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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1855
Erscheinungsdatum: 1855
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 28. 1855.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle. Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.


Elsje.
Eine niederländische Geschichte von W. O. v. Horn.
(Fortsetzung.)


Im Hause van Houwening’s war’s düsterer und stiller. Der Vater sah die Lücken in den Arbeitskräften und strengte sich wacker an und die Mutter half; aber manche stille Thräne rann in den trockenen Sandboden, der nach Regen lechzte und es kam doch keiner; die Kinder mußten nun, soweit sie es konnten, tüchtig mit angreifen, und sahen ihre Spielstunden verkürzt, und der muntere Claas fehlte, der ihnen so oft zu heiterem Spiele den rechten Ton und Weg angegeben; der sinnige Jan war nicht mehr da, der ihnen Mährlein und Geschichten erzählte, aber tiefer noch beklagten sie ihrer lieben Elsje’s Verlust, denn die hatte Frieden gestiftet, wenn sie haderten, ihre Wünsche bei Vater und Mutter vermittelt und manchmal von dem Obste mehr gegeben, als geschehen sollte, weil es ja zu Markte gebracht werden mußte. Elsje hatte selbst ihren Antheil dann unter sie vertheilt, und es war ganz seltsam, wenn sie es zu Markte brachte, hatte sie stets mehr gelöst, als alle Anderen, die etwa einmal verkauften. Das begriffen freilich die Kinder nicht, daß die Leute alle bei dem scheuen, reinlichen, sittigen Mädchen lieber kauften, die es zudem auch noch verstand, Früchte und Blumensträußer viel lockender, geschmackvoller und schöner zu ordnen, als irgend Jemand in der Familie. Selbst Jan brachte es nicht so fertig. Allmälig gewöhnte man sich an das stillere Leben. Alles ordnete sich unter des Vaters Leitung, und es ging ziemlich, zumal wenn in dringender Arbeit Piet’s geschickte und starke Arme von sechs bis zehn Uhr abends halfen. Da wurde ein Stück weggearbeitet, daß man’s gar nicht begreifen konnte, denn die Arbeit förderte ihm verwunderlich, und doch that er sie so gut, daß der alte van Houwening sagte: „Es ist Jammer und Schade,. daß Du nicht die Gärtnerei allein treibst, Piet, mein Neef – oder – was noch immer häufiger vorkam – mein Sohn!“

Dann lächelte Piet und sagte: „Kommt Zeit, kommt Rath. Ich denke, es soll noch werden, ehe ich vergraue oder vor Alter sterbe, und Elsje versteht sich ja auch drauf!“

Dann nickte der Gärtner und sagte' „Gott walt’s! – Es ist das schönste Geschäft auf Gottes Erdboden.“

Die Stimmung wurde indessen immer heiterer, denn es liefen die besten Nachrichten ein.

Het Lammetje legte bald wieder im Hafen von Gorkum an, und Claas kam fröhlich in’s Vaterhaus gelaufen. Er sah aus, wie das frische Leben, hatte Backen wie ein Trompeter, und die Sonne hatte das Ihrige an seiner Gesichtsfarbe gethan, denn wenn er den Südwester ablegte, so war der Theil der Stirne, den er bedeckte, hellweiß und in schnurgerader Linie darunter sah’s braun aus, aber frisch, und die Augen leuchteten wie Fackeln. Fragte ihn der Vater, ob er schon vertraute Bekanntschaft mit dem „Tauende“ oder der „neunschwänzigen Katze“ gemacht, so lachte er hell auf und rief: „Daß ich ein Narr wäre! Wenn ein Schiffsjunge flink, gefällig und dienstfertig ist, dabei einen Witz oder eine Schnake in Bereitschaft für die Matrosen und stillen Gehorsam für den Patron hat, so sind die beiden Dinger seinem Rücken und Rippen fremd! Sie haben mir noch nicht einmal ihre blaue Schrift auf den Rücken geschrieben.“

Fragte er den Patron, ob damit der Knabe nicht geflunkert, so lachte der und sagte: „Nein, Baas van Houwening, gelogen hat er nicht. Er ist der beste Schiffsjunge, der jemals an Bord von het Lammetje gewesen ist. Er hat sich auch so gestreckt und seine Kräfte so gestärkt, daß er bald Matrose wird, was die Matrosen und ich darum nur ungerne sehen, weil der „Blexemskeerl“ kocht, wie eine Hausfrau!“

Claas war auch einmal bei Jan in Haarlem gewesen und brachte einen Gruß und einen Brief. Darin stand zu lesen, wie Baas Daatselaar in Haarlem so gut gegen ihn sei, und wie er in der Zwiebelzucht bald erster Gehülfe werden würde und ein unbeschnittener Dukaten für die Mutter lag dabei.

Claas wußte gar nicht fertig zu werden, wenn er auf die Beschreibung des Gartens von Baas Daatselaar kam; denn solchen Garten hatte er noch gar nicht gesehen.

„Da sind Stücke mit Tulpenzwiebeln, Hyazinthen und Gott weiß, wie das Geknolle all’ heißt,“ sagte er, „deren jedes dreimal so groß ist, als unser ganzer Garten! Und Jan hantiert mit Spaten und Kanne drin herum, daß es ein Plaisir ist.“

In Rotterdam war er nicht gewesen, seit Elsje bei van Groot’s in Diensten war. Kam er aber auf die Städte zu reden, die er gesehen, so verschwand sein liebes Gorkum, das er bisher als den Mittelpunkt der Erde angesehen, völlig aus dem Gesichtskreise.

Alle hörten ihm gerne zu und die kleineren Jungen hingen mit voller Seele an seinem Munde und spannten, um ja kein Sylbe des weitgereisten Bruders zu verlieren, vor dessen bedeutender Person sie einen gewaltigen Respekt gewannen.

Die Aeltern dankten dem Herrn für solches Glück und der Gärtner sagte zu seiner Frau: „Kaatje, da siehst Du, wie unsre Gebete nicht leer zu uns zurückkehren! Du siehst, wie gut es war, daß ich meinen Plan ausführte. Den Kindern geht’s gut, Gott sei gelobt, und uns geht’s besser!“ –

[366] Von Elsje kamen ebenso erfreuliche Botschaften. Sie war von Cornelis van Breigem selbst zu Mevrouw van Groote geführt worden. „Die edle Frau – und wie ist sie schön und stattlich,“ schrieb Elsje, „hatte sie mit herzgewinnender Güte und Freundlichkeit aufgenommen und bisher in stets wachsendem Maße behandelt. Das Wort, sie zu halten, wie ihr eigen Kind, hatte sie getreulich bethätigt. Elsje gewann sich bald ihre volle Liebe, ihr unbedingtes Zutrauen. Alle Schränke und Truhen standen ihr offen, und als ihre alte Amme, die Leibdienerin bei ihr war, starb, rückte Elsje in diese ungemein bevorzugte Stelle ein. Sonst pflegt das den Neid der Mitdiener in hohem Grade zu erregen; aber Elsje’s liebes, treues und freundliches Wesen ließ so etwas nicht einmal keimen, geschweige aufgehen und arge Frucht tragen. Sie war Allen gefällig, rieth, half, diente Allen, und gewann sich so ihre vollkommenste Liebe. Dabei stand sie bei Allen in hoher Achtung, durch ihren sittlichen Ernst und ihre Strenge in der Zucht und Ordnung, also, daß sie die von Allen hochgeschätzteste Schiedsrichterin in allen Zwisten war.

Solche Nachrichten dienten dazu, die Familie van Houwening glücklich zu machen, selbst unter dem schweren Drucke der Zeit, und Piet hörte die Kunde von Elsje allemal am Abend, wenn er kam. Dies war jedoch nicht regelmäßig der Fall, denn er war der beliebteste Schiffer der Offiziere von Löwenstein geworden, die sich von keinem Andern heimfahren ließen. Die Soldaten der Besatzung des Schlosses kannten ihn als den Liebling ihrer Befehlshaber, und erwiesen sich freundlich gegen ihn. Sein Verdienst wuchs und mit ihm seine Heiterkeit und sein Eifer. Er konnte wieder einen Sparpfennig zurücklegen und sah sich in der Weise dem Ziele seiner Wünsche näher rücken, das machte ihn fröhlich und die Grüße Elsje’s unendlich glücklich.



IV.

Vielleicht selten mag es geschehen sein, daß zwei Menschen, der Eine in ein dienendes, der Andere in ein befehlendes Verhältniß kamen, die in allen Punkten so sich ähnlich waren, wie Elsje van Houwening und Mevrouw Maria de Groot. Freilich ist da nur von dem inwendigen Menschen die Rede, denn das Alter hätte eben sonst allein schon einen Unterschied begründet, welcher ausreichend gewesen, sie als sehr verschieden zu bezeichnen. Diese innere Verwandtschaft, diese Gleichheit der Seele, möchte man sagen, fühlt sich schnell heraus. Es ist, als ob von dem Menschen ein geistiger Hauch ausgehe, der anziehe oder abstoße, der Verwandtes berühre und sich daher als solches zu verstehen gebe oder das Gegentheil wirke. So war es bei Elsje und ihrer Mevrouw. Beide erkannten sich schnell als verwandte Naturen, denn es war ja in ihnen, wie bei zwei gleichgestimmten Saiteninstrumenten, der Ton des Einen weckt die gleichen Saitenschwingungen des Andern, und es fehlte in jenen Tag an Ereignissen nicht, welche die wechselnden Stimmungen hervorriefen, bald so, bald so, bald froh, bald traurig. Allmälig aber kam es, daß die letzteren die Ueberhand bekamen, namentlich in dem Leben des Rathspensionärs Hugo de Groot.

So hoch gelahrt und geachtet dieser seltene Mann war, so hatte er doch der bittern Verfolgung, dem grimmigen Hasse nicht entgehen können, denn es war die Zeit der erbittertsten Religionsstreitigkeiten, welche Holland in zwei Lager theilten, aus denen des Hasses Flamme zum Himmel auflohete, und sie meinten in ihrer Blindheit, das sei gottgefällige Glut.

In solchen Zeiten lösen sich die heiligsten Bande, scheiden sich die Herzen, die sich gehörten, in Summa, es wird Inneres und Aeußeres anders, denn es gewesen ist in ruhigen Zeiten, da der Friede seinen Palmenzweig schwang und die Liebe waltete. Wer hätte früher denken können, es breche ein Wetter herein über das Haupt des weltberühmten Mannes, und seine Schläge drohten ihn zu verderben? Und doch war es so.

Die Glaubensstreitigkeiten der Arminianer und Gomaristen hatten schon lange gewaltet und wahrlich, keinen Segen gebracht in einem Lande, welches der äußere Krieg so lange und schwer heimgesucht. Hugo de Groot gehörte den Ersteren an und verfocht ihre Sache. Man nannte sie, von einer Vertheidigungsschrift her, auch Remonstranten.

Als aber die Synode von Dordrecht gesprochen hatte, brach die Verfolgung herein und traf zunächst die hervorragendsten Glieder der Gemeinschaft, und auch über den mächtigen Rathspensionär der Stadt Rotterdam, Hugo de Groot, brach sie herein. Er wurde eingekerkert und darauf zur lebenslänglichen Gefangenschaft verurtheilt, die er auf dem festen Schlosse Löwenstein bei Gorkum zu verbüßen hatte. Dorthin wurde der edle Mann gebracht, und seine Haft war anfänglich sehr hart und enge, bis nach und nach mildere Behandlung eintrat und man dem „hochgelahrten Herrn“ so viel Bücher zukommen ließ, als er zu seiner gelehrten Beschäftigung bedurfte und wünschte. Sonst wurde er sehr menschenfreundlich und gut behandelt. Ja es wurde nicht einmal die strenge Wachsamkeit geübt über die Bretterkiste, darinnen ihm die Bücher geschickt wurden.

Der Schlag, welcher den geliebten und hochverehrten Gatten traf, fiel mit ganzer Schwere auf das Haupt Maria’s, seiner Gattin. Er kam so wuchtig und schwer, daß er sie anfänglich völlig betäubte und der Schmerz alle ihre geistigen Kräfte lähmte. Recht viele und große Liebe wurde ihr bewiesen, und solche Theilnahme hätte sie trösten mögen, wäre nicht das Herz zu schwer und tief getroffen worden.

Er sollte leben und doch todt sein! Nicht todt und doch für dieses Leben von ihr geschieden! Er sollte die einsame Haft dulden und sie frei sein! Er sollte leiden und sie ihn nicht pflegen! Das waren Gedanken, die den Geist einer noch so starken Frau trüben und erschüttern konnten, zumal sie wußte, daß er unschuldig dieses Urteils Schwere trug.

Wenn sich an das Mißgeschick, an das Leiden, welches unsre Liebsten und Theuersten trifft, noch ein Schimmer von Hoffnung schmiegt, wenn es noch eine Handhabe bietet, daran die Liebe den Anker der Hoffnung befestigen mag, und wäre das Ankertau auch nur der Faden einer Spinne, dann drückt es nicht völlig zu Boden, aber wenn, wie mit dem Schwertstreich des Nachrichters, jeder Faden des Lebens, der ja auch noch ein Faden der Hoffnung ist, zerschnitten wird, ja, dann gehört eine rechte Kraft dazu, solch Schicksal zu tragen, ohne alsogleich von seinem breiten Fuße zertreten zu werden, und solche Kraft ist nur eine – die des Glaubens. Eine andere giebt’s nicht. Maria de Groot wurde fürchterlich von dem Urtheile, welches über ihren edlen Gatten gefällt wurde, getroffen. – Niedergeschmettert war das edle Weib, wie von einem Donnerschlage. Sie war unzugänglich jedem Troste, der ohnehin oft so leidig ist, weil nichts dahinter ist, nicht einmal Wahrheit, sondern eitel Heuchelei. Wie könnte da solches Wort Friede wirken? Das empfand Frau Maria wohl tief und schmerzlich. Um so inniger schloß sie sich an das einzige Wesen, welches ihr blieb, welches ihr in wahrer, ächter Liebe zugethan war, an die liebliche Elsje. In diesem Herzen wohnte Treue, aufrichtige Theilnahme, ächte Liebe. Niemanden ließ sie mehr zu sich. Elsje und sie lebten allein und einander genug, und Beide richteten sich auf im belebenden Hauche des Glaubens und in seinem warmen Strahle. Die weite Trennung von ihrem Gemahle aber lag drückend auf der Seele der edlen Frau.

