Die Gartenlaube (1855)/Heft 27
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No. 27. | 1855. |
Elsje.
Es war an einem Spätsommerabend, als die Familie des Gärtners van Houwening um den Tisch saß, die Abendmahlzeit zu halten; die letzten Lichter des Abendhimmels fielen durch die hellen Fensterchen auf die um den Tisch Versammelten. Es waren ihrer zehn, acht Kinder und das Aelternpaar. Der Gärtner nahm seine Mütze vom Haupte, und das kleinste der Kinder betete: „Komm’ Herr Jesu, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheeret hast!“ Und als das Gebet geendet war, begann jene rasche Arbeit, deren mächtige Triebfeder eine gesegnete Eßlust ist, und nicht lange währte es, so war die Schüssel mit gesottenen Kartoffeln leer und auf der kleinen Platte, darauf sechs Heringe gelegen, hätte das schärfste Auge keinen Rest davon entdecken können.
Als der Vater das Dankgebet gesprochen, sprangen die kleinen Kinder noch hinaus vor die Thüre zu heiterem Spiele; der Vater aber blieb an seiner Stelle, während Elsje, die älteste Tochter, der Mutter abräumen half.
„Wenn Ihr fertig sei in der Küche, so kommt herein,“ sagte der Vater. „Wir müssen über ernste Dinge reden!“ Der Ausdruck seines Gesichtes bestätigte seine Worte.
Während in der Küche Mutter und Tochter spülten, die Küche versorgten und das Nothwendige für den andern Morgen vorbereiteten, saß der Vater lange in trüben Gedanken. Zwei Söhne, der eine von siebenzehn, der andere von fünfzehn Jahren, saßen stille auf der Fensterbank, und sahen bald den jüngeren Geschwistern und ihren Spielen zu, bald ruhte ihr Blick auf dem sorgenvollen Antlitz des Vaters. Kein Wort wurde indessen gewechselt, bis die Mutter und Elsje eintraten, und sich erwartungsvoll setzten, doch war ihre Erwartung keine fröhliche. –
„Es sind schlimme Zeiten,“ hob endlich der Vater mit bewegter Stimme an, und ein Seufzer hob seine Brust; „schlimme Zeiten! Alles theuer und unsre Kartoffelernte reicht nicht bis April. Die Früchte sind mißrathen, die Trockenheit hat das Obst von den Bäumen gerüttelt, schlimmer als der gräulichste Sturm. Die Leute in der Stadt schränken sich ein. Mit Blumen ist nichts zu verdienen und die Gemüse vertrocketen auch trotz alles Begießens. Jan, Du weißt, wie es steht?“
Der ältest Sohn nickte bejahend, ohne daß er aufblickte, und die Mutter trocknete das Auge. Alle kannten die Lage der Familie genau.
„Wäre der Garten und das Haus bezahlt, so ginge es wohl schon eher, aber was ich auf- und losbringe,“ fuhr der Vater fort, „muß ich dem alten Wucherer bringen. Da bleibt keine Wahl; Dreie müssen sich ihr Brot verdienen, Du, Elsje, Du, Jan und du, Claas! – Es bleibt uns nicht Anderes übrig! Wie schwer es uns auch wird, wir müssen uns trennen.“ –
Mit Mühe hatte der Vater diese Worte gesprochen, und ein schwerer Seufzer und ein leises Schluchzen begleitete sie von Seiten der Mutter und Elsje’s. Die Worte des Vaters lagen zentnerschwer auf den Herzen.
Es trat ein lange Pause ein. Endlich sagte Jan:
„Ich sehe es wohl ein, Vater, und ich will gerne gehen, wenn ich nur wüßte, wohin? Wißt Ihr mir eine Stelle?“
„Der gute Baas Daatselaar hat Rath geschafft,“ sagte der Vater. „Du kommst zu seinem Bruder, Pint Daatselaar in Haarlem, und lernst da die Zwiebelzucht, die jetzt so außerordentlich viel Geld einbringt. Du darfst schon Morgen zu Daatselaar kommen; er giebt Dir einen Zettel mit und für Dich ist gesorgt, wie ich zu Gott hoffe, denn sein Bruder ist ein berühmter, und ein Ehrenmann.“
„Und was giebt’s mit mir?“ fragte Claas fest und ruhig. „Vater, Ihr wißt, ich bin ein Wasservogel und zum Gärtner verpfuscht. Laß mich Schiffer werden!“
„Ganz richtig,“ versetzt der Vater; „darum kommst Du zu dem Waalschiffer van Breigem, der in Gorkum vor Anker liegt. Mußt halt Schiffsjunge werden, armer Claas! Das hat so sein Mucken, aber es muß durchgemacht sein! Der alte van Breigem ist auch nicht mit seinem Schiffe, das „het Lammetje“ heißt, vom Himmel gefallen, oder auf die Welt gekommen. Er fing als armer Junge an.“ „Ich weiß es,“ sagte Claas. „Ich will mich schon durchwinden, und in einem Jahr ist’s überwunden. Ich hoffe, Ihr sollt’s erleben, daß ich auch noch so ein Lammetje steuere, als Patron nämlich!“ –
„Geb’s Gott in Gnaden!“ sagte der Vater und lächelte zu dem kecken Sinne des rothwangigen Jungen, wenn’s ihm schon nicht um’s Lachen war. „An Muth fehlt’s Dir nicht!“
„Und Du, meine Elsje,“ fuhr dann der Vater fort, und seine Stimme wankte – „Du gehst mit van Breigem, der morgen abfährt, nach Rotterdam. Er ist ein treuer Remonstrant und wird für Dich väterlich sorgen auf der Reise.“
[350] „Morgen schon?“ fragte Elsje, und fiel der weinenden Mutter um den Hals.
„Macht Euch das Herz nicht schwer – ja uns Allen mit,“ sagte der Gärtner. „Es ist uns Allen hart; aber es muß sein; ich kann das Brot für Euch Alle nicht mehr erschwingen. – Deine Lage ist vielleicht die beste, Elsje. Du kommst als Dienerin in das Haus des gelahrten und frommen Rathspensionärs, Hugo de Groot. Seine Frau soll eine edle Dame sein, und wenn sie ihren Aeltern gleicht, so ist’s nicht zu bezweifeln, denn Mynheer van Reigersberg war ein frommer Herr und ein gottesfürchtiger, milder Herr – Keiner von den wunderlichen, von denen der Apostel redet; und Mevrouw van Reigersberg war eine gute Seele, die aber Verstand und Kraft der Seele hatte, wie ein Mann. Ich war sieben Jahre ihr Gärtner und hab’s gut gehabt, und das ist meine Freude und Ehre, daß der alte Claas von Houwening bei der Tochter noch in gutem Andenken steht, während die Alten längst zum Herrn gegangen sind. Gott hab’ sie selig! Du weißt, Elsje, ich hatte an Mevrouw Maria de Groot geschrieben. Der Antwortbrief ist gekommen, der mir sagt, Du seiest willkommen im Hause und solltest es gut haben, wie ihr eigen Kind.“
Wieder trat eine Pause ein. Die beiden Söhne gingen hinaus in den Garten. Claas pfiff ein fröhlich Schifferlied, und Jan ging stille unter den Bäumen hin, dem Treibhäuschen zu, als wolle er seinen Lieblingen dort ein Lebewohl sagen. Das Herz war ihm voll und schwer, während Claas heitern Blickes in die Zukunft sah.
„Den beiden Jungen hast Du den Bündel schon gepackt, Louisetje,“ sprach der Vater zur Mutter. „Wie ist es mit Elsje’s Sachen? – Ich denke, je rascher geschieden wird, je besser für uns Alle! Langes Zaudern, langes Leid!“
„In einer Viertelstunde ist ihr Schließkorb fertig,“ sagte die Mutter, ihre heißen Thränen trocknend, „und van Breigem’s Lammetje lichtet vor zehn Uhr Morgen die Anker nicht. Du kannst ohne Sorge sein, Claas!“
„Gut dann,“ versetzte Claas von Houwening, und zündete seine irdene Pfeife an, um mit dem Rauche manchen Seufzer hinauszuschicken. Elsje erhob sich und ging hinaus, um – dem Herzen Luft zu machen und einen lieben Gang zu thun.
„Mutter,“ sagte der Gärtner, „halte Dich um Gottes Willen wacker. Blexem! mir bricht auch das Herz schier, die drei lieben, guten Kinder hinaus in die Welt zu schicken; aber es geht nicht anders, Du weißt es ja, so gut wie ich, und der alte Gott in Israel lebt noch und sein Arm ist nicht verkürzt. Er wird sie schützen und geleiten und unsre Gebete folgen ihnen nach. Wir wollen dem Herrn danken, daß sie Alle in guter Glaubensgenossen Häuser kommen und zu braven Leuten. Einmal mußte es so kommen, Mutterchen,“ fuhr er bewegt fort. „Früher oder später werden sie Alle in die Welt gehen, und es ist ja aller Aeltern Loos, daß sie im Alter allein stehen, wie entlaubte Bäume. Sie sind fromm und gottesfürchtig erzogen; sie stehen auf gutem Glaubensgrund; haben alle gesunde Glieder; sind frisch und munter; an Arbeit von Kind auf gewöhnt und haben gelernt, sich begnügen zu lassen mit dem Wenigen, was uns beschieden war. Ich hoffe, Gottes Segen wird sie begleiten, und sie werden ihren Aeltern Ehre machen, wohin sie auch Gottes Hand geleitet.“
Die Mutter faltete die Hände und blickte mit dem Auge voll Thränen in das erlöschende Abendroth. Der Liebe Anker ist das Gebet. –
Nach einer Weile sagte sie, sich sammelnd: „Claas, zürne mir nicht. Ein Mutterherz fühlt’s doppelt, wenn die scheiden, die unter ihm geruht haben. Ich weiß, daß es sein muß; ich weiß, daß sie unter Gottes Schutz stehen; aber es thut doch so weh.“ – Sie bedeckte ihre Augen mit der Schürze und weinte leise.
Der Alte, der seinen Schmerz bewältigen wollte, biß auf die Pfeife, daß ein Stück abbrach.
Louisetje sah auf, als sie den Ton hörte.
