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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: commons
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[671]

No. 51. 1855.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteur Ferdinand Stolle.

Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Die schöne Kathi.
Novelle von August Schrader.
(Fortsetzung.)


Nachdem er sich durch den Anblick der schmucken Magd von Neuem ermuthigt, begann er wieder:

„Jungfer Kathi?“

„Ich höre, Herr Niklas.“

„Der Korporal sucht Rekruten.“

„Welcher Korporal?“ fragte Kathi rasch, und wie es schien, erschreckt.

„Das Mittel wirkt!“ dachte triumphirend der lange Jüngling. „Nun ja, der Korporal,“ fuhr er laut fort. „Herr Korporal, sagte ich zu ihm, ich muß Ihnen gestehen, daß ich mich nicht mehr kenne – Herr Korporal, wollen Sie mich?“

Das junge Mädchen sah Niklas neugierig an. Dieser erwartete mit großer Spannung eine Antwort – aber Kathi schwieg. Eine Pause von einigen Secunden trat ein.

„Herr Korporal,“ rief Niklas wie aus Verzweiflung losbrechend, „ich will Soldat werden!“

Kathi schwieg immer noch.

„Herr Korporal,“ fuhr Niklas fast weinend fort, und als ob er den Korporal wirklich vor sich hätte, „ich will mich morden, das heißt, ich will mit in die Schlacht ziehen, denn das ist eben so gut wie ein Selbstmord! Herr Korporal, schicken Sie mich hin, wo die dicksten Kanonenkugeln fliegen, ich will sterben, ich habe mein Leben satt!“

„Sie wollen Soldat werden?“ fragte die hartherzige Kathi endlich. „Ich glaube, Sie thun Unrecht daran, denn Sie werden Ihren guten Herrn kränken.“

Das Gesicht des langen Niklas erheiterte sich plötzlich.

„Was Herr Czabo darüber denkt, ist mir sehr gleichgültig - aber Sie, Kathi?“

„Ich?“

„Liegt Ihnen daran, liebe Kathi, daß ich am Leben bleibe?“ fragte er zitternd.

„Sie sind ja ein guter Mensch, Herr Niklas – “

„Kathi, Sie halten mich zurück?“ rief er jauchzend.

„Das nun eben nicht – indeß –“

Sie stockte, und setzte ruhig einen Teller bei Seite, den sie in der Hand hielt.

Niklas ließ seine langen Arme sinken,

„Sie hält mich nicht zurück!“ flüsterte er wie zerschmettert vor sich hin. „Das hätte ich nicht gedacht! Leben Sie wohl, Jungfer Kathi, der Korporal hat mir sein Wort gegeben – ich bin angeworben.“

Nach diesen Worten ging er mit langen Schritten aus der Küche. Gleich darauf hörte Kathi seine Stimme auf der Hausflur rufe:.

„Kommen Sie, Herr Korporal, hier ist die Tochter vom Hause, wenden Sie sich an diese!“

„Der arme Mensch dauert mich,“ dachte Kathi; „er scheint wirklich seiner Sinne nicht ganz mächtig zu sein. Da spricht er immer noch mit dem eingebildeten Korporal.“

Aber Kathi irrte sich, denn Niklas hatte wirklich einen Korporal auf der Hausflur angetroffen, und betrat in diesem Augenblicke das Zimmer, wo Netti mit ihrer Stickerei beschäftigt war.

Der Soldat war ein junger, schön gewachsener Mann mit einem vollen braunen Barte und feurigen dunkeln Augen.

„Heil und Ehre den Schönen!“ sagte er mit einer wohlklingenden, männlichen Stimme, indem er Netti militärisch grüßte.

„Eine gefährliche Einquartirung,“ dachte Niklas, indem er den schönen Soldaten vom Kopfe bis zu den Füßen betrachtete. „Die fehlte mir noch!“

Netti hatte ihren Platz verlassen.

„Verzeihung, mein Herr,“ sagte sie, „darf ich wissen, wen ich die Ehre habe -?“

„Janos Esthi, mein schönes Kind, kaiserlicher Korporal im zwanzigsten Infanterieregiment. Es lebe der Kaiser! Es leben die Schönen! Es lebe der Krieg!“

Mit einem Anstande, der den Korporalen in der Regel nicht eigen zu sein pflegt, ergriff Janos Esthi die weiche Hand Netti’s, und drückte ehrfurchtsvoll einen Kuß darauf, ohne daß es das junge Mädchen verhindern konnte. Nicht ein Korporal, ein Offizier höhern Ranges schien sich in dem Zimmer zu befinden.

„Wenn dieser Korporal so wenig Umstände mit Fräulein Netti macht, was wird er erst mit der Köchin thun, wenn er sie sieht?“ dachte der zitternde Niklas. „Der Kerl ist im Stande und küßt ohne Weiteres ihren reizenden Mund. Herr Korporal,“ rief er zornig.

Der junge Mann wandte sich zu ihm.

„Ah, mein Rekrut!“ rief er mit Laune. „Ich sehe, mein junger Freund, Sie haben einen unbedingten Beruf für das Heldenhandwerk. Liebesgram – es ist klar!“ fügte er mit einem Seitenblicke auf Netti hinzu. „O, der kleine Gott mit der Binde vor den Augen ist der glücklichste Werber in allen Armeen der Welt!“

„Herr Korporal, was sagen Sie da?“ fragte Niklas, der nicht wollte, daß Netti seinen Plan erfahren sollte.

[672] „Ich sage, daß Sie eine edle, kriegerische Physiognomie haben, daß Sie für den Ruhm geschaffen sind. Wahrhaftig, ich glaube in Ihnen den Kriegsgott zu erblicken, wie er für das Regiment angeworben wird. Nur Eins ist mir unerklärlich!“ fügte der Korporal hinzu.

„Und was?“ fragte Niklas.

„Daß ein so liebenswürdiger junger Mann Unglück in der Liebe haben kann. Bei Gott, man ist hier sehr difficil! Um den Schönen zu gefallen,“ fuhr Janos Esthi mit Galanterie fort, „bedarf es nur einer Uniform, und vorzüglich der meines Regiments. Wenn man einmal darin steckt, hat man ununterbrochen Glück bei dem schönen Geschlechte.“

„Ah, Herr Korporal, so haben Sie doch die Güte und stecken Sie mich hinein!“ sagte Niklas eifrig, der den Worten des Soldaten gespannt zugehört hatte.

„In die Uniform? Gut, verabredet und festgestellt! Ich habe Ihr Wort, alles Uebrige ist unnütz. Freuen Sie sich, junger Held, denn in dem Regimente der Ehemänner wären Sie vielleicht ein schlechter Soldat geworden – aber in dem meinigen werden Sie ein verführerischer Grenadier werden!“

„Ich wäre doch lieber in das andere Regiment eingetreten!“ flüsterte Niklas vor sich hin, dann stieß er einen tiefen Seufzer aus.

Netti hatte in einer Fenstervertiefung gestanden und ruhig dem Gespräche der beiden Männer zugehört.

„Niklas,“ sagte sie, „gehen Sie in die Apotheke und bitten Sie meinen Vater, daß er komme.“

Der lange Mann entfernte sich. Gleich darauf trat Herr Czabo ein.

„Was wünschen Sie?“ fragte er grüßend den Korporal.

„Mein Herr,“ war die artige Antwort, „hier ist mein Einquartirungsbillet. Es lebe Oesterreich!“

Der Apotheker verneigte sich, dann reichte er dem Soldaten die Hand.

„Bei diesem erhabenen Namen seien Sie mir willkommen,“ sagte er feierlich. „Ja, es lebe Oesterreich! Sie sind hier bei einem seiner treuesten Unterthanen und einem Soldaten wie Sie – ich habe die Ehre, Commandant der hiesigen Schutzwehr zu sein.“

„Ein doppelter Grund, uns näher kennen zu lernen. Wir werden für einige Zeit hier in Garnison bleiben. Ihr Name, mein Herr?“

„Istvan Czabo, Apotheker.“

„Ein herrliches Geschäft!“ rief der Korporal. „Nun, Herr Istvan Czabo, ist mein Quartier in Ordnung?“

„Gewiß; Sie sollen bei mir vollkommen zufrieden sein.“

„Ich zweifle nicht einen Augenblick daran,“ sagte der Soldat mit einer nachlässigen Verbeugung.

Gleich bei dem Eintritte wird das Riechorgan durch einen angenehmen Duft gekitzelt – außerdem trifft man angenehme Gegenstände, die das Auge erfreuen.

„Ein galanter Soldat!“ dachte Herr Czabo.

„Fräulein Tochter!“ fragte der Sohn des Mars mit einer Protectormiene, die zugleich auch den Kenner verrieth.

„Ja, mein Herr.“

Der Korporal wandte sich mit großer Unbefangenheit zu Netti.

„Fräulein Czabo ist der Inbegriff aller Vorzüge des schönen Geschlechts,“ sagte er sehr galant. „Ich mache Ihnen mein Compliment.“

Die Ungezwungenheit des Gastes schien dem Apotheker nicht zu behagen, denn wie Niklas, so dachte auch er mit Schrecken an den Eindruck, den die reizende Kathi ausüben würde, außerdem war der schöne Korporal ein gefährlicher Rival. Er trat rasch zu seiner Tochter und sagte in einem unwilligen Tone:

„Herr Korporal, meine einzige Tochter Netti!“

„Bei Gott, ein schöner Name; aber schöner noch ist das Gesicht!“

„Verzeihung, mein Herr,“ unterbrach ihn Herr Czabo, „ich muß Ihnen bemerken, daß mein Tochter Braut ist, und vielleicht in einigen Tagen schon ihre Verlobung feiert – mit einem wackern jungen Manne. Sind Sie noch im Orte, so lade ich Sie hiermit dazu ein.“

„Ich nehme die Einladung an!“ rief heiter der junge Mann.

„Kathi, Kathi!“ rief Netti an der halb geöffneten Thür.

„Gleich, Fräulein Netti, gleich!“ hörte man draußen die Stimme der Köchin rufen.

Herr Czabo war bestürzt.

„Was soll Kathi?“ fragte er eifrig.

„Unserm Gaste das Zimmer anweisen,“ antwortete Netti.

Der alte Apotheker begriff seine Unvorsichtigkeit. Hier galt es, gute Miene zum bösen Spiele machen, wenn er seine Liebe zu der schönen Köchin nicht verrathen wollte.

„Mein Kind,“ fragte er unruhig, „welches Zimmer hast Du gewählt?“

„Unser Gartenpavillon ist bequem eingerichtet -“

„Vortrefflich!“ rief Herr Czabo. „Daran hätte ich wahrlich nicht gedacht! Ich selbst habe ja den ganzen Sommer darin gewohnt und geschlafen. Ich trage den Schlüssel in der Tasche – kommen Sie, mein Herr, ich selbst werde Ihnen das Quartier anweisen. Kathi kann in der Küche bleiben und das Abendessen vorbereiten.“

Aber Kathi trat schon in das Zimmer. Die Köchin sah reizend aus. Der Korporal wandte sich und sah die Magd, die mit niedergeschlagenen Blicken neben der Thür stand. Als ob ein jäher Blitz alle seine Glieder gelähmt, stand er wie Lot’s Salzsäule in der Mitte des Zimmers.

„Das dachte ich mir!“ flüsterte Herr Czabo vor sich hin, indem er den Schlüssel zu dem Pavillon in seinen Taschen suchte. „Der Kerl ist wie geblendet von der schönen Kathi!“

Jetzt sah Kathi auf. Bestürzt starrte sie den Soldaten an. Als ob sie sich der forschenden Blicke des Korporals schämte, senkte sie rasch die Blicke wieder zu Boden.

„Geh’ in Deine Küche,“ befahl Herr Czabo. „Ich selbst werde den Herrn führen. Du hast viel zu thun, mein Kind; vergiß nicht, daß wir diesen Abend einen Gast zu versorgen haben.“

Kathi und Netti verließen das Zimmer. Der Korporal starrte ihnen nach.

„Nun, mein Herr?“ sagte der Apotheker. „Was ist Ihnen? Sie sind ja plötzlich wie umgewandelt.“

„Das bin ich!“ antwortete ernst der junge Mann.

„Und darf man den Grund wissen?“

„Jenes Mädchen – ich meine Ihre Köchin – erinnerte mich lebhaft an eine Person, die meinem Herzen über Alles geht. Die Aehnlichkeit ist so täuschend -“

„Ist Ihre Geliebte eine Köchin?“ fragte Herr Czabo, der seine Ruhe wieder gewann.

„Nein, sie ist ein einfaches Bürgermädchen in Wien. Der Krieg hat uns getrennt, und da ich seit einem Jahre keine Nachricht von ihr habe –“

„Nun,“ tröstete Herr Czabo, „so beruhigen Sie sich, der Krieg ist ja bald zu Ende, Sie werden Ihr Liebchen nun wiedersehen. Aber bleiben Sie ihr hübsch treu, mein Herr Soldat, dann sind die Wonnen des Wiedersehens um so süßer.“

Der Korporal drückte mit einem schwermüthigen Lächeln dem Apotheker die Hand, als ob er sagen wollte: fürchten Sie Nichts, ich bin Ihrem Hause nicht gefährlich!

Beide Männer verließen das Haus und betraten den Garten. Herr Czabo erschloß das Gartenhaus, und ein freundliches Stübchen, ausgestattet mit allen Bequemlichkeiten, empfing den müden Krieger.

„Sind Sie zufrieden?“ fragte Herr Czabo.

„Vollkommen, mein Herr.“

„Nun, so sorgen Sie, daß auch ich mit Ihnen zufrieden sein kann. Ich liebe Ruhe und Ordnung in meinem Hause.“

Herr Czabo reichte seinem Gaste die Hand, verließ den Pavillon, ging gedankenvoll durch den Garten und verschwand in dem Hause. Der Korporal saß nachdenkend in dem großen Lehnstuhle seines Stübchens.


V.
Der alte Fischer.

Eine Stunde später erschien Niklas bei dem Korporal. Es war dunkel, und dennoch hatte der Gast kein Licht angezündet, er saß immer noch sinnend in seinem Sessel.

„Herr Korporal!“ murmelte der Gehülfe.

„Was giebt’s?“

[673] „Mein Herr läßt anfragen, wo Sie zur Nacht speisen wollen – ob hier in Ihrem Quartiere oder bei Herrn Czabo am Tische. Er meint, da Sie müde von dem Marsche sind, wäre es für Sie bequemer, wenn man Ihnen das Essen brächte.“

Der Soldat überlegte einen Augenblick.

„Herr Czabo hat Recht,“ antwortete er rasch. „Ich bin wirklich so müde, daß man mir eine Gefälligkeit erzeigt, wenn man mich in meinem Zimmer läßt.“

„Gut, speisen Sie in Ihrem Zimmer.“

Niklas ging nach dem Wohnhause zurück. Janos Esthi zündete eine Kerze an, die er aus dem Tische fand.

„Kein anderer als die Köchin wird mir das Nachtessen bringen,“ dachte er. „Auf diese Weise erhalte ich eine Gelegenheit, unbemerkt mit ihr zu sprechen. Mein Herz drängt mich, zu ihr zu eilen, aber mein Verstand sagt mir, daß die Arme einen Plan verfolgt, indem sie als Köchin dem Apotheker dient, und ich will durch Unbesonnenheit diesen Plan nicht zerstören.“

Er warf sich wieder in den Stuhl und lauschte mit klopfendem Herzen auf jedes Geräusch. Endlich ließen sich Schritte vernehmen, die Thür ward geöffnet, und Niklas trat wieder ein. Der lange Mann trug in einem Korbe die Speisen.

„Hier in ein vortreffliches Abendessen, Herr Korporal. Diese Flasche Wein sendet Ihnen Herr Czabo, damit Sie auf das Wohl aller guten Unterthanen und auf die völlige Wiederherstellung des Friedens trinken sollen. Wünsche guten Appetit!“

Der lange Gehülfe hatte eine Serviette auf dem Tische ausgebreitet und die Speisen darauf gestellt.