„Was hindeert Euch, Mevrouw,“ sagte eines Tages Elsje, „diese Stadt zu verlassen und nach Gorkum zu siedeln? Meines Vaters stilles Häuslein steht Euch offen; ja, es wird leicht sein, daß er Euch ein Stüblein einräumen kann, von dannen Ihr Löwenstein sehen könnt, was gewiß zu Eurer Ruhe beiträgt.“

Frau de Groot faßte des Mädchens Hände mit Heftigkeit. „Kind,“ sagte sie, „glaubst Du, daß das gehe? Glaubst Du, daß ich dort heimlich sein könnte?“

„O, da wird Euch keine Seele vermuthen, kein Auge sehen!“ rief Elsje aus. „Es sind Eure Glaubensgenossen und treue Seelen, auf die Ihr bauen könnt, wie auf Felsengrund!“

Frau de Groot sann, dan sagte sie zu Elsje: „Schreib heim, ob es gehen könne, aber bald!“

In van Houwening’s Hause war um Elsje große Sorge eingekehrt. Die Verurtheilung Hugo’s de Groot war kein Geheimniß geblieben unter den Remonstranten. So hatte durch vertrauliche Mittheilung auch der Gärtner Kunde davon erhalten; aber, wie es mit mündlichen Ueberlieferungen zu gehen pflegt, so kam es denn auch hier: Das Kleine wächst zu riesiger Größe heran, und das Mäuslein wird zum Elephanten. Es hieß nämlich, und Daatselaar theilte es mit, nicht nur sei der Rathspensionär zu ewiger Haft verurtheilt und nach Löwenstein gebracht worden, sondern auch seine Gattin und das dem Ehepaar treu ergebene Dienstbotenthum des Hauses sei wegen seiner Treue gegen die Herrschaft zu [367] vieljähriger Einsperrung nach Middelburg gebracht worden. – Daß da Elsje der härteste Spruch getroffen, das lag außer allem Zweifel, denn sie wußten ja, wie das Kind zu der edeln Frau stand, und sie zu ihm.

Wie gelähmt waren sie alle und Piet, der seiner Hoffnungen Ziel in eine nebelgraue Ferne gerückt sah, war wie eine Bildsäule. Was die Armen in dem trostlosen Wahne bestärken mußte, das war das Ausbleiben aller Nachrichten von Elsje, mit denen sie sonst nicht zu kargen pflegte. So verging eine Woche nach der andern; Piet wußte, daß Herr de Groot in Löwenstein war; allein weiter konnten ihm die Offiziere nichts sagen.

„Sie darf nicht schreiben, sonst würde sie es gewiß thun!“ sagte die weinende Mutter. „Du, mein armes, gutes Kind! Ach, wie hart, hinter Mauern eingeschlossen sein ohne alle Schuld als die, daß man seinem Glauben treu und in der Liebe zu guten Menschen beständig ist!“

„Gerade das wird ihr die Haft leicht machen,“ sagte der Gärtner tröstend zu seiner Frau. „Sie hat das Zeugniß eines guten Gewissens, und das gilt vor Gott, auch ohne Brief und Siegel!“

Wenn er das auch aus innerster Ueberzeugung sagte, so war dennoch sein Herz voll Trauerns um seines lieben Kindes Loos, und er machte sich innerlich bittere Vorwürfe, daß er die Schuld trage, weil er sie dorthin gebracht, wo das Unglück über sie kam.

Endlich fiel ein lichter Sonnenstrahl in dies Dunkel. Es kam ein Brief von Elsje und nicht aus Middelburg, sondern aus Rotterdam und auf dem Wege, auf dem auch die früheren gekommen waren.

Schon diese äußeren Umstände gaben der Hoffnung Raum, sie sei wieder ledig ihrer Haft; als aber der Gärtner den Brief erbrach und laut vorlas, da jubelten die Herzen in Preis und Dank zum Herrn, denn es war ja Alles, was sie beängstigt hatte, eitel Lüge. Sie war nie verurtheilt, nie verhaftet worden. Nur die betrübte Lage ihrer Herrschaft, die ihrer Herrin alsdann, war der Grund ihres langen Schweigens gewesen. Innig sprach sie ihr volles Mitleiden aus gegen die unglückliche Frau, die sie so sehr liebte; aber dann kam ein Punkt, der plötzlich dem Gärtner Schweigen auflegte, bis die Kinder entfernt waren; alsdann las er vor der Mutter und Piet weiter und enthüllte den Plan des Mädchens, mit ihrer Herrin nach Gorkum zu kommen und heimlich sich daselbst und im Vaterhause aufzuhalten.

„Ach, du lieber Gott,“ sagte die Mutter, ihre Hände zusammen schlagend, „wie soll denn das gehen? So eine Dame und unser Häuslein!“

Durch Piet’s Seele fuhr’s wie ein zuckender Strahl. „Elsje kehrt zurück!“ der Gedanke machte ihn von unaussprechlicher Lust und Freude erbeben.

„Tante Kaatje,“ sagte er, „lasset den Ohm Claas weiter lesen. Es ist nicht Elsje’s Art, ein Schloß in die Luft zu bauen. Was sie will, das hat sie überlegt, rechts und links, hinter sich und vor sich. Ich wette mein Boot gegen eine oberrheinische Nußschaale, sie weiß Rath, und macht’s gerecht, daß an der Möglichkeit der Ausführung kein Zweifel ist!“

Da hast Du wieder einmal Recht, Neef Piet,“ versetzte der Gärtner, der, während dieses Zwiegesprächs zwischen der Mutter und Piet, stille das Weitere des Briefes überlesen hatte. „Das Kind ist klüger als wir Alle. Hört nur weiter!“

Er las: „Die Sache, herzlieber Vater und herzliebe Mutter, hab’ ich mir recht sonderlich überlegt, denn da ist ein stürmisch Zufahren vom Uebel, wo es gilt, für eine tief bekümmerte, edle Frau ein verborgen Winklein zu suchen, von dannen sie ihres Gatten Gefängniß sehen möchte, auf daß sie ihm näher sei, und darin einen Trost fände, und ein Strohhälmlein, daran sich ihre Hoffnung möge halten. Ist mir’s denn auch in die Seele gekommen, wie es könnte gemacht werden, ohne große Hinderniß und viel Umschweifens, und das solcher Gestalt: Ihr wisset ja, herzlieber Vater und herzliebe Mutter, daß wir das Hinterstüblein neben der Küche haben. Es ist wohl enge und klein, aber die edle Frau ist also demüthig, daß sie sich vollkommlich damit begnügt, sintemalen sein Fensterlein gegen Schloß Löwenstein schaut, woselbst ihr Eheherr sitzt im Gefängniß und vielleicht in schweren Ketten und Banden. Nun weiß ich wohl, daß darinnen Kaatje und Mietje, Piet und Niel’s schlafen, und ist kein ander Plätzlein wohl für sie zu finden, aber Tante van Halver und unser lieber Piet haben ein solch’ Stüblein ledig und brauchen’s nicht. Was hindert’s, daß der Kinder Bettlein in der Stille hinüber gebracht werden und solche allabendlich hinüber gehen, zu schlafen? Niemand sieht’s, Niemand weiß es. Redet mit der guten Mutter van Halver, die Ihr wohl grüßen müsset und mit meinem lieben Piet, und es wird gehen. Schreibt mir bald. Grüßet mir Piet und alle unsere Kinder. Wie geht’s unserm Jan in Haarlem und unserm Claas auf dem Lammetje? Mich verlanget herzlich nach Euch Allen! Seid Alle Gott befohlen!“

Piet wäre fast in einen Ausruf der im Herzen zusammengepreßten Freude ausgebrochen, als sie ihn ihren lieben Piet nannte, und zu den „Allen,“ nach denen sie herzlich verlangte, gehörte er ja auch, aber er wurde doch Herr über sein Gefühl und wartete, was van Houwening sagen werde, als er den lieben Brief sorgfältig zusammengelegt.

„Siehst Du’s, Kaatje,“ nahm er dann das Wort, „daß Neef Piet Recht behält. Es ist ein kluges Ding, und wo das eine Sache anfaßt, da geht’s.“

„Geht’s denn?“ fragte seine Frau, die zwischen der Freude, ihr theures Kind wieder um sich zu haben und dem erschreckenden Gedanken an die Anwesenheit einer so vornehmen Dame unter ihrem bescheidenen Dache ordentlich hin und her geworfen wurde.

„Ob’s geht, Kaatje, darüber wird Neef Piet und seine gute Mutter zu entscheiden haben,“ sagte der Gärtner und sah Piet forschend in das große strahlende Auge, in dem die Hoffnung, Elsje wieder zu sehen, leuchtete.

„Ob’s geht?“ rief Piet. „Blexem! Es muß gehen, sag’ ich Euch, Ohm Claas, und sollt’ ich mir auf der Linde ein Nest neben die Elster bauen, die da hauset seit langen Jahren und alle Jahre ihr Nest länger bauet, daß es schier wie ein Fischkorb aussieht; aber das Alles ist nicht nöthig, nicht einmal das Küchenstüblein; denn die Buben schlafen in meinem Kämmerlein und die Mädchen in dem der Mutter. Es ist Platz genug!“

„Ach, du lieber Herr!“ rief die Gärtnerin, „so wär’s ja fix und fertig! Aber, aber, die Dame! Claas, die Dame!“

„Kaatje, die ist keine Menschenfresserin, wie die auf der Insel, da sie den Matrosen van Diemens verspeisten!“ sagte lächelnd der Gärtner. „Wäre sie das, so lebte Dein Elsje schon lange nicht mehr!“

„Wer denkt denn an so etwas?“ wehrte die Gärtnerin ab, nicht ohne von dem Spotte ihres Mannes unangenehm berührt worden zu sein.

„Ist so bös nicht gemeint gewesen,“ sagte der Gärtner begütigend, „Ich weiß wohl, was Dich quält. Erstens, der Gedanke an ein vornehm Bette, da laß Du Dein Elsje sorgen. Das weiß so gut, wie es bei uns bestellt ist, wie Du und ich, und das wird schon sorgen, und sodann das Essen kochen. Du kochst aber, wenn Du’s hast, vortrefflich, und Elsje wird auch wissen, was die edle Frau begehrt. Ueberdies waren die van Reigersberg sehr reich und der Rathspensionär von Rotterdam hat auch eine Einnahme gehabt, die ein Bischen weiter reicht, als die des Claas van Houwening, wenn auch die Herren de Groot in Delft nicht zu den reichsten Leuten in Altniederland wären gerechnet worden. Da brauchst Du nicht Vorspann zu leisten! Sei aber dem Allem, wie ihm wolle, laß auch hier den lieben Gott gewähren, der unsere Burg und unser Fels ist, darauf wir bauen!“

„Amen!“ schloß Piet. Ihr macht immer Euern Schluß am Besten, Ohm Claas, gerade wie unser Domine. Wenn der ein rechtes Kraft- und Kernwort gesagt hat, so folgt allemal das „„Amen,““ das hab ich ihm abgemerkt. Wozu sich da den Kopf zerbrechen? Wir lassen’s kommen. Die Hauptsache ist abgemacht, und es ist mir recht lieb, wenn meine alte Mutter nicht so allein schläft, denn die Opwerkens überfallen sie manchmal in der Nacht. Dann ist auch Hülfe da und mit den Jungens werd’ ich prächtig zurecht kommen, und sie recht an’s Frühaufstehen gewöhnen. Das ist ihnen gut, denn die „Blexemskeerle“ sind ja Morgens, wenn ich komme, gar nicht wacker zu machen. – Schreibt nur gleich an’s Elsje, es sei alles rund gemacht und es solle nur bald kommen. Uns verlangte auch herzlich nach ihr.“

Der Gärtner sah ihn lächelnd an und sagte scherzend: „Wenn’s wahr wäre?“

„Blexem!“ rief Piet und schlug auf seine hohe und breite Brust, daß es hämmerte „Zweifelt Ihr daran?“

[368] „Wahrlich nicht!“ entgegnete lachend der Gärtner, und selbst die so sehr sich quälende Frau lachte.

Piet wurde roth, wie mit Blut übergossen, als er sah, wie es gemeint war, und lief eilig von dannen.

Der Brief wurde dann geschrieben, und die Mutter rastete nicht, bis alle ihre Bedenken, Wort für Wort darin standen, damit Elsje, wenn es etwa an Manches nicht sollte gedacht haben, darauf aufmerksam würde, besonders auf das Bette und feine Laken und auf das nöthige kostbare Geräthe für das Stüblein und für die Speisen der edeln Frau.

Alle diese Sorgen waren rein überflüssig, denn Kisten und Kasten waren bereits an Bord des Lammetje, welches damals gerade an dem Kanale auslud, der unfern des prachtvollen Hauses des gefangenen Rathspensionärs sich befand. Mit ihrem Bruder Claas besprach Elsje noch das Nöthige, ehe dieser Rotterdam verließ, damit er alle beängstigenden Zweifel ihrer Mutter im Voraus löse und die Sorge, welche aus des Vaters Brief hervorleuchtete, aufhebe oder in ihrer völligen Nichtigkeit zeige.