„Siehst Du, Mutter,“ sprach Claas, „so geht’s. Hab’ da mein Herzweh verbeißen wollen und die Pfeife bricht, aber das Herzweh bleibt!“ Er stützte seinen Kopf in die Hände und es fielen ein Paar heiße Thränen zur Erde. Dann sah er auf und schüttelte fast unmuthig den Kopf, und sagte zürnend über sich selbst: „Es ist ein miserabel Ding mit dem Herzen! – Es macht alle Vorsätze zu Schanden!“ –
Wenn man vor das Thor von Gorkum tritt, so breitet sich die unabsehbare, fruchtbare Ebene vor dem Auge aus. Hin und wieder tauchen einzelne Häuser und Gehöfte auf oder der Kirchthurm eines Ortes; dann zuweilen ein kleiner Wald, Busch genannt, aber selten ruht das Auge auf solchem Schmucke der Gegend, und Wälder, wie sie uns erfreuen und erquicken, wie sie den Reiz unserer Landschaft bilden, kennt man in den Niederungen nicht, die sich in Wiesenflächen und Ackerland theilen. In der unmittelbaren Nähe der Stadt erblickt man um das Jahr 1618 oder 1619 einzelne Häuschen, wie alle andern, aus Ziegelsteinen reinlich und nett erbaut, mit spiegelblanken Fenstern, beschattet von einem oder mehreren Bäumen und umgeben von einem Gärtchen, größer oder kleiner, und einigem Ackerlande. Diese Wohnungen lagen meist auf Erhöhungen des Bodens und man konnte unschwer den Grund in den Deichbrüchen und daher stammenden Ueberschwemmungen finden.
Es war um die Tageszeit, wo das Zwielicht jene reizende Mittelstufe zwischen Tag und Nacht bildet. Der westliche Horizont wieß noch in einem lichten Streifen einen kargen Rest jener Glut, welche den Sonnenuntergang begleitet hatte, und dieser Streifen lieh der Abendstunde eine größere Helle, als sie bei bedecktem Himmel würde gehabt haben. Noch flimmerte außer dem glänzenden Abendsterne keins der himmlischen Lichter herab; den Abendglockenklang der umliegenden Dorfschaften trug der Seewind in sanften Schwingungen über die weite Fläche, und nur noch wenige Arbeiter oder Fuhrwerke sah man die Stadt suchen, da Gorkums Feierabendglocke bereits geläutet hatte, welche die Arbeiter unter das eigene Dach ruft.
Rechts, den Dämmen des Flusses näher, lag von Houwening’s Häuschen und eingefriedeter Garten. Weiter von der Stadt, auf einer der genannten Erhöhungen, die man kaum Hügel nennen kann, stand eine starke Linde, und unter ihren schirmenden Aesten eins der Häuschen aus Ziegelsteinen, noch kleiner als das des Gärtners. Am Fuße des Hügels lag ein kleiner Gemüsegarten und einige bepflanzte Feldstücke, welche eine zierlich erhaltene Weißdornhecke umschloß. Die Linde war alt, denn ihre Wurzeln lagen, fast ein Dritttheil so dick als der Stamm, über der Oberfläche des Hügels und dienten jetzt den Bewohnern zu Sitzbänken, die aus dem Häuschen getreten waren, den Abend zu genießen.
An dem Stamme lehnte, auf einer dieser Wurzeln sitzend, ein Jüngling in der dunkeln Friesjacke, wie sie die Schiffer zu tragen pflegen. Er blieb leichte Wölkchen aus seiner Thonpfeife, und neben ihm ruhte, die Arme auf die Knie und mit diesen das Haupt stützend, eine hochbetagte Frau. Der Jüngling war Piet oder Peter van Halver, der Sohn der Wittwe. Ihr Anzug, wie das Ansehen der Wohnung trug das Gepräge der Armuth. Piet war ein blonder, schöner Junge von zwanzig Jahren, frisch, kräftig und lebhaft. Sein Antlitz, welchem der Südwester keinen Schutz verlieh, war gebräunt, doch trug es nicht die Bronzefarbe der Seeleute, und noch nicht jenen eigenthümlichen Charakter, den man sehr ausdrucksvoll mit dem Worte „wetterhart“ bezeichnet.
Beide, Mutter und Sohn, sahen schweigsam in das verglimmende Tageslicht und hingen Gedanken nach, die, wie sich aus dem später entwickelnden Gespräche ergab, sehr nahe sich berührten, ohne daß sie es jetzt zu ahnen schienen.
„Piet,“ hob endlich die Mutter an, „uns geht’s kratzig, und Du bist überall bei der Hand, wo es einen Kreuzer zu verdienen giebt, wie mag es erst van Houwening’s ergehen?“
„Schlimm,“ sagte Piet; ich habe eben auch an sie gedacht!
„Weißt Du,“ fuhr die Mutter fort, „was er mir gestern auf dem Heimwege aus der Kirche gesagt?“
„Wie könnt’ ich das wissen, Mutter, da ich mit Elsje gewiß ein paar Hundert Schritte vorausging und nicht hören konnte, was Ihr redetet,“ versetzte der Sohn. „Sagte er etwas von Wichtigkeit?“
„Sollt’s meinen,“ entgegnete die Mutter. „Er sagte, er könne es nicht mehr machen nach diesem traurigen Sommer; sie säßen zu Zehn zu Tische, und er könne das Brot für Sieben nicht erschwingen, darum –“
„Was? Was sagte er ferner?“ fragte rasch der Sohn, dem die Mutter zu langsam sprach.
„Nun, er sagte, Dreie müßten aus dem Brote, die drei Aeltesten.“
[351] Ein tiefer Seufzer arbeitete sich aus des Jünglings Brust los. Seine Arme sanken entkräftet herab und fast wäre seine Pfeife zerbrochen.
„Hat er das gesagt, gute Mutter, so führt er’s auch aus. Er überlegt erst alles reiflich, ehe er es ausspricht; dann folgt aber dem Worte auch die That auf dem Fuße.“
„Das ist richtig,“ war der Mutter Gegenrede. „Er hat’s auch schon in’s Werk gesetzt. Es wird keine zwei Tage dauern, so ist’s geschehen, denn mit dem Lammetje sollen sie fort. Jan nach Haarlem, Claas als Schiffsjunge auf’s Lammetje und –“
„Und Elsje?“ rief der Sohn laut.
„Nach Rotterdam!“ sagte eine wohltönende Stimme, der man aber die schmerzliche Bewegung anhörte. Sie klang hinter dem Stamme der Linde hervor.
Mutter und Sohn fuhren herum und erblickten Elsje, die langsam den Hügel heraufgestiegen war und nun ihnen nahe stand, leise und wehmüthig den guten Abend bietend. Elsje’s Gestalt hob sich dunkel am abendlichen Himmel ab. Sie war von mittlerer Größe, schlank, ohne mager zu sein und von den edelsten Formen. Blondes, reiches Haar lag in einfach geflochtenen Ringeln um den schönen Kopfs und bildete dennoch hinten ein sogenanntes „Nest,“ wo es ein silberner Pfeil, ein Geschenk ihrer Pathe, der Frau Daatselaar, hielt. Ihre rothen Wangen, die sonst so lieblich von der schneeweißen Haut abstachen, waren einer Blässe gewichen, welche das Leid der Seele offenbarte, und die sonst so strahlenden blauen Augen waren matt und von Thränen geröthet. Ihr Anzug war der der Landleute jener Gegend, kleidete sie aber trotz seiner Armuth ungemein gut, wie sie denn eine höchst anmuthige Erscheinung war.
„Was sagst Du?“ rief Piet voll Schrecken, ließ seine Pfeife fallen, daß sie in Scherben brach und faßte bebend ihre Hand und zu gleicher Zeit Piet’s Mutter die andere.
„Ich muß fort mit Jan und Claas,“ sagte sie, mit einem schmerzlichen Blicke den Jüngling ansehend, „nach Rotterdam; morgen schon mit van Breigem’s Lammetje.“
Piet ließ ihre Hand fahren und bedeckte mit der seinen seine Augen.
„Und nach Rotterdam, sagst Du?“ rief die Mutter. „Ach, Du, meiner Augen Trost, soll ich Dich denn nicht mehr sehen?“
„Das verhüte Gott!“ seufzte das Mädchen, indeß ihre Augen auf Piet ruhten, der noch immer, seine Augen mit der Hand bedeckend, dastand. Sie dehnte sich an der Mutter Schulter und es trat ein peinliches Schweigen ein.
„Was denkt Dein Vater?“ rief endlich, wie aus einem düstern Traume erwachend, der Jüngling. „Nach Rotterdam? – In die weite Ferne? – In der Stadt, in welcher Du fremd bist, Niemanden kennst und Niemanden hast, der Dir riethe und rathen hilft?“
„Du weißt, guter Piet,“ sagte das Mädchen wehmüthig. „Mein guter Vater ist zu besorgt für sein Kind, daß er es so in die Welt hinausstieße. Willst Du mich ruhig anhören, so will ich Dir Alles erzählen.“
Piet nickte, denn die Brust war ihm wie eingeschnürt. Er hätte nicht reden können.
„Mein Vater war früher Gärtner bei dem reichen Handelsherrn van Reigersberg viele Jahre hindurch, wohlgelitten und wohlgehalten bis zu dessen Tode. Als er nun den Gedanken mit sich herumtrug, daß es unserer Haushaltung ersprießlich sei, drei kräftige Esser weniger zu haben, und Dreie, für deren Bekleidung man nicht zu sorgen brauchte, ging er zu van Breigem auf het Lammetje im Hafen, das eben seine Ladung gelöscht hatte. Der brave van Breigem ist unser Glaubensgenosse, der es mit meinem Vater und uns Allen sehr wohl meint. Sie besprachen sich mit einander, und da nennt mein Vater den Namen van Reigersberg. „Habt Ihr bei denen in Diensten gestanden, Baas van Houwening,“ sagte van Breigem, „so weiß ich guten Rath. Mama van Reigersberg ist die vortreffliche Gattin unseres gelehrten, hochgeachteten und verehrten Glaubensgenossen des hochmögenden Rathspensionärs Hugo de Groot oder wie sie es verkauderwälschen: Hugo Grotius. Die ist aller Verlassenen Helferin und Trösterin, so klug als schön und so schön als fromm und gottesfürchtig. Schreibt einen Brief an die edle Dame; beruft Euch auf Eure treuen Dienste in ihrem älterlichen Hause und bittet sie, daß sie Euch einen Dienst ausmache für Euer Kind. Wenn sie es nicht gut und vortrefflich thut, so will ich mich an meinem Fockmast aufhissen lassen, wie eine Flagge und bammeln, wie ein Segel bei rasch eintretender Windstille.“
„Das leuchtete meinem lieben Vater ein, denn er kannte die edle Mevrouw Maria, und sie mußte sich seiner noch erinnern da sie damals, als ihr Vater starb, etwa zehn bis zwölf Jahre, alt war. Mein Vater eilt heim und schreibt, und schon umgehend kommt ein gar lieber Brief von der edeln Frau, worin sie schreibt, wie sie sich seiner und noch recht im Guten erinnere und sich freue, daß mein Vater seinem heiligen Glauben treu geblieben sei; er solle nur das Mädchen auf dem Lammetje schicken, sie werde es, wenn es, wie sie nicht zweifle, gottesfürchtig erzogen und anstellig sei, als Hausmädchen in ihrem eigenen Haushalte behalten und ihm guten Lohn geben, für sein Seelenheil sorgen und es halten, wie ihr eigen Kind. Du siehst, da ist kein leichtsinniges Hineinfahren, sondern ruhige Ueberlegung wirksam gewesen und Gottes Barmherzigkeit war dem Vater hold.“
„Gewiß,“ sagte die Mutter, sorgte Dein redlicher Vater für Dich. Das wußte ich im Voraus, und Piet hat das eben erst selbst ausgesprochen; aber mehr und herrlicher Der über uns. Ihm sei Dank und Preis.“
„Ja, ja,“ rief Piet. „Es ist schon Alles gut, wär’ nur das Scheiden nicht und das Alleinhierbleiben! Ich glaub’, ich ertrag’s nicht!“
Elsje legte ihre Hand auf seinen Arm. Sie hatte ihre Ruhe, wie es schien, ganz wieder gewonnen.