„Sind Sie der Koch, Freund?“ fragte der Soldat, der sich in seiner Erwartung getäuscht sah.

„Nein, mein Herr.“

„Oder der Bediente im Hause?“

„Element, ich bin Apothekergehülfe! Aber ich habe keine Lust mehr zu der Pillendreherei , und darum will ich Soldat werden. Ich sehe es Ihnen an, Herr Korporal –“

„Was?“

„Sie wundern sich, daß ich den Küchenjungen spiele?“

„Nun ja, ich leugne es nicht, ein so großer, starker Mann, wie Sie –“

„Könnte etwas Besseres thun. Nicht wahr, wozu ist eine Köchin im Hause? Herr Korporal,“ flüsterte Niklas so leise, als es ihm seine Baßstimme erlaubte, „merken Sie denn Nichts?“

„Was soll ich denn merken?“ fragte gespannt der Soldat.

Niklas horchte einen Augenblick an der Thür, dann kam er zurück und flüsterte:

„Haben Sie unsere schöne Kathi gesehen?“

„Die Köchin?“

„Ja. Das ist ein prächtiges Mädchen! Eigentlich hätte Kathi Ihnen das Abendessen bringen müssen.“

„Und das von Rechts wegen,“ meinte der Korporal. „Und warum bringt sie es nicht?“

„Weil Herr Czabo in die Küche gekommen ist und zu dem Mädchen gesagt hat: Du gehst mir nicht in das Gartenhaus, Kathi, die Bedienung des Soldaten übernimmt Niklas; wenn ich sehe, daß Du ein Wort mit dem Soldaten sprichst, so ziehst Du Dir mein größtes Mißfallen zu, und ich lasse Deinem Vetter Lajos sagen, daß Du ein ungehorsames, leichtsinniges Mädchen bist. Kathi versprach ihm, gehorsam zu sein, denn sie hat vor dem Vetter Lajos eine entsetzliche Furcht – fast eben so viel, wie Herr Czabo vor Ihnen hat.“

„Wer ist der Vetter Lajos?“

„Ein alter grober Fischer der Save, der seine Nichte so zu sagen verkauft hat. Na, das geht Sie und mich nichts an, aber, Herr Korporal, ich betrachte mich schon als Ihren Kameraden, und darum muß ich Ihnen sagen, daß Herr Czabo Sie bei der hübschen Köchin schlecht gemacht hat, obgleich er Sie erst seit einigen Stunden kennt. Sie müssen nämlich wissen,“ fuhr er von Groll gestachelt fort, „daß der alte Graukopf bis über die Ohren in die hübsche Kathi verliebt ist, und daß er sie wie ein Drache bewacht. Unser Haus heißt mit Recht die Drachenapotheke. Damit Kathi den hübschen Soldaten nun nicht vorzieht, hat er Sie bei ihr schlecht gemacht.“

„So, was hat er gesagt?“

„Ich sah ihn in die Küche gehen, nachdem er Sie in den Pavillon gebracht hatte. Halt, denke ich, da geht wieder etwas vor. Mit zwei Schritten war ich an dem Fenster, das von der Hausflur in die Küche geht. Dieses Fenster ist ziemlich hoch unter der Decke, aber ich konnte doch hindurchsehen. Da stand Herr Czabo, kniff der Kathi in die Backen und sagte: der Soldat ist ein leichtsinniger, gefährlicher Mensch, er hat in Wien eine Geliebte, wie er mir gesagt, und dennoch machte er in meiner Gegenwart Netti auf eine unverschämte Weise die Cour, so daß ich ihn in die gebührenden Schranken zurückweisen mußte; nimm Dich in Acht, mein Kind, der Korporal ist ein böser Mensch. Damit Du durchaus nicht mit ihm in Berührung kommst, habe ich ihm das Gartenhaus angewiesen, und morgen werde ich ihn in ein Gasthaus einquartieren.“

„Das sagte Herr Czabo?“

„Ach, er sagte noch viel mehr. Aergern Sie ihn ein wenig, Herr Korporal, und machen Sie der schönen Kathi den Hof. Nun wissen Sie, warum man Sie nicht in dem Wohnhause dulden will. Guten Appetit, Herr Korporal!“

Höhnisch lächelnd schlüpfte Niklas aus dem Pavillon.

„Dem alten Pillendreher habe ich eine hübsche Suppe eingebrockt,“ dachte er unterwegs. „Er soll sich grün und gelb ärgern über die Einquartierung. Kathi wird den stattlichen Korporal lieber sehen, als den alten Graukopf, und der beleidigte Korporal wird sich schon zu rächen wissen.“

Janos Esthi befand sich in einer Gemühtsstimmung, daß er mit seinem Nachtessen bald zu Ende war - er hatte wenig Appetit. Nachdenkend verließ er das Häuschen und begann durch die Wege des Gartens zu gehen, die der Herbst bereits mit gelbem Laube bedeckt hatte. Plötzlich hörte der Spaziergänger das Rauschen eines Flusses. Er durchschritt eine kleine Baumgruppe, und eine ziemlich breite Wasserfläche blinkte ihm im Mondenscheine entgegen. Das Ufer war flach, ohne Gesträuch und mit Rasen bewachsen. Sinnend blieb der junge Mann stehen und gab sein glühendes Gesicht dem frischen Abendwinde preis, der von der Save herüberwehete. Nach und nach senkte sich ein dichter Nebel auf die Wasserfläche und das Gesträuch des jenseitigen Ufers zeigte sich in phantastischen Gestalten, bis es endlich völlig verschwand.

In der Stadt schlug es neun Uhr.

Janos Esthi wollte einen Versuch wagen, sich heimlich dem Hause zu nähern, denn er nahm an, daß Kathi, wenn er sich in ihrer Person nicht getäuscht hatte, ebenfalls nicht müßig in ihrer Küche bleiben würde. Schon stand er im Begriffe, den Rückweg anzutreten, als sich Ruderschläge und das Rauschen eines Kahns, der von dem gegenüberliegenden Ufer zu kommen schien, anfangs leise und dann immer stärker vernehmen ließen. Janos zog sich in die Baumgruppe zurück, die ungefähr zehn Schritte hinter ihm lag. Noch waren nicht fünf Minuten verflossen, als ein Kahn sich der Stelle des Ufers näherte, die der Korporal so eben verlassen hatte.

Ein Mann stieg aus. Vorsichtig befestigte er das Fahrzeug, und nachdem er sich noch einmal überzeugt, daß der Strom es nicht losreißen konnte, schlug er den Weg nach der Baumgruppe ein. Erschreckt blieb er stehen, als er die weiße Uniform erblickte.

„Wohin?“ fragte der Soldat.

„Zu Herrn Czabo, mit dem ich Geschäfte habe,“ war die Antwort.

Der Mann wollte seinen Weg fortsetzen.

„Halt!“ rief Janos.

„Was wollen Sie?“ fragte fest der Mann.

„Ich bin ein kaiserlicher Soldat!“

„Das sehe ich.“

„Doch wer sind Sie, der Sie in der Dunkelheit auf diesem ungewöhnlichen Wege zu meinem Wirthe wollen?“

„Ich bin der Fischer Lajos, dessen Nichte in der Apotheke als Köchin dient. Dies ist mein gewöhnlicher Weg, wenn ich sie nach vollbrachtem Tagewerke besuchen will, der Besitzer hat ihn mir gestattet.“

„Lajos, sagen Sie?“ fragte der junge Mann, der durch Niklas bereits auf den Vetter der Köchin aufmerksam gemacht worden war, wie wir wissen.

„Lajos ist mein Name. Ich habe keinen Grund, ihn zu verschweigen.“

„Wenn ich nicht irre, standen Sie vor drei Jahren noch im Dienste der Gräfin Thekla Andrasy.“

Dem Fischer schien vor Schrecken die Sprache vergangen zu sein.

[674] „Und wenn das wäre?“ fragte er nach einer Pause.

„Dann würde ich Dir, mein alter, treuer Lajos, als einem Freunde die Hand reichen. Kennst Du meine Stimme nicht mehr?“

„Mein Gott,“ stammelte der Fischer, „bei dem Namen der Gräfin steigt eine Erinnerung in mir empor – doch nein, ich kann es nicht glauben, es ist nicht möglich! Ein Graf Esthi – –“

„Steckt in der Uniform eines österreichischen Korporals; es ist die volle Wahrheit. Du weißt, ich diente als Oberst im Görgey’schen Corps – –“

„Ich weiß – ich weiß,“ sagte der Fischer.

„Wir mußten die Waffen strecken. Dann wurden wir als gemeine Soldaten den österreichischen Regimentern einverleibt. Seit drei Tagen hat man mich zum Korporal avancirt, weil mein Eifer im Dienste Belohnung erhalten sollte. Doch, wir verplaudern die Zeit, und denken nicht an das Wichtigste. Folge mir in das Gartenhaus, man könnte uns hier belauschen.“

Nach einigen Minuten befanden sich die Männer in dem Zimmer. Der Korporal zündete das Licht wieder an.

„Ja, bei Gott,“ rief Lajos, als er das Gesicht des Soldaten sehen konnte, „Sie sind es, Herr Graf! Ach, ich muß weinen, daß wir uns unter so traurigen Umständen wiedersehen!“

Der Greis trocknete sich die nassen Augen. Der junge Graf schloß ihn gerührt an seine Brust.

„Lajos, ich weiß bereits Alles – ich habe sie erkannt! O, meine Thekla – sie dient als Köchin bei dem Apotheker! Eine Gräfin Andrasy ist Magd! Das ist ein furchtbares Schicksal!“

„Und doch blieb ihr weiter nichts übrig,“ sagte der Fischer. „Unter welcher Maske sollte sie sich anders hier aufhalten? So lange die Russen die Grenze besetzt halten, war an eine Ueberschreitung derselben nicht zu denken. Was sollten wir nun beginnen?“

„Welchen Plan verfolgt Thekla?“ fragte eifrig der Graf. „Kann ich mitwirken?“

„Hören Sie mich an, Herr Graf, und entscheiden Sie, ob ich recht gehandelt habe.“

Lajos lauschte durch die Thür, und als er sich überzeugt, daß der Garten still war, setzte er sich dem Grafen gegenüber an den Tisch.

„Sie wissen, daß ich vor drei Jahren den Dienst der Gräfin verließ,“ begann er, „um das kleine Erbe hier anzutreten, das mir mein Bruder, der ohne Weib und Kind gestorben war, hinterlassen hatte. Mein Sohn ward mein Nachfolger, und blieb bei der Gräfin. Die unglückliche Revolution brach aus, aber ich betheiligte mich nicht daran, weil ich sonst ein krankes Weib hülflos hätte zurücklassen müssen. Nach der Wendung der Dinge sitze ich eines Abends – es mögen nun drei Wochen sein - vor der Thür meines Häuschens und bessere Netze aus. Da sehe ich plötzlich durch die Dämmerung zwei Gestalten heranschleichen. Es war ein Bauer und eine Bäuerin. Vater, ruft der Bauer, Ignaz, rufe ich - mein Sohn lag in meinen Armen, den ich in irgend einem Gefechte gefallen wähnte. und nun denken Sie sich meinen Schrecken, als ich in der Bäuerin unsere junge Gräfin erkenne. Mit Lebensgefahr hatte sie sich mit ihrem Diener durch die russischen Truppen nach Semlin geflüchtet, um die Grenze zu erreichen. Daß sie mein Häuschen aufsuchten und meine Hülfe in Anspruch nahmen, war wohl sehr natürlich. Ich wußte, wie streng die Grenze bewacht wird und deshalb rieth ich der Gräfin, sie möge sich so lange bei mir verborgen halten, bis ich die Flucht über die Grenze vorbereitet haben würde. Ich forschte nun, und fand keinen andern Weg, als den zu Wasser. Die Save fließt eine Viertelstunde unterhalb Semlin in die Donau, und das jenseitige Ufer der Donau gehört zu dem türkischen Gebiete. Wie gesagt, dies war der einzige sichere Weg; aber mein Fischerkahn war zu klein, ich kann wohl mit ihm die Save, aber nicht die Donau befahren, die gerade an jener Stelle sehr reißend ist.“

„Bewacht man denn die Landwege so streng?“ fragte der Graf.

„Wohin man sieht, wimmelt es von Soldaten, kein Haase kann entschlüpfen, und täglich rücken neue Regimenter an die Grenze. Ach, wäre unsere liebe Gräfin nur acht Tage früher gekommen, ich hätte sie leicht retten können. In meinem Häuschen durfte sie nicht bleiben, denn täglich kommen Grenzpatrouillen vorbei, wir haben oft eine wahre Todesangst ausgestanden. Um keinen Argwohn zu erregen, gab ich die junge Gräfin für meine Nichte aus. Nun galt es, eine größern Kahn anzuschaffen. Das war nicht leicht, und erforderte Zeit. Die Gefahr ward immer dringender, als man auf die Habhaftwerdung der Gräfin einen Preis setzte. Plötzlich höre ich, daß sich in der Stadt das Gerücht verbreitet, Thekla Andrasy habe den Weg nach Semlin eingeschlagen. Es ließ sich denken, daß man nun die schärfsten Nachforschungen anstellen würde, zumal, da sich eine Schutzwehr von Bürgern bildete, welche alle Flüchtlinge in der Stadt und Umgegend ergreifen wollte. Mich kennt man, da ich früher oft unvorsichtige Aeußerungen gemacht habe, in meinem Hause war die Gräfin also eben nicht sicher. Aber wohin sollte ich sie nun so lange bringen, bis ich einen passenden Kahn gefunden hatte. Da fügt es der glückliche Zufall, daß der Apotheker eine Magd brauchte. Halt, dachte ich, Herr Czabo ist ein so bekannter Feind der Revolution, daß man bei ihm gewiß keine verdächtige Person suchen wird, und wenn man jeden Winkel der Stadt durchstöbert. Dazu kam noch, daß man ihn zum Commandanten der Schutzwehr ernannte. Ein sichereres Plätzchen für die arme Flüchtige ließ sich nicht finden. Ich gab sie also dem Apotheker unter dem Namen Kathi ist den Dienst. Diesen Nachmittag habe ich unter der Hand einen Kahn erhandelt, der mir passend erscheint; aber mir fehlt noch etwas Geld, um ihn zu bezahlen.“

„O mein Gott, ich bin in diesem Augenblicke so arm, daß ich nicht über einen Gulden verfügen kann!“ sagte schmerzlich der Graf.

„Beunruhigen Sie sich deshalb nicht, Herr Czabo wird mir die dreißig Gulden, deren ich noch bedarf, geben, wenn Kathi kein Geld besitzt. Sie sehen mich auf dem Wege, dieses Geschäft zu ordnen. Morgen früh wird der Kahn mein Eigenthum, und morgen Abend hole ich die Gräfin ab, um sie über die Donau zu setzen.“

„Und ich begleite meine Braut,“ rief der Graf.

„Mein Kahn bietet Platz genug. Dieses Gartenhaus ist Ihr Quartier?“

„Ja. Glücklicher Weise hat es mir die Eifersucht des alten Apothekers angewiesen.“

„Ich dachte es mir!“ sagte lächelnd der Fischer. Also halten Sie sich morgen Abend bereit - alle Umstände vereinigen sich, um uns zu einem glücklichen Ziele zu führen. Weiß unsere Gräfin, daß Sie hier sind?“

„Ich glaube, daß sie mich erkannt hat.“

„Haben Sie einen Auftrag – ich gehe zu ihr.“

„Tausend Grüße, Lajos. Und dann flüstere ihr zu, daß ich mit ihr entfliehe!“

Beide Männer traten wieder ist den Garten. Während der Korporal seinen Spaziergang wieder antrat, ging Lajos nach dem Hause des Apothekers. Die Thür war verschlossen. Der Fischer klopfte.