V.

Het Lammetje war abgesegelt mit Kisten und Kasten für Frau de Groot, und Elsje hatte mit ihrer Umsicht so gesorgt, daß der Mutter auch nicht die kleinste quälende Sorge übrig blieb; aber seit diesem Tage war Vieles anders geworden für Frau de Groot und Manches hatte einen freundlicheren Anstrich gewonnen. Der Commandant von Löwenstein mußte, wie es schien, berichtet haben, wie Herr de Groot durch Langeweile mehr geplagt werde als durch seine Haft. Trotz des Parteihasses erkannte man die hohen Verdienste des gelehrten Mannes an und gestattete ihm, zu lesen und zu schreiben. Zum Lesen aber gehören Bücher. Es wurde ihm dann auch gestattet, seiner Gattin zu schreiben, natürlich in einem unversiegelten Briefe, welche Bücher er aus seiner Büchersammlung oder aus der der Universität Leyden zu haben wünsche.

Das war ein rechter Trost für das leidende Gemüth der unglücklichen Frau. Sie hörte, daß er ohne Fesseln sei; daß er menschenfreundlich behandelt werde, daß ihm jetzt auch Arbeit und täglich freie Bewegung auf den Wällen und Bastionen der Festung gestattet worden sei. Wie dankte sie Gott für diesen Trost! Und wie eilte Elsje, die Bücher in einen breiten und langen Kasten zu packen, die er zu haben wünschte!

Den Kasten sandte sie nach Gorkum an Baas Daatselaar mit einem Schreiben, daß Piet van Halver ihn nach Löwenstein führen möge und in die Hände des Commandanten abliefere.

Frau de Groot hatte den Gedanken, sich heimlich nach Gorkum zu begeben, einem Freunde ihres Gatten vertraut. Mit großem Erstaunen blickte sie dieser an und sagte. „Warum denn aber heimlich, Mevrouw? – Ihr seid ja völlig frei und Herr über Eure Handlungen. Keine Menschenseele wird es Euch wehren, Euch hinzubegeben, wohin es Euch beliebt. Und wer weiß, wenn einmal die erste Zeit vorüber, die erste Leidenschaft verraucht ist, ob man Euch nicht gestatten wird, Euern Eheherrn zu besuchen? Entfernet Euch aber ja nicht heimlich. Das könnte gar schlimmen Einfluß auf ihn und Euch haben. Nein, zeigt’s vielmehr dem jetzigen Rathspensionär schriftlich an, Ihr würdet Euch nach Gorkum zurückziehen in die Stille, welche Euerer Lage mehr zusage als das Geräusche Rotterdams, und – um Eurem Herzen zu genügen, das vielleicht ruhiger sich in das schwere Geschick ergebe, wenn es wisse, es schlage in der Nähe des Mannes, mit dem Euch Gott verbunden und mit dem Ihr gern die Einsamkeit der Haft theilen möchtet, wenn nicht ein härterer Spruch es Euch versagte.“

Das war gewiß ein guter Rath, und Frau de Groot erkannte ihn dankbar als solchen an und befolgte ihn getreulich. Wenn völlig unbeachtet blieb, so dachte doch Niemand daran, ihr die Uebersiedelung nach Gorkum zu wehren.

Demnach brachte sie mit Elsje’s Beihülfe ihre Sachen in die bestmöglichste Ordnung; übertrug dem Freunde, der ihr so gut gerathen, die Oberaufsicht über Alles und ließ ihre treuen Dienstboten im Hause. Dann erst rat sie allein mit Elsje die Reise an, die es denn nicht versäumt hatte, sie mit der Armuth ihrer Aeltern, der Enge der Räumlichkeit, da sie wohnen würde, und Allem bekannt zu machen, was etwa einen unerwartet übeln Eindruck auf sie hätte machen können, wenn sie es vorher nicht gewußt hätte.

Die Reise von Rotterdam bis Gorkum hatte in jenen Tagen eines ungemeinen langsamen Verkehrs eine Langweiligkeit, die nur ein niederländisch Gemüth in Ruhe und Ergebung tragen konnte. Sie wurde nur mit Trekschuiten, was einfach Ziehschiff heißt, vollbracht. Bald hielten sich begegnende Fahrzeuge auf; bald riß ein Tau; bald mußte eine Ophalbrug oder Zugbrücke entfernt werden. Ging es dann ruhig und sanft, aber langsam und besonnen weiter, so hatte man vom Schiffe keine andere Aussicht als wider den nahen Damm. Eine Unterbrechung war es, wenn eine Windmühle, das Wahrzeichen Hollands, sichtbar wurde, deren Flügel entweder schlaff und träumerisch herabhingen und hinauf starrten oder sich träge, manchmal aber in raschem Wirbel bewegten, wenn ein lebhafter Land- oder Seewind scharf in die Flügel fuhr.

Da saßen denn Frau de Groot und Elsje, die Füße auf dem wärmenden Stoofje oder verschlossenem Kohlenbehälter, neben sich das, hochdeutsch kaum anständig zu nennende Kwispedoosje, und unterhielten sich entweder leise oder starrten die Dämme und Windmühlen an oder schliefen sanft in einer Siesta, welche zwei Dritttheile des Tages einschloß. Eine Stadt oder ein Dorf weckte sie dann und bot wenigstens auf einige Zeit eine angenehme Unterhaltung, die jedoch bald wieder bei dem Charakter der Landschaft versiechte.

Endlich erschien Löwenstein und die Thürme von Gorkum. Das war ein Anblick, der das Herz ergriff und in seiner Tiefe erschütterte. Wie manche Thräne rann über die schönen, wenn auch bleichen Wangen der gebeugten Frau! Sie hatte sich vorgenommen, ihrem Schmerze den Ausbruch zu versagen; aber wie war das eine Selbsttäuschung! Wie pochte das Herz so stürmisch und wie fühlte es gerade jetzt, so nach dem geliebten Manne, die Trennung so hart und schwer!

Auch Elsje’s Herz pochte fast gewaltig.

Die Zeit, in der sie die Ihrigen nicht gesehen, war ihr wie eine Ewigkeit erschienen. Jetzt, so nahe, wollte die Sehnsucht sich nicht bewältigen lassen. Als sie hinausblickte, stand Piet da. Piet, ihr Piet, an dem ihre treue Seele hing. Es schien, als wolle er mit seinem glänzenden, blauen, großen Auge das Bord der Trekschuit durchdringen, um zu sehen, ob sein „Meisje“ darinnen sei (sein Mädchen). Wie war er frisch und blühend, wie stattlich und gut gekleidet; zwar braun, aber doch so schön! Und jetzt erst erkannte sie ihre beiden jüngeren Brüder; prächtige, kräftige Buben, mit den guten treuen Zügen, wie Jan und Claas, und hinter ihnen stand der Vater und die Mutter, beide frisch und gesund und wohl aussehend, im Gesichte den Ausdruck gespannter Erwartung. Sie zitterte vor Freude. Die Thränen traten in ihre Augen und sie dankte dem Herrn für das Glück. Aber fragte sie sich selbst, was sind das für zwei bildhübsche, blühende Mädchen neben der Mutter?

Nach wenigen Minuten des langsamen Näherrückens hätte sie fast laut aufgeschrien, denn sie erkannte ihre jüngern Schwestern in den lieblichen Mädchen.

So war hier die Freude, die ein Herz im tiefsten Grunde aufregte, dort das Leid, was Gleiches hervorbrachte, wenn auch in anderem inneren Wesen, und wie die Augen Maria’s de Groot unverrückt an den Mauern und Thürmen Löwensteis hingen und forschten, wo des geliebten Gatten Leidenszelle sein möge, so hingen Elsje’s Blicke nur an der lebensvollen Gruppe auf dem Damme, und hier rieselte eine Thräne tief empfundenen Wehes und einer Sehnsucht, deren Ziel unerreichbar erschien, über die Wange; dort im Auge des Mädchens glänzte ein eben so heiliger Juwel, eine Thräne dankbarer Freude und einer Sehnsucht, deren Ziel wenige Minuten später in den Umarmungen herzlicher Liebe erreicht war.

Die Freude des Wiedersehens war groß, und doch war ein so richtiger Takt in dem einfachen Ehepaare, daß sie nach kurzer Begrüßung ihres Kindes, dem Unglück eine Huldigung darbrachten, die ihrem Herzen Ehre machte und die Frau de Groot mit feinem Gefühle anerkannte und zu würdigen wußte.

Piet’s Seele saß im Auge. Elsje war tausend Mal schöner geworden und doch so einfach geblieben, wie in Gorkum, und so liebevoll, wie am Scheidetage. Wie hatte sie ihn in’s Auge geblickt, wie seine Hand gedrückt! Piet war reicher als ein Großhändler zu Rotterdam und hätte mit keinem dieser Mynheers getauscht.

[369] Während die Mädchen sich an die schöne Schwester drängten, ging Frau de Groot mit den Aeltern von dannen und Piet und die Brüder nahmen das Gepäcke und trugen’s nach.

Das Stübchen war klein und enge, aber es war rein, wie geblasen, und die Mutter hatte nicht nur die wenigen Geräthe, nebst dem Bette sinnig geordnet, sondern die schönsten Blumen des Gartens zum Schmucke aufgestellt.

Sie führte die Frau de Groot hinein und bat sie, vorlieb zu nehmen.

Elsje freute sich der Anordnungen der Mutter und sah im Auge ihrer Herrin, dessen Sprache sie verstand, daß es ihr wohl war in dem Stübchen, wo sie Löwenstein sehen konnte, und wohin sie mit dem Tuche wehend ihre Grüße senden konnte. Eine wehmuthsvolle Freude spiegelte sich in dem Auge. Elsje ließ sie allein, um das Gepäck zu ordnen. Dabei half Piet, aber gerade dadurch wurde es ein langdauerndes Geschäft, denn hundert Mal konnte Elsje ihre Hand nicht gebrauchen, wie sie wollte, und zürnte doch dem nicht, der sie hielt.

Die Sorge der Mutter schwand nach der ersten Unterredung mit der Tochter; denn diese schilderte ihr die klösterlich einfache und stille Lebensweise der unglücklichen Frau. Und dieses Insichhineinleben derselben wurde auch so wenig als möglich gestört. War ohnehin das Familienleben van Houwening’s ein stilles, in sich abgeschlossenes, ununterbrochen für alle thätiges, so wurde es jetzt aus Rücksicht auf das leidende Gemüth noch stiller und die Leidende erklärte ihrer lieben Elsje, sie habe einen Aufenthalt, wie diesen, der so ganz ihrem Seelenzustande zusage, nirgends besser und genügender finden können. Und wenn sie auch meist allein oder nur mit Elsje zusammen war, so nahm sie doch Theil an dem Morgen- und Abendgebete der gottesfürchtigen Familie und erging sich im Garten, wo kein Herandrängen ihre Gedanken störte. Es war für Elsje eine hohe Freude, wie sie sich aufrichtete und wieder getrösteter in’s Leben blickte, ja zeitweise noch Hoffnung der Rettung ihres Gatten hegte.

Die Bücherkiste hatte Piet hinübergeschifft. Sie war, das entging ihm nicht, zwar untersucht worden, aber keineswegs scharf. Im Laufe der Zeit begehrte Hugo de Groot mehr Bücher. Derselbe Kasten kam und ging wieder hinaus, aber jedesmal lag ein Brieflein darin, hin eins und her eins, und Niemand kümmerte sich darum. Die Kiste wurde später nie mehr untersucht, und der briefliche Verkehr unterlag keiner Unterbrechung. Piet wurde der Vertraute der beiden Ehegatten und mancher für ihn, seine Wünsche und Ansprüche reiche Lohn wurde ihm aus der Hand der Gattin de Groot’s zu Theil. Es kam so weit, daß man die Kiste, wenn sie von Zweien getragen werden konnte, selbst von ihm und einem Soldaten uneröffnet hinauftragen ließ.

Frau de Groot hätte übrigens blind sein müssen, wenn sie nicht bald sich hätte überzeugen sollen, wie es um Elsje’s und Piet’s Herzen stand. Sie freute sich des liebenswürdigen und sittigen Paares und mancher Gedanke ging durch ihre Seele, der wie ein Gelöbniß zu ihrem Besten für bessere Tage aussah; aber diese Tage lagen im Dunkel der Zukunft, und Gott allein wußte, wie und wann eine solche Stunde eintreten sollte und könnte.

Manchmal fragte sie Elsje nach ihren Verhältnissen, und das schüchterne Mädchen ergänzte dann, was sie der Herrin früher mitgetheilt. So erfuhr sie Piet’s Wunsch, Gärtner zu werden, aber auch die Hindernisse, welche diesem Wunsche entgegenstanden; sie lernte die Lage beider Familien genau kennen; sie sah bei aller Zufriedenheit, bei aller Treue, allem Fleiße doch auch hier das Leid in mancherlei Form und Gestalt, und zu helfen, regte sich in ihrem Herzen der Wunsch, wenn es ihr möglich gewesen wäre.

(Fortsetzung folgt.)




Ein Besuch im Bethlem-Hospital in London.

(Fortsetzung.)