„Guter Piet,“ sagte sie, „sei ein Mann! Willst Du Dich geberden wie ein Weib, so muß ja das arme, schwache Weib zum Manne werden und ihn an das erinnern, was seine Pflicht ist. Wir trennen uns nicht willkürlich, wenigstens gehe ich nicht freiwillig, aber ich sehe das Alles als eine Schickung Gottes an und beuge mich, wie schwer es mir auch wird. Im Anfang meinte ich, es müßte mir das Herz brechen, aber ich habe im Kämmerlein gebetet, und nun bin ich ruhig geworden und was Gott gefügt hat, das wird er auch herrlich hinausführen! Und ist denn Rotterdam aus der Welt?“
Piet erschrak über des Mädchen’s Worte und es überkam ihn ein rechtes Schamgefühl, daß ihn an Sammlung das Mädchen übertreffen solle.
„Du hast Recht,“ sagte er nach einem minutenlangen Schweigen, bei dem er sich die Sache nach Elsje’s Aeußerungen zurecht gelegt, „Du hast Recht, Elsje! Ich will auch nicht mehr so meinem Gefühl den Lauf lassen. Aber, Elsje, bleibst Du eingedenk Deines Wortes? Wirst Du in der großen Stadt des armen Piet gedenken?“
„So solltest Du mich nicht fragen,“ sprach das Mädchen ruhig, fest und nicht ohne Vorwurf. „Wär’ es so, daß Deine Frage Grund, Ursache, Fug und Recht hätte, so würde mein Ja darauf nicht mehr werth sein als die abgedörrte Lindenblüthe, die der Abendwind auf Deinen Acker dorthin trägt. Sagt Dir Herz und Verstand, daß ich vor Gott ein aufrichtig Ja darauf sagen müßte, warum stellst Du sie dann an mich?“
Piet blickte betroffen zur Erde.
„Elsje,“ rief er dann plötzlich, ihre kleine Hand fassend, „Elsje, zürne mir nicht! Es kam mir zu plötzlich, zu unerwartet, und das hat mir den Kopf ganz auf die Seite gerückt. Und daß es mir weh thut bis in’s Innerste meiner Seele, Dich missen zu müssen, willst Du mir drob grollen?“
„Mit Nichten!“ flüsterte Elsje. „Mir geht’s ja nicht besser!“
Die Mutter seufzte.
„Ach,“ sagte sie, „wer wird mich nun pflegen, wenn ich die Opwerkens, meinen alten Umstand und Fehler, kriege? So eine sanfte Hand gibt’s auf Gottes Erde und in Altniederland nicht wieder!“
Das war eine Herzensklage aus tiefstem Grunde, denn die arme, alte Frau litt periodisch lange und viel. In solchen Zeiten, wo Piet dem Verdienste nachgehen mußte und auch noch für das Haus hätte sorgen müssen, wenn nicht Elsje, wie ein holder Engel, überall helfend, lindernd zu Rath und That bei der Hand gewesen wäre, hatten Vater und Sohn wohl erkannt, welch’ ein ächter Schatz und Juwel das Mädchen sei, besonders aber Jevrouw van Halver, die arme Leidende.
Elsje tröstete. „Gottes Güte wird Euch bewahren! und wenn das alte Gepreßte kommen sollte, und ich kann nicht helfen, so hat mir die Mutter versprochen, mit dem Mietje abzuwechseln. Das [352] Mietje ist jetzt vierzehn Jahre alt und ein anstellig Ding, dabei gut und barmherzig gegen jegliches leidende Wesen.“
„Du gutes Kind,“ sagte dankbar die Wittwe. „So hast Du also schon für mich gesorgt?“
„Warum denn nicht?“ sagte Elsje. „Man muß an Alles denken. Das Mietje wird Piet waschen und flicken und die Mutter wird’s schon anleiten und unterstützen. Erhört aber der liebe Herr unsere Gebete, so habt Ihr gewiß nicht viel zu leiden von Eurem Umstand.“
Noch viel wurde hin und her gesprochen. Die Dunkelheit war gekommen und Elsje dachte an’s Heimgehen.
Da hörte man plötzlich Stimmen, die näher kamen. Es waren Elsje’s Brüder, Jan und Claas, die der Mutter van Halver und dem ehrlichen Piet noch ein Lebewohl sagen wollten. Jan war stille und ernst, Claas voll freudigen Hoffens. Nach kurzem Gespräche schüttelten sie den guten Nachbarn und Freunden die Hand, wünschten ihnen Glück und Segen, empfingen die herzlichsten Wünsche und Segnungen zurück und schickten sich zur Heimkehr an.
Elsje lag weinend an der Brust der Alten, die sie tief bewegt segnete. Endlich riß sie sich los und reichte Piet die Hand.
„Ich gehe noch mit Dir,“ sagte er mit bebender Stimme und faßte mit Hast die theure Hand in der seinen. So schieden sie alle Vier und wandten sich gegen van Houwening’s Garten. Jan und Claas gingen voraus, und Claas sagte seinem Bruder, daß er von Meister Cornelis van Breigem, seinem Patron, gehört habe, er könne Jan jährlich drei- bis viermal in Haarlem besuchen, wenn er von Leyden, wo er hinkomme mit het Lammetje, hinüber liefe.
„Das kann und werde ich,“ sagte er fröhlich, „denn ich kann laufen, wie ein Hase, Jan, und um Dich zu sehen, soll mir’s nicht zu weit sein!“
Während die Brüder sich und namentlich der frische, gutmüthige Claas dem stillen, gemüthvolleren Jan das Scheiden leicht zu machen suchten, fühlten zwei Herzen, etwa zwanzig Schritte hinter ihnen, seine ganz Last und Bürde.
Sie sprachen fast kein Wort, aber ihre Hand hielt Piet fest in der seinen, und nahe dem Garten van Houwening’s preßte er das Mädchen plötzlich an seine Brust und sagte: „Bleib mir hold und treu!“ Dann riß er sich los und verschwand im Dunkel der nun in ihre volle Herrschaft getretenen Nacht.
Am andern Nachmittag lichtete het Lammetje die Anker. Van Houwening’s ganze Familie stand auf dem Hafendamme und an einem der Krahnen lehnte Jan van Halver. Seine trüben Blicke sahen nur eine Gestalt, die mit dem Taschentuche winkte. Er antwortete mit dem Schwenken seines Südwesters. Lange dauerte dies Grüßen, bis eine Biegung des Flusses den Rumpf des Lammetje den Blicken entzog; aber an dem vom Thalwinde geschwellten Segel hafteten die Blicke, bis auch es in weiter Ferne verschwand; da erst fühlte der Jüngling recht tief seinen Verlust. – Als van Houwening sich zur Heimkehr umwandte, sah er Jan am Krahnen lehnen. Der Jüngling schien Alles um sich vergessen zu haben, ja, es war, als sähe er den Vater Elsje’s nicht, bis er ganz nahe bei ihm stand. Seine Blicke folgten noch der Richtung des Schiffes.
„Neef Piet,“ sprach der Gärtner, „Dir geht’s, wie mir; aber blick’ da hinauf, wo der Himmel so blau ist. So weit seine Bläue reicht, waltet der Arm des Herrn über ihnen!“
„Ich weiß es!“ sagte Jan leise; – „aber – “
„Es that weh, das Scheiden,“ fuhr ergänzend der Gärtner fort; „es ist wahr. Dagegen giebt’s nur ein Heilmittel – Glauben und Arbeiten!“
„Ihr habt recht, Ohm Claas,“ entgegnete der Jüngling. „Das Recept ist gut. Ich will’s in Ehren halten. Ich wollte gestern zu Euch kommen –“
„Thue es heute, Neef Piet,“ fiel der Gärtner ein.
„Nein,“ sagte Piet, „ich kann nicht! Ich will’s Euch hier sagen: Ihr habt sechs rüstige Arme verloren; ich biete Euch zwei dafür, da ich nicht mehr habe; aber sie sollen viere ersetzen!“
Der Gärtner drückte seine Hand. „Ich danke Dir, Neef Piet!“ sprach er mit Bewegung. „Ich werde sie vermissen, das ist wahr, und wenn ich die zwei wackeren Arme brauche, die Du mir anbietest, so komm’ ich, und hole mir sie. Ich weiß, sie folgen einem treuen Gemüthe.“
Damit war das Geschäft abgethan und stille ging Jeder seiner Wohnung zu.