„Wer ist da?“ brummte Niklas im Innern.

„Oeffnen Sie, Herr Niklas!“

„Ich kann nicht, Herr Czabo ist ausgegangen und hat den Schlüssel mit sich genommen. Für diesen Abend sind Sie eingesperrt, Herr Korporal!“

„Er hält mich für den Soldaten,“ dachte Lajos lächelnd.

Der alte Fischer überlegte, was nun zu thun sei. Da flüsterte Niklas durch das Schlüsselloch:

„Herr Korporal!“

„Was giebt’s! flüsterte Lajos zurück.

„Oeffnen kann ich nicht, aber ich will Ihnen einen guten Rath geben.“

„Nun?“

„Nebenan ist Kathi’s Kammerfenster, klopfen Sie an, und die hübsche Köchin wird nicht lange auf sich warten lassen.“

„Ich danke, Herr Niklas!“

„Aber verraten Sie mich nicht.“

„Auf mein Ehrenwort!“

„Herr Czabo hat der Kathi diesen Nachmittag vierzig Gulden geschenkt," wisperte er durch das Schlüsselloch.

„Gut, ich werde diese Anweisung benützen.“

„Ein Soldat braucht immer Geld – der reiche Apotheker kann morgen mehr schenken.“

„Sie haben Recht, Herr Niklas.“

„Gute Geschäfte!“

(Schluß folgt.)
[675]

Ein Matrosenkeller in Amsterdam.

Der 6. December, der Sanct-Nikolaustag, ist für die Holländer ein hoher Festtag, er ist ihnen das eigentliche Weihnachtsfest, das wir am 25. December begehen. Ein mir befreundeter Arzt, Dr. van Emden, hatte mich zu einer Wanderung durch Amsterdam aufgefordert. Der Doctor hatte gerade diesen Abend gewählt, wo Amsterdam eine ganz andere Physiognomie annimmt, als die ist, die es gewöhnlich zu zeigen pflegt: der geschäftliche düstere Ernst verschwindet, Handel und Schifffahrt ruhen, und Arbeiter und Matrosen durchziehen fröhlich die Straßen, um die Orte aufzusuchen, von denen sie sich das meiste Vergnügen versprechen. Der Abend des Nikolaustags ist nur der Freude gewidmet, und der Matrose vorzüglich giebt sich ihr auf seine Weise rückhaltlos hin.

Matrosenschlafstelle in Amsterdam.

Der Doctor führte mich in den Stadttheil, den sich das lustige Seevolk zum Tummelplatze für diese Nacht ersehen hat. In den Straßen wogt, drängt, schreit und singt die Menge, daß man kaum die Worte seines Begleiters verstehen kann. Die sonst strenger Disciplin unterworfenen Seeleute haben heute das Privilegium, ihrer Laune den Zügel schießen zu lassen, und sie machen dergestalt davon Gebrauch, daß es für einen Fremden gerathen erscheint, nur in Begleitung eines Seemanns sich in den ausgelassenen Tumult zu wagen, der den heiligen Nikolaus feiern soll. Der Doctor war ganz der Mann, einen Fremden zu führen, denn er kannte das Terrain, und unter den lustigen Matrosen waren viele, die ihn kannten. Unter seinem Schutze durfte ich es wagen, die Orte zu betreten, wo sich das Matrosenleben in seinem wahren Glanze und mit allen seinen Eigenthümlichkeiten entfaltet.

Durch die Fenster fast aller Häuser sahen wir den Lichterglanz kleiner Christbäume, und in den Conditoreien und Restaurationen hatte man, um die Gäste anzulocken, sehr große angezündet. Gewöhnlich sind die Häuser der Holländer still und düster, so daß man glauben möchte, sie seien nicht bewohnt – heute erglänzten die Fenster wie feurig blinkende Augen und warfen einen hellen Schimmer in die belebten Straßen. Die kleinen, mit schweren Giebeln versehenen und dunkel gefärbten Häuser gewährten heute einen frohen, festlichen Anblick, und auch die sonst so ernsten Bewohner zeigten sich, um das Gewühl in den Straßen zu betrachten.

Kaum hatten wir die glänzend beleuchtete Straße betreten, als sich mir ein neues Schauspiel bot. Es kam uns ein Mann entgegen, der mit der linken Hand ein großes Packet Papiere hoch [676] emporhielt, während er mit der rechten lebhafte Gesten machte und dabei mit lauter Stimme wie ein öffentlicher Ausrufer eine Art Rede hielt. In unserer Nähe blieb er stehen. Sofort sammelte sich eine Menge Menschen an, die dem Manne zuhörte, der nun mit Feuer und Eifer eine Geschichte zu erzählen begann. Bald ward sein Ausdruck heftig, bald ruhig, bald klagend, bald heiter, bald traurig. Ich verstand den Inhalt dieser sonderbaren Rede nicht, da ich der holländischen Sprache nicht mächtig war; nur die Worte waren mir verständlich: een Cent, een Cent, meene Heeren! Und dabei verkaufte er von den Blättern, die er in der Hand hielt. Ich selbst machte mit dem Manne ein solches Geschäft.

Der Doctor erklärte mir nun die Absichten dieses Ausrufers. Der Mann geht nämlich jeden Abend, und zwar so durch die Straßen, daß er stets um eine bestimmte Zeit an einem bestimmten Orte ist. Hier erzählt er den Leuten, was im Laufe des Tages Neues vorgefallen ist, und wer nicht Zeit hat, seiner Erzählung zuzuhören, kauft sich für einen Cent ein solches Blatt, das die Neuigkeiten in gedrängter Kürze enthält. Wie mir mein Freund sagte, ist dieser Neuigkeitshandel ein sehr einträglicher.

Ich betrachtete nun die prachtvollen Läden, deren jeder einer kleinen Industrie-Ausstellung glich. Man hatte Alles aufgeboten, um die Waaren in dem glänzendsten Lichte zu zeigen. Das Auge war wie geblendet, denn ein Laden übertraf den andern an Glanz und Pracht. Zwischen den Erzeugnissen der Industrie und Kunst dufteten die Delicatessen-Gewölbe mit den reizendsten Südfrüchten. Die Produkte der Tropenländer lagen hinter glänzenden Glasscheiben im bunten Gemische neben denen des rauhen Nordens. Ich muß bekennen, daß es der Holländer versteht, den Appetit zu reizen. Der Laden eines Schlächters erregte vor allen Dingen meine Aufmerksamkeit. Neben der Thür dieses Ladens lagen zwei große Schweine, ruhig, still und geheimnißvoll wie Sphynxe; sie hatten die Vordertatzen ausgestreckt und hielten den Kopf hoch empor. In der aufgerissenen Schnautze mit den weißen Zähnen hielten sie eine rothgelbe Orange. Ihre Augen glühten ist dem Scheine der an der Thür aufgehängten Lampen wie Karfunkel. Borsten hatten diese ungeheuern, kugelrunden Thiere nicht, ihrer Haut von dunkelbrauner Farbe entströmte ein lieblicher Bratengeruch.

„Ah,“ rief mein Doctor mit Kennermiene, indem er stehen blieb, „der Meister hat dieses Jahr wirklich ein Meisterstück geliefert! Die Nikolausschweine sind ihm vollkommen gelungen!“

„Wie,“ fragte ich erstaunt, indem ich diese appetitlichen Thiere betrachtete, „hat der Schlächter diese Schweine künstlich fabricirt?“

„Nein, er hat sie nur in Lebensgröße gebraten.“

Wir traten näher und betrachteten nun die glänzenden, duftenden Thiere näher, die in ihrem Nikolausstaate durchaus nicht an das schmutzige Leben erinnerten, das sie zu führen pflegen. Meine Verwunderung erreichte den höchsten Grad, als ich die Seiten betrachtete. In die dicken Schwarten hatte man ganze Verse aus der Bibel eingegraben. Der Doctor übersetzte mir einen Vers in’s Deutsche, er lautete: Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Veste verkündiget seiner Hände Werk. Psalm 19. V. 1. Ein anderer: Herr strafe mich nicht in deinem Zorn und züchtige mich nicht in deinem Grimm! Hier folgte der Name des Schlächters: Dyck.

Wir gingen weiter, um den eigentlichen Tummelplatz der Matrosen zu erreichen. Nach dem Besuch einiger Matrosenkneipen kamen wir um zwölf Uhr in den sogenannten „Glockengang,“ die bekannteste und berühmteste dieser Art Wirthshäuser. Wir hatten einen Gang zu passiren, der so schmal war, daß ein starker Mensch darin stecken geblieben wäre. Der Doctor erklärte mir, dieser Gang sei nicht etwa aus Mangel an Platz so eng gebauet, sondern um die Matrosen vor dem Schwanken und Fallen zu schützen, wenn sie mit schweren Köpfen heimgingen. Aus dem Gange traten wir in einen niedern Saal, der so mit Tabaksrauch angefüllt war, daß wir kaum die Lichter sehen konnten. Man tanzte, und zwar nach der Musik von drei Judenmädchen. Nachdem wir einige Minuten dem wüsten Treiben zugesehen, entfernten wir uns, um nicht Zeugen einer Schlägerei zu sein, die sich in der Mitte des Saales entspann. Es war ein Glück, daß wir gingen, denn kaum waren wir aus dem Gange getreten, als man einen Menschenknäuel hinter uns herschob, der prasselnd und heulend in die Straße stürzte.

Herr van Emden führte mich nun nach der Jordenie, dem ärmsten und schmutzigsten Theile der ganzen Stadt. Die Beschreibung der einen der Kellerwohnungen, die wir hier betraten, paßt auf alle dieses Stadttheiles. Es ist kaum zu begreifen, wie menschliche Wesen in solchen Räumen leben können. An dem Eingange zur Treppe hingen Bündel Torf, Holz und Schwefelrohr. Die Spitzen der Rohrstäbchen sind in Schwefel getaucht, und dienen zum Feueranmachen. Daneben standen Holzschuhe und Schüsseln mit Heringen. Ueber der niedern Thür hingen zwei Pappschilder. Auf dem einen derselben stand in großen Buchstaben: Huur verkovt men Water un Vuur. (Hier verkauft man Wasser und Feuer.) Auf dem andern: Huur slaapt men op het Tow vor een Stijver (Hier schläft man auf dem Tau für einen Stüber).

Schon auf den Stufen der Treppe zog uns ein Qualm entgegen, der uns fast erstickte. Je tiefer wir kamen, je gräßlicher ward der Gestank. Es kostete mir Ueberwindung, meinem Führer zu folgen, der mir den gräßlichsten Winkel der berühmten Handelsstadt zeigen wollte. Wir traten in den Kellerraum, der im wahren Sinne des Wortes mit Menschen vollgepfropft war. Von Luft war keine Rede mehr, die Atmosphäre bestand aus Qualm und Gestank. Die Tochter vom Hause, ein Mädchen von vielleicht 25 Jahren, kam uns entgegen. Der Doctor grüßte: „Jonje-Juevrouw.“

„Ass belief meen Heer?“ fragte sie freundlich.

Wir ließen uns Thee bringen und prüften den Keller.

Der Wirth, ein sehr dicker Mann, der früher Matrose gewesen, war unaufhörlich beschäftigt, Genever einzugießen. Er saß auf einer Holzbank und verrichtete sein Geschäft im Sitzen. Die Gäste kamen herbei und brachten die leeren Gläser. Neben dem kugelrunden Holländer mit dem glänzenden, feisten Gesichte dampfte auf einem Kohlenbecken ein großer Theekessel, der das kochende Wasser zu Grog, Punsch, Chocolate und Thee lieferte. Die Beleuchtung war so schwach, daß die Winkel des eben nicht großen Kellers völlig im Dunkeln lagen. Da ich neugierig nach allen Seiten hin forschte, so vernahm ich aus einer der Ecken ein starkes Schnarchen. Ich sah den Doctor fragend an. Dieser antwortete dadurch, daß er meine Hand ergriff und mich nach dem Winkel führte, aus dem das unerquickliche Geräusch hervordrang. Der aufmerksame Wirth und seine Gattin folgten uns mit einem Lichte. Da hatte ich nun einen Anblick, der sich durch Worte kaum beschreiben läßt. Ich skizzirte flüchtig die Scene, um sie, ausgearbeitet, den Lesern der Gartenlaube vorzuführen.

Von einer Mauer zur andern waren starke Schiffstaue gezogen, und über einem jeden dieser Taue lagen mit den Armen, die schlaff herniederhingen, sechs bis acht schlafende Menschen. So viel ich unterscheiden konnte, waren die Schläfer Juden und Matrosen, die, wie oben das Schild ankündigte, für einen Stüber hier Obdach und Schlafstelle fanden. Das Unbequeme dieses schwankenden Lagers schien sie nicht zu hindern, einen festen Schlaf zu schlafen, denn das kräftige, geräuschvolle Athmen lieferte den Beweis davon. Der Doctor erzählte mir, daß diese Menschen bis Morgens acht oder neun Uhr in dieser Stellung schliefen und dann kräftig an ihre Arbeit gingen, als ob sie in einem Federbette geschlafen hätten. Die Juden vorzüglich sind auf diese traurige Lagerstatt angewiesen, da sie nur wenig verdienen, obgleich sie die schwersten Arbeiten verrichten. Gegen zwei Uhr Nachts legen sie sich auf ihr Tau, und Morgens neun Uhr gehen sie wieder an die Arbeit.

Eine Gruppe Matrosen, die am Boden saßen, ihre Groggläser neben sich hatten und würfelten, gewährte mir kein Interesse mehr, die Tauschläfer hatten meine ganze Aufmerksamkeit gefesselt. Noch war ich mit meiner Skizze beschäftigt, als ein neuer Gast ankam. Es war ein alter Jude mit langem Barte. Er zahlte seinen Stüber pränumerando, schlug seine Arme über das Tau, legte den Kopf zur Seite, und schlief ein.

Wir entfernten uns, draußen tobte der Jubel der Nikolausnacht, und Musik und Gesang ertönte in den Straßen. Was werden alle die reichen Leute dazu sagen, die oft auf den weichsten Matratzen nicht schlafen können?

[677]

Zur Physiologie des Gesanges

Für Singenlehrende und Singenlernende.

Wo man singt, da laß’ Dich häuslich nieder u. s. w., aber um’s Himmels Willen nur nicht da, wo man mit schlechter Stimme schlecht singt, wie dies heutzutage privatim und publice Mode zu werden droht und Jeder zu denken scheint: „Singe, wenn Gesang gegeben.“ Nein! wer kein musikalisches Gehör hat und neben einer zweckmäßigen Einrichtung seiner Stimmwerkzeuge nicht Fleiß und Ausdauer genug auf die Ausbildung seiner Stimme verwenden will, der schweige sich lieber aus und überlaste das Singen Andern. Auch reicht selbst ein reiner Ton und eine wohlklingende Stimme noch lange nicht zum öffentlichen Singen aus, erst die gehörige geistige Auffaßung und die richtige Bearbeitung des Vorzutragenden macht einen Sänger, von dem man sagen kann: „er singet dem Gesang zu Ehren.“ Das bloße mechanische Einlernen von Gesangsparthien setzt den Sänger gleich neben den studirten Papagei.