Doch wir dürfen uns im Interesse der Humanität gratuliren, daß diese barbarischen Anstalten und grausamen Behandlungsweisen als unnöthig und unmenschlich verdammt sind. Dem berühmten Pinel gebührt der Ruhm, den armen Unglücklichen die Bande und Ketten für immer zerbrochen zu haben, und obwohl man Anfangs die Ausübung seiner Ansichten als unpraktisch und utopisch verlachte und verketzerte, jetzt ist es eine unbestrittene Thatsache, daß alle Wahnsinnige ohne Ausnahme ohne Anwendung des geringsten mechanischen Zwanges gehandhabt werden können. Anstatt des mechanischen Zwanges nimmt man in außerordentlichen Fällen jetzt seine Zuflucht zu dem sogenannten „gepolsterten Zimmer,“ da man durch Erfahrung gefunden hat, daß zeitweilige einsame Absperrung oft einen beruhigenden Einfluß auf selbst die tobensten Kranken ausübt, namentlich nachdem sie ein warmes Bad und andere beruhigende Medicamente bekommen haben, wie dies der Fall gerade erheischen mag.

Dr. Autenrieth hat, wenn wir Dr.Burrow glauben dürfen, gepolsterte Zimmer erfunden, obwohl letzterer die Anwendung desselben zu mißbilligen scheint. „Um die Nothwendigkeit körperlicher Zwangsmittel zu vermeiden,“ sagt er, „hat Dr. Autenrieth ein starkes Zimmer eingerichtet, welches überall vollständig auf das Sorgfältigste wattirt ist, in dem man nun, seiner Ansicht nach, den rasendsten Kranken, wie ein wüthendes Thier im Käfige ohne Gefahr loslassen kann. Doch die Absurdität und Zwecklosigkeit dieses Planes ist allen Aerzten, welche nur einige Erfahrung in diesem Gebiete haben, von selbst klar; denn die Kranken würden bald alle Wattirung mit Gewalt fortreißen und sich an den Wänden das Gehirn einschlagen oder bald wirklich wüthende, wilde Bestien werden.“ So schrieb der gelehrte Doctor noch im Jahre 1828, und hätte er nur zehn Jahre länger gelebt und den großen Erfolg gesehen, mit dem die Erfindung gekrönt worden, so würde er sicherlich seine vorgefaßte Meinung als völlig ungerecht geändert haben. Doch zeigt sich in allen Zweigen der verschiedenen Wissenschaften und allen Seiten der Civilisation derselbe Gang der Entwickelung. Der Uebergang vom Barbarischen zu dem Rationellen und Humanen geschieht nie ohne eine heftige Opposition.

Glaubte doch noch vor etwa 20 Jahren die ganze Gilde von Schulmeistern, daß der Baculus oder die birkene Ruthe der wahre nürnberger Trichter sei; als ob der Sitz der Intelligenz nicht im Kopfe, sondern in einem anderen namenlosen Theile des menschlichen Körpers säße, wo man es durch einen äußeren Stimulus zu reizen hätte, um es zu befruchten. Der Stock ist jetzt aus allen anständigen Anstalten verbannt und der Lehrer vielmehr der Rathgeber und Leiter, weniger der Prügelmeister geworden, und der so oft prophezeite Untergang der Welt ist dessenungeachtet noch nicht erfolgt. Aber die humanste Behandlungsweise ist gleichzeitig auch die aller erfolgreichste, und dies ist auch mit Facten zu belegen.

Nachdem unser Führer eine Lattenthür geöffnet hat, treten wir sofort in eine wenigstens zweihundert Fuß lange Halle, in welcher sich etwa 50 reconvalescente Kranke befanden, welche theils ruhig auf und ab spazieren, theils lesen, theils in kleinen Gruppen mit einander plaudern, doch war dies ausnahmsweise und scheinen die Geisteskranken im Allgemeinen die Unterhaltung zu vermeiden. Ungefähr in der Mitte der Halle befindet sich ein gewaltig großer Vogelbauer von blitzendem Messing, in dem ungefähr ein Dutzend sehr schöne Tauben gehalten werden, welche sich in dieser Gesellschaft ganz glücklich zu fühlen scheinen; denn wir bemerkten darin drei oder vier Nester mit einer hoffnungsvollen Brut und die Alten waren so zahm, daß sie sich von den Patienten ruhig den Kopf streicheln ließen, und das lebhafte „Kockeruckkuckkuhhuh“ der großen Ringeltaube schien den Unglücklichen besonderes Vergnügen zu gewähren. Es war für mich eine ergreifende Scene, wie mehrere Patienten auf den Dr. Hood, der mit uns eingetreten war, in der größten Eilfertigkeit zustürzten und ihm einer nach dem andern mit wahrer Zärtlichkeit die Hände drückten, und bei seinem Anblick wie begeistert schienen. Ja, die Stellung eines Arztes, der seine Pflicht thut und Humanität mit Wissenschaft zu vereinigen weiß, ist eine erhabene und äußerst ehrenvolle. Hätte Dr. Burrow und die anderen Verfechter des Ketten- und Knutensystems einen solchen Empfang gesehen, sie würden sich sicherlich ihrer Vorurtheile geschämt haben. Freundlichkeit und Humanität geben dem Arzte [370] eine ungeheuere moralische Gewalt über seine Patienten, welche viel bedeutender ist als die physische Gewalt.

Zu beiden Seiten dieser langen Halle befinden sich links und rechts gewölbte Zimmer, in denen die Patienten schlafen. Jedes Gemach enthält gewöhnlich zwei eiserne Bettstellen, auf denen eine weiche Roßhaarmatratze und die erforderlichen wollenen Decken und leinenen Betttücher liegen. Alles ist äußerst sauber und wohlgehalten. Außerdem befinden sich in den Zimmern noch ein oder zwei Stühle und in einigen sogar eine Waschtoilette; übrigens sind die Fenster weder hier noch in einem andern Theile der Anstalt mit Ausnahme der Criminalabtheilung mit eisernen Gittern versehen. Ich machte meinen Führer darauf aufmerksam, und er sagte mir, daß eine vieljährige Erfahrung ihn gelehrt hätte, daß Geisteskranke äußerst selten das in sie gesetzte Zutrauen mißbrauchten, und es würden im ganzen Jahre nicht zehn Scheiben muthwillig zerbrochen, und es sei völlig unerhört, daß die Utensilien oder Möbel verletzt würden. Dr. Hood scheint diese Bemerkung in allen Punkten zu bestätigen; denn er sagt in seinem letzten Berichte: „Wenn es uns gelingt, einem Patienten zum klaren Bewußtsein zu bringen, daß wir ihm Zutrauen schenken; wenn wir im Stande sind, ihm begreiflich zu machen, von wie großer Bedeutung es ist, sein Ehrenwort zu halten, so haben wir seinen geistigen Zustand bedeutend verbessert; denn die Wiederbelebung der Selbstachtung ist gewöhnlich das erste untrügliche Zeichen einer Genesung.“

Die Patienten tragen übrigens keine gleichmäßigen Uniformen, sondern ihre eigenen Civilkleider, und das scheint mir in der Behandlung der Kranken von großer Bedeutung zu sein, indem sie nicht jeden Augenblick an die Schrecklichkeit ihrer Lage erinnert werden. Außer den Schlafgemächern befinden sich hier noch und zwar fast in der Mitte des Flügels zwei Speisesäle, in denen wenigstens 50 Personen mit der größten Bequemlichkeit gespeist werden können. Man bedient sich guten englischen Porzellans, und mein Führer versicherte mir, daß ein Patient selten sein Tischzeug muthwilligerweise beschädige oder zerbreche. Die Messer sind sehr dick, ohne Spitze und nur gerade scharf genug, um mit Mühe das Fleisch zu zerschneiden. Unter den Patienten dieser Abtheilung befindet sich einer, dessen Abenteuer hier vor nicht gar langer Zeit bedeutendes Aufsehen erregt haben, und welche er selbst jetzt verfaßt hat, um sie der Oeffentlichkeit zu übergeben. Da er hörte, daß ich etwas über die Anstalt schreiben wollte, so händigte er mir ein sorgfältig geschriebenes Exemplar seines letzten Abenteuers ein, und ich halte es für interessant genug, es hier einschalten zu dürfen.

„Ein Wettrennen.

„Nun Jedermann, wer mich nur ein Wenig kennt, – und wer sollte nicht Kapitain B. kennen – weiß auch, daß ich von jeher ein gutes Herz und eine offene Hand zum Geben hatte; doch geriethen meine Verhältnisse dabei bald in einen solch’ schrecklichen Zustand von Gichtbrüchigkeit, daß ich ernstlich über das beste Mittel nachzudenken begann, mich meiner äußerst peniblen Position zwischen den Händen der Wucherer und anderer Manichäer zu entziehen, welche mich wie mein Schatten überall hin verfolgten. Ich war entschlossen, einen Coup d’état irgend einer Art zu versuchen; Nichts schien mir zu verzweifelt, wenn es nur die Möglichkeit zeigte, mich zu retten. Da schien mir auf einmal das Schicksal die schönste Gelegenheit zu bieten. Und auf mein Ehrenwort, eine gar glorreiche Sache würde es für mich gewesen sein, wäre ich glücklich genug gewesen, die reiche Emilie Kleinknochen (Emilie hatte, nebenbei bemerkt, die größten Knochen, welche ich je gesehen habe) mit Leib und – Vermögen – zu gewinnen. Und die Lady war ebenfalls ungeheuer süß mit mir, und ich würde sie auch sicherlich geheirathet haben, und heute ein Obrist in der Expeditions-Armee sein, anstatt als halbpensionirter Kapitain zu verschimmeln, wenn ich nicht von meinem Vater – ein ächter Irländer – eine zu große Vorliebe für Whiskey geerbt hätte. Das – Wetter – hole ihn. Amen.

„Meine Emilie, wie ich sie zu nennen pflegte, hatte bereits, ich weiß nicht, seit wie vielen Decennien den Meridian des Lebens passirt und trotz ihrer großen Knochen, etwas schielenden Augen und einem Schnurrbarte, für den mancher junge Offizier ohne Bedenken seinen kleinen Finger gegeben haben würde, war sie noch passabel genug, doch besaß sie, und das war ja die Hauptsache, im vollen Uebermaße, dessen ich bedurfte, um eine ungeheuere Bresche in meinen Finanzen auszufüllen, und so faßte ich – vielleicht das funfzigste Mal in meinem Leben – den kühnen Entschluß, mein Junggesellenleben aufzugeben und den heiligen Stand der Ehe zu versuchen. Um die Wahrheit zu sagen, es machte mir durchaus keine Schwierigkeit, ihr Jawort zu erhalten. Meine Emilie wurde nicht im Geringsten verlegen oder schamroth, als sie meine Liebesbetheuerung anhörte und meine Hand annahm, und ich sah in der That aus ihrem Gesichte niemals die Farbe der Scham prangen, mit Ausnahme einer hochröthlichblauen Flamme auf der Nasenspitze, welches, wie sie mir wiederholentlich erklärte, von einer schlechten Verdauung herrühren sollte – aber meiner Meinung nach ein brillanter Katalog von Spirituosen zu sein schien.

„Doch möge dem sein, wie ihm wolle, ich würde dem theueren Wesen niemals seinen Tropfen beneidet haben, hätte es das Geschick gewollt, daß sie meinen Namen – und einen äußerst respektablen obendrein – zu führen bekommen hätte. Doch „mit den himmlischen Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten,“ meine Emilie ist jetzt die Frau eines kleinherzigen Spießbürgers, der ihr jeden Tropfen beneidet, der die Sorgen dieser Welt vergessen macht, und der sie noch obendrein mit seinem „guten Rathe“ zu Tode langweilt.

„Ich muß jedoch einige Zeit zurückkehren und will nur kurz bemerken, daß nach der gewöhnlichen Anzahl von pro forma Visiten und affectirten Ceremonien, kleinen Geschenken und großen Schwüren ewiger Treue und derlei Unsinn mehr meine Hand angenommen, und alle Vorbereitungen für das glückliche Ereigniß getroffen wurden. Niemals hatte in dieser Welt ein Dragonerkapitain auf halbem Solde freundlichere Handwerker, als ich auf einmal bekommen hatte. Schuster, Schneider, Pferdehändler, Sattler, Kutschenbauer, Büchsenmacher, Goldschmiede und unzählige andere überhäuften mich völlig mit ihren Waaren, und alle ohne Ausnahme hatten meine Rechnung auszuziehen vergessen, „das werde sich schon später finden,“ hieß es. Ja, mein Juwelier übersandte mir nicht nur verschiedene Goldsachen zum Betrage von 500 Pfund Sterling, sondern hatte außerdem noch eine Banknote von 100 Pfund beigefügt, welche Summe man mir für drei Monate ohne Zinsen vorschießen wollte, und man bat so dringend und schien so uninteressirt zu sein, daß ich in der That nicht das Herz hatte, die Bitte abzuweisen. Aber ich darf sagen, daß er und alle anderen Professionisten jetzt von Herzen wünschen, daß sie damals weniger dringend oder ich hartherziger gewesen sein möchte. Ich brauche wohl kaum zu bemerken, daß ich über meine herrlichen Aussichten außer mir vor Freude war und daß ich alle Nächte bis den hellen Morgen im Kreise vergnügter Freunde meiner Schönen einen Trinkspruch nach dem andern brachte. Ich wünschte, ich hätte es nie gethan; denn dies hat gerade alle meine schönen Hoffnungen und Schlösser in Spanien zerstört.

„Das ceremonielle Liebeln war, wie bereits gesagt, alles abgemacht und der Tag unserer Vermählung für die nächste Woche festgesetzt. Näherinnen arbeiteten sich fast zu Tode, um das Brautkleid zur rechten Zeit fertig zu haben. Da kam mir ein altes Versprechen in’s Gedächtniß, welches ich früher einem meiner Cameraden gegeben hatte, daß, wenn ich mich je zu der Fatalität eines ehelichen Lebens entschließen sollte – keiner als er mein Brautdiener sein sollte. Dies kam mir gerade in den Kopf, als ich nach einer durchschwärmten Nacht an meinem Schreibpulte saß, um meiner Heißgeliebten einige Zeilen zu schreiben, denn ich pflegte ihr alle Morgen einen Brief zu schicken, obwohl ich sie fast eben so bald sah, als sie denselben durchgelesen hatte. Ich schrieb daher die folgenden beiden Briefe:

 „Theuerster Carl!