Was treu und wahr gemeint und gesagt wird, bedarf vieler Worte nicht. Sie kannten sich genau; Piet’s Vater war der treue Freund des Gärtners gewesen durch’s ganze Leben, und die Mütter waren gorkumer Nachbarskinder und treue Freundinnen. Durch lange Freundschaft waren die Familien fast Eine geworden und ohne daß darüber geredet worden wäre, billigte man Elsje’s und Piet’s Liebe und sah beide als künftige Ehegatten an, wenn anders die Umstände es erlaubten. Piet warf sich mit ganzer Kraft in’s arbeitsvolle Leben. Sein Vater war Gemüsegärtner gewesen und Piet hatte dies Geschäft gelernt; als aber der Vater starb, da mußten die besten Ländereien für die Schulden veräußert werden, und was übrig blieb, reichte zum Betriebe nicht mehr aus. Piet entsagte ungern seiner lieben Gärtnerei, mußte es aber. Er war indessen ein äußerst anstelliger Junge, der besonderes Geschick zum Schiffbau hatte. Einst schnitzte er ein Seeschiff und stellte es im Kleinen vollkommen her, zierlich und nett. Dies trug er zu dem reichen Schiffbauer van Herseele, der auf dem gorkumer Werft eine erste Größe war. Der Mann sah sich das kleine Modell eines solchen Fahrzeugs genau an, und als er sich überzeugt, daß Piet es ohne Beirath und Hülfe gemacht, kaufte er es ihm um einen schönen Preis ab und nahm ihn als Junge in Dienst. Seitdem war Piet Schiffszimmermann geworden, und van Herseele war mit ihm so zufrieden, daß er ihn schon nach einem Jahre zum Gesellen machte. Da verdiente Piet viel Geld. Sein Feld bestellte er in den frühesten Morgenstunden, wenn ganz Gorkum noch in den Armen des Schlafes lag, und zu rechter Zeit war er auf dem Werft. In den freien Feierabendstunden baute er sich einen Kahn, zu dem Herseele, der seine Freude an ihm hatte, ihm das Holz schenkte. Mit diesem setzte er dann in den Feierabendstunden Leute über und war bald der beliebteste, weil sicherste Kahnführer. Kamen die Offiziere der Besatzung von Schloß Löwenstein nach Gorkum und hielten sich dort bis nahe der Stunde auf, da der Kanonenschuß vom Schlosse die Thorschluß- und Appellstunde meldete, kamen sie eilfertig in den Hafen, und riefen sie nur: „Piet! Schnell!“ Und Piet war da und sein Kahn schnitt durch die Wellen wie ein Pfeil, der von der Sehne des Bogens geschnellt wird, und zur guten Stunde landeten sie. Dafür wurde er dann reichlich belohnt.
Man sah ihn in keinem Wirthshause, bei keinem Tanze, nirgends, wo das junge Volk der Lustbarkeit nachgeht. Seine Sonntage brachte er in der Kirche, und nach dem Gottesdienst bei Ohm Houwening zu, wo der alte Gärtner im Worte Gottes las und Gebeststunde hielt; dann waren alle im Garten im traulichen Umgang und Gespräch, oder sie gingen gegen Abend alle zusammen auf dem Uferdamme spazieren. So führten sie ein harmlos Stillleben, wie es die Sitte in vielen Familien pflegte.
Piet konnte seine liebe Mutter ehrlich und auskömmlich nähren, aber das, was er eigentlich im Auge hatte, wollte ihm, trotz seiner Anstrengungen, nicht gelingen. Immer noch hing seine Seele an der Gärtnerei. Die Ländereien seines ehemaligen väterlichen Besitzthums wieder an sich zu bringen; ein Treibhaus sich zu erbauen und dann ganz Gärtner zu werden, war sein Ziel, darauf alle sein Sinnen, Dichten und Trachten gerichtet war – und dann – Elsje als Tochter seiner alten Mutter zuführen. Wohl hatte er sich einmal ein Sümmchen erspart, aber eine lange Krankheit der Mutter zehrte es wieder auf, und seitdem hatte die Ungunst der Zeit und der Verhältnnisse es dazu nicht mehr kommen lassen. Er arbeitete aber unverdrossen fort und sagte: „Wir sind noch jung, Elsje und ich; vielleicht giebt uns Gott doch noch Segen, daß ich mein Ziel erreiche.“
Wie tief ihn auch die Trennung von Elsje gedrückt und gebeugt, in der Arbeit und im gläubigen Aufblick zu dem Herrn fand er Trost, und als nun gar ihre Briefe ihre Grüße brachten, trug er’s leichter und dachte: „Sie wird ja wiederkommen!“
Schiller in Volkstädt.
„Die Stelle, die ein guter Mensch betritt,
Die bleibt geweiht für alle Zeiten.“
Goethe.
Immer, wo wir auch Schiller treffen mögen, finden wir ihn in dürftigen Verhältnissen, oft in beklemmender Lage, und nicht mit Unrecht vergleicht der Franzose Berlioz dessen Wohnung in Weimar mit der eines armen deutschen Studenten.
Nicht jene Armuth im Bettlergewande ist es, die uns rührt oder ergreift, das Genie, wenn es gegen äußere, mißliche Lagen kämpft, und zwar mit einem Stolze, mit einer Erhabenheit, die uns schon mit Ehrfurcht erfüllen müßte, wäre der Dulder auch nur ein gewöhnlicher Mensch. Die Welt hat leicht sagen: es war gut, daß dieser oder jener große Mann arm geboren wurde; doch für den großen Mann gab es gewiß Stunden solcher Entbehrung, in denen er vielleicht wünschte, weniger berühmt, aber sorgenfreier leben zu dürfen.
Die köstlichsten Perlen erzeugt die Schnecke im größten Schmerze, und so auch entsprangen schon die erhabensten Gedanken, die angestauntesten Worte aus tiefstem Seelenschmerze, aus den nagendsten Sorgen. Es giebt Pflanzen, die verwelken, sobald sie eine Blüthe getrieben. Der Mensch bewundert diese als eine außergewöhnliche Naturerscheinung, aber die Pflanze welkte doch. Tausende finden Trost, Freude und Entzücken an den Werken berühmter Männer, denken aber vielleicht nie daran, mit welchen Opfern, unter welchen Kämpfen die seltenen Perlen erzeugt wurden. – Wo du das Genie erblickst, siehst du auch die Dornenkrone; so erging es aber nicht allein dem deutschen Genius – alle Länder haben ihre großen Todten, denen die Nachwelt Denkmale errichtete, an deren Unglück aber die Zeitgenossen herzlos vorübergingen. Die alte wie die neue Geschichte, ist reich an darbenden Genies – der Portugiese Camoëns steht als erschütternstes Beispiel da – Chatterton, der bereite als elfjähriger Knabe den greisen Horace Walpole auf’s Eis führte, starb sogar eines unnatürlichen Todes, um nicht – verhungern zu müssen.
Das Geburtshaus Schiller’s in Marbach ist nicht viel mehr [354] als ein Bauernhaus, und prächtigere Paläste bewohnte er in der Folge fast nie, wenn ihm nicht einmal die Freundschaft ein würdigeres Asyl bot. Das Haus in Mannheim, das er nach seiner Flucht bezog, sieht zwar ziemlich respektabel aus, aber Schiller wohnte unter’m Dache; das bekannte Studirzimmer in Weimar trägt den Stempel der Gedrücktheit, und fast mit Verstimmnung betritt man die ärmliche Kammer in Gohlis, wo die Worte über der Hausthür: „Hier wohnte Schiller,“ fast wie ein Hohn erscheinen. Und so wie sein Leben unter mannigfachen Entbehrungen dahin floß, verkündete auch die Art und Weise seines Begräbnisses, daß nur ein armer Mann bestattet worden sei, man mag nun die Sache bemänteln wie man wolle. Jene vielbesprochene und vielgedeutete Gestalt, die im Dunkel und von ferne dem Sarge folgte, und die Gutzkow, wofür wir ihm Alle die Hand drücken dürfen, als den deutschen Genius bezeichnete – jene Gestalt war das einzige Wesen, welches dem großen Todten die letzten Ehren erwies; und jene Gestalt, deren Existenz überhaupt ja noch zweifelhaft, erfand man vielleicht nur, um nicht im Namen der Nation erröthen zu müssen, daß einer der größten Geister aller Zeiten wie ein Stadtarmer begraben wurde.
Solche Misere, die geneigt sind, den Menschen seiner Würde zu entkleiden, hafteten am Leben Schiller’s nur zu reichlich. Sie sind aber auch die Ursache, daß wir nicht allein mit Bewunderung auf ihn hinblicken, sondern auch mit innigster Theilnahme – ja mit Liebe; und in diesem Sinne war Schiller nicht allein ein Liebling der Musen, sondern auch der Liebling der Menschen. Den kleinsten Umständen seines Lebens folgt der Deutsche mit fühlendem Herzen und hängt mit innigerer Bewunderung an seinem Liebling, je mehr er ihn unter dem Drucke der Verhältnisse dulden und entbehren sieht.
So dachte sich auch wohl Thorwaldsen seinen Schiller als er dessen Statue für Stuttgart schuf. Nicht allein den Denker, nicht allein den tiefen, stillwaltenden Geist sollte das zur Erde geneigte Haupt bezeichnen – auch die physischen Leiden sind auf jenes Antlitz geschrieben, sie ruhen auf jenem gebeugten Nacken, auf der ganzen nachlässig-krankhaften Gestalt. – Während Goethe, dem das Glück vom Anfang bis zum Ende seines Lebens lächelte, der unter den größesten der glücklichsten Einer war – während er, fest und stark wie eine Eiche dasteht, gleicht Schiller der schlanken Ulme, die mancher Wind zur Erde beugte, mancher Sturm entblätterte. Zudem war, wie sein alter Schreiber bemerkt: „Der selige Herr Hofrath, so lange ich ihm diente, immer kränklich.“ –
Eine halbe Stunde von Rudolstadt liegt die „Schiller’s Höhe,“ auf einem mäßigen, waldumkränzten Berge. Ein Häuschen von Baumrinde steht dort, und in der Mitte der kleinen Plattform die kolossale Bronze-Büste des Dichters, von Dannecker. Jenseits der Saale, die ziemlich am Fuße der Anhöhe vorüber fließt, steht ein einsames Häuschen, frei vor dem Dorfe Volkstädt. Hier wohnte Schiller 1788, ein neunundzwanzigjähriger Jüngling. Wie die beiden Leonoren ein Glück darin fanden, dem lebensunpraktischen Tasso mit zarter Sorgfalt und fein beobachtendem Geiste an die Hand zu gehen, so unternahmen es damals auch die edeln Fräuleins von Lengefeld für unsern Dichter zu sorgen, indem sie ihm in dem kleinen Hause eine Behaglichkeit gründeten, die Schiller nicht dankbar genug anerkennen konnte. „Der Ort, die Lage, die Einrichtung im Hause,“ – schreibt er an seine Freundinnen, „Alles ist vortrefflich. Sie haben aus meiner Seele gewählt. Eine fürstliche Nachbarschaft hätte mir meine Existenz verdorben.“ – Aus seinem Zimmer übersah er die Ufer der Saale, die sich wie ein silbernes Band durch die Wiesen krümmt und im Schatten uralter Bäume dahin fließt. O, könnten diese Bäume erzählen von den abendlichen Gängen dieser drei Menschen, denen ihr Thal eine Welt dünkte, die, fern von dem Geräusche des Lebens, in dieser heiligen Ruhe ihr schönstes Glück fanden, und sich nach jeder Zusammenkunft nie ohne erhöhte gegenseitige Achtung trennten. In diesem Thale, in dem es still ist, wie in erhabenen Menschen, wandelte der nach Einsamkeit Sehnsüchtige und schuf hier die „Götter Griechenlands“ und „die Künstler,“ schrieb die „Briefe über Don Carlos“ und „Uebersetzungen aus dem Euripides.“ War er mit den Freundinnen zusammen, las er Homer, von dem er, wie von den andern großen Griechen, bisher wenig Notiz genommen hatte. Seine Jugendbildung hatte ihn nicht in dieselben eingeführt; sein späterer wechselvoller Lebenslauf hatte ihm keine Muse gestattet und keinen Anreiz gegeben, das Versäumte nachzuholen.