Was für Ansprüche macht man denn nun aber beim Singen an einen Ton, wenn er als schön gelten soll? Er muß rein (von richtiger Höhe) und ohne Klangbeimischung, klangvoll und metallisch, gehörig stark und voll, fest (nicht tremulirend) und dauerhaft sein. Auf alle diese Eigenschaften läßt sich Einfluß ausüben, zumal wenn schon von Jugend auf dahin gewirkt wird. Versuchen wir dies zu beweisen. – Wie bekannt (aus Gartenlaube 1855. Nr. 43) entsteht der Ton im Kehlkopfe durch Schwingungen der mit Schleimhaut überkleideten untern Stimmbänder oder besser Stimmhäute, und diese Schwingungen werden durch die Luft veranlaßt, welche mit einiger Kraft von unten, von der Lunge her durch die Luftröhre und Stimmritze hindurch getrieben wird. Gleichzeitig setzen die Stimmbänderschwingungen aber auch die Luft und die Wände der Luftwege oberhalb und unterhalb der Stimmritze, sowie selbst die Wand des Brustkastens in Mitschwingen und geben dadurch, nach der verschiedenen Beschaffenheit der mitschwingenden Theile (besonders nach der verschiedenen Weite der Lufträume und der Schwingungsfähigkeit ihrer Wände) dem Tone einen stärkern oder schwächern Wiederhall (Resonnanz). Befühlt man beim Singen den Brustkasten, die Luftröhre, den Kehlkopf, den Gaumen oder die Zähne, so wird man deshalb an allen diesen Theilen ein leises Vibriren wahrnehmen, was um so deutlicher wird, je stärker man singt. Vermehren läßt sich diese Resonnanz, wodurch der Ton an Fülle und Klang gewinnt, wenn man Lunge und Brustkasten durch tiefes und kräftiges Athmen, sowie durch passende gymnastische (Knickstütz-)Uebungen, besonders von Jugend auf, gehörig zu erweitern sucht. Geichzeitig kräftigen diese Uebungen aber auch die Athmungsmuskeln und können insofern auf die Stärke und Gleichmäßigkeit des Tones, welche von der Kraft und Gleichmäßigkeit abhängt, mit welcher die Luft durch die Stimmritze getrieben wird und die Stimmbänder in Schwingungen versetzt, großen Einfluß ausüben. Es darf der Ton nicht herausgestoßen, sondern er muß, wie die Italiener sagen, herausgesponnen werden (filar il tuono). – Ebenso, wie nun die Erweiterung des Brustkastens und der Lunge die Resonnanz des Stimmapparates verbessern kann, so vermag dies auch noch das Weitsein der Räume oberhalb des Kehlkopfes, wie des Schlundkopfes, der Mund- und der Nasenhöhle, weshalb diese Räume so lufthaltig als möglich sein müssen. Hierzu trägt aber bei: die richtige Stellung der Mund- und Gaumentheile, die Verkleinerung großer Mandeln und die Verdünnung der verdickten Nasen- und Gaumen-Schleimhaut – Was das Metall und die Reinheit (hinsichtlich der Klangbeimischung) des Tones betrifft, so sind diese Eigenschaften hauptsächlich von dem Schleimhautüberzuge der Stimmbänder abhängig und Alles, was diesen dicker, härter, trockner oder feuchter, als sich gehört, machen kann, thut dem Metall der Stimme Eintrag. Deshalb muß jeder Sänger und wer überhaupt singen will, seine Kehlkopfschleimhaut ängstlich behüten und so behandeln, wie in der Gartenlaube (1855. Nr. 48) angegeben worden ist. Bisweilen läßt sich mit Höllenstein der Zustand dieser Schleimhaut und damit die Stimme verbessern.

Eine Hauptaufgabe beim Singen ist es nun, daß der im Kehlkopfe erzeugte Ton oder die Schallwellen, auch so ungetrübt als möglich zum Munde hervortönen. Um dies zu können, müssen die obersten Luftwege, nämlich die sogen. Rachenenge (d. i. die von dem Gaumenkegel, den Mandeln, dem Zäpfchen und den Gaumen begrenzte, Mund- und Schlundkopfshöhle verbindende Oeffnung über der Zungenwurzel; s. Gartenlaube 1855. Nr. 38), die Mundhöhle und der Mund ordentlich weit sein und gehörig geöffnet werden, damit der Ton nicht zu stark gequetscht werde und an zu vielen Stellen anpralle, wodurch er unangenehme Klangbeimischungen erhält (wie der Kehl-, Gaumen-, Nasen- und Zahnton). Deshalb ist vorzüglich auf die Gaumen-, Zungen-, Zähne- und Lippenstellung zu achten und der Sänger muß durch häufige Uebungen (Zungen- und Gaumenturnen) große Herrschaft über diese Theile (Gewandtheit in der Bewegung derselben) zu erlangen suchen. Auch ist die Größe der Mandeln soviel als möglich zu verringern, was durch Bestreichen mit Höllenstein oder Jodtinktur, sowie durch Abschneiden eines Stückes derselben ermöglicht wird. Am besten soll der Tonanschlag, wie die Gesanglehrer sagen, sein, wenn die Schallwellen vorn am harten Gaumen, dicht hinter den obern Schneidezähnen antreffen. Das bedeutet aber nichts Anderes, als wenn die Schallwellen (der Ton) so unbehindert als möglich und in der größt-möglichsten Menge zum Munde herausströmen. Dies ist aber der Fall, sobald beim Singen die Vokale, besonders a und o, klar, rein und edel ausgesprochen werden. – Hinsichtlich der Festigkeit und Dauerhaftigkeit des Tones, welche von der Kräftigkeit der Kehlkopfsmuskeln abhängig ist, so kann diese nur dadurch erlangt werden, daß man die genannten Muskeln zuvörderst gut ernährt (durch thierische, Blut bildende Kost) und daß man dann ganz allmälig beim Singen eine Steigerung an Kraft und Ausdauer, mit den gehörigen Pausen, eintreten läßt. Zu starke, zu lange und zu schnell auf einander folgende Anstrengungen des Kehlkopfes erzeugen einen lähmungsartigen Zustand der Stimmnerven und Muskeln, sowie eine Verstimmung der Stimme (s. Gartenlaube 1855 Nr. 48), so daß dieselbe zittert (tremulirt), betonirt oder sogar gänzlich versagt. Wie mancher Gesangslehrer und Sänger hat nicht schon durch solche Ueberanstrengungen die schönste und kräftigste Stimme ruinirt. – Bevor die Muskeln des Kehlkopfs den nöthigen Grad von Uebung und Kraft erlangt haben, detonirt die Stimme gewöhnlich öfters, d. h. die Töne weichen von ihrer richtigen und bestimmten Höhe nach oben oder unten hin etwas ab und werden unrein. Dies findet wie bei Schwäche der Stimmorgane auch noch bei schlechtem musikalischen Gehöre und nicht selten auch in Folge einer schlechten Lehrmethode statt. Hiernach muß also, um das Detoniren (wie auch das Tremuliren) zu heben, entweder das Stimmorgan gekräftigt (durch zweckmäßige Behandlung) oder das Gehör durch Hören guter Sänger, eines rein gestimmten Instrumentes und große Aufmerksamkeit bei den Gesangsübungen verbessert werden.

Die Höhe und Tiefe des Tones hängt von dem Grade der Spannung der Stimmbänder und von der Weite der Stimmritze ab. Je straffer diese Bänder gespannt sind, je scheller sie also schwingen, und je enger die Ritze, desto höhere Töne werden erzeugt; im Gegentheil wird der Ton um so tiefer, je erschlaffter die Stimmbänder sind, je langsamer sie also schwingen, und je mehr die Stimmritze erweitert ist. Im Mittel hat der niedrigste Ton 80 ganze Schwingungen in einer Secunde, der höchste Ton aber 992 ganze Schwingungen. – Die Größe und Beschaffenheit der Stimmwerkzeuge giebt nicht nur der Stimme, deren Umfang etwa 2 bis 3 Octaven beträgt, ein eigenes Klanggepräge (timbre), sondern ist auch die Ursache der verschiedenen Stimmarten. Es giebt deren folgende: hoher Sopran (c - – c ), Mezzosopran (a – a =), Alt (f – f =), Tenor (c – a -), Baryton (A – g -) und Baß (E – f -).

[678] Kinder und Frauen mit kleinen Kehlköpfen und kurzen Stimmbändern haben eine höhere und weichere Tonbildung und singen Diskant, Sopran oder Alt; erwachsene Männer dagegen Tenor, Baryton oder Baß. Während der Punbertätszeit, d. h. desjenigen Lebensabschnittes, in dem der Knabe zum Jüngling, das Mädchen zur Jungfrau heranreift, ändern sich die Stimmwerkzeuge in ziemlich stürmischer Weise und dabei wird die Stimme unrein, schnappt leicht über und wandelt sich allmälig aus der höheren und schwachen in eine tiefere, klangvollere, kräftigere um. Man nennt diesen, 2 bis 3 Jahre dauernden Stimmwechsel das Brechen oder Mutiren der Stimme. Es darf zu dieser das Stimmorgan ja nicht angestrengt werden, wenn die Stimme nicht für immer verdorben werden soll. Aber auch nach Beendigung der Mutation, bei der Jungfrau um das 16te Jahr, beim Jüngling zwischen dem 17ten und 19ten Jahre, muß die Stimme noch anfangs sehr geschont und vorsichtig behandelt werden. Der systematische Singeunterricht bei Kindern sollte vor dem 10ten Jahre nicht beginnen.

Innerhalb des Bezirkes jeder Stimmart lassen sich dreierlei Stimmweisen oder Stimmregister unterscheiden, welche vorzugsweise für Töne verschiedener Höhe bestimmt sind; doch lassen sich manche Töne, besonders die, welche auf der Gränze zwischen den Registern stehen, auch in allen drei Registern singen. Man unterscheidet: die Brust-, Kopf- und Falset- (oder Fistel-) Stimme und erklärt die Bruststimme, welche voll und stark ist und sich vorzugsweise in den tieferen Tönen bewegt, durch das Schwingen der ganzen Stimmbänder bei schwacher Spannung derselben und starkem Anblasen, während bei der flötenartigen weichen Fistel- oder Falsetstimme, mit der die höchsten Töne gesungen werden, nur die innern freien Ränder der Stimmbänder allein schwingen sollen. Die Kopfstimme, welche zwischen Brust- und Falsetstimme mitten inne steht und weichere, zartere, aber etwas gedämpftere Töne als die Bruststimme liefert, scheint durch Schwingungen der ganzen Stimmbänder bei starker Spannung und schwachem Anblasen, sowie durch Verengerung der Kehlkopfshöhle dicht unterhalb der Stimmbänder, zu entstehen. Es kann nämlich jeder Ton von ein und demselben Stimmbande zweimal gewonnen werden, bei stärkerer Spannung und schwachem Winde und bei schwacher Spannung und starkem Winde. Das Letztere ist charakteristisch für die Brusttöne und um so sehr, je mehr sie forte und fortissime gesungen werden, das Erstere für die Kopftöne und um so mehr, je mehr sie piano und pianissimo gesungen werden. Daher gehen die Brusttöne gegen das Piano hin in Kopftöne und diese gegen das Forte hin in Brusttöne oder bei stärksten Spannungsgraden in Fisteltöne über. Mit den Fisteltönen haben die Kopftöne die geringe Windstärke, mit den Brusttönen die Schwingungen der Stimmbänder in ganzer Breite gemein und deshalb sind sie besonders geeignet, den Uebergang des einen Registers in das andere zu bilden, was besonders dann geschieht, wenn derselbe Ton bei seinem allmäligen Anschwellen nach und nach von der Brust-, Kopf- und Fistelstimme gesungen wird. Es ist die Aufgabe des Sängers und Gesanglehrers, durch Uebungen diese drei Register so mit einander zu verschmelzen, daß ihre Uebergänge in einander unmerklich werden. Sodann verlangt es aber auch die Schonung der Stimme, daß der Sänger diesen Registern ihre bestimmten Töne anweist und nicht etwa Töne, welche er durch die Kpofstimme mit Leichtigkeit singen kann, durch die Bruststimme herausquält. Im Mittel umfaßt die Bruststimme etwa 1 bis 11/2 Octave der tiefsten Töne und alle höheren werden dann leichter mit der Kopf- und Falsetstimme gesungen. – In jedem Stimmregister können die Töne hell oder gedämpft (verhüllt) gegeben werden und dies dürfte hauptsächlich durch die höhere und tiefere Stellung des Kehlkopfes zu Stande kommen.

Während des Singens darf das Spiel des Brustlastens nicht durch unzweckmäßige Stellung, enge Kleidungsstücke, gefüllten Magen u. s. w. beeinträchtigt werden, sowie auch Alles, was die Athembewegungen beschleunigt, vor und nach dem Singen vermieden werden muß. – Aus dem Gesagten wird sich ein Jeder die Regeln herausnehmen können, welche beim Singenlernen zu beobachten sind.

Bock.




Ausflüge in chemisch-technische Werkstätten.

Von Karl Müller.

Giebt es wohl etwas Interessanteres und zugleich Erhebenderes, als der Natur Geheimnisse zu belauschen, zu sehen wie oft durch unscheinbare Ursachen dennoch so große Wirkungen hervorgebracht werden, und wie doch alle diese Wirkungen durch ewig unabänderliche Gesetze nothwendig bedingt sind? Die Naturwissenschaften nehmen immer mehr und mehr den Rang ein, der ihnen als Förderer der Wahrheit, und in Folge dessen als Förderern des geistigen und leiblichen Wohles der Menschheit von Rechts wegen zukommt, und Niemand wird ferner auf Bildung Anspruch machen dürfen, dem nicht mindestens die Pforten der Wissenschaft eröffnet sind. Nur Zeloten und sonstige Freunde allgemeiner Unwissenheit können diesen Gang der Dinge beklagen und anfeinden, aber alles Gegenarbeiten wird nutzlos sein und der Wahrheit nur die Bahn ebnen helfen. Vor Allem erfreulich ist es zu sehen, wie die einzelnen Zweige der Naturwissenschaften immer mehr und mehr praktisch in das Leben eingreifen lernen, wie neugemachte Entdeckungen nicht mehr im Wuste der Stubengelehrsamkeit vorkommen, sondern von speculativer Thätigkeit erfaßt, schnell lebenskräftig werden und so zur Hebung von Kunst und Industrie das Ihrige beitragen. Früher war es wohl eine gewöhnliche Erscheinung, daß die Praxis längst übte, wovon die Wissenschaft eine Erklärung zu geben nicht vermochte: man bereitete lange vorher Essig, ehe man wußte, daß der Sauerstoff der atmosphärischen Luft es sei, welcher die geistigen Flüssigkeiten sauer macht; in Sidon und Alexandrien bestanden Glashütten schon zu Plinius und Strabo’s Zeiten, aber erst die neuere Chemie lehrte, daß es die sauren Eigenschaften der Kieselerde seien, welche die Glasbildung bedingen.

Anders heut zu Tage: kaum ist eine neue Eigenschaft eines Körpers bekannt, so ist man bemüht, sie nutzbar zu machen, und selten bleibt die Mühe unbelohnt. Der näheren Kenntniß von den Eigenschaften des Wasserdampfes folgte seine Benutzung als bewegende Kraft; dem Nachweise, daß Stärkemehl sich durch Einwirkung von Wärme und Salpetersäure in eine gummiartige Substanz verwandeln lasse, folgte die fabrikmäßige Darstellung des Dextrins, welche mit Ersparung vieler Tausende, die für arabisches Gummi in das Ausland gingen, einen in gleicher Weise zu verwendenden Stoff aus einheimischen Produkten liefert. Tausend Beispiele dieser Art ließen sich noch aufführen, und wir mögen unsere Blicke hinwenden, wohin wir wollen, in die Werkstube des bürgerlichen Handwerkes oder auf den Acker des Landmannes, in die großen Etablissements der Fabrikstädte oder in die Tiefe zu den Revieren des Bergmannes, überall werden wir derselben Erscheinung begegnen: dem wohlthätigen Einfluß wissenschaftlicher Theorie auf die werkthätige Praxis. Nirgends aber tritt sie uns überzeugender und bekehrender entgegen als in jenen Werkstätten der technischen Chemie, die wir im Allgemeinen mit den Namen „chemischer Fabriken“ bezeichnen. Begleite mich, verehrter Leser, in einige derselben, und Du sollst die Ueberzeugung mit Dir fortnehmen, daß in der Natur Nichts unbedeutend ist, daß der unscheinbarste Stoff nur ein notwendiges Glied des großen Ganzen und einer Verklärung fähig ist, die stets fördernd auf das Ganze zurückwirkt.