„Drei Mal Hurrah! Gratulire mir – ich habe eine Amazone gezäumt und gesattelt. Sie ist zwar äußerst großknochig und so häßlich als die verrufene „Urgroßmutter“ mit Zehn multiplicirt; aber was schadet das? Sie ist ein Crösus, sie hat ganze Wagenladungen – baaria. – Ich glaube, sie trinkt scharf und ich bin fest überzeugt, daß sie Teufelsmucken hat, aber Du weißt, daß sie ihrem Ehemanne zu lieben, ehren und zu gehorchen geloben muß. Mit Bezug auf Liebe und Ehre soll sie völlig freies Spiel haben, sollte sie es indessen jemals an dem erforderlichen Gehorsam fehlen lassen, so werde ich die Zügel äußerst straff anzuziehen wissen. Du weißt, alter Junge, unsere Verabredung. Nun gut, die schreckliche Calamität wird am kommenden Donnerstag stattfinden; so finde Dich denn, als ein braver Junge, in vollem Wichse hierselbst um 8 Uhr Morgens ein. Warte nur bis ich die Alte erst gehörig gefesselt habe und dann: „Vivat victoria!“ Geld wie Heu! Vergiß nicht – Donnerstag um 8 Uhr pünktlich, Soldatenzeit.
Der Deinige E. B. 

[371] „Die Abfassung des anderen Briefes war, wie man sich leicht denken kann, viel schwieriger und es bedurfte mehr als eines Glases Whiskey ohne Wasser, ehe ich meine Phantasie hoch genug hinaufgeschraubt hatte, die folgende Composition vom Stapel laufen zu lassen:

„Geliebteste und Keuscheste Deines Geschlechtes!
„Wie langsam streichen meine traurigen und einsamen Stunden dahin! Will der Tag niemals, niemals anbrechen, welcher das Urbild des schönen Geschlechts in die sehnsüchtig ausgestreckten Arme Deines Charles bringen wird. O, möchte der längst ersehnte Tag für diesen Augenblick anbrechen. Ich schwöre bei dem rosigen Lichte des Liebesgottes selbst, daß kein Sterblicher jemals so herzlich, so wahnsinnig, so uninteressirt geliebt hat, als ich. Ja, ich vergöttere Dich, Schönste der Schönen. In den einsamen Grübeleien meiner schlaflosen Nächte habe ich mich häufig selbst ertappt mit dem Wunsche, daß Du, am Morgen nach unserer Heirath durch irgend ein Mirakel blutarm und so häßlich als die alte Martha sein möchtest, welche ich von ganzer Seele hasse – doch wie kann ich jemals solch ein Wort, als Hassen, niederschreiben, während ich an das reine Wesen denke, welches für immer die Liebe und Ruhe meines Herzens besitzt. Bist Du ganz wohl, Theuerste? Bist Du jetzt um halb drei Uhr halbwach und ist der Gegenstand Deiner jungfräulichen Gedanken Dein Charles?
Der Deinige (Cupido allein weiß wie elend). 

„Wenn das nicht ihr altes Herz rührt, dachte ich, als ich den Brief faltete und ein anderes Glas trank, dann ist ihr nicht zu helfen. Es ist mir bis aus den heutigen Tag ein unerklärliches Räthsel, wie es gekommen, aber die traurige Wahrheit ist, daß ein schadenfrohes Geschick es wollte, daß ich den Brief an Carl an meine Heißgeliebte adressirte und den ihrigen in Carl’s Umschlag steckte. Man denke sich daher meines Carl’s Ueberraschung, als er die wahnsinnigen Tiraden zu Gesichte bekam, und andererseits die entsetzliche Wuth meiner Emilie. Man verlasse sich darauf, selbst die Furien der Unterwelt sind nichts im Vergleiche zu der Raserei einer verschmähten und hintergangenen Frau. Aber meine Emilie war ein Wesen von sehr soliden Nerven, ausgenommen in Bezug auf eine bedeutende Aengstlichkeit, unter die Haube zu kommen. Ich bin fest überzeugt, daß selbst ihr Herz von Knochen oder Stein war. Sie wußte indessen ihre Gefühle so ausgezeichnet zu bemeistern, daß ich auch nicht das Geringste von dem bevorstehenden Sturme und Donnerwetter ahnete, ehe es auf mich mit voller Gewalt herabrollte und plötzlich zerschmetterte. Aber ich will der Geschichte selbst nicht vorgreifen.

„Nachdem ich die beiden Briefe gehörig versiegelt hatte, ließ ich sie für meinen Burschen auf dem Tische liegen, welcher sie am Morgen auf die Post trug, und da sich Carl gerade auf Urlaub befand, so bekam er den seinigen erst nach Verlauf mehrerer Tage, während der meiner Schönen richtig eingetroffen war, um meinen Honig in bitterste Galle zu verwandeln und mich um ihre kostbare Hand zu bringen. Nachdem ich den Morgen, wie gewöhnlich, bis drei Uhr verträumt hatte, machte ich mich auf den Weg, meine Verlobte in ihrer schönen und bequemen Behausung zu besuchen, und sie empfing mich eben so freundlich als gewöhnlich, nur schien die alte Martha – welche die Stelle einer Gesellschafterin und Ehrendame bei meiner Holden ausfüllte – und die gewöhnlich noch mürrischer als häßlich zu sein pflegte, ausnahmsweise und ich möchte sagen, unnatürlich zuvorkommend; aber ich war so völlig ohne allen Verdacht, daß ich glaubte, dies geschähe nur in der Absicht, sich bei mir in Gunst zu setzen. Nach Verlauf einiger Minuten entließ Emilie die abscheuliche Martha, und nachdem sie ihre allersüßeste Miene angenommen hatte, erklärte sie mir, daß sie eine Bitte an mich hätte, welche für ihre Gefühle von der allerwichtigsten Bedeutung wäre, so daß selbst die Verwirklichung unserer Vereinigung von deren Erfüllung abhängig wäre.

„Bei Jupiter Ammon! Ich glaube wirklich, ich hätte Alles lieber bewilligt, als meine Braut mit ihrer Kasse, ihren Hypotheken, und allen ihren anderen liegenden und persönlichen Reichthümern einer kleinen Grille wegen fahren zu lassen. Ich erklärte ihr daher mit der feurigsten Leidenschaft, daß jeder ihrer geringsten Wünsche mir stets heiliges Gesetz sein würde, daß ich, wenn dies ihr Wunsch sei – von Stunde ab dem Whiskey entsagen, keine Cigarren mehr rauchen, meinen Burschen entlassen, ja selbst meinen herrlichen Schnurrbart opfern würde.

„Meine Emilie warf mir einige dankvolle Blicke zu, als ich mit dem größten Pathos bis zur Klimax meiner großherzigen Anerbietungen hinaufstieg und ich muß gestehen, daß keine Frauensperson weder auf noch von der Bühne die Rolle besser gespielt haben könnte. Aber während sie mich mit Schmeicheleien überschüttete für – als sie es zu bezeichnen beliebte – meine verschwenderische und wirklich edle Generosität, versicherte sie mich, daß ihre Bitte selbst nicht das geringste der Opfer fordere, welche ich freiwillig und so großherzig angeboten hätte. Sie wünsche nämlich, sagte sie, daß theilweise ihrer eigenen Schüchternheit wegen, doch hauptsächlich aus Furcht vor ihrem Bruder, der unsere Verbindung durchaus mißbillige, unsere Hochzeit durchaus privatim sei und eine kurze Strecke außerhalb der Stadt verherrlicht werden möchte. – Ich sah sofort, worauf es abgesehen war, die alte Dame wollte von sich sprechen machen und wünschte deshalb allen Ernstes entführt zu werden. Da es mir ganz gleichgültig war, wie und wo die Geschichte vor sich ging, wenn ich nur die Baarschaft erlangte, so kamen wir überein, daß ich in der kleinen häßlichen Dorfkirche in Kingston eine Licenz zu unserer Heirath nehmen sollte, und daß sie, um ihren Bruder desto besser zu täuschen, alle Vorkehrungen zu der Festlichkeit unter dem Vorgeben einstellen sollte, daß ihr Entschluß durch seine Vorstellungen bedeutend erschüttert sei. Wie gesagt, so gethan. Ich verschaffte die nöthige Licenz, und in dem Halbdunkel eines kalten und regnerischen Morgens fand ich mich, unserer Verabredung gemäß, an der Ecke von Cavendish Square mit einer Chaise und vier Halbblutspferden ein. Es schlug sieben Uhr, dann acht, dann neun und meine Holde wollte noch immer nicht erscheinen. Neugierige Vagabunden, in guter und schlechter Kleidung, fingen bereits an, ihre Bemerkungen zu machen; alle trafen stets den Nagel auf den Kopf und einige spotteten sogar – was ich selbst zu fürchten begann – daß ich tüchtig angeführt sei. Doch schlimmer als Alles war, daß die Knechte an zu klagen begannen, daß die Pferde den Kropf bekommen würden, wenn sie noch lange zu warten hätten, und ich stand gerade auf dem Punkte, Emilien einen Besuch in ihrer Wohnung zu machen, um die Ursache dieser Zögerung zu erfahren, als eine Miethskutsche anlangte, und heraus kam die sehnsüchtig Erwartete. Sie war so dicht verschleiert, daß ich wirklich fürchtete, sie würde ersticken, und ich bat sie daher, sie möchte ihren Schleier abnehmen, da wir ja nun außer dem Bereiche aller Gefahr wären. Anstatt meinem Wunsche nachzukommen, legte sie ihren Kopf auf meine Schulter und flüsterte: „Erinnere“. Es war nämlich zwischen uns Beiden abgemacht, daß sie bis zum Augenblicke unserer Verheirathung verschleiert bleiben und daß auf unserer Fahrt kein Wort gesprochen werden sollte. Da ich ihre Halsstarrigkeit sehr wohl kannte und außerdem dachte, daß ich ihre eisigen, erstarrten Gesichtszüge noch genug nach der Hochzeit zu betrachten Gelegenheit haben würde, so begnügte ich mich, stillschweigend den Druck ihrer knöchernen Hand zu erwiedern, und ein oder zwei Mal die Seiten ihres Hutes zu küssen.

„Wir hatten soeben die Südseite der Vauxhall Bridge erreicht, als ich eine Kutsche im Galopp hinter uns herkommen hörte und ich sah bald, daß sie sich uns bedeutend zu nähern begann. Zweifelsohne war dies der gefürchtete Bruder, der uns verfolgte. Ich schrie deshalb unsern Kutschern zu, so schnell als irgend möglich zu jagen und versprach einem Jeden zwei Pfund Sterling, falls sie unsern Verfolger überflügeln würden. Meine Heißgeliebte zitterte am ganzen Körper und ihre Seufzer schienen so beklommen und so eigenthümlich, daß unter weniger ernsten Umständen ich sie für ein herzliches Gelächter genommen haben würde. Aber damals konnte ich sie nur für Seufzer nehmen und ich bemühte mich, sie auf alle mögliche Weise zu beruhigen, indem ich ihr die freudige Nachricht wiederholte, daß wir unsern Verfolger bedeutend überholten und daß die Distanze zwischen uns und ihnen zunehmends größer würde, und daß übrigens ihr Bruder, da sie nicht mehr minorenn – die weibliche Methusalem – minorenn – weder ein gesetzliches noch moralisches Recht hätte, über ihre Hand zu verfügen. Wir flogen unaufhörlich weiter, und wiewohl unsere Verfolger nicht näher kamen, so verloren sie uns doch nie ganz aus dem Gesichte. Wir hatten soeben Kingston Bottom hinter uns gelassen und bogen gerade in Kingston selbst hinein, als unsere Verfolger an uns vorüberjagten und vor der Kirchthüre anhielten. Man denke sich meine Ueberraschung, meinen Schreck und meine Verwilderung! In dem Augenblicke, als die Kutsche an uns vorüberschoß, [372] steckte meine Emilie, meine theuere Emilie, ihr altes Gesicht aus dem Fenster desselben, grinzte in einer schrecklichen Weise und schrie aus vollem Halse – und sie konnte schreien, das versichere ich meine Leser: „Beide auf derselben Fahrt, ich sehe.“

„Konnte ich meinen Sinnen trauen, war das meine Emilie, welche an mir vorbeiflog, über und über in weißem Atlas und feinen Spitzen, und das an der Seite seines spießbürgerlichen Civilisten? Wenn so, wer war das Wesen, das sich in diesem Augenblicke zitternd und seufzend in meinen Armen befand? Der Gedanke ist zweifelsohne ungeheuer schnell, jedoch hatte ich kaum Zeit, das zu denken, welches ich soeben niedergeschrieben habe, als unsere Kutsche ebenfalls vor der Kirchthüre anhielt und der Schlag niedergelassen wurde. In demselben Augenblicke sprang auch meine schöne Begleiterin, ihren Schleier und ein halbes Dutzend Mäntel von sich werfend, heraus und man denke sich meine Wuth und meine Scham, als ich nicht meine Emilie, sondern die alte Mumie Martha vor mir sah, welche mich auf das Schmählichste anlachte und mich herauszukommen einlud. Unser Wettjagen war nicht unbemerkt geblieben, und so hatten sich denn im Nu mehrere Straßenjungen um meinen Wagen versammelt, welche mich alle auf das Herzlichste verspotteten, und es hat wohl nie seit Erschaffung der Erde einen unglücklicheren Mann gegeben, als ich an diesem Tage war, wo ich allein nach der Stadt zurückkehrte und meine Emilie mit ihrem Gelde sich an einen prosaischen Civilisten verheirathete, der nicht einmal das Geschick hat, von dem ungeheuern Vermögen einen rechten Gebrauch zu machen.“

Dies ist der melancholische Liebesroman des armen Kapitains, und die schließliche Entwicklung ist allerdings tragisch genug für ihn, um ihn um seinen Verstand zu bringen.