„Unter dem erwärmenden Lichte der Freundschaft, in der Abgeschiedenheit von dem Geräusche der Welt, war Schiller jetzt des ruhigen Gleichgewichtes der geistigen Kräfte theilhaftig, in deren Spiegel allein uns die alte Welt in ihrer wahren Gestalt vor das entzückte Bewußtsein tritt und er wurde jetzt nicht im Sittlichen, sondern nur im Aesthetischen durch seinen Homer beschämt, in dessen edler Simplicität er die von der Schönheit abgeirrte Künstelei seines Geschmackes erst recht klar erkannte. „„Ich lese jetzt nichts als Homer,““ schrieb er an seinen Freund Körner, „„die Alten geben mir wahre Genüsse; zugleich bedarf ich ihrer im höchsten Grade, um meinen eigenen Geschmack zu reinigen.““
Noch im Jahre 1844 lebte in Rudolstadt eine Häuslerswittwe, eine Frau hoch in die Siebenzig, welche nicht wenig stolz darauf war, „den gelehrten jungen Mann,“ wie sie Schiller nannte, gekannt zu haben, und die beiden „gnädigen Fräuleins,“ die ihn immer von der Stadt aus besuchten. Frau von Beulwitz beschrieb sie als eine schmächtige Dame; Charlottens von Lengefeld erinnerte sie sich jedoch weniger. Die sei simpler gewesen und meist neben oder hinterher gegangen, wenn die ältere Schwester mit dem Dichter im Gespräche war. Auch sah sie Schillern oft, wenn sie Waldbeeren suchen ging, den Ort besteigen, der jetzt „Schillershöhe“ heißt, und erzählte mit sichtlichem Entzücken, wie er ihr sogar einmal den Kopf gestreichelt habe, als sie an ihm vorüber gegangen. – Aus diesen Aeußerungen, so kurz und naiv sie gehalten sind, geht hervor, wie mächtig Schiller’s ganzes Erscheinen selbst auf Leute dieser Kreise wirkte, was uns noch erklärlicher wird, wenn wir eine Stelle aus dem Briefe seines ältesten Sohnes lesen: „Der Vater kam wenig zu uns in die Kinderstube, aber wenn er einmal kam, so war es uns immer, als träte ein höheres Wesen zu uns herein.“
„Es war der heilige Pfingsttag,“ so fuhr die Alte in begeisterter Gesprächigkeit fort, „und von dem jungen, gelehrten Manne war schon viel Redens im Dorfe, obwohl er nur erst kurze Zeit in seinem einsamen Häuschen wohnte. Damals war es noch Brauch, daß wir Kinder den Leuten, versteht sich nur den guten Leuten, Maienbäumchen vor die Thüren oder in die Stuben setzten, und dazu ein geistliches Lied sangen. Und so kam es auch, daß ich und meine Schwester Hannel (sie ruht schon seit zwanzig Jahren unter der Erde), dem neuen Miethsherrn einen Maibaum in die Stube brachten, der so groß war, daß sich die Zweige oben an der Decke umbogen. Ich weiß das noch wie heute. Aber der Herr Schiller war noch auf seiner Höhe, und wie wir wieder aus dem Hause traten und uns freuten, den großen Baum so gut in die kleine Stube gebracht zu haben, sahen wir ihn vom Berge heruntersteigen. Nachher hat er lange noch am Fenster gestanden und hinausgesehen in den Thalgrund. Er hatte ein blasses, geisterhaftes Gesicht und seine Haare waren gelb und lang, nicht gepudert und zusammengedreht, wie es die vornehmen Herren in der Stadt thaten.“
So weit die gewiß ehrliche Berichterstatterin. –
Nicht immer, wie wir vorausschickten, war Schiller von grünenden Maien umgeben – wandelte er nicht die größte Hälfte seines Lebens auf Dornen? – Gesteigert in seinen Empfindungen durch das Freundschafts-Verhältniß zu den beiden Schwestern, war sein Lächeln wohl ein glücklich-zufriedenes, als er beim Eintreten in seine Stube das frische Laub erblickte, das ihm fromme Christensitte brachte. O hätte der Dichter doch viele solcher Maientage erlebt, wir würden oft mit weniger Schmerz auf sein Leben blicken, das der Leiden viele in sich schloß und der Freuden so wenige.
Vom Baue des menschlichen Körpers.
Um hören zu können, bedarf der Mensch Dreierlei, nämlich einen Apparat, welcher die Töne aufnimmt, d. i. das Gehörorgan, einen Apparat, welcher die vom Gehörorgane aufgenommenen Töne zum Gehirne leitet, d. i. der Gehörnerv, und einen Apparat, welcher die zugeleiteten Töne bewußt werden läßt, d. i. das Gehirn. Nur wenn diese drei Apparate in Ordnung sind, hören wir gut, und Störungen im Hören können sonach ihren Grund in krankhaften Veränderung ebensowohl des Gehörorgans, wie des Gehörnervens und des Gehirns haben.
Das Gehörorgan, welches seine Lage auf dem Boden des Schädels, an der Seite desselben hat, ist zum größten Theil im Felsentheile des Schläfenbeines verborgen und deshalb für die ärztliche Kunst sehr unzugänglich. Nur sein äußerster Theil steht unter dem Namen äußeres Ohr seitlich an der Gränze des Gesichts hervor. Der Zweck dieses physikalischen, nach acustischen Gesetzen gebauten Organes ist: die Töne (Schallwellen) zu sammeln, nach Umständen zu verstärken oder zu schwächen, und nach verschiedenen Richtungen hin bis zum Gehörnerven auszubreiten. Es zerfällt dieser ganze Hörapparat seiner Lage und Bestimmung nach in drei Portionen, in das äußere, mittlere und innere Ohr. In diesen drei Abtheilungen, von denen die mittlere durch die Ohrtrompete mit der Rachen- oder Schlundkopfshöhle, dicht hinter der Nasenhöhle, im Zusammenhange steht, findet man zur Fortpflanzung des Schalles theils Luft, theils Wasser und feste Körper.
1) Das äußere Ohr, welches einen etwas gewundenen flachen Trichter bildet und in gleicher Höhe mit der Nase an der Seite des Kopfes liegt, faßt die im gewöhnlichen Leben schlechtweg Ohr (a) genannte und mit Haut überkleidete Knorpelplatte, sowie den, mit dieser Platte ununterbrochen zusammenhängenden äußern Gehörgang (b) in sich, an dessen innerem Ende das Trommelfell (c) ausgespannt ist und den Gehörgang von der Paukenhöhle trennt. Die Bestimmung des äußern Ohres besteht im Auffangen, Sammeln und Verstärken der Schallwellen, und dies geht um so besser vor sich, je größer, tiefer und elastischer das Ohr ist und je mehr es vom Kopfe absteht. Man fand, daß plan anliegende Ohren nicht so scharf hören als solche, welche etwa um 30–40 Grad vom Schädel abstehen. – Zur Erreichung seines Zweckes stellt das Ohr eine muschelförmige Platte mit mannigfachen Erhabenheiten und Vertiefungen dar, welche, wenn wir alle Muskeln derselben von Jugend auf übten, nach den verschiedensten Richtungen hin von uns bewegt werden könnte. Die Haut des Ohres ist mit vielen Drüsen, Blutgefäßen und Nerven versehen und bildet am untern Ende des Ohres eine beutelartige Verlängerung, das Ohrläppchchen. Die tiefste Stelle des Ohres heißt die Ohrmuschel, und diese führt nach innen in den etwa 1 Zoll langen und etwas gekrümmten äußern Gehörgang, dessen äußere Hälfte eine knorpelige, die innere eine knöcherne, dem Felsenbeine angehörige Wand hat. Dieser Gang, dessen Verstopfung durch angehäuftes und eingetrocknetes Ohrenschmalz, sowie durch fremde Körper (Baumwolle, Erbsen, Bohnen, Steinchen u. s. w.) Schwerhörigkeit, Ohrensausen und selbst völlige Taubheit nach sich zieht, ist durch Härchen und bittern Ohrenschmalz, welcher in Drüschen bereitet wird, vor dem Eindringen von Insekten geschützt. Das innere Ende des Gehörganges ist durch ein schräggestelltes, weißröthliches und elastisches Häutchen, das Trommel- oder Paukenfell verschlossen, dessen äußere, vertiefte Fläche in den Gehörgang sieht, während die innere gewölbte Fläche der Paukenhöhle zugekehrt und mit einem Gehörknöchelchen, dem Hammer, verwachsen ist. – Die Schallwellen, welche auf das Ohr treffen und theils durch die Luft, theils durch die Wand des äußern Gehörganges zum Trommelfell fortgepflanzt wurden, werden nun von diesem dem mittlern Ohre mitgetheilt. Es scheint, als ob das Trommelfell je nach seiner Erschlaffung oder Spannung, welche durch kleine Muskeln besorgt wird, auf den Schall verstärkend oder schwächend einwirken, höhere und tiefere Töne mit größerer oder geringerer Schärfe auffassen lassen könne. Zerstört man das Trommelfell, was nur in seltenen Fällen Taubheit veranlaßt, so gelangt man in das
2) mittlere Ohr, welches im Felsenbeine verborgen liegt und aus einer kleinen rundlichen Höhle, der Pauken- oder Trommelhöhle (d), und aus einer Röhre, der Ohrtrompete (e) besteht. Beide enthalten Luft und in der ersteren zieht sich vom Trommelfelle aus, welches die äußere Wand der Paukenhöhle bildet und diese vom äußern Gehörgange trennt, nach innen zur Scheidewand zwischen der mittlern und innern Ohrabtheilung, eine Kette von vier kleinen, eigenthümlich geformten Knöchelchen, den Gehörknöchelchen, während sich die Ohrtrompete schief nach vorn und innen herab zum Schlundkopfe (zur Rachenhöhle) erstreckt, wo sie sich dicht hinter der Nasenhöhle über dem Gaumen öffnet und so Luft aus Mund- und Nasenhöhle in die Paukenhöhle zu leiten vermag. Mit einer gekrümmten Sonde kann man durch die Nase in diese Trompete gelangen, deren Verstopfung (besonders bei Schnupfen und Mandelbräune) gar nicht selten Schwerhörigkeit und Ohrensausen veranlaßt. Es scheint, als sei der Zweck der Ohrtrompete: der Paukenhöhle Luft zuzuführen und die Resonanz in dieser Höhle zu begünstigen (wie die Oeffnung in der Violine). Wenn wir bei starken Tönen (Kanonenfeuer) den Mund unwillkürlich öffnen, so scheint dies deshalb zu geschehen, um das Trommelfell nicht blos einseitig von außen vom Gehörgange her, sondern auch von innen, von der Seite der Trompete und Paukenhöhle aus, mit den Tönen in Berührung zu bringen und so dessen zu heftige Erschütterung oder vielleicht gar Zerberstung zu verhüten. Ist das Trommelfell durchlöchert, dann läßt sich Luft und Tabaksrauch vom Munde aus durch die Trompete, die Paukenhöhle, die Oeffnung im Trommelfelle und durch den äußern Gehörgang zum Ohre herausblasen. – An der innern, dem Trommelfell gegenüberstehenden Wand der Paukenhöhle sieht man zwei Oeffnungen, die beide in die innerste Abtheilung des Gehörorgans führen, aber beide geschlossen sind; die obere (das ovale Fenster) durch ein Gehörknöchelchen, den Steigbügel, die untere (das runde Fenster) durch das zweite Trommelfell. Wollte man diese Fenster öffnen, so würde man durch das erstere in den Vorhof, durch das letztere in die Schnecke gelangen können. – Die Gehörknöchelchen, vier Stück, nämlich der Hammer, der Ambos, das Linsenknöchelchen und der Steigbügel, sind in der genannten Ordnung zu einer beweglichen Kette verbunden, welche vom Trommelfelle, mit dem der Hammer verwachsen ist, quer durch die Paukenhöhle hindurch nach innen bis zum ovalen Fenster reicht, welches der Steigbügel mit seinem Fußtritte verschließt. Durch diese Knöchelchenkette wird der Schall vom Trommelfell durch das ovale Fenster zum innersten Ohre (Labyrinthe) und zwar zum Vorhofe fortgepflanzt. Außerdem scheint der Schall aber auch noch durch die Luft und die Wand der Paukenhöhle nach innen fortgeleitet zu werden. Die Verbindung der Gehörknöchelchen unter einander ist so, daß der Hammer, durch seinen Stiel mit dem Trommelfelle verwachsen, mit seinem Köpfchen auf der breiten Fläche des, einem zweiwurzlichen Backzahne ähnlichen Ambos liegt, dessen kurzer Schenkel über dem Trommelfelle befestigt ist, während der lange, abwärts gerichtete Schenkel unter einem rechten Winkel durch das Linsenknöchelchen mit dem Steigbügel in Verbindung tritt.