Wir stehen vor einer Reihe Gebäude mit einigen hohen, dampfenden Schornsteinen, denen sich rundum verschiedene kleinere beigesellt finden, diese wie jene bemüht, den früher hellen Anstrich der Häuser möglichst balb verschwinden zu machen. Treten wir ein und betrachten zuvörderst die Rohstoffe, die hier verarbeitet werden, von denen wir in den Vorrathshäusern große Mengen finden: da begegnet uns zuerst ein alter Bekannter aus dem täglichen Leben, das Kochsalz oder wie die Chemiker es nennen, das Chlornatrium, weil Chlor und Natrium die beiden Elemente sind, welche es zu gleichen Atomen bilden; dort sehen wir einen Berg von Schwefel, ein Artikel, durch dessen Produktion das Königreich Neapel sich die ganze industrielle Welt zinspflichtig erhält, und dessen erschwerte oder verbotene Ausfuhr mehr als einmal [679] schon Englands Flotte in Bewegung setzte; weniger stürmisch, aber doch nachdrücklicher verfuhr damals die Wissenschaft: sie suchte sich andere Quellen des Schwefels zu eröffnen, und sie fand sie bald in den reichen Schwefelkieslagern Irlands, Englands und des Continentes. Die Folge war eine Concurrenz, die auch nach Ausgleichung jener Zwistigkeiten dauernd den Preis des sicilianischen Schwefels erniedrigte.

Weiter finden wir Tonnen mit Chilisalpeter, jenes schon so geschätzten Düngemittels, dessen Einfuhr von Jahr zu Jahr in größerem Maßstabe stattfindet. Dieser Chilisalpeter ist ein unreines salpetersaures Natron, welches sich in dem peruanischen Distrikte Atacama ausgewittert an der Bodenoberfläche findet und dort weite Landstriche überdeckt. Endlich sehen wir noch einen Haufen Kalksteine, Brennmaterial verschiedener Art, und erwähnen schließlich noch des fließenden Wassers, dessen Vertheilung durch Röhrenleitung nach allen Räumen der Fabrik geschieht, und der atmosphärischen Luft, die bekanntlich überall gratis zu haben ist, als Rohstoffe, denn beide sind nothwendige Dinge als Vermittler, wie als wirkliche Theilnehmer chemischer Verbindungen. Fragen wir nun nach den Fabrikaten des Etablissements, so nennt man uns als hauptsächlichstes die Schwefelsäure, die Salzsäure, die Salpetersäure oder das Scheidewasser, die Soda, das Glaubersalz und den Chlorkalk. Wie mannigfaltig müssen die Processe sein, welche aus so einfachen Dingen so Verschiedenartiges erzeugen, und wie glänzend hat des Menschen Geist durch genaue Beobachtung der Naturgesetze hier seine Aufgabe gelöst!

Wir wenden nun unsere Schritte zu den der Schwefelsäurefabrikation gewidmeten Räumlichkeiten, und finden hier zunächst einen zur Verbrennung des Schwefels dienenden Ofen, dessen Doppelgehäuse nicht allein zur Regulirung der Hitze, sondern auch zur Speisung der in der Nähe befindlichen Bleikammern mit atmosphärischer Luft dient. Der Schwefel nimmt beim Verbrennen zwei Atome Sauerstoff auf und bildet damit schwefelige Säure, jene bekannten weißen Dämpfe, die wir beim Abbrennen eines Schwefelhölzchens beobachten, und deren stechender Geruch eben so bekannt als den Athmungswerkzeugen lästig ist. Diese Dämpfe der schwefeligen Säure treten nun durch ein Rohr in die Bleikammern, große Gefäße aus Walzblei, oft geräumig genug, um ein mäßiges zweistöckiges Haus in eins derselben setzen zu können, von denen gewöhnlich vier bis fünf hinter- oder nebeneinander angebracht sind; hier begegnen dieselben Salpetersäuredämpfen, die durch die Hitze der Schwefelverbrennungsofens aus salpetersaurem Natron mittelst Zerlegung durch Schwefelsäure ausgeschieden werden; sie begegnen Wasserdampf, welcher aus einem Dampfkessel hierher geleitet wird, und endlich der durch den Mantel des Schwefelofens eingetretenen atmosphärischen Luft. Auf dem Wege nun, den die Dämpfe gemeinschaftlich zu machen haben, und der durch gezwungenes Auf- und Absteigen möglichst verlängert wird, mischen sich dieselben, und die schwefelige Säure wird zu Schwefelsäure (auf einen Centner Schwefel drei Centner Sauerstoff), indem sie den Dämpfen der Salpetersäure (aus zwei Atomen Stickstoff und fünf Atomen Sauerstoff bestehend) den ihr noch fehlenden Sauerstoff entzieht und dieselbe zu Stickoxydgas reducirt; das Letztere hingegen sucht diesen Verlust wenigstens theilweise wieder zu ersetzen durch Aufnahme von Sauerstoff aus der vorhandenen atmosphärischen Luft, aber nur um denselben sofort an neue Portionen schwefeliger Säure abzugeben und diese wiederum in Schwefelsäure zu verwandeln; und so wiederholt sich dieses Spiel, bis die letzten Antheile schwefeliger Säurezu Schwefelsäure geworden sind.

Der Wasserdampf spielt nun hierbei eine doppelte Rolle: einerseits ist seine bloße Gegenwart zur Vermittelung der Aufnahme des Sauerstoffs durch das Stickoxydgas nothwendig, andererseits verdichtet er sich mit den fertigen Schwefelsäuredämpfen zu wässeriger Schwefelsäure, die nun an dem Boden der Bleikammern zusammenfließt und von dort abgelassen werden kann. Diese wässerige Schwefelsäure ist aber weit entfernt die für technische Zwecke erforderliche Stärke zu besitzen, sie ist im Gegentheil mit einer großen Menge überflüssigen Wassers verdünnt, und muß von demselben noch befreit werden. Zu diesem Zwecke kommt die Säure nun zunächst in die Bleipfannen. Wir sehen in unserer Fabrik deren drei, und zwar etagenförmig auf eisernen Platten ruhend, unter denen die Feuerluft hinstreicht. Während der Siedepunkt des Wassers bekanntlich bei 100° C. liegt, wo nun auch die Verdampfung desselben beginnt, ist der Siedepunkt der Verdampfungspunkt der Schwefelsäure erst bei 326° C. erreicht. Man treibt daher die Verdampfung des Wassers in den Bleipfannen bis zu dem Punkte, wo die mit der fortschreitenden Concentration der Flüssigkeit sich steigernde Hitze einen Grad erreicht, bei welchem neben dem Wasser sich auch Schwefelsäure verflüchtigen würde, und wo außerdem die Bleipfannen durch die stärkere Säure angefressen werden würden. Durch eine sinnreiche Hebervorrichtung gelangt nun die Flüssigkeit in eine Destillirblase von Platin, wo sie sich durch ferneres Erhitzen bis aus 326° C. in saures Wasser, welches durch das Helmrohr abdestillirt und wieder in die Bleipfannen zurückgebracht wird, und in Schwefelsäurehydrat oder englische Schwefelsäure scheidet, welche Letztere in der Blase verbleibt und von dort durch abermalige Hebervorrichtung, die zugleich durch Abkühlung der heißen Säure dient, in große Glasballons gebracht wird und nun als fertiges Produkt in den Handel kommt.

Wie schon erwähnt, sind diese Destillirblasen von Platin, da Glas ein zu zerbrechliches Material ist, und kein anderes Metall, das noch teurere Gold ausgenommen, der starken Säure widerstehen würde. Man fertigt dieselben fast ausschließlich in Paris von 5 bis 20 Centner Inhalt; die Fugen werden mit Gold gelötet und der Preis eines solchen Apparates beträgt allein schon 10–15,000 Thaler!

Diese Schwefelsäure, nunmehr auf ein Atom reiner Säure genau ein Atom Wasser enthaltend, ohne welches die Säure gasförmig und daher nicht zu handhaben sein würde, ist eins der wichtigsten chemischen Produkte, ohne dessen Vorhandensein der ganze heutige Stand unserer Industrie unmöglich wäre. Sie ist das Mittel zur billigen Darstellung der Soda geworden, ohne welche wir wiederum weder so billige Seife, noch so schönes und billiges Glas haben würden; die Färberei und Kattundruckerei wären ohne Schwefelsäure um die Hälfte ihrer Farben ärmer; die Darstellung des Scheidewassers, der Salzsäure und des Bleichkalkes wäre wesentlich erschwert, und statt Stearinkerzen brennten wir nach wie vor rußende Talglichter. Darum ist aber auch der Verbrauch an Schwefelsäure ein ungeheurer, und eine einzige Fabrik zu St. Rollox bei Glasgow erzeugt allein jährlich 160,000 Centner Säure in 20 Bleikammern, von dessen jede, bei 70 Fuß Länge, 38,000 Kubikfuß hält!

Wir setzen nun unsere Wanderung fort und finden in einem benachbarten Gebäude verschiedene Flammenöfen, welche zur Darstellung des Glaubersalzes aus dem Kochsalze dienen.

Ein solcher Ofen theilt sich hinter der Feuerbrücke in zwei getrennte, mit Bleiplatten ausgefütterte Räume; in dem hinteren weniger heißen Theile geschieht die Zersetzung, welche aber erst in dem vorderen, dem Feuer mehr ausgesetzten Raume durch völliges Schmelzen der Salzmasse beendigt wird. Die Beschickung besteht in vier bis acht Centnern Kochsalz oder zerstoßenes Steinsalz, auf welche vermittelst eines besonders construirten Trichters die zur Zersetzung nöthige Quantität Schwefelsäure aufgegossen wird, wozu man der Ersparniß halber Schwefelsäure, wie sie aus den Bleikammern kommt, verwendet, da eine größere Concentration [680] nicht nothwendig ist. Unter der Einwirkung der Schwefelsäure zerfällt nun das Kochsalz in seine Bestandtheile: Natrium und Chlor. Das Natrium zersetzt wiederum einen Atom Wasser und bildet mit dem Sauerstoff des Letzteren Natrium-Oxyd oder Natron, welches mit der Schwefelsäure zu schwefelsaurem Natron oder dem sogenannten Glaubersalz zusammentritt. Das aus dem Kochsalz zugleich freigewordene Chlor aber vereinigt sich mit dem aus dem zersetzten Wasser ebenfalls freigewordenen Wasserstoff und bildet damit Salzsäure, welche in Gasform entweicht und in besonderen Kanälen ihrer ferneren Benutzung entgegengeführt wird. Früherhin als der Verbrauch an Salzsäure noch unbedeutend war, wurde dieselbe sehr oft eine große Last für die Fabrikanten, indem sie mit dem abziehenden Rauche die Esse passiren mußte, und sich bei ihrem Heraustreten aus derselben, von der atmosphärischen Feuchtigkeit verdichtet, zu Boden senkte, die Pflanzenwelt der Umgebung zerstörte und der ganzen Nachbarschaft beschwerlich fiel, wodurch sie zu einer Quelle von Klagen und Entschädigungsansprüchen wurde. Man versuchte die mannigfachsten Mittel zur Beseitigung des Uebelstandes, und erreichte endlich den Zweck wenigstens theilweise durch entsprechende Erhöhung der Schornsteine; so ragt aus der Fabrik von Muspratt, zwischen Liverpool und Manchester, ein kegelförmiger Kamin von 495 Fuß Höhe empor, der bei 301/2 Fuß unterem und 11 Fuß oberem Durchmesser über eine Million Ziegel enthält!

Eine andere Art von Flammenöfen, die wir neben jenen aufgestellt finden, dient nun dazu, das erhaltene schwefelsaure Natron oder Soda zu verwandeln. Diese Oefen sind größer, und ihr Schmelzraum zur Vermeidung aller Ecken, welche dem nothwendigen häufigen Durchdrücken der Masse hinderlich sein würden, oval. In diesen trägt man nun das zuvor gepulverte und mit etwas mehr als dem gleichen Gewicht Kalksteins und der reichlichen Hälfte Kohle gemischte Glaubersalz ein und läßt das Feuer wirken. Durch die Hitze wird das Gemenge breiartig und entwickelt bei vorrückender Schmelzung eine Menge Gasblasen, die ihm das Ansehen des Kochens und Aufwallens ertheilen, mit dessen Aufhören und dem nun eintretenden ruhigen Fluß der Masse die Zersetzung als beendigt angesehen werden kann.

Der Vorgang im Ofen war nun folgender Art: die Kohle verbrennt mit dem ganzen Sauerstoffgehalt des Glaubersalzes zu Kohlenoxyd, und hinterläßt jenes als Schwefelnatrium; mit diesem tauscht nun der kohlensaure Kalk seine Bestandtheile aus, und es entsteht daraus Schwefelcalcium und kohlensaures Natron. Die noch fließende Salzmasse kommt zur Abkühlung in blecherne Kästen und stellt sodann die rohe Soda dar, wie sie allerdings schon für für manche Gewerbe brauchbar ist. Diese rohe Soda, die das Ansehen einer grauen schlackigen Asche besitzt, enthält natürlich außer dem kohensauren Natron noch alles Schwefelcalcium, so wie eine gewisse Menge noch unzersetztes schwefel- und schwefeligsaures Natron, Kochsalz, kohlensauren Kalk und Kohlenstückchen, Verunreinigungen, die die nun folgenden Operationen zu entfernen den Zweck haben.

Treten wir jetzt heran zu den Auslaugebottichen, einer Reihe eiserner Kästen, die etagenförmig, d. h. jeder einige Zoll höher als der vorhergehende aufgestellt sind. Wir sehen sie Alle durch eine Doppelscheidewand in zwei Hälften geheilt, so jedoch, daß diese Hälften durch eine untere und obere Oeffnung in den Scheidewänden noch in Verbindung stehen. Das Ganze ist mit Wasser gefüllt, welches durch eingeleiteten heißen Wasserdampf beständig auf dem nöthigen Temperaturgrad erhalten wird. In jeder Hälfte finden wir zwei siebartig durchlöcherte Blechkasten mit grob gemahlener, roher Soda gefüllt, so eingehangen, daß sie eben unter die Oberfläche des Wassers tauchen. Dieses zieht nun alles Lösliche aus, und die hierdurch schwerer gewordene Flüssigkeit senkt sich zu Boden, um von da entweder in die andere Hälfte oder in den nächsttieferen Bottich abzufließen, während man die Siebkästen den umgekehrten Weg machen läßt, d. h. die frisch gefüllten zuerst in den untersten Bottich bringt und nach und nach weiter hinauf hängt, bis sie aus dem obersten Bottiche völlig erschöpft herausgenommen und vom unlöslichen Rückstande entleert werden.

Durch diese sinnreiche Einrichtung wird es möglich, daß das oben beständig zulaufende Wasser im unteren Bottiche zu siedewürdiger Sodalauge umgewandelt ist, die unverzüglich in die Siedepfannen abgelassen und zu dem Grade der Concentration gebracht wird, daß sich beim Erkalten das kohlensaure Natron in großen Krystallen ausscheidet, die unter dem Namen krystallirte Soda in den Handel gebracht werden. Wird diese krystallirte Soda in einem mäßig warmen Lokale auf Horden ausgebreitet, so verlieren die Krystalle ihr Krystallwasser und zerfallen zu einem weißen Pulver, welches den Namen trockene Soda oder Sodasalz führt.