(Schluß folgt.)




Kulturgeschichtliche Bilder.

Von Prof. Biedermann.
VII.
Die Untugend des Trunkes bei unseren Altvordern.

Wir haben uns in den bisherigen kulturgeschichtlichen Bildern[1] mit den materiellen Zuständen einer frühern Zeit im Vergleich zu der heutigen beschäftigt; wir wollen jetzt einmal die Aufmerksamkeit der Leser auf ein moralisches Charakterbild der Vergangenheit hinlenken. Es ist gewiß ebenso lehrreich, zu sehen, welche Veränderungen in Betreff der Sitte und Lebensweise unserer Nation vor sich gegangen sind, als die Verbesserung ihrer materiellen Zustände zu studiren.

Das Trinken war von jeher eine besondere Stärke unserer Landsleute. Von den alten Germanen wissen wir durch Tacitus, daß neben der Leidenschaft des Spieles die des Trunkes ihre müßige Zeit, wenn sie nicht auf Kriegs- oder Jagdabenteuern sich befanden, ausfüllte. Ihr Lieblingsgetränk war ein aus Gerste gebrauter und, wie sich derselbe Schriftsteller ausdrückt, nach Art des Weines gegohrener Trank, also jedenfalls etwas unserm heutigen Biere nicht ganz Unähnliches. Später lernten die Germanen durch ihren Verkehr mit den Römern den Wein kennen, erhielten solchen von ihnen im Umtausch für ihre Landesprodukte, und fingen mit der Zeit auch selber an, Weinbau zu treiben, so weit Boden und Klima dies gestatteten. Daß im Mittelalter stark gezecht wurde, ist bekannt. Der Humpen spielte ebensowohl bei dem Rittersmann und an den Höfen, wie bei dem Mönche und dem Domherrn eine große Rolle, und noch heute bezeugen die Namen mancher unserer edelsten Weine die Sorgfalt, mit welcher die geistlichen Herren diese köstliche Gottesgabe kultivirten, und den Werth, den sie darauf legten. Auch unser Luther verschmähte dieselbe keineswegs; man weiß ja, wie er die Liebe zum Wein, zu den Weibern und zum Gesang als einen Freibrief gegen den Vorwurf der Narrheit verkündete.

In jenen Zeiten war indeß das starke Trinken weder ein besonderer Vorzug noch eine eigenthümliche Schwäche unserer Nation. Die Engländer waren wegen ihres übermäßigen Genusses berauschender Getränke lange Zeit verrufener als die Deutschen, und im 30jährigen Kriege (wo in Deutschland wie auf einem großen Weltmarkt die Tugenden und die Laster beinahe aller Völker Europa’s sich zusammenfanden) wetteiferten Deutsche, Franzosen, Schweden, Italiener und Spanier im unmäßigen Trinken mit einander. Allein nach dieser Zeit trat bei jenen andern Völkern, besonders den Franzosen und Engländern eine merkliche Verfeinerung der Sitten in diesem Punkte ein, während die Deutschen noch ziemlich lange die angewöhnte Leidenschaft in unverminderter Stärke festhielten. Man kann sagen, daß erst um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, also seit wenig mehr als hundert Jahren, in den gebildeten Klassen Deutschlands so ziemlich überall das übermäßige Trinken aufhörte, guter Ton zu sein, und ein tüchtiger Rausch nicht mehr als ein nothwendiges Zubehör einer fröhlichen Gesellschaft und einer freigebigen Ausübung der Gastfreundschaft erschien. Unmittelbar nach dem 30jährigen Kriege, wo die Sitten überhaupt sehr verwildert waren, war die Völlerei des Trinkens durch alle Stände, von den höchsten bis zu den niedrigsten, und selber den geistlichen nicht ausgenommen, ganz allgemein verbreitet. Ein bekannter Satyriker der damaligen Zeit, Moscherosch, schmäht auf die Prediger, daß sie sonder Scheu mit ihren Beichtkindern um die Wette in den Schenken sich toll und voll zechten, und ein theologisches Gutachten aus den siebenziger Jahren des 17. Jahrhunderts klagt, die Leidenschaft des Trinkens gelte weder bei Geistlichen noch bei Weltlichen für eine Schande. Ja, ein pommerscher Geistlicher am Anfang des 18. Jahrhunderts sagte auf der Kanzel, das Saufen sei keine Sünde, so lange man nur nicht sp...

Die damalige Art der Geselligkeit trug viel dazu bei, diese Angewöhnung bei unserm Volke länger im Schwange zu erhalten, als anderwärts. Die Frauen waren im Durchschnitt noch wenig gebildet; die herrschende Sitte war den aus beiden Geschlechtern gemischten Gesellschaften nicht hold, und selber der in Deutschland trotz aller eingerissenen Verwilderung ziemlich lebendig gebliebene Sinn für ein abgeschlossenes Familienleben trug dazu bei, diese Isolirung der Männer und die daraus fließenden moralischen Folgen unverändert zu erhalten. In den Reichsstädten herrschte die Sitte, daß man Fremde nicht leicht in den Kreis der eigenen Familie einführte, vielmehr solche an öffentlichen Orten traktirte und dabei wo möglich durch einen Rausch „ehrte“. In manchen dieser Städte, besonders den Seestädten, war es herkömmlich, daß die Männer sich allabendlich beim Glase zusammenfanden, während den Frauen die Sitte nicht gestattete, an geselligen Versammlungen außer dem Hause Theil zu nehmen. Erst mit der wachsenden Bildung des weiblichen Geschlechtes und mit der Entwickelung einer zugleich freieren und feineren Geselligkeit trat in diesem Punkte eine Aenderung ein und in Folge dessen nahm auch das übermäßige Trinken der Männer ab, zumal immer mehr als geselliges Bindungsmittel an die Stelle der berauschenden Getränke, oder wenigstens neben diese, die in dieser Hinsicht unschädlichern, Kaffee, Thee, Chocolade etc. traten.

Doch ward in den ersten drei Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts noch allerwärts in Deutschland tüchtig gezecht, auf dem Schlosse des Landedelmanns, wie in dem Hause des reichen Handelsherrn und in dem Zunfthause des Handwerkers, an den weltlichen, wie an den geistlichen Höfen, und an den letzteren am Allerstärksten. Ein solennes Diner in einem reichen Kaufmannshause zu Hamburg oder Bremen durfte nicht enden, ohne daß wenigstens die männlichen Gäste wo möglich alle mehr oder minder ihren Schwerpunkt verloren hatten, und die Gegenwart der Damen legte dabei so wenig einen Zwang auf, daß man sogar diesen selbst ein mäßiges Räuschchen nicht übel nahm. Vor uns liegt das Anzeigeblatt der Stadt Frankfurt aus dem vorigen Jahrhundert; darin finden wir mehrfache Anzeigen von verlorenen Degen und anderen Gegenständen des Anzugs, wobei die sehr unbefangen angegebenen Umstände des Verlustes nicht daran zweifeln lassen, daß die betreffenden Personen (die jedenfalls den bessern Ständen angehörten) [373] durch einen Rausch in den Zustand der Besinnungslosigkeit versetzt waren, und in diesem Zustande sich öffentlich auf Straßen und Plätzen zeigten. Der alte Johann Jakob Moser erzählt in seinem „Leben,“ daß es beim Reichskammergericht in Wetzlar Sitte war, Solche, die sich zu einer Assessorstelle meldeten, nicht blos in der Jurisprudenz, sondern auch im Trinken einer Prüfung zu unterwerfen, damit sie, so oft es nöthig sei, in diesem Punkte ordentlich ihren Mann stellen und dem höchsten Gerichtshofe des Reichs Ehre machen könnten. Viel Trinken galt damals wirklich für einen Ehrenpunkt, eine zugebrachte Gesundheit schuldig bleiben, für eine Beleidigung. Manche Höfe hielten daher, auch nachdem sie feinere Sitten angenommen und dem übermäßigen Trinken entsagt hatten, immer noch eine Anzahl bewährter Zecher, welche beim Besuche fremder Cavaliere die schuldigen Honneurs machen und etwaige Herausforderungen zu Trinkduellen annehmen und ausfechten mußten. Denn manche der Virtuosen im Trinken, deren es namentlich an den geistlichen Höfen viele gab, machten sich ein Vergnügen daraus, an benachbarten Höfen umherzureisen und ihre Ueberlegenheit in dieser ächt vaterländischen Kunst zu zeigen. So wird uns in einer Reisebeschreibung aus dem Jahre 1729 von einem fürstbischöflich würzburgischen Geheimrath erzählt, der in Stuttgart die sämmtlichen Herren vom Hofe unter den Tisch trank, indem er in einem Niedersitze zehn Maß Burgunder zu sich nahm, und der, als Triumphator, mit stolzer Bescheidenheit rühmte, daß es seines Gleichen am Hofe zu Würzburg noch sieben gebe. Der bekannte Memoirenschreiber Baron von Pöllnitz, ein ganz französisch gebildeter und daher in diesen gothisch-vandalischen Künsten (wie ein englischer Reisender jener Zeit das unmäßige Trinken der Deutschen nannte) völlig ungeübter Mann, hatte bei seiner Rundreise an den deutschen Höfen, die er im Jahre 1729-30 machte, die komischesten Scenen in dieser Hinsicht zu bestehen. An eben jenem Hofe von Würzburg war er nach seinem eigenen Bericht Tag für Tag bis zur Bewußtlosigkeit berauscht. So oft er an der Tafel des Bischofs erschien, ward ihm, trotz aller Protestationen von seiner, und aller Versprechungen von der andern Seite, so lange zugesetzt, bis er sich für todt nach Hause tragen oder fahren lassen mußte. Da gab es erst während des Essens wohl zwanzig Gesundheiten zu erwidern, die ihm von den Anwesenden einzeln zugebracht wurden; dann, wenn der Bischof sich zurückzog und Pöllnitz ein Gleiches thun wollte, ward er noch im Vorzimmer von dem Oberstallmeister, dem Hofmarschall oder einem andern Herrn vom Hofe festgehalten und gezwungen, erst auf die Gesundheit des Fürsten, dann auf das Wohlbefinden des ehrwürdigen Domkapitels, zuletzt auf das Glück und Gedeihen des Stammhauses ihres geistlichen Oberhauptes, und zwar jedesmal ein großes Glas voll, zu trinken, und wenn er endlich, schon schwankend und kaum seiner Sinne mächtig hinaustappen wollte, fiel man ihm unter zärtlichen Liebesbetheuerungen um den Hals, nannte ihn Herr Bruder und nöthigte ihm noch so viel „Freundschaftsgläschen“ ein, bis es völlig um ihn geschehen war. Am Allerschlimmsten ging es ihm aber am Hofe zu Heidelberg. Der Kurfürst, der ihn sehr gastfrei aufgenommen, führte ihn, dem Herkommen gemäß, in Begleitung des ganzen Hofes zu dem bekannten großen Faß. Als Willkomm ward ihm hier ein ungeheuerer Pokal voll Wein gereicht. Pöllnitz überstand diese erste Probe glücklich, indem er einen Theil des Inhaltes hinter dem Rücken des Kurfürsten ausgoß. Aber immer stärker setzte man ihm zu. Auch die Damen nippten von dem Weine und nöthigten so die Herren zum fortwährenden Trinken. Pöllnitz, der seine Kräfte schwinden fühlte, ersah einen günstigen Augenblick, um sich unter dem Faß zu verstecken. Allein nur zu bald ward er vermißt, und der Kurfürst gab Ordre, den Flüchtling „todt oder lebendig“ zurückzubringen. Er ward entdeckt, hervorgezogen und vor seinen Richter geführt. Der Kurfürst beauftragte seine Tochter und deren Damen mit Fällung des Urtheilsspruchs über den Deserteur. Der Spruch lautete: er solle so lange trinken, bis er todt umfalle. Der Kurfürst erklärte, als Landesherr das Urtheil dahin mildern zu wollen, daß Pöllnitz stehenden Fußes vier grosse Humpen, jeden von einem halben Maß leeren solle. Der Verurtheilte verlor zwar nicht das Leben, aber Sprache und Besinnung; man trug ihn auf ein Bett, welches schon in Voraussicht dessen, was kommen würde, bereit stand. Als er nach mehreren Stunden wieder zu sich kam, hörte er zu seiner Genugthuung, daß es seinen Anklägern nicht besser ergangen sei, als ihm selbst, und daß der ganze Hof das Gewölbe in einem wesentlich andern Zustande verlassen habe, als in welchem er dasselbe betreten.