3) Das innere Ohr oder das Labyrinth stellt eine vollkommen geschlossene Höhle im Felsentheile des Schläfenbeins dar, welche ganz mit Wasser erfüllt und der Sitz des Gehörnerven ist. Die
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Bilder aus dem jetzigen Kriege.
Der Mai hatte um den Theil des Tschernaya-Flusses, den wir durchritten, das Thal weit umher mit dem üppigsten, grünen, blumenreichsten Gewande angethan. Fett und feist in die Höhe geschossene Blumen neuer Art schwankten schwer unter ihrem reichen Diamantenschmucke von Thautropfen: Georginen, Anemonen, Weißdorn, Thymian, Münze, Spargel und Hunderte ganz unbekannter Stauden und Blumen. Auf unserer rechten Seite marschirten die Türken als Begleiter des recognoscirenden Omer Pascha durch dieses hohe, herrliche Blüthen- und Duftmeer, das in den süßesten aromatischen Wellen unter ihren eintretenden Füßen aufschwoll und zu uns herüberwehte. Wir nahten dem Schlachtfelde von Inkerman. Rechtwinkliche Stücke langen, reichen, blüthenschweren Grases, hoch emporragend über das natürliche Grün der Wiesen umher, bezeichneten die Massengräber, in welchen die Erschossenen und Erschlagenen vom 25. October zu Hunderten in je einer ausgegrabenen Tiefe ruhen. Der Leichengeruch in seiner Mischung mit dem würzigsten Aroma des Frühlings machte einen unbeschreiblich erschütternden Eindruck, am Empfindlichsten auf die Pferde. Sie schnaubten und schnarchten mit emporstarrenden Mähnen in die Gräser und Blumen, von denen keins nur einen Halm abbiß und waren nur mit der größten Gewalt darüber hinweg zu bringen. Zitternd an allen Gliedern und starrend in jedem Haar der Mähne eilten sie dann darüber hinweg und athmeten tief aus, als sie wieder natürliche Wiese unter die Füße bekamen. Auch die Vögel, die anderswo lustig in den heiß aufathmenden Maimorgen hineinpfiffen und trillerten, wurden hier still und flogen davon, nachdem sie an verschiedenen Stellen probirt hatten, sich niederzulassen. Bald häuften sich auf unserm Wege die Denkmäler jenes schrecklichen, „glorreichen“ Octobertages. Das Skelett eines englischen Dragoners lag noch da zwischen dem Grase, wie er gefallen war. Zerrissene Fetzen seiner rothen Uniform spielten um seine abgenagten Gebeine. Die Knöpfe waren alle abgeschnitten. Er muß gleich im Anfange der Schlacht gefallen sein, als die schwere Reiterei dicht am „Canroberts-Hügel“ unter das Feuer der russischen Artillerie kam. Nicht weit davon lag freundschaftlich ein noch nicht ganz fleischloses Russenskelett. Sie hätten sich im Leben wohl eben so gut mit einander vertragen, wenn die höhere Staatsweisheit der Schöpfer und Erhalter des europäischen Gleichgewichts wirklich als Männer vier Punkte, und nicht Fragezeichen als Diplomaten, gemacht haben würden. Der kleine, runde Schädel des Russen war von Geiern kahl genagt und ausgeweidet, nur das röthliche Haar flatterte noch wirr um seine tiefen Augenhöhlen.
Weiter hin schien ein anderes russisches Skelett zwischen Kugeln und Fragmenten von Kartätschen aus dem Grabe in die Höhe gesprungen zu sein. Nur die Füße waren etwas bedeckt. Mit dem Oberkörper ragte er auf und ein Arm lag wie drohend. Wir mußten unsere Pferde nun mit all’ unserer Gewalt durch Labyrinthe halb verwes’ter Artillerie- und Cavalleriepferde zwingen, neben und unter welchen einzelne, abgerissene Menschenglieder, Theile von Schädeln, verwaschenes Sattelzeug, verrostete Gebisse, Schnallen, Kleiderfetzen u. s. w. umher zerstreut lagen. Ein furchtbares Labyrinth von Todeskämpfen, das nun ruhig in den Verzerrungen, mit welchen [357] der erlösende Tod auf sie herabgestiegen, liegen geblieben war. Aus unzähligen Gräbern hatte der Regen die obersten Schichten herausgewaschen, so daß sie grimmig aus Gras und Blumen in die Höhe drohten, wie um gegen ihren Tod, ihr Begräbniß und diese Kriegsführung die Rache des Himmels herabzurufen.
Trommeln und Pfeifen und unsere Sporen trieben uns und die Pferde in voller Lebenskraft durch die Ueppigkeit des Todes und des auferstandenen Frühlings, heute noch Kinder des letzteren, um vielleicht schon morgen verstümmelt und todt unter dessen Blumen zu versinken.
Am 22. und 23. Mai hatten etwa 5000 Franzosen mit Verlust von 1700 Mann Minen gesprengt und Schanzen genommen und bei Verfolgung der fliehenden Russen Hunderte und aber Hunderte bayonnettirt, da kein Pardon erbeten und gegeben ward. Von allen den Mann gegen Mann mit Bayonnet und Säbel Fechtenden war immer wenigstens je Einer gefallen, so daß die stumpfen Winkel der einzelnen Schanzreihen und der ganze Weg bis nach dem Redan hin der aufgehenden Sonne ein unabsehbares Labyrinth von zerstochenen, zerhackten und zerschossenen[WS 1] Leichen bot. Man hatte natürlich, wie immer bei solchen Gelegenheiten, vom Abend bis zum Morgen gefochten.
Nach diesem entsetzlich theuer erkauften Siege, für welchen General Pelissier bereits 10,000 Mann zu opfern bereits gewesen war, glaubte man das gehörige Fundament für die Erstürmung der Mamelon-Höhen gewonnen zu haben. Der Mamelon ist ein rauher, unregelmäßiger Steinhügel, dem Malakoff- oder weißem Thurme gegenüber, unten etwa von einer und oben von einer Viertel englischen Meile im Umfange und beinahe 100 Fuß höher als das Plateau des Malakoffthurmes. Tiefe Schluchten mit Wasser und Steinen gefüllt, Schanzen in verschiedenen Winkeln und schroffe, kantige, rauhe Abhänge umschützen ihn. Von Oben drohen schwere Kanonen und tausende kleinerer, Tod speiender Feuerschlünde. Es galt also eine der kühnsten, blutigsten Kriegsthaten, auf die Pelissier ununterbrochen bis zum 7. Juni vorbereiten ließ. Nachmittags brach die siebente Division zu diesem Werke auf, die zweite unter General Carnot bildete den vordersten Posten. Etwa 700 Yards vor dem Fuße des Berges in der Karabelnaja-Schlucht sammelten sich die Truppen und wurden hier von General Bosquet militärisch eingeweiht. Ein Bataillon des algierischen Regiments, in Columnen von Subdivisionen, mit scharlachrothen Fez, blauen offenen Jacken mit gelbem Besatz, weithosig bis an die Kniee, wo gelbe Lederbänder die weißen Gamaschen hielten, mit bloßen Hälsen, braun und zum Theil ganz schwarz von Gesicht, aus deren schwarzen Bärten die Augen schreckhaft weiß hervorblitzen, diese malerische, wilde Sorte von Halbbarbaren bildet stolz und mit elastischem Schritt die vorderste Spitze des gewaltigen Zuges. Das Zuavenregiment mit robusten Leibern und furchtbaren Bartwäldern contrastirt eben so malerisch zu den kleinen, magern, elastischen Chasseurs à Pied.