Die Flüssigkeit, welche nach Abscheidung der Krystalle zurückbleibt, enthält neben etwas kohlensaurem Natron noch alle löslichen Bestandtheile der rohen Soda; man trocknet sie daher ein und setzt die erhaltene Salzmasse, mit Kohle und Kalk vermischt, wieder den Ofenbeschickungen hinzu. Die in den Siebkästen verbliebenen unlöslichen Rückstände werden getrocknet als ein vortreffliches Düngemittel für Klee und Hülsenfrüchte verkauft; neuerdings auch durch Brennen mit Thon zu Portland-Cement verarbeitet.

Es ist kaum ein halbes Jahrhundert verflossen, seit man diese Art der Sodabereitung kennen gelernt hat; früher zog man alle Soda aus der Asche der Seepflanzen, und noch gegen das Ende des letzten Jahrhunderts gingen dafür über 30 Millionen Franken jährlich allein aus Frankreich nach Spanien, dem Hauptsitze der Sodaerzeugung. Da kamen Frankreichs große Kriege und mit ihnen zunächst eine Isolirung vom Auslande, die den Gewerben die nothwendigsten Hülfsmittel entzog. Der einzig mögliche Ersatz der Soda, die Potasche, wurde von den Salpetersiedereien zur Pulverfabrikation ausschließlich in Anspruch genommen, und die Noth drängte von allen Seiten: da erließ im Jahre II. der Republik [681] der Wohlfahrtsausschuß eine Aufforderung an alle Bürger, binnen zwei Decaden mit Hintansetzung jedes Privatvortheils, Mittel und Wege zur Erzeugung von Soda ausfindig zu machen und die Vorschläge an eine dazu niedergesetzte Commission abzugeben. Dieses für die fernere Geschichte der Industrie so einflußreiche Aktenstück begann mit den Worten:

„In Erwägung der Pflichten der Republik, welche ihr gebieten, die Kraft der Freiheit mit ihrem ganzen Nachdrucke auf alle diejenigen Gegenstände hinzulenken, welche die Grundlage der unentbehrlichsten Gewerbszweige sind; Pflichten, die ihr ferner gebieten, die Fesseln der Handelsabhängigkeit abzustreifen und aus ihrem eigenen Schooß Alles, was die Natur darin niedergelegt hat, an’s Licht zu ziehen; eben so um die gehässigen Zwangsmittel der Despotie zu entkräften, als um die Gaben des Boden und der Gewerbthätigkeit in Anspruch zu nehmen; in Erwägung Dieses ist beschlossen und sind alle Bürger gehalten etc.“ –

Die Commission erkannte das Verfahren von Leblanc[WS 1] als das Zweckmäßigste, und in der That ist dasselbe bis heute kaum verbessert worden. Den großen Preis aber, den Napoleon für diese Entdeckung ausgesetzt hatte, erhielt Leblanc nicht; die Bourbonen erkannten bei ihrer Rückkehr die Schuld nicht an, sie ward vergessen und verjährte; statt dessen entstanden allerwärts Sodafabriken nach Leblanc’s Verfahren als Denkmäler seiner uneigennützigen Thätigkeit, und die Nachwelt wird ihn stets als großen Wohlthäter der Menschheit verehren.

Doch kehren wir zurück in unsere Fabrik!

Wir bemerkten bereits, wie aus dem Einsatze des ersten Ofens, bestehend aus Kochsalz und Schwefelsäure, Dämpfe von Salzsäure entwichen. Dieselben finden nun aber nicht so ohne Weiteres einen Ausweg; man zwingt sie vielmehr, eine Reihe mit Wasser gefüllter Gefäße aus Steinzeug zu passiren, wo der größte Theil derselben von diesem Wasser absorbirt wird und dann wenn dasselbe damit gesättigt ist, die rohe Salzsäure darstellt, die im Gewerbewesen so mannigfache Anwendung findet. Dennoch aber ist die Nachfrage selten so groß, um die bei ununterbrochenem Betriebe einer größeren Sodafabrik erzeugte Salzsäure als solche zu verwerthen, und man verwendet daher diesen Ueberschuß zur Darstellung des Chlor- oder Bleichkalkes. Die Salzsäure, eine Verbindung der Elemente Chlor und Wasserstoff, wird zu diesem Zwecke der Einwirkung des Braunsteins ausgesetzt, eines Ueberoxyds des Metalles Mangan, das sich in manchen Gebirgen, wie z. B. im Harz, im Vogelsgebirge in Hessen und an anderen Orten in großer Menge vorfindet. Die hier nun stattfindende Zersetzung ist der Art, daß der Sauerstoff des Braunsteins sich mit dem Wasserstoff der Salzsäure zu Wasser verbindet und das Mangan mit 1/3 des freigewordenen Chlors zu Manganchlorür zusammentritt, während die anderen 2/3 des Chlores frei werden und als Gas entweichen. Man leitet dasselbe nun in große, geschlossene Kammern von 30–40 Fuß Länge, in denen auf Horden trocken gelöschter Kalk in dünnen Schichten ausgebreitet ist, welcher das Chlor begierig aufsaugt und damit den Chlor- oder Bleichkalk darstellt. Dieser Chlorkalk ist das Mittel geworden, durch welches das Bleichen der leinenen und baumwollenen Stoffe in erstaunlich kurzer Zeit ermöglicht wird, ohne dieselben mehr anzugreifen als dies durch die früher allgemeine Rasenbleiche der Fall ist; so bleicht ein einziges Etablissement in der Nähe von Glasgow täglich 1400 Stück Baumwollenzeug Sommer und Winter hindurch.

Mit welcher Zeit- und Kostenersparniß würden unsere Hausfrauen ihrer Wäsche ein blendendes Weiß ertheilen, wollten sie den gleichen Weg einschlagen und der althergebrachten Rasenbleiche entsagen! Sie, meine Damen, wie Ihre Wäsche, könnten nur dabei gewinnen, wobei allerdings zu bemerken ist, daß diese Operation in größeren Etablissements unter Leitung einer kundigen Person geschehen müßte.

Wir kommen nun zu dem letzten Theile unserer Fabrik, zu dem der Scheidewasserbrennerei gewidmeten Räumen. Das Verfahren hierbei ist ein einfaches und leicht verständliches. Wir finden in sogenannten Galeerenöfen eine doppelte Reihe gläserner Retorten, die zur gleichmäßigeren Erhitzung jede in eine mit Sand ausgestreute, gußeiserne Schale (Capelle genannt) eingesetzt sind. In diese Retorten bringt man salpetersaures Natron mit der nöthigen Menge Schwefelsäure, welche Letztere beim Erhitzen die Salpetersäure verdrängt und diese in die gläsernen Vorlagen überdestilliren macht. Die Erfahrung hat hierbei gelehrt, daß diese Zersetzung nur dann vollständig vor sich geht, wenn auf ein Atom Natron zwei Atome Schwefelsäure vorhanden sind, so daß im Rückstande in der Retorte nicht einfach schwefelsaures, sondern doppeltschwefelsaures Natron bleibt, welches Salz leicht in Glaubersalz zu verwandeln und dann bei der Sodafabrikation wieder zu verwenden ist. Die abdestillirte Salpetersäure kommt nun in den Handel, wo man dem wirklichen Gehalt an Säure entsprechend einen Unterschied zwischen einfachem und doppeltem Scheidewasser macht; oder man reinigt sie durch nochmalige Destillation von etwaigen Beimischungen von etwas Schwefel- oder Salzsäure. Es dient die Salpetersäure verschiedenen Gewerbszwecken, wie zur Scheidung des Silbers und Goldes, zum Aetzen der Kupferstiche u. s. w.

Wir sind nun am Ende unserer Wanderung, und indem wir nochmals rückwärts schauen, sagen wir uns, daß diese Werkstätte der Chemie nur ein Bild der allwaltenden Natur ist: hier wie dort Zerstörung zu neuer Wiedergeburt! Nirgends ein Verlust, sondern für jedes Atom eine neue Benutzung.



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Das Schillerfest in Leipzig

am 11. November 1855.

Es war am Abend des gedachten Tages, als ein langer, hagerer Mann, mit einer Physiognomie, die Dannecker’s classischer Schillerbüste bis in’s kleinste Detail abgelauscht schien, durch den Vorhang einer kleinen Bühne hinaus in eine Versammlung sah, die bereits Stunden lang den Augenblick ersehnte, der die „lebenden Bilder“ enthüllen sollte, die den Hauptakt dieses festlichen Abends repräsentirten. Die lange, hagere Erscheinung gehörte einem der Darsteller Schiller’s, und der glänzende Saal, wo eine Zuschauermenge von nahe an vierzehnhundert Köpfen harrte, war der, einer unserer elegantesten Gasthäuser, das Hotel de Pologne.

[682] Unser Pseudo-Schiller war zugleich Leiter und Arrangeur der Tableaux. In dieser Eigenschaft war er sich der Schwierigkeit einer Aufgabe vollkommen bewußt, deren würdige Lösung, wie jede künstlerische Production, die vor die Oeffentlichkeit tritt, so vielen Zu- und Unfällen unterworfen ist. Er hatte zwar seine kleine auserlesene Schaar, die ihm ihre Mitwirkung bei den Bildern zugesagt hatte, auf den Proben tüchtig eingeübt, hatte sich dann jeden Kopf, jedes Costüm so portrait-ähnlich wie möglich hergerichtet, doch waren seine Bilder einfacher, stiller Natur, entsprechend dem Leben des großen Dichters; und er fürchtete nicht ohne Grund, diese Einfachheit könnte von einem Publikum mißverstanden werden, das, wie fast jedes Publikum heutiger Zeit, des Prunkes und äußerlichen Aufwands nur zu sehr bedarf, um sich noch anregen oder fesseln zu lassen. Mit dieser Besorgniß erfüllt, ging er eilig in das Zimmer, wo die mitwirkenden Damen und Herren (sämmtlich dem Privatstande angehörend), schon im Costüm und ihres Auftretens gewärtig, in den verschiedensten Gruppen der Spannung und dem Gefühle eines leisen „Lampenfiebers“ versammelt waren.

„Meine Verehrten,“ sprach er hier mit erhobener und zugleich gepreßter Stimme, „der Augenblick naht, der uns entweder die Sonne von Austerlitz zeigt, oder die gewitterschweren Wolken von Waterloo – hoffen wir Ersteres. Ich sah so eben durch den Vorhang – der Saal ist so furchtbar gedrängt voll, wie ihn die Räume dieses Hotels noch nicht gesehen haben. Bei einer solchen Menschenmenge ist für den Darsteller Alles zu erwarten – ein Mittelding von Erfolg giebt’s da nicht – entweder vollständiger Sieg – oder eine vollständige Niederlage. Lassen Sie sich indessen durch Nichts abhalten und irritiren, was, während Sie auf der Bühne stehen, sich etwa Störendes in dem Zuschauerraume ereignen könnte. Ertönt da oder dort ein Schrei von einem Gepreßten, lassen Sie ihn ruhig schreien, denn helfen können Sie ihm ja doch nicht – fallen Zehn in Ohnmacht, lassen Sie sie fallen – stehen Sie wie Statuen von Erz oder von Marmor, meine Herrschaften, seien Sie der großen Geister, die Sie repräsentiren, eingedenk, die sich durch dergleichen Vorkommnisse gewiß auch nicht so leicht außer Fassung hätten bringen lassen.“

Lebende Bilder des leipziger Schillerfestes.*[1]


So schloß dieser Impresario seine Standrede und musterte noch zu einem letzten Male seine Genossen. Einem Knaben von acht Jahren ordnete er das goldblonde, lange Haar so schlicht, so frei als möglich, und zupfte da und dort an der Hemdkrause. Dies ist das Kind: Schiller, mit dem frommen, sanften Antlitz, der feinen, durchsichtigen Gesichtsfarbe, dem träumerischen Auge. Diesem Kinde entsprechend, sehen wir in der „Mutter Schiller’s“ eine Frau voller Güte und Wohlwollen, voller Religiosität und treuer Liebe. Strengeren Ausdrucks hingegen ist der Kopf des Vaters, der schon als Werbeoffizier, welchen Posten er damals begleitete, nicht mild aussehen kann. Die Biographen beschreiben ihn uns als einen ernsten, kurzangebundenen Mann, der ein blindgehorsamer Diener seiner gestrengen Herren war. Eine hohe Jünglingsgestalt mit einem Ausdrucke im Gesicht, als sähe man den Dichter der „Räuber“ vor sich, ist eben im Gespräch mit der Adoptivtochter des Herzogs von Würtemberg, einem schönen Mädchen mit braunem Auge und leicht brünettem Teint, wozu der Puder so schön kleidet. In stolzer Haltung und mit dem Fächer tändelnd, steht ihr zur Seite Gräfin Franziska von Hohenheim, die Favorite des Herzogs, während dieser, schon im Charakter seiner Rolle, finstern Blicks den jungen Regimentsmedikus Schiller mißt. Ein junger Mensch, in einfach bürgerlicher Tracht, lehnt still für sich an einem Fenster, sein großes, dunkles Auge auf seinen besten Freund gerichtet – es ist dies ein zweiter Blondel, der treue Streicher. Jener imposante Mann dort mit dem Alles gewinnenden Blick, mit einer Stirn, die „Jovis Thron“ zu sein scheint – ist Goethe, zu jener Zeit noch ein Funfziger. Stolz, vornehm und seines Werths nicht minder bewußt, steht neben ihm Herder mit dem Feuerauge und der Adlernase – aber gebückt sitzt dort in seinem Lehnstuhl, das schwarze Sammetkäppchen auf dem Silberhaar, ein Greis voll Menschenliebe und unvergänglichem Humor – es ist Wieland – der herrliche, unvergeßliche Sänger des Oberon. Mitten unter ihnen befindet sich Karl August von Weimar mit dem großen klaren Auge, das ein treuer Spiegel seiner großen Seele – in markiger gedrungener Gestalt. Die beiden Philosophen, Fichte und Reinhold, stehen vereinzelt da; der Eine fest, mit derben Zügen, der Andere mit feinem Wesen und gewinnendem Ausdruck.

Viele unserer Leser werden bereits aus den Zeitungen wissen, daß der geistvolle Künstler Herb. König der Leiter und Arrangeur dieser lebenden Bilder war, die den Glanzpunkt diesjährigen Schillerfestes bildeten. Von ihm rühren auch die beiden Skizzen her, die wir diesem Artikel beigeben.

Mit dem Schlage sieben betrat Dr. Gustav Kühne, der Festredner des Abends, die Rednerbühne, und begann mit der Anzeige der Ernennung neuer Mitglieder. Wie am 9. Mai d. J. König Ludwig, so ward jetzt König Maximilian von Baiern das Diplom

[683]

Schiller’s Apotheose.