Von dem soldatischen König Friedrich Wilhelm I. von Preußen ist bekannt, daß er in seinem Tabakscollegium sich beinahe allabendlich mit seinen Generälen, Ministern und den fremden Gesandten betrank. Sein hochgebildeter, genialer Sohn liebte solche Bacchanalien nicht, er huldigte neben dem Mars nur den Musen und dem Apollo, und hatte nur Sinn für eine feine, vergeistigte Geselligkeit. Schon als Kronprinz hatte er sich, in seinem unfreiwilligen Exil zu Rheinsberg, mit einem Kreise geistvoller Männer und anmuthiger Damen umgeben. In diesen Cirkeln herrschte zwar Frohsinn, Witz und heitere Laune, aber auch Mäßigkeit und edler Anstand. Doch fehlte es auch hier nicht ganz an etwas munteren Scenen, die indeß, im Vergleich zu dem, was an den meisten andern Höfen vorkam, immerhin sehr gehalten und, weil sie eben nur eine Ausnahme von der Regel einer streng geordneten Lebensweise bildeten, sogar etwas anmuthig Reizendes hatten. Wir wollen daher mit der Schilderung einer solchen, als einem heitern Bilde, diese Skizze schließen, die im Uebrigen unsern Lesern leicht einen etwas wüsten Eindruck von dem Leben unserer ehrwürdigen Altvordern hinterlassen möchte.

„Wir hatten uns,“ erzählt ein Augenzeuge und Mitbeteiligter jener Scene, der Freiherr von Bielfeld, „kaum zur Tafel gesetzt, als der Kronprinz den Anfang machte, viele wichtige Gesundheiten eine nach der andern auszubringen, auf welche man nothwendig Bescheid thun mußte. Auf dieses erste Scharmützel erfolgte eine ganze Lage von scherzhaften und sinnreichen Einfällen, sowohl von Seiten des Prinzen, als einiger andern Anwesenden. Die finstersten Stirnen heiterten sich auf, die Fröhlichkeit ward allgemein, und selbst die Damen nahmen daran Theil. Nach Verlauf von zwei Stunden bemerkten wir, daß auch die größten Behältnisse nicht einem Schlunde glichen, worein man ohne Aufhören flüssige Materie schütten kann, ohne ihnen wieder einen Ausgang zu verschaffen. Die Nothwendigkeit litt kein Gesetz, und selbst die Ehrfurcht, welche man der Gegenwart der Prinzessin schuldig war, konnte mehrere der Gäste nicht abhalten, aufzustehen, um im Vorgemach frische Luft zu schöpfen. Ich selbst war von dieser Zahl. Beim Hinausgehen befand ich mich noch ziemlich frisch, aber nachdem mich die Luft getroffen, spürte ich beim Hineingehen in den Saal eine kleine Umnebelung, welche mir den Verstand zu umdunkeln anfing. Ich hatte ein großes Glas Wasser vor mir stehen gehabt. Die Prinzessin, der gegenüber zu sitzen ich die Ehre hatte, war durch eine kleine Schalkheit bewogen worden, mir das Wasser ausgießen und das Glas mit Sillerywein, so klar wie Quellwasser, anfüllen zu lassen; überdies hatte man noch den Schaum davon abgeblasen. Auf diese Art, da ich schon das Feine im Geschmack verloren hatte, vermischte ich wider Willen meinen Wein mit anderem Wein, und statt der gehofften Abkühlung trank ich mir ein Räuschchen, das einem Rausche ziemlich nahe kam. Um mir völlig den Rest zu geben, befahl der Prinz, daß ich mich an seine Seite setzen sollte; er schwatzte mir viel von seinen gnädigen Gesinnungen vor, ließ mich einen Blick in die Zukunft thun, so weit als damals meine umnebelten Augen sehen konnten, und nöthigte mich dabei, ein gestrichenes Glas nach dem andern von seinem Lunelwein zu trinken. Indessen empfand auch die übrige Gesellschaft die Wirkung des Nectars, der an diesem Feste wie Wasser floß. Eine der fremden Damen, die sich in interessanten Umständen befand, verspürte die gleiche Ungemächlichkeit wie wir, und stand hastig von der Tafel auf, um sich einige Augenblicke in ihr Zimmer zu begeben.

„Wir fanden diese heroische Handlung bewunderungswürdig. Die Dame wurde bei ihrer Zurückkunft mit Schmeicheleien und Lobeserhebungen überhäuft. Endlich, es sei nun aus Zufall oder aus Vorsatz, zerbrach die Kronprinzessin ein Glas. Dies war gleichsam die Losung für unsere ungestüme Freude und erschien uns als ein großes, der Nachahmung würdiges Beispiel. Im Augenblick flogen die Gläser in alle Winkel des Saales, und alles Krystall, Porzellan, Schaalen, Spiegel, Lichter, Geschirr u. dgl. wurde in tausend Stücke geschlagen. Mitten in dieser gänzlichen Verwüstung bezeigte sich der Prinz wie der gesetzte Mann beim Horaz, der beim Umsturz des Weltgebäudes die Trümmer desselben mit ruhigem und heiterm Auge betrachtet. Allein da sich die Freude in einen Tumult verwandelte, entzog er sich dem Handgemenge und begab sich mit Hülfe seiner Pagen in sein Zimmer. Die Prinzessin verschwand in dem nämlichen Augenblick. Ich für meine Person hatte das Unglück, daß ich auch nicht einen Bedienten antraf, der so viel Menschlichkeit besessen hätte, sich meiner wankenden Figur [374] anzunehmen. Ich kam also der großen Treppe zu nahe, und, ohne mich lange zu verweilen, fiel ich selbige von oben hinunter und blieb an der letzten Stufe ausgestreckt, ohne Besinnung, liegen. Ich wäre vermuthlich umgekommen, wenn nicht eine alte Magd mein Schutzengel gewesen wäre. Ein Zufall hatte sie an diesen Ort gebracht, und da sie mich im Finstern für den großen Schloßpudel ansah, so belegte sie mich mit einem garstigen Titel und gab mir mit dem Fuß einen Tritt vor den Leib. Da sie aber merkte, daß ich ein Mensch und, was noch mehr, ein junger Hofmann sei, so mochte sich ihr ganzes Herz bewegen; sie schrie nach Hülfe, meine Bedienten liefen herbei, man trug mich in mein Bett, holte den Chirurgus und verband meine Wunden. Den Morgen darauf schwatzte man mir vom Trepaniren vor, allein ich wurde von dieser Furcht befreit und mußte nur vierzehn Tage lang das Bett hüten, in welcher Zeit der Prinz die Gnade hatte, mich alle Tage zu besuchen und zu meiner Genesung alles Mögliche beizutragen. An eben diesem Morgen nach dem Fest war das ganze Schloß zum Sterben krank; weder der Prinz noch in anderer von seinen Cavalieren konnte aus dem Bette steigen, und Ihro königliche Hoheit die Prinzessin befanden sich allein an der Tafel.




Bilder aus dem jetzigen Kriege.

 III. Helgoland und die Fremdenlegion.

Helgo- oder das „heilge Land“, etwa sechs Meilen vor der Elbemündung, war bis vor kurzer Zeit den Engländern, deren Eigenthum es ist, nur ein unbekanntes Thule und wurde selbst von höheren Deutschen jeden Sommer immer wieder auf’s Neue entdeckt, insofern sie Meerwasser gegen Nerven- und Verdauungsbeschwerden probiren wollten. Dieses heilige, jetzt sehr weltliche Land für geschmuggelte deutsche Bummler ist ein aus der Nordsee emporgestrecktes Felsenstück von etwa einer halbmeiligen Länge und so breit, daß wenn man rasch von einer Seite auf die andere geht, in’s Meer fällt, weil man seine Fußlokomotive nicht so rasch anhalten kann, als der Boden „alle“ wird. Unten wälzen sich einige traurige Sandbänke um die steilen Ufer der Insel herum, von denen aus die Badegäste zuweilen angeln oder „Wellenschlag abfassen“. Heilig war einst die Insel als Residenz einer alten sächsischen Gottheit, genannt Phoseta, später als Festung der kühnen Häuptlinge seemächtiger Friesen. Damals soll sie auch viel größer gewesen sein. Das Meer hat alles Land weggewaschen und von dem Fleische nicht als die Knochen übrig gelassen. Im Jahre 1714 nahmen sie die Dänen als ihr Eigenthum in Anspruch und behielten sie bis 1807, wo es den Engländern, welche die dänische Flotte zerstört hatten, ein gutes Geschäft erschien, sie als ihr Eigenthum zu nehmen und sie in eine Schmuggelstation für ihre continentalgesperrten Einfuhrartikel zu verwandeln. Jetzt ist sie Schmuggelstation für geschmuggelte continentalgesperrte Ausfuhrartikel geworden. Im Frieden 1814 hielten es die Engländer für praktisch, die Insel sich auf der Waage des europäischen Gleichgewichts und des genau garantirten „ewigen Friedens“ als Knochenbeilage mit in den Kauf geben zu lassen. Sie hat zwei gute Häfen und kann wegen ihrer Höhe und Steilheit im Kriege gut vertheidigt werden, so daß die aus Deutschland geschmuggelten Artikel, wenn sie erst diesen „freien englischen Boden“ erreicht haben, verhältnißmäßiger Sicherheit vor der Republik und Polizei Hamburgs froh werden können. Die Stadt auf Helgoland besteht aus einer untern am Hafen und einer obern. Letztere sieht nur durch das Haus des Gouverneurs und einige andere „Staatsgebäude“ dieser großen Colonialregierung etwas besser, als ein gewöhnliches Dorf aus, unten aber ist’s fürchterlich in den kleinen Fischer- und Seeräuberhütten, am Schrecklichsten aber in den Hotels, in denen in der Regel Niemand logirt, während der Badezeit aber jede Hundehütte mit Gold bezahlt wird. Dies Jahr wird’s vielleicht noch schlimmer, obwohl anzunehmen ist, daß sich nicht Viele der Hoffnung schmeicheln werden, Bäder in Fremdenlegion-Auswurf seien nervenstärkend.

Die etwa 2200 Einwohner der Insel leben von Badegästen, Fischen im Meer und im Trüben und als Lootsen. Die Weiber und Töchter treiben Ackerbau, d. h. sie säen auf Stellen, wo noch etwas Erde ist, Gerste und Hafer und sehen zu, wie ein paar hundert Schafe fortwährend aufpassen, wo ein grünes Hälmchen empor guckt, auf welches sie dann gemeinschaftlich Jagd machen. Bäume und Sträucher giebt es nicht, wohl aber Strauchdiebe. Holz und Torf, Kohl und Kartoffeln holt man sich für Fische und gekaperte „Strandschätze“ von Cuxhaven und Hamburg. Während der Badezeit halten hamburger Kaufleute die nöthigsten Bedürfnisse und Erfrischungen feil, aber für Preise, die das Nervensystem stärker angreifen, als die Nordseewellen wieder gut machen können. Die jetzt von den Enländern vorgenommene Metamorphose ist noch störender. Mit der idyllischen Badesaison, dem Mark und der Seele Helgoland’s, wird’s nun wohl vorbei sein.

Zunächst erschienen englische Ingenieurs und suchten sich eine Stelle aus, um eine starke Batterie zum Schutze der geschmuggelten deutschen Bummler zu errichten. Für diese wurden denn auch eine ziemliche Portion Hütten gebaut, die unter der Aufsicht eines „Hüttenmeisters“ stehen. Jetzt giebt’s noch nicht viel zu hütten und zu hüten, da die englischen Seelenverkäufer und Pulverfutter-Schmuggler im Ganzen mehr Respekt vor der deutschen Polizei haben, als man dieser stolzen, für „westliche Civilisation“ kämpfenden Nation zugetraut hätte, und die Deutschen für ihren Goldklang durchweg schwerhöriger sind, als sie bei der sonst allgemein anerkannten Macht des Goldes (der alleinigen Allmacht Englands) glaubten. Von Hamburg sind sie bald herübergeschmuggelt die gekauften Seelen, aber die dortigen Republikaner wollen es doch als gute Neutralikaner auch nicht mit Rußland verderben und sehen auf die Gefahr hin, die westliche Civilisation zu erzürnen, gar nicht so ruhig zu, wenn deutsche Produkte verdächtig erscheinen, als wollten sie ohne Paß und Concession auf freie englische Schiffe steigen, um „der Königin zu dienen“, wie die eigentliche Phrase heißt, die übrigens ehrlicher ist, als „Kampf für die Civilisation“. Auch ist Palmerston, seitdem er nun wirklich zur Macht gekommen ist, gar kein solcher Eisenfresser mehr, wie früher, als er jedesmal furchtbare Kriegsschiffe schickte, sobald in irgend einem Theile der Welt ein freier Engländer nur schief angesehen worden war. Jetzt läßt er selbst Consul-Secretaire und sonstige englische Unterthanen ruhig arretieren oder auf den Schub bringen, wenn sie sich beim Schmuggeln oder Legioneinkaufen ertappen ließen. Auch ließ er neulich vierzehn Rekruten, die von Hamburg schon abgesegelt waren, ruhig von der Polizei zurückholen, und verlangte nicht einmal das Werbegeld wieder.

Hätten die englischen Staatsmänner den wirklichen Begriff und das ehrliche Ehrgefühl „der westlichen Civilisation“, brauchten sie ihre Agenten nicht wie hausirende Bandjuden ohne Hausirschein umherschleichen zu lassen. Uebrigens meint man in England, man habe nicht Ursache, mit den bisherigen Hausir-Resultaten in Deutschland unzufrieden zu sein. Auf dem kleinen, offenen Plateau der Insel sehen die sich herumtreibenden aufgekauften Artikel wie ein Paar hundert Stück aus. Bis in die Mitte des Juni hatten sie auch nichts weiter zu thun, als Pökelfleisch zu essen und unter englischen wollenen Decken und englischen Hütten zu schlafen. Ohne Waffen und ohne Kleidung von einem Ende der Insel zum andern bummelnd und sich das Meer ansehend, kannten sie bisher keine andere Sorge, als den Durst zu löschen, der durch Pökelfleisch und Müßiggang stets höher stieg, als die dargereichten Flüssigkeiten wieder hinunter bringen konnten.