Man denke sich 12,000 Mann der verschiedensten Truppengattungen in eine weite, öde, mürrische Schlucht hinein, angedroht von dem fürchterlichen Mamelon, mürrisch angestaunt von öden, dahin gestreckten Höhen, diese auf das Bunteste belebt von rothröckigen Engländern und blitzenden Offizieren und Gläsern, Jubelgeschrei von allen Ecken und Enden, stürmisch und in allen Tonarten erwiedert von den unabsehbaren dichten, geschlossenen Reihen der Franzosen – und man wird sich ein schwaches Bild der Scene ausmalen können. Nun füge man Omer Pascha mit 15,000 gelben Türken und braunen Aegyptern auf der Inkerman-Seite hinzu, um einen Ausfall der Russen aus den Thälern zu verhüten, Pelissier und Canrobert mit einem glänzenden Gefolge von Stabsoffizieren und Adjutanten auf einer Höhe der Victoria-Redoute, Lord Raglan mit seinem Stabe auf einer andern Anhöhe, von wo aus man die Stelle, wo die Engländer angreifen sollten, gar nicht sehen konnte, und ein paar Tausend Engländer unten, so hat man die großen Figuren dieses Sturmes alle beisammuen.
Vier mächtige Raketen, die 61/2 Uhr in den Himmel hinaufzischten, gaben das Zeichen zum Angriffe. Von allen Seiten drängten die Truppen heran und flogen mehr über die untern russischen Schanzen, als sie kletterten, ohne auf besondern Widerstand der Russen zu stoßen. Auch als sie massenweise die steilen Höhen hinaufklimmten, wurden ihnen blos wenige Schüsse von den Parapeten [358] der Höhe heruntergeschickt, so daß bald der ganze oberste Rücken des Berges mit wüthenden Scharmützlern gefüllt war. Die russischen Malakoff- und Redan-Batterien waren von dem lebhaftesten Feuer der englischen zum Schweigen und die ganze Vertheidigungs-Maschinerie offenbar in Confusion gebracht worden, da man einen solchen Sturm nicht bei Tage erwartet haben mochte. Die Russen flohen alle in der Richtung des Malakoffthurmes, so daß die ganze Mamelonhöhe ohne irgend einen ernstlichen Kampf durch bloßes Hinaufklettern erobert zu sein schien. Mit diesem leichten Siege nicht zufrieden, ließen sich die Franzosen ohne Commando, blos von dem Feuer des Krieges, vom Instinkte hinter den fliehenden Russen hertreiben, als wenn alle plötzlich einstimmig beschlossen hätten, nun sofort auch den Hauptschlüssel zu Sebastopol, den Malakoff, zu nehmen. So stürmten sie leidenschaftlich hinunter in das Thal, das wie ein umgekehrter Sattel sich zwischen Mamelon und Malakoff streckt, und gerade hinauf gegen die Schanzen des entgegengesetzten Hügels. Unter Kanonen-, Flinten- und Steinregen drängten die Franzosen immer vorwärts, bis sie schon unter der niedrigsten Schußlinie der Kanonen waren, so daß sie nur noch von dem Stein- und Musketenregen litten. Aber sie litten mehr, als sie vertragen konnten, da sie in ihrer plötzlich ungemein gering erscheinenden Anzahl durch keine Nachfolger unterstützt wurden. Diese waren nämlich zurückcommandirt worden, so daß diese Kühnsten auf ihrem Rückwege unter einem russischen Flankenfeuer größtentheils fielen. Ebenso und fast gleichzeitig wurden die Engländer, nachdem sie ihre eigentliche Aufgabe, eine Steinschanze zu nehmen, gelöst hatten, zurückgerufen und beinahe zur Hälfte niedergemacht. Auch sie hatten sich von der Aufregung des Sieges hinreißen lassen, einen Angriff auf die mächtige Redan-Redoute zu machen, wodurch die Russen offenbar in höchste Confusion geriethen, so daß jetzt die Benutzung des ersten Sieges recht an der Zeit war. Von der Weisheit Raglan’s zurückgerufen, gaben sie den Russen Muth und Gelegenheit, ihre Kraft wieder zu sammeln und damit von je tausend Retirirenden 5 bis 600 niederzumähen.
Die Kämpfe, die nun auf und um den Mamelon folgten, waren Schlächtereien gewöhnlicher Art, wie sie eben im Kriege immer vorkommen. Als die Sonne am folgenden Morgen auf diese Höhen, zwischen die Thäler und Schanzen schien, leuchtete sie in viele Tausende verzerrter, starrer Leichengesichter, von denen unter je Hundert 80 bis 90 der Bescheidenheit ihrer Commandeurs zum Opfer gefallen waren, der Bescheidenheit, welche den Russen vom 7. bis zum 18. Juni Zeit ließ, sich auf den Sturm gegen den Malakoffthurm vorzubereiten und Mittel und Minen zu graben, durch welche es ihnen leicht ward, die letzte Blüthe der Armeen theils hundert- und aber hundertweise niederzuschmettern, theils bataillonsweise in die Luft zu sprengen. Der 18. Juni 1855 wird einmal in dieser schauderhaften Kriegsgeschichte blutigroth stehen bleiben, ein entsetzliches Gegenstück zu dem 18. Juni vor vierzig Jahren. Die vierzigjährige Renommisterei „Waterloo“ wird eine ewige Schande „Malakoff“. Tausende und aber Tausende waren während des Winters greiser Schwäche und vornehmer Unwissenheit zum Opfer gefallen, Tausende wurden jetzt an einem Tage vernichtet, weil die Sieger am Siebenten umkehren mußten, wie die Gerlach’sche Wissenschaft, um dem Feinde Zeit zu lassen, den 18. Waterloo-Juni ebenfalls umzukehren. Ein Augenzeuge des ganzen bisherigen Krim-Schwindels sagt und beweist, daß wenn Feldherren den Sieg an der Alma sofort benutzt hätten, statt mit dem glorreichen Zuge um Sebastopol herum zu renommiren, Sebastopol damals gefallen wäre, und wenn Feldherren fähig gewesen wären, den Mamelonsieg sofort zu benutzen, wie man Eisen schmiedet, weil es glüht, der Malakoffthurm am 8. die Fahne der Sieger getragen haben würde. Bis zum 18. hatte er gehörige Muße, sich auf den Anblick des schmachvollsten Schlachtfeldes, der großartigsten Feindesvernichtung vorzubereiten.
Kenner behaupten, daß dieser Schwäche, diesem Zaudern, diesem Verschleudern großartiger Sieges-Conjuncturen nicht blos Alters- und Aristokratie-Unfähigkeit zu Grunde liege, sondern ein Geheimniß, das erst spätere Geschichtsschreiber[WS 2] gehörig in’s Licht setzen würden. – –
Und nun sende ich Ihnen zum Schluß die Ansicht einer Stadt, die vor wenigen Tagen noch glückliche und zufriedene Menschen hinter seinen[WS 3] Mauern barg, und jetzt durch die „westlichen Träger der Civilisation“ zu einem[WS 4] Aschenhaufen verbrannt, nur noch auf der Landkarte und im Gedächtniß der daraus Vertriebenen existirt. Das Sengen und Brennen, das Zerstören wehrloser Städte bis zum Salzbestreuen der eingeäscherten Stätten friedlicher Bürger scheint ein Hauptparagraph in dem unmenschlichen Gesetzbuche der heutigen Civilisation zu werden.
Am Abhange eines Hügels im Norden des langen Golfs, welchen die Mündungen des Don in das asow’sche Meer gerissen haben, sieht, nein sah Taganrog freundlich auf das blaue Wasser herab. Die Stadt ist bekannt als Hauptausfuhrort für diesen Theil Rußlands, und spielt jetzt nach der Expedition der Alliirten in das asow’sche Meer und gegen die Stadt selbst eine nicht unbedeutende Rolle unter den Kriegsereignissen. Sie ward 1706 von Peter dem Großen gegründet und zwar für spätere militairische Zwecke. Zugleich sah er die mercantile Wichtigkeit dieser Lage und machte sie deshalb, nach Petersburg, seiner Hauptschöpfung, zum Gegenstande besonderer Fürsorge. Eigenhändig pflanzte er dort einen Eichenwald, der sich jetzt schon bedeutend in grünen Baumkronen entwickelt hat. Bekanntlich starb hier auch Alexander im Jahre 1826. Die Stadt war als Werk der Regierung schön gebaut, rein und staatlich. Die großen, weißen Häuser glänzten in der Sonne, zwischen grünen Gärten und trotzigen Festungswerken. Um die Stadt giebt es hübsche ländliche Scenerie mit Wiesen und Heerden. Die Bevölkerung, auf 22,000 Einwohner geschätzt, war ein buntes, malerisches Gemisch von Russen, Tartaren, Armeniern, Kosaken, Deutschen und einigen Franzosen. Die Deutschen lebten hier als Aerzte, Kaufleute und Künstler in großer Achtung. Die Ausfuhr bestand im Frieden besonders in Kaviar, Leder, Talg, Korn, Wolle und einem großen Theile der Produkte Sibiriens, die auf dem Don herunter kommen. Freilich ist der Hafen sehr seicht und durch die Anschwemmungen des Don immer seichter geworden. Alle größern Schiffe müssen deshalb bis drei deutsche Meilen vom Ufer ankern und ihre Güter mühsam in kleineren Booten laden und löschen. Der bedeutend zunehmende Ausfuhrhandel und diese Unbequemlichkeit dazu veranlaßte die Regierung, in Kertsch ein Zollhaus und die Quarantainestation für das asow’sche Meer zu gründen. So theilte sich der Handelsverkehr zwischen beiden Städten. Im Jahre 1853 bekam Taganrog den commerciellen Todesstoß. Die Regierung erklärte nämlich Kertsch zur einzigen Quarantainestation für das asow’sche Meer, so daß Taganrog nicht nur für Schiffe, sondern auch für Küstenfahrzeuge geschlossen ward. Kertsch sollte groß und stark werden. Die Alliirten ließen ihm freilich bei all ihrer Langsamkeit nicht Zeit genug dazu. Taganrog lebte seitdem nur vom Transport der Munition und Lebensmittel für die Truppen im Kaukasus und später auch für die Krim-Truppen. Da Rußland nun durch den Sieg der Alliirten seine Lebensadern für diesen ganzen Theil des Reiches und zwar bis Sibirien hinauf abgeschnitten findet, erscheint die jetzige Situation allerdings ernstlicher zum Frieden zu nöthigen, als früher. Ob der Friede sich aber nicht noch mehr nöthigen lassen wird, eh’ er kommt, bleibt noch dahin gestellt.