überreicht, und zu Ehrenmitglieder ernannt: zwei Uebersetzer Schiller’scher Gedichte, in England Bulwer, in Portugal Herculano (Alessandro Herculano Carvalho); von Männern des Vaterlands: Hammer-Burgstall, Professor W. Wachsmuth, Dr. Ad. Stahr. Der Redner gedachte der dresdener Schillerstiftung und empfahl sie der Schwesterstadt Dresdens. Ob und wie weit die Literatur ihrer großen Ahnen würdig, war dann das Thema, das der Redner unter dem Titel: „Schiller und die Gegenwart,“ behandelte. Er beleuchtete die Kluft zwischen dem Heute des Materialismus und dem Damals, als Schiller’s dichterisches Evangelium vom freien Geist sich ankündete. Er hielt eine Rundschau auf den Feldern der Poesie und der Wissenschaft, beleuchtete den Contrast zwischen dem, was die Schaubühne nach Schiller sein sollte und was sie ist; er warf dann kurze Schlaglichter auf die Lyrik von heute, die, gegen die Schiller’sche gehalten, „reich an Musik,“ aber „arm an Gedankengehalt und Gestaltenkraft“ geworden. Vielleicht sei es aber gar nicht mehr der Vers, sondern die tausendarmige, in alle Schichten der Wirklichkeit dringende Prosa, welche den Kern der Interessen von heute erfasse. Der Redner entwickelt die Nothwendigkeit des Durchbruchs einer realen Poesie; aber er geißelte die bloßen Copisten der Wirklichkeit, warnte vor der „gemeinen Deutlichkeit der Dinge.“ Was die Gemeinheit der Stoffe ästhetisch rechtfertige, sei der Witz, „Schiller,“ sagte er, „war nie witzig;“ seine idealen Gestalten wandelten in ewigem Sonnenglanz, und der Witz beleuchte die Dinge nur auf Momente. Ein Zeitalter, das nur Witz producire, sei für die hohen Aufgaben des Lebens unfähig, wie eine Nation, die keine Tragödien mehr ertrage, auch in ihrem Schooße keine Helden mehr erzeuge. Was der Redner dann über den Stand und Werth der Naturwissenschaften einfließen ließ, war jedenfalls der schwächste Theil seiner Rede, die wir deshalb auch nicht weiter berühren wollen. Daran knüpfte sich schließlich ein Abweis des kürzlich von Weimar [684] aus (siehe Weimar. Sonntagsblatt Nr. 39) erhobenen Vorwurfs, in dem bekannten „Gedenkbuch“ des Schillervereins sei „Mißbrauch“ mit dem Namen des großen Dichters getrieben. Der Redner nannte den Goethe-Kultus als den Kreis, aus welchem dieser Vorwurf hervorgehe, einen Kreis, den die Bildungswelt Deutschlands noch immer dem Volksthum Deutschlands gegenüberstelle. Und doch würden, schloß der Redner, beide Dichter auf demselben Postament in Weimar stehen, zwei brüderliche Apostel, die vereint dem Deutschen das Evangelium der Freiheit und Schönheit verkündeten.

Der Festrede Kühne’s folgten mehrere Gesangstücke und Declamationen, und diesen eine Reihe lebender Bilder aus Schiller’s Leben, wozu E. Büchner die Musik componirt und Theodor Apel ein Gedicht verfaßt hatte, welches von Wenzel, Mitglied des hiesigen Stadttheaters mit erhebendem Ausdruck gesprochen wurde. Sieben Tableaux führten nun, im Verein mit dem Apel’schen Gedicht, das wir, um der tiefempfundenen Begeisterung willen, die es in sich trägt, unsern Lesern nicht vorenthalten können, folgende Momente aus Schiller’s Lebens- und Verklärungsgeschichte vor:

I. Gruppe.
Der achtjährige Schiller erhält von seiner Mutter den ersten Unterricht in der Bibel. Der Vater, damals Werbeoffizier, betrachtet theilnehmend die Gruppe. (Ort: das schwäbische Grenzstädtchen Lorch, Zeit: 1766.)

Er kam zur Welt – gesegnet war der Tag
Und wird gesegnet sein zu allen Zeiten!
So lange noch das Wort der Menschen Schmuck,
Das freie Wort des Mannes Zierde bleibt,
Strahlt sonnenkräftig vor am deutschen Himmel
Des Deutschen Stolz, der Name: Friedrich Schiller!
Wen aber Gott zur großen That erwählt,
Dem weckt er früh den Funken im Gemüth,
Deß Feuerkraft von Jahr zu Jahr sich mehrt,
Daß aus des Jünglings Thun und kräft’gem Handeln
Sich wetterleuchtend schon die Flamme kündet,
Die dann als Feuerstrahl, als Blitz des Himmels,
Wie in des Gottes Hand der Donnerkeil
Des Mannes That hinschleudert in die Welt,
Daß staunenswerth sie allen Zeiten leuchte!
Die Himmelskraft in Schiller’s großer Seele,
Sie leuchtet uns im Strahle seines Wortes:
Im Strahle, der vernichtend niederbrennt,
Was ungediegen nicht des Lebens werth –
Im Strahle, der als Gruß von Gottes Sonne
Befruchtend, segnend neues Leben schafft.
Des Wortes Held muß früh dem Wort sich weihen:
Dem Knaben schon muß sich die Macht erschließen,
Die ihn als Jüngling drängt zur raschen That,
Die er als Mann, als Meister kräftig nutzt –
D’rum Heil dem Dichter, dem in früher Kindheit
Sich Gotteswort in reiner Brust erschließt!
Heil ihm, der mit der Mutterliebe Gruß
Das Buch des Herrn die junge Brust erwärmt,
Der mit des Kindes klarem, treuen Auge
Der Mutter Bild untrennbar sieht verwebt,
In erster Ahnung unsers Weltenschöpfers,
Den betend sich die Millionen neigen!
Des Vaters Ernst, der Mutter milder Blick
Schau’n segnend, wie des Kindes helles Auge
Vertrauensvoll nach oben auf sich hebt,
Den Gott zu schauen, den die Mutter ihm
Im Evangelium lesend ahnen läßt!
Den guten Vater über’m Sternenzelt,
Der dort vom Himmel seine Menschen segnet!

II. Gruppe.
Der Regimentsmedicus Schiller erhält vom Herzog Karl von Würtemberg nach dem Erscheinen der „Räuber“ den strengsten Verweis und den Befehl, bei Strafe der Festung allen weitern Druck seiner Schriften, wenn sie nicht medicinische sind, zu unterlassen. Zunächst dem Herzog: Gräfin von Hohenheim und deren Adoptivtochter. (Ort: Stuttgart, Zeit: 1782.)


Wem Gottes Wort des Lichtes Segen gab,
Des klares Auge spät der Wahrheit nach!
Wo er die Himmlische nur ahnet, strebt
Sein Feuergeist sie stark sich zu erobern,
Der Menschheit sie zu ihrem Heil zu schenken.
Wohl irrt sein Blick, denn irren muß der Mensch
Erlernen, der sich schweren Pfad erwählt;
Wer nie vom falschen Weg sich frei gekämpft,
Um mühevoll den rechten zu erringen,
Geht selten zweifelsfrei den rechten Weg.
Ist dann die Wahrheit nur des Strebens Ziel,
Ist echt das Streben, frei von eitlem Stolz:
Dann hilft ein Gott, und führt den muth’gen Kämpfer
Früh oder spät doch endlich an das Ziel.
Ein herbes Loos fiel unserm Dichter zu:
Das Wort des Herrn ließ ihn sein Ziel erkennen,
Sein ganzes Herz gehörte diesem Ziel –
Doch andrer Pfad ward ihm von mächt’ger Hand,
Und andres Ziel nach Vorschrift angewiesen.
Es scherzt so leicht sich mit Bequemlichkeit
Vom sichern Standpunkt angeerbter Größe,
Und sieht sich gut dem wirren Treiben zu,
Wie seltsam oft auf ganz verkehrtem Weg
Die Wand’rer unten nach der Höhe streben.
Der Eichbaum duldet gern, daß sich die Rebe
Gefügig leicht an ihn zur Höhe schmiegt;
Drum fügt Euch nur, und aufwärts sollt Ihr klimmen!
Doch dieses Klettern an dem andern Stamm
Vermag die Rebe, nicht der Lorbeerbaum –
Er trägt sein eignes Haupt; eh’ er sich beugt
Wird er zersplitternd, todt zu Boden fallen.
Und unser Dichter steht vor seinem Herrn,
Er hört die Worte, die der Mächt’ge spricht,
Um freundlich ernst ihm seine Bahn zu zeigen –
Es ist die Bahn nicht, die sein Gott ihm zeigte;
Doch mächtig sind die Banden dieser Welt,
Unlösbar oft, sind sie der Heimath Bande.
So schaut der Adler, dessen Fuß gefesselt,
Der Sonne nach, die ihn zum Fluge lockt –
Stark sind die Schwingen und er regt sie frei,
Doch zieht die Fessel ihn zum Boden nieder!
Er fühlt die Kraft zum Flug und sieht sein Ziel
Ihm unerreichbar weiter sich entfernen!

III. Gruppe.
Schiller nimmt vor seiner Flucht von Stuttgart nach Mannheim von seiner Mutter Abschied. Sein treuer Freund und Reisegefährte, Musiker Streicher, mahnt zur Eile. (Ort: Solitude bei Stuttgart, Zeit: 16. Sept. 1782.)

Frei oder Tod – der Würfel ist gefallen,
Die Fessel hält nicht länger mich zurück!
Ich sprenge sie, und wär’ sie mir zu stark,
Mag sie mich tödtend, mir die Freiheit geben!
Der Mensch ist frei, geboren selbst in Ketten
Ist frei der Geist; wohlan, ich wag’ es drauf,
Sei’s in Gefahr, das Letzte zu verlieren!
Der Aeltern Haus, der Heimath theuren Boden,
Ich fliehe sie, mir neue Heimath suchend.
Denn Heimath ist allein auf dieser Erde,
Wo frei der Geist die eigne Bahn verfolgt,
Wo fremdem Zwange nicht die Kraft erliegt.
Ein Lebewohl, gedacht nur, nicht gesprochen,
Mit ernstem Blick dem Vater zugebracht,
Der sonder Ahnung, daß der Sohn entflieht,
Von Lustbarkeiten sorglos ihm erzählt,
Die höchsten Orts das Fest verschönern sollen –
Und dann sich arglos an’s Geschäft begiebt.
Ein Lebewohl, der Mutter heiß gesagt,
Die Mutter konnt’ er schweigend nicht verlassen –
Ihr mußt’ er sagen von der schnellen Flucht;
Denn Muttersegen stärkt das Herz, den Geist,
Und hält uns aufrecht auch im schwersten Leiden.
Zeit wird’s zu gehen, zur Eile drängt der Freund,
Der willig Glück und Unglück mit ihm theilt.
O Mutter, Lebewohl! Und durch die Nacht
Rollt mit den Freunden rasch der kleine Wagen;
Nach Manheim führt die Bahn – o Manheim! Manheim!
Mögst freundlich du dem Manne Heimath werden!

IV. Gruppe.
Der Professor der Geschichte Schiller im Gespräch mit den beiden Philosophen Fichte und Reinhold. (Ort: Jena, Zeit: 1796)

Und Er entrann der Heimath schweren Banden –
Und athmete der Freiheit Himmelsluft!
Doch weigert nur zu oft des Glückes Göttin
Dem ihre Gaben, der die Freiheit liebt!
Von Schritt zu Schritt lockt sie den Schwärmer weiter,
Zeigt ihm so nah ihr reizend Angesicht,
Und greift er zu, dann flieht sie lächelnd fort,
Und er umarmt statt Glück nur leere Hoffnung!
So unser Dichter; sorgenschwer durchirrt
Sein Fuß die Gauen deutschen Vaterlands.
Wohl zeigt sich Ihm zu kurzer Rast ein Ort,
Der Zeit Ihm bietet, daß sein Schöpferdrang,
Im glüh’nden Lied der Menschen Herz erobere;
Doch nirgends winkt der Heimath Friedensheerd,
Der Ihm des Hauses dauernd Glück verkündet. –
Da endlich dringt der Zauber seiner Dichtung
In Weimars Musentempel ein, und bald
Winkt Ihm der Fürst mit seinen Meistersängern.
In Jena, von der Saale Fluth umrauscht,
Ward unserm Dichter ein Asyl geboten.
Hier soll Er wirken, soll dem Hörerkreis
Lerngier’ger Jugend durch des Wortes Macht
Aufrollen das Gebild der Weltgeschichte,
Und hier gelang es Ihm durch eigne Kraft
Des langersehnten Hauses Grund zu legen.
Im stillen Garten sehn wir Ihn erfreut

[685]

Mit geistig Nahverwandten Worte tauschen,
Bei heiterm Streit, in Wissenschaft und Kunst,
Und lesen jetzt der neusten Dichtung Werke. –
Da war bei Ihm das Glück auch heimgekehrt,
Da hielt die Freude, die sein Lied besang,
Mit ihren Götterarmen Ihn umschlungen,
Das Pfeifchen dampft, kein Zwang bedroht Ihn hier,
Und fröhlich bläst Er Wolken in die Luft,
Kaum ahnend: daß der blauen Wolken Dünste
Als Weihrauchwolken einst zurückekehren,
Die segnend Ihm im Herzen hoch begeistert
Die späten Enkel voller Jubel weih’n,
Den deutschen Dichter hoch in Ihm verehrend.


V. Gruppe.
Herzog Karl August im Gespräch mit Goethe, Herder, Wieland und Schiller.
(Ort: Weimar, Zeit: 1799.)


Die Zeit war groß! Gesegnet strahlt der Name
Karl August in den Büchern der Geschichte.
Von Frankreich drangen, Schrecken rings verbreitend,
Die Kunden her, vom wild empörten Volk!
Krieg, Mord und Tod! die Marseillaise raste
Bluttriefend durch die schreckensstarren Länder;
Schon hob der Corse stolz sein Haupt empor
Mit Heeresmacht und der Kanonen Donner
In feste Bande neu das Volk zu schmieden.
Nach Frankreich schauen Deutschlands Völkerstämme
Entsetzt und bang in Ahnung schwerer Zeiten.
Da blühte friedlich um Karl August’s Thron
Die Kunst, die Wissenschaft, da klang das Lied
Der deutschen Dichter tröstend an das Ohr
Der vor Entsetzen bangbewegten Bürger.
Das waren Lieder, guter, kräft’ger Art;
Das waren Werke, deren Ruhm nicht schwindet!
Verklungen ist die Zeit, die sie gebar;
Der Kaiser Frankreichs führte seine Schaaren
Verheerend durch das weite deutsche Land.
Der Zaar von Rußland führte seine Völker,
Die Franken jagend durch Germaniens Au’n –
Das alte deutsche Reich, es brach zusammen,
Die neuen Reiche zitterten im Kampf
Der neuen Satzung mit ererbtem Recht.
Doch ewig jung das Herz, den Geist belebend,
Ertönten uns’rer deutschen Dichter Worte!
Und Friedrich Schiller’s Lied ward zum Panier
Der deutschen Jugend und der deutschen Männer,
Und Frau’n und Jungfrau’n lieben ihn als Freund.
Die Züge Schiller’s, Goethe’s hohes Bild
Sie sind in jedes Deutschen Herz gegraben,
Wie eines Freundes, eines Vaters Antlitz!
Heil Dir, Karl August, der mit Fürstenmacht
Der deutschen Dichter Sternenbild berufen,
Im ew’gen Glanz strahlt Deines Thrones Macht!
Des Sieges Lorbeer schmückte Vieler Haupt,
Der große Kaiser und sein Heldenkreis
Und seiner Sieger weit berühmte Namen
Nennt unvergeßlich laut die Weltgeschichte –
Doch segnend weilt der späten Enkel Blick
Auf Weimars Thron, auf den geliebten Sängern,
Und jubelnd grüßen wir das Bild der Männer,
Die uns der deutschen Dichtung Reich erschlossen.

     (Das Bild entschleiert sich, der Redner spricht fort.)

Schaut hin: Karl August in der Freunde Kreis
Zu Goethe, dem Vertrauten hingeneigt,
Indeß der Sänger Oberons beredt
Des Schönen Reiz erhebt. Der ernste Herder
Lauscht Wieland’s Wort, doch Schiller’s Dichtergeist
Strebt nach Gestaltung Albrecht Wallenstein’s,
Wenn nicht prophetisch schon sein Schöpferauge
Der Jungfrau angehört, die Frankreich rettet –
In Ahnung, daß gar bald sein Vaterland
Der Heldenjungfrau Ruf bedürfen wird,
Um Frankreichs Ketten siegend zu zerbrechen!


Ⅵ. Gruppe.


Die letzten Tage Schiller’s. (Ort: das Schillerzimmer in Weimar, Zeit: 1804.)


