichen vor Sebastopol das aristokratisch-nepotistische Militärsystem Englands zusammenbrach, wird in Indien ein nicht weniger scheußliches Privilegium endlich fallen.
  2. Festuca indigesta Boiss.
  3. Die gewöhnlichen Handbesen, deren man sich in Spanien auch zum Zimmerfegen bedient, sind nicht aus Esparto, sondern aus den Blättern der in Südspanien ebenfalls in ungeheuerer Menge wildwachsenden Zwergpalme gemacht.