Am 20. Juni gingen drei englische Schiffe von London mit noch mehr Pökelfleisch, Porter, Uniformen, Waffen, Oefen u. s. w. und einige Tage später noch drei andere Schiffe von Portsmouth nach Helgoland ab, so daß es an Leben, Comfort und Beschäftigung dort nicht fehlen wird. Uebrigens sollen sie in Portionen zu je 500 nach England verschifft und dort zu Futter für Pulver einexercirt werden.[2] Unter dem bisherigen Vorrathe bemerkte man viel ehemalige „schleswig-holstein’sche Offiziere“, die also aus dem einen schleswig-holstein’schen Kriege in den andern übergehen.
Die Redakt. 
[375]

Helgoland.

[376]

Blätter und Blüthen.

Der Ocean auf dem Tische. [3] (Wie macht man künstliches Seewasser?) Nach dem alten Gebote der Bibel: „Herrschet über die Erde und machet sie euch unterthan!“ und nach der von Hegel aufgestellten Forderung: „Die Natur muß sich dem Menschen ergeben“, hat man neuerdings denn auch ernstlich angefangen, in deren Inneres zu dringen, nicht „glücklich, daß sie uns nur die äußere Schale weist.“ Dieses Glück pries nur der große Philister Haller. Statt der bloßen Schale lieber nichts. Uebrigens „hat Natur weder Kern noch Schale, Alles ist sie mit Einem Male“, wie Goethe sang.

Zu den interessantesten und reichsten Eroberungen der Naturwissenschaft gehört der unterworfene, erdumgürtende Ocean. Das geheimnißvolle, wunderreiche Leben seiner Tiefen glänzt jetzt in englischen und schottischen Putz- und Besuchszimmern statt der Blumentöpfe und Pottichimanie. Zwischen hellen, durchsichtigen Krystallufern vor uns in Polster- und Sammetstühlen blühen die lebendigen, umherwandelnden Thierblumen oder Pflanzenthiere. Wir können den See-Anemonen in den Mund sehen, wenn sie das ihnen dargereichte Stückchen Fleisch verzehren. Fleischfressende Blumen! Wir haben die graziösen Bewegungen und Formen- und Farbenmetamorphosen der Zoophyten, der Crustaceen, Mollusken und Polypen, die Jahrtausende in dunkeln, uns unzugänglichen Tiefen walteten, in all ihrer Eigenthümlichkeit naturwahr und leibhaftig vor uns. Der tyrannische, allgewaltige, unbändige Ocean fluthet auf unserem Tische als die unerschöpfliche Freudenquelle unserer Gesellschaften, unserer Einsamkeit, ohne daß wir uns nur die Füße naß zu machen oder ihm gar den üblichen Tribut aus unserm Magen zu opfern brauchen.

Wir haben gelernt, das Seewasser künstlich zu fabriciren, es in gläsernen Gefäßen erst mit der nöthigen Vegetation zu bevölkern und dann die Bewohner der Tiefe darin anzusiedeln, und sie comfortabel und als unsere Stubenfreunde zu halten und zu pflegen. Wie macht man zunächst künstliches Seewasser? Wie die Natur es macht. Nur daß wir mit Hülfe der Chemie schneller und genauer fabriciren, als die Natur. Diese hat das Seewasser an verschiedenen Stellen etwas verschieden zusammengesetzt, nach Bibra’s genauen Untersuchungen je hundert Theile so:

Großer Ocean.      Atlant. Meer.       Nordsee     
Wasser 96,5292 96,4481 96,5617
Chlornatrium (Kochsalz) 02,5877 02,7558 02,5513
Bromnatrium 00,0401 00,0326 00,0373
Schwefelsaures Kali (Glaubersalz)  00,1359 00,1715 00,1529
Schwefelsaurer Kalk (Gyps) 00,1622 00,2064 00,1622
Schwefelsaure Magnesia 00,1104 00,0614 00,0706
Chlormagnesium 00,4345 00,3260 00,4641
100 Theile. 100 Theile. 100 Theile.

Wie schon in dem frühern Artikel erwähnt ward, legte Mr. Gosse, Professor der Naturgeschichte an der Universität zu Edinburg, der eigentliche Schöpfer der Privat-Marine-Aquarien, die Schweizer’sche nur sehr wenig abweichende Analyse zu Grunde und machte das erste künstliche Seewasser auf folgende Weise (Alles in Troy-Gewicht). Er mischte 31/2 Unzen gewöhnliches Kochsalz mit 1/4 Unze Epsomsalz, 200 Grans Chlormagnesium, 40 Grans schwefelsauren Kali und das Ganze mit 4 englischen Quart Wasser. Bromnatrium, schwefelsauren Kalk und schwefelsaure Magnesia ließ er ganz aus dem Spiele, da ersteres im mittelländischen Meere ganz fehlt und die beiden anderen Bestandtheile theils nur in sehr geringen Quantitäten vorhanden sind, theils wegen ihrer Unlöslichkeit im Wasser nicht nothwendig zur Qualität des Seewassers gehören und für das thierische und vegetabilische Leben entbehrlich erschienen. Die erste Gallone dieses so componirten Seewasseers (21. April vorigen Jahres) kostete ihm 51/4 Pence, noch nicht 5 Sgr. Am folgenden Tage filtrirte er die Hälfte davon durch einen Schwamm in ein Glasgefäß und bedeckte dessen Boden mit reingewaschenen Steinen vom Meeresufer und einige Steinfragmente, an denen sich etwas maritime Vegetation („Ulva latissima“) angesetzt hatte.

„Ich wollte,“ schreibt er, „nicht sofort Thiere hinzufügen, da ich es für nothwendig hielt, daß sich das Wasser erst etwas mehr mit den zerstreuten Sprossen der Ulva familiair mache und es für einigen Vorrath von Pflanzenkost sorge. Dies ist ja auch die Tagesordnung der Natur: erst Pflanzen, dann Thiere. Bald bedeckten sich denn auch die innern Wände mit den Sprossen der Ulva, und Bläschen von Sauerstoff entwickelten sich bald zahlreich unter dem Einfluß von Sonnenstrahlen. Nach einer Woche übergab ich dem Wasser mehrere Arten von Zoophyten (Pflanzenthieren), bestehend in Species der Actinia, Bowerbankia, Cellularia, Balanus, Serpula u. s. w., dazu einige rothe Seegewächs. Das Ganze gedieh und entwickelte sich von Tage zu Tage in freudigster Gesundheit und Kraft, so daß ich manchen neuen Bewohner der Tiefe hinzufügte. Nach 6 Wochen untersuchte ich meinen künstlichen Ocean auf dem Tische und dessen Bewohner auf das Genaueste, und fand letztere alle in bester Gesundheit. Nur einige Polyzoa, nämlich Crisea aculeata, Cellepora pumicosa und Pedicellina Belgica konnte ich nicht finden, obgleich ich glaubte, daß sie sich nur zwischen den Steinen und Gewächsen zurückgezogen hatten, da alle andern Thiere sich offenbar ganz wohl befanden.“

So war das künstliche Seewasser durch seine erste Prüfung gekommen. Seitdem haben sich die prächtigen Gesellschaftszimmer der gebildeten Schotten und Engländer auf das Mannigfaltigste mit Vivarien, Marine-Aquarien, belebten Oceanen auf dem Tische in glänzenden, zum Theil kostbaren Krystallgefäßen gefüllt, und es gehört nun zum besten Tone, die Prachtzimmer mit solchen Oceanen voller Wunder der geheimnißvollen Tiefe und der feenhaftem Schöpfungen zwischett Thier und Pflanze zu schmücken. In London hat man das prächtigste, großartigste Ideal dazu im Zoophyten-Hause des zoologischem Gartens im Regents-Parke. Die einzelnen kleinen Meere findet man hier in geradwändigen Glasgefäßen, da Rundungen und Krümmungen das Licht so reflectiren, daß sich die natürlichen Gestalten und zierlichsten Bewegungen der Bewohner inwendig zu sehr verschieben. Eine bestimmte Gestalt der Glasgefäße ist überhaupt nicht nöthig, wenn Wasser, Thiere und Pflanzen nur Raum und Nahrung haben. Im Zoophyten-Hause wird das Wasser im Durchschnitt nur alle vier bis sechs Monate durch frisches ersetzt. Das innere Leben erhält es frisch und kräftig.

Was die Fabrikation künstlichen Seewassers betrifft, kann sie unter Zuziehung eines Chemikers keine Schwierigkeit haben. Man kann sich aber, wie mich ein Chemiker versichert, die Sache sehr leicht machen, wenn man eben so zu Werke geht, wie die Natur. Woraus hat die Natur Seewasser gemacht? Durchaus nur aus Steinsalz, und so meint er, daß man z. B. 961/2 Loth Wasser auf 31/2 Loth Steinsalz (oder Salinenflüssigkeit aus Salzwerken) gegossen, jedenfalls ganz gutes Seewasser bekommen werde. Wenigstens kann man diesen wohlfeilen Versuch machen und dann chemisch und praktisch durch Einführung vegetabilischen und animalischen Lebens probiren.

Die erste Einführung der nöthigen vegetabilischen und animalischen Bewohner dürfte in Deutschland die meiste Schwierigkeit haben. Aber es kömmt auch nur auf Ueberwindung dieser ersten Schwierigkeit an, die mit etwas Geld, Interesse und naturwissenschaftlicher Bildung leicht zu bewältigen sein wird. Dieser erste Schritt würde sich auch kaufmännisch als sehr lohnend erweisen, wenn etwas Kapital, Capacität und Geschmack sich vereinigten, einige Marine-Aquarien von England zu importiren und deren Bewohner sich fortpflanzen und mehren zu lassen, bis man sie fix und fertig in verschiedenen Größen und je nach der Schönheit und Seltenheit ihrer Bewohner dem Publikum zum Kauf anbieten könnte.

Der in London lebende Einsender dieser Zeilen ist gern erbötig, das Seinige dazu beizutragen, und namentlich Männern der Wissenschaft und Familien, welche Lust haben, diese schönste Art von Zimmerdecorationen einzuführen, mit Rath und That beizustehen. Mein lieber Freund, Herr Ernst Keil, wird gewiß ebenfalls gern bereit sein, das Publikum und mein Anerbieten darin zu unterstützen und etwaige Anfragen und Briefe annehmen und an mich befördern. Wo mein Wissen und guter Wille nicht ausreicht, kommt mir Professor Gosse in Edinburg gern zur Hülfe.




Blumen-Luftschlösser. Ein Kunstgärtner in einer Vorstadt von Versailles wollte gern etwas Besonderes von Kunst zeigen und bemühte sich namenlich, Mittel zu finden, um die natürliche Größe von Blumen weit über deren natürliche Grenzen auszudehnen. Aber überall stieß er bald auf ein: „Bis hierher und nicht weiter!“ Er fragte aber: „Warum denn nicht weiter?“ und ging weiter, zunächst mit vollen Veilchen. Er nahm an, daß sich die delikaten Organe derselben wegen des großen Luftdruckes nicht weiter vergrößern ließen und kam daher auf die Idee, sie in höhern Regionen zu ziehen. Da nun aber um Versailles ihm keine hohen Berge zu Gebote standen, machte er sich von Luft einen Berg und baute ein Gewächshaus auf diesen Berg. Dieses Kunststück fing er so an: Er füllte einen Luftballon und ließ ihn an einem starken seidenen Faden 1200 Metres hoch steigen und in dieser Höhe halten. An den Ballon hatte er einige Töpfe mit vollen Parma-Veilchen mit gehörigem Schutze vor dem Winde gebunden. Nach einem Monate schraubte er den Ballon wieder herunter und fand statt der kleinen Parma-Veilchen wahrhaft prächtige blauen Veilchen-Rosen, so groß wie Centifolien. Man sieht also, daß man nicht nur Luftschlösser bauen, sondern sie auch mit Vortheil für praktische Zwecke verwerthen kann. Wenn sich das bestätigt, werden gewiß bald eine Menge Gewächshäuser auf Berge von Luft gebaut. Ist der betreffende Ballon groß genug, kann man auch oben im Blumensaale des Aethers Kaffee trinken, wenn man vielleicht eine Strickleiter oder einen Flaschenzug anbringt, um die Gäste hinauf- und herunter zu befördern. Dazu kommt jedenfalls noch die Kunst, Luftballons oder Luftschiffe beliebig zu lenken, da doch der gemeinste Vogel es schon so weit gebracht hat, selbst dem Winde entgegenzufliegen. Und dann ist’s auch ein Spaß von einem Luftschlosse in’s andere zu fliegen, dort ein Schälchen Kaffee mitzutrinken und dann gemüthlich durch die Luft nach Hause zu fliegen. Wir nehmen dabei schon als ausgemachte Sache an, daß manche Herrschaften sich überhaupt oben unterm Luftballon werden häuslich eingerichtet haben, da sie mit solchen Häusern und Wohnungen vor allen Dingen die Auslagen für eine Baustelle sparen. Ein guter, solider, gehörig großer, von drei Seiten an die Erde gebundener Luftballon kann sehr gut eine hübsche Sommerwohnung tragen, die man sich mit riesengroßen Blättern und Blumen umblüht und beschattet denken kann. Es muß sich da oben ganz herrlich wohnen, zumal da kein Magistrat und kein Staat Grundsteuern von solchen Häuser verlangen kann.



  1. Siehe Nr. 5 dieses und die Nrn. 32, 38, 42, 47, 52 des vorigen Jahrganges.
  2. Ist bereits geschehen.
  3. Vergleiche Nr. 4 der Gartenlaube. Wir erweitern und corrigiren hiermit die dort gegebene erste Anregung um so lieber, als sich Interesse dafür gezeigt hat, und einige Druckfehler darin stehen geblieben waren.