Wo allzu stark der Geist die Schwinge regt,
Bricht nur zu oft des Körpers Kraft zusammen!
Zum Schaffen drängt der übermächt’ge Trieb;
Und der Gedanke, der im Busen keimt
Verlangt gebieterisch die eigne Form,
Um festgestaltet durch die Welt zu fliegen.
Und ist erwacht nur des Gedankens Keim,
Und steht gestaltet vor des Dichters Geist
Das hohe Werk, dem seine Seele glüht,
Dann zwingt zur That die Schöpfung ihren Schöpfer;
Sie muß entstehen, er muß das Werk gestalten,
Gleichviel ob seine Kraft dem Werk entspricht,
Ob die Geburt er mit dem Leben zahlt.
Wohl krönt den Dichter seines Volkes Dank,
Sein Name prangt gepriesen von der Welt
Und seinem Liede lauscht der Hörer Kreis –
Doch hat sein Mund viel Herrliches verkündet;
Noch Größ’res schlummert in der Dichterbrust
Und mehr zu schaffen, immer Mehr zu geben,
Spornt ihn der Beifall, spornt die inn’re Gluth,
Die Liebe seines Volkes zu verdienen.
Sein trübes Auge mahnt zum Schlummer ihn,
Umsonst, der Schöpferdrang kennt keinen Schlaf,
Und Er, der für der Wachen Freude sorgt
Muß selbst die Stärkung süßen Schlafs entbehren!
Der Lorbeer ziert den Sänger wie den Helden!
Und wie Achill durch frühen Heldentod
Unsterblichkeit errang im Lied Homer’s;
So naht der Todesengel Friedrich Schiller,
Unsterblichkeit im frühen Grab zu bieten!


Ⅶ. Gruppe.
Schiller’s Apotheose. Der Genius der Unsterblichkeit entführt den Verklärten der Erde.

Gabst den Leib der Erde wieder,
     Gingest ein zur ew’gen Ruh’,
Doch der Zauber Deiner Lieder
     Ruft Dir heut’ noch Grüße zu!
Und das Mädchen und der Knabe,
     Frau und Mann und schwacher Greis,
Rufen wach Dich aus dem Grabe,
     Singen Deiner Werke Preis!

Ja, Dein Werk, Dir soll es lohnen!
     Schiller, wo Dein Lied erklingt,
Hallen Grüße lustbeschwingt
     Himmelan von Millionen!

Freude sangst Du feuertrunken,
     Freude singt im vollen Chor!
Steig’ als schöner Götterfunken
     Uns zur Freude selbst empor!
Auf des Glaubens Sonnenberge
     Seh’n wir Freudenfahnen weh’n,
Durch den Riß gesprengter Särge
     Dich im Chor der Engel steh’n!

Sei gegrüßt von Millionen,
     Du, den unsre Liebe preist!
Ja, Du mußt beim guten Geist,
     Dort beim lieben Vater wohnen!

Mit dem letzten Niederrauschen des Vorhangs floß manche Thräne ungeheuchelter Empfindung, mancher Seufzer entschlüpfte dem gepreßten Herzen. – Es sind dies wohl die schönsten Beifallszeichen gewesen für eine Vorstellung, welche mit Ehrfurcht für den erhabenen Gegenstand erfunden und in gleichem Sinne ausgeführt wurde.

Zur Festtafel blieben gegen 500 Personen, unter denen manche eigens zu diesem Feste hierher gekommene bemerkt wurden, wie Justizrath Eberwein aus Rudolstadt, Assessor Schulze von Delitzsch und Andere. Unter dreizehn Trinksprüchen wurden auch drei humoristische ausgebracht, welchen die ernsten folgten. Professor Wuttke begann den seinen mit dem Hinweis darauf, daß lebenswarme Bilder einer erhebenden Vergangenheit, in der die Kraft des Geistes geleuchtet hat, uns rascher der gedrückten Stimmung des Augenblicks entreißen, und führte dann aus, wie die Natur in ewigem Einerlei kreist, im unwandelbaren Gesetz, während der strebende Menschengeist Neues schafft, den todten Stoff prägt, bis er seine Spur und Bewegung kündet und aus sich ein ein Reich baut, in dem er sich höher und höher emporhebt im endlosen Fortschritt. Dies wendete der Redner zum Preise Schiller’s an. Es folgte die „Erinnerung an das Vaterland“ durch Dr. Heyner und das „Lob der Frauen,“ durch Theodor Apel.

Gegen Morgen entfernten sich die letzten Gäste dieses Festes, und wir sprechen nur noch den aufrichtigen Wunsch aus, daß die Begeisterung, die Aller Herzen für den unsterblichen Dichter der Deutschen an diesem Abende erfüllte, eine nachhaltige, eine dauernde sein möge!

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Blätter und Blüthen.

Die Rache eines Indianers. In einem der letzten Kriege, welche England in seinen nordamerikanischen Besitzungen führte, wurde eine kleine Abtheilung englischer Soldaten von den Indianern überfallen und mit unerhörter Grausamkeit hingemordet. Unter den Ueberfallenen befand sich auch ein ganz junger Offizier, der mit einer außerordentlichen Bravour kämpfte, um wenigstens sein Leben so theuer als möglich zu verkaufen, es war indessen unmöglich, den zu ungleichen Kampf noch lange zu bestehen, denn sein Blut strömte schon aus mehreren tiefen Wunden. Da erschien plötzlich ein alter Indianer, bewaffnet mit einem Bogen; er legt den vergifteten, tödtlichen Pfeil auf – legt an – und die Entfernung ist so gering, daß er sein Ziel unmöglich verfehlen kann. Doch in dem entscheidenden Augenblicke setzt er wieder ab, stellt sich in die Mitte zwischen dem Engländer und seinen Gegnern, welche sich sofort ehrfurchtsvoll zurückziehen. Der Greis nimmt den jungen Offizier bei der Hand, ermuthigt ihn durch allerlei Freundschaftsbezeugungen und führt ihn in seine Hütte, wo er seine Wunden verband und ihn stets mit der größten Zärtlichkeit pflegte. Sobald er genesen war, lehrte der Indianer ihn auch seine Sprache und die verschiedenen rohen Künste und Gewerbe, welche bei diesem Stamme gebräuchlich waren. Kurz, er wurde mehr als ein Sohn oder ein jüngerer Freund und nicht als Kriegsgefangener oder Sklave behandelt. Sie lebten recht zufrieden beisammen, nur ein einziger Umstand gab dem jungen Manne zuweilen Besorgniß. Der Indianer pflegte ihn nämlich zuweilen mit besonderem lebhaften Interesse zu betrachten und darauf stets zu weinen, als ob er in seiner Brust einen äußerst wunden Fleck habe. Sobald der Frühling die Bäume des Urwaldes wieder belaubt hatte, brachen die Indianer ihre Hütten ab, um den ungleichen Kampf gegen die Engländer auf’s Neue zu beginnen. Der Greis war einer der Anführer, und nahm seinen Gefangenen mit sich. Sie hatten bereits einen Marsch von mehr als hundert Meilen durch die pfadlosen, fast undurchdringlichen Wälder zurückgelegt, als man in einem Thale das englische Lager entdeckte. Der alte Indianer zeigte es seinem Gefangen und setzte hinzu:

„Sieh’, dort sind Deine Brüder, welche uns erwarten, um uns womöglich zu vernichten. Ich habe Dir das Leben gerettet, habe Dich ein Boot, einen Bogen und Pfeile zu machen gelehrt. Du hast auch von mir gelernt, den Elk in den Wäldern zu fangen, die Streitaxt zu führen und dem Feinde den Scalp zu nehmen. Was warst Du, als ich Dich in meine Hütte führte? Du hattest Hände wie ein Kind, sie konnten Dich weder ernähren noch vertheidigen, Deine Seele lag in Finsterniß, Du verstandest ganz und gar nichts, Alles, was Du jetzt hast und bist, verdankst Du mir. Würdest Du jetzt undankbar genug sein, Dich mit Deinen Brüdern zu vereinigen und die Streitaxt gegen uns zu erheben?“

Der Engländer betheuerte auf das Allerheiligste, daß er lieber tausendmal sterben würde, als das Blut eines einzigen Indianers vergießen. Der Wilde ließ den Kopf eine Zeit lang hängen und bedeckte sein Gesicht mit seinen Händen, betrachtete dann wieder seinen Gefangenen und sagte darauf in einem Tone, in dem sich Zärtlichkeit und Schmerz deutlich hörbar machten:

„Hast Du noch einen Vater?“

„Ja, er lebte wenigstens noch,“ sagte der junge Mann, „als ich mein Vaterland verlassen habe.“

„Wie heißt er, und hat er hier je commandirt?“

„Preston ist unser Familienname und mein Vater hat während vierzehn Jahren in dieser Kolonie ein Regiment befehligt.“

„O, der Unglückliche!“ rief der Wilde aus und nach einem kurzen Stillschweigen setzte er hinzu: „Weißt Du, daß ich auch einst Vater gewesen bin? – Ich bin es nicht mehr. Ich habe meinen Sohn im Kampfe fallen sehen, er hat wacker gestritten und ist als Mann an meiner Seite gefallen; er war mit unzähligen Wunden bedeckt, als er gefallen ist, getödtet von einem – – Doch genug hiervon, ich habe ihn gerächt. Ja, ich habe ihn vollständig gerächt!“

Er legte auf diese letzten Worte ein ungeheures Gewicht und zitterte am ganzen Körper, als er sie hervorbrachte. Seine Augen waren ganz verwirrt und thränenlos; einige mit Gewalt unterdrückte Seufzer verriethen jedoch den gewaltigen Kampf des Innern. Er beruhigte sich nach und nach, und sich gegen Osten wendend, wo sich gerade die Sonne erhob und den neuen Tag ankündigte, sagte er:

„Siehst Du jenen prachtvollen Himmel mit seinem strahlenden Glanze und freust Du Dich, ihn zu betrachten?“

„Ja, ich freue mich, jenen schönen Himmel zu betrachten,“ war die Antwort.

„Ich freue mich nicht mehr!“ sagte der Wilde heftig weinend. Darauf zeigte er auf einen Baum, der mit den schönsten Blüthen prangte und sagte: „Siehst Du diesen schönen Baum und freust Du Dich, ihn zu betrachten?“

„Ja, ich freue mich, ihn zu betrachten.“

„Ich nicht mehr,“ fuhr der Indianer eiligst fort, und er setzte dann sofort hinzu: „Geh! Kehre zurück in Dein Vaterland, damit Dein Vater sich noch erfreue die Sonne zu betrachten, welche sich am Himmel erhebt, und noch fortfahre, die Blumen des Frühlings zu bewundern. Und erzähle ihm, daß ich Dich sende – der alte Anführer der Abenakis, dessen Sohn – – Doch, leb’ wohl!“

Wir haben wohl kaum hinzuzusetzen, daß der Oberst Preston, der Vater unsers jungen Helden, vor mehreren Jahren in einem Kampfe den tiefbetrauerten Sohn des Indianerhäuptlings erschlagen hatte.




Von Roßmäßler’s Geschichte der Erde, ein Werk, welches wir in einer der nächsten Nummern ausführlich besprechen werden, ist die zweite Hälfte erschienen und somit das Werk vollständig.




Amerikanische Liebesgeschichte. Ein junger Amerikaner in dem Kreise Lawrence, ein großer Liebhaber spirituöser Getränke und einer zarten Landsmännin, bekam in einer seiner spiritualistischen Launen eines Abends noch sehr spät den Einfall, seiner Angebeteten einen Besuch abzustatten. Die junge Dame war mit einer Freundin allein und zeigte keine Lust, einem ungestüm anklopfenden Gaste Zutritt zu gestatten. Der Spiritus hatte ohnehin die Stimme des Anbeters so verstellt und unzart gemacht, daß sie nicht wieder zu erkennen war. Das zunehmende Umgestüm seines Klopfens und Lärmens brachte die beiden geängsteten Damen auf den Verdacht, Räuber versuchten einzubrechen. Sie verriegelten die Thür um so fester, je feuriger der Liebhaber um Einlaß brüllte und polterte. Er fing an gegen die Thür zu schlagen und zwar mit einem Fuße, der wie ein Mauerbrecher ohne Empfindung schien. Wiederholte Attaken mit diesem Sturmbock von Fuße schlugen ein ganzes Bret aus der Thür, so daß der feurige Liebhaber mit dem martialischen Fuße durchfuhr. Eine Dame faßte den Fuß geschwind und hielt ihn mit heroischer Kraft, gegen das noch feste, rissige Bret der Thür gedrückt fest, während die andere Dame, die Angebetete, den Vogel an den Federn, d. h. an dem martialischen Fuße erkennend, rasch eine Säge herbeiholte und den Fuß – absägte. Mit der größten Geschicklichkeit und Sicherheit führte sie die Operation der Amputation durch, so daß der Fuß des Anbeters innerhalb der Thür, der übrige Theil desselben aber vor derselben hinfiel. Der betrunkene, amputirte Liebhaber lag stöhnend auf dem Rücken und blieb so während der Nacht liegen. Am folgenden Morgen fanden ihn Leute und zwar noch am Leben und ganz nüchtern. Auf die Beine konnten sie ihn nicht bringen, denn er hatte bloß noch eins, auf welchem Niemand gehen kann. So brachten sie ihn in einem Wagen nach Hause, wo er sich bald wieder erholte und frisch und gesund seiner Geliebten schrieb, daß er sich anderweitig nach einer Lebensgefährtin umsehen wolle, womit die Dame in höflicher Antwort sich freudig übereinstimmend erklärte und Glück wünschte.

Wir würden kaum dieser Liebesgeschichte von der Amputation an bis hierher Glauben schenken, wenn sie schon zu Ende wäre. Man fragt billig: Wie kam es, daß sich der amputirte Herzensstürmer und Einbrecher nicht während der Nacht verblutete? Wenn wir fürchten und es für eine ausgemachte Sache annehmen, daß er sich hätte verbluten müssen, wäre doch erst zu fragen, ob er überhaupt nur blutete? Nein, weder im Herzen, noch am Beine, denn letzteres war von Holz.




An unsere Leser.


Mit Nr. 1: „Aus der Fremde“

Bei der Masse von Stoff, der uns von allen Seiten her zuströmt, von Woche zu Woche in überwältigenderer Weise, ist es uns bisher, selbst bei dem besten Willen, nicht möglich gewesen, in der „Gartenlaube“ Alles und namentlich die Verhältnisse, Zustände und Interessen der außereuropäischen Welt so weit zu berücksichtigen, als es nöthig gewesen wäre, in unserer Zeitschrift, ihrem Plan gemäß, ein Spiegelbild der Welt unserer Tage zu geben und die Leser fortwährend und schnell mit Allem bekannt zu machen, was Merkwürdiges oder sonst Wissenswerthes zu Tage tritt.

Wir glauben deshalb einem großen Theile unserer Abonnenten einen Dienst zu erzeigen, wenn wir sie auf die neue Zeitschrift:

„Aus der Fremde“

aufmerksam machen (deren erste Nummer unserer heutigen Gartenlaube beiliegt) die sich ausschließlich mit der außereuropäischen Welt beschäftigt und in ansprechender Form Alles „aus der Fremde“ mittheilt, was für deutsche Leser von Interesse sein kann.

Beide Zeitschriften umschließen die ganze Welt, und die Blätter „aus der Fremde“ ergänzen wesentlich die Gartenlaube. Indeß bestehen beide Organe selbstständig nebeneinander und es steht den Abnehmern der Gartenlaube vollkommen frei, auf die „Fremde“ zu abonniren oder nicht. Wir bemerken schließlich nur noch, daß die Gartenlaube, obwohl sie deutsche Wissenschaft und deutsche Interessen vorzugsweise vertritt, doch niemals aufhören wird, fremde Länder und Interessen in Betrachtung zu ziehen, allerdings nicht in der Ausdehnung, wie die „Fremde,“ die sich eben nur mit außereuropäischen Zuständen befaßt. Die Redakt. 


  1. * Von den sieben Gruppen, die im Gedicht näher bezeichnet sind, finden wir in obigem Bilde nur 1 bis 5 und 7. Schiller’s Zimmer dürfte schon bekannt sein.     D. Redakt.

Anmerkungen (Wikisource)