Schließlich bemerken wir nur noch, daß sich aus den Massen der schauderhaften Schlacht- und Schlächterscenen um Mammelon und Malakoff herum nach allen bisher eingegangenen öffentlichen und Privatmittheilungen keine finden, die dem blos menschlichen und nicht strategischen oder taktischen Leser ein wirklich tragisches Interesse bieten. Es ist nur das Schrecklichste der Schrecken – „der Mensch in seinem Wahn“, in dem Wahne, als könnte durch die Einnahme Sebastopols oder auch die ganze Eroberung der Krim der Friede erkauft werden. Nehmen wir auch an, sie hätten endlich die ganze Krim, so haben sie immer noch keine Macht über das Rußland, das einst diese Krim eroberte, wohl aber eine Last auf ihrem Halse, die sie erst recht darnieder hält, so daß sie in den Fall kommen können, flehende Friedenstauben nach Petersburg zu schicken, mit der Bitte, man möge ihnen endlich die Last wieder abnehmen. Rußland, das durch die strenge Blokade seiner Küsten in Gefahr schwebt, in seinem Fette zu ersticken, und doch auch wieder Mangel am Nothwendigsten leidet, Rußland mit seinem Czaar an der Spitze, würde eher nach der asiatischen Steppe zurückweichen, als den sogenannten Vertretern der Civilisation einen Finger, viel weniger die Hand zum Frieden zu bieten.
[359]Ein Besuch im Bethlem-Hospital in London.
Schon der bloße Name „Bethlem or Bedlam“ ist hinreichend, unserer Gemüthsstimmung einen dunkleren Schlagschatten zu geben, so heiter und sonnig sie auch immer sein mag. Der Anblick einer jeden Krankheit in ihrem bösartigsten Charakter ist zwar im Stande, uns für einen Augenblick tief zu erschüttern, doch ist dieses Gefühl stets vorübergehend; die Geisteskrankheiten machen dagegen auf den Besucher immer einen bleibenden Eindruck, welcher sich nur in einem längeren Verlaufe der Zeit einigermaßen verwischen läßt. Der Wahnsinn zeigt uns so recht die ungeheuere Größe des geregelten Geistes, indem er uns das schreckliche Bild der geistigen Anarchie vor die Augen führt; denn die geistigen Fähigkeiten als solche sind in den meisten Fällen nicht zerstört, ja zuweilen sogar bedeutend erhöht; sondern es ist nur das Band der Harmonie zwischen den verschiedenen Impulsen, durch welches sie mit dem Bewußtsein verknüpft sind, auf die eine oder andere Art zerrissen, und deshalb hat der Wille seine leitende Macht verloren. Der Geisteskranke giebt uns daher entweder das Bild eines Fahrzeuges, welches auf offener See von einer völligen Windstille überrascht wird oder das zwischen gefährlichen Klippen auf sturmbewegtem Meere das Steuerruder verloren hat und von der gewaltigen Brandung bald hierhin bald dorthin geschleudert wird, um, wie es scheint, im nächsten Augenblicke gegen die Felsen zerschmettert zu werden. Und es ist namentlich diese Ungeregeltheit oder besser – diese völlige Hülflosigkeit – denn Wahnsinn kann auch Methode haben – in der sich der Kranke befindet, welche uns so gewaltig angraut und so tief ergreift.
Bethlem bietet außer diesem allgemeinen Interesse, daß es eines der großartigsten, ältesten und bestgeführten Hospitäler dieser Art ist, noch den speciellen Reiz einer romantischen Vergangenheit; denn wenn man den Gerüchten, welche sich in allerwelts Munde befinden, Glauben schenken darf, so wurde es früher häufig gemißbraucht, um sich unangenehmer Gegner für immer zu entledigen. Und wer unter solchen Umständen einmal diese Anstalt betreten hatte, für den gab es in der Regel keinen Ausgang; er war wie der bekannte Mann mit der eisernen Maske lebendig todt. Er fristete hier zwar sein armseliges Dasein fort, aber er war wie völlig begraben und für alle öffentlichen Acte des Lebens wie gestorben. Wenn es wahr ist – wie uns die Dichter versichern – daß die Steine Ohren haben, möchten doch dann die Wälle von Bethlem auch sprechen können. Welch’ eine Geschichte von Unglück, welch’ ein Bild menschlicher Schwächen und Verworfenheit würde uns enthüllt werden. Wir würden – oder wir müßten uns außerordentlich täuschen – die Mysterien der großen Vornehmen und vornehmen Großen erhalten, welche Alles das, welches wir jetzt unter diesem Titel über die niedrigeren Klassen der Gesellschaft besitzen, weit hinter sich lassen würden.
Der Fremde, welcher von dem Westende Parliamentarystreet hinaufgeht, wo sich die stolzen Gebäude der Admiralität, der Horsegarde, Whitehall mit den berühmten Frescogemälden; die Ministerialgebäude; die mit Recht berühmte Westminster-Abtei mit dem Poetenwinkel und den königlichen Gräbern; Westminsterhall mit seinen historischen Erinnerungen; das an architektonischem Schmuck überreiche neue Parliamentsgebäude befinden und dann von Westminsterbrücke auf die andere Seite der breiten Themse hinüberblickt, erkennt bald in der Mitte der dunklen Rauchwolke, welche durch tausend hohe Schornsteine der mächtigen Fabrikgebäude gebildet wird, und die sich wie ein schwerer Nebel über ein niedriges Thal über dem ganzen Stadttheil lagert – ein großes Gebäude mit einem erhabenen Dome hervorragen. Schon der unsichere Anblick aus der trüben Ferne läßt verrathen, daß es ein großartiges öffentliches Institut irgend einer Art ist. Dies ist Bethlemhospital oder das öffentliche londoner Irrenhaus. Sobald wir näher gekommen sind, finden wir, daß das Gebäude selbst ein höchst nobles Aeußere hat und durchaus nicht den Charakter eines Gefängnisses an sich trägt; denn man bemerkt auch nicht eine einzige eiserne Stange vor den tausend erhabenen Fenstern, sondern alle sind unvergittert und spiegelklar. Die Hauptfront des Instituts ist über 700 Fuß lang und besteht aus zwei Flügeln und einem Centrum, auf dem sich der hohe Dom befindet, den man schon aus weiter Ferne bemerkt. Die anderen vierstöckigen Lokalitäten sind für die Wohnungen des Beamtenpersonales und die Patienten bestimmt, und zwar der rechte Flügel für die männlichen und der linke für die weiblichen. Außerdem hat das Hauptgebäude noch drei Seitenflügel nach hinten hinaus, wodurch zwei geräumige Höfe gebildet werden, die jedoch nach der Seite hin, welche dem Hauptgebäude gegenübersteht und an den Gemüsegarten grenzt, offen sind. Der Grundriß der Anstalt bildet demnach die Form eines liegenden gothischen E . Die Anstalt, deren Einrichtung beinahe eine Million Thaler gekostet hat, kann bequem 500 Patienten placiren, doch ist diese Anzahl äußerst selten erreicht, und befindet sich in der Mitte eines geräumigen Platzes, welcher ungefähr vierzehn englische Morgen enthält.
Als wir an einem Dienstage etwa gegen 11 Uhr vor dem Haupteingange erschienen, der sich unmittelbar an der großen Straße, dem Centrum des Gebäudes gegenüber, befindet, öffnete der Pförtner[WS 5], welcher nahe am Eingange ein sehr niedliches Häuschen bewohnt, die verschlossene Thür und ersuchte mich, meinen Namen in das Fremdenbuch zu schreiben. Ich that es und befand mich nun in dem Bereiche der Anstalt selbst. Vor mir lag das Gebäude in seiner ganzen Ausdehnung, und in Front desselben eine Art Park, von dem der linke und rechte Flügel mit üppigen Gebüschen und schattigen Bäumen bepflanzt sind, zwischen denen sich die mit weißem Sand und Kies bestreuten Fußsteige anmuthig hindurchwinden. Der Theil indessen, welcher dem Centrum gegenüber liegt und in dem wir uns befinden, ist ganz eben und mit einem dichten, wohlgeschnittenen grünen Rasen bedeckt, über den zwei Fußsteige etwas aufsteigend zum Haupteingange des Gebäudes selbst hinaufleiten. Der Eingang ist im griechischem Style gebaut, sehr geräumig und wird durch acht schöne korinthische Säulen gebildet, zwischen denen eine breite Stiege von Marmor von ungefähr acht oder zehn Tritten in das Innere des Gebäudes selbst führt. Zunächst gelangen wir in eine sehr geräumige Vorhalle, in der sich die beiden berühmten[WS 6] Figuren von Cibber befinden, welche den rasenden und melancholischen Wahnsinn darstellen, und die früher auf dem Eingangsthore standen, als sich das Hospital selbst noch in Moorfields befand. Beide Figuren haben eine gelagerte Position und erfüllen die Seele des Beschauers mit wahrem Grauen. Sie sind unsers Erachtens als Kunstwerke sehr bedeutend und verdienen allein schon einen Besuch der Anstalt; doch können wir uns nicht länger bei ihnen aufhalten; denn der Portier, dem wir unseren Wunsch, den Hauptarzt der Anstalt zu sprechen, mitgetheilt haben, heißt uns in ein geräumiges Empfangszimmer eintreten, dessen Fenster nach hinten hinausgehen, und dessen Wände mit mehreren großen Grundrissen und architektonischen Plänen der Anstalt geschmückt sind. Außer mir befinden sich hier noch zwei Personen, von denen der eine einen unglücklichen Bruder, der andere einen geisteskranken Sohn besuchen will.
Ich knüpfte mit dem älteren Herrn eine Unterhaltung an, und er theilte mir auf mein Befragen über die Krankheit seines Sohnes die folgende Geschichte mit.
„Ich selbst bin ein Farbenhändler im Westend und obwohl ich es sehr gern gesehen, daß mein Sohn mein Geschäft erlernt hätte, und obgleich ich ihm häufig darüber gütige Vorstellungen zu machen pflegte, so konnte ich ihn doch nie dazu bewegen.
„Ich will kein „Ladendiener“ werden,“ pflegte er dann wohl auszurufen, „und nach aller Welts-Pfeife tanzen und rennen. Ich will studiren, will berühmt werden und mir eine anständige, wenn nicht glänzende Position in der Gesellschaft erringen.“
„Seine Mutter fühlte sich durch derlei Aeußerungen geschmeichelt, und anstatt seinem unzeitigen Ehrgeize einen Zügel anzulegen, bestärkte sie ihn nur noch und ich selbst mußte allen ihren Wünschen nachgeben, um nicht vor ihnen als ein kaltherziger, egoistischer Spießbürger zu erscheinen. Und so gab ich nach einigem Zögern meine Einwilligung, ihm eine sogenannte höhere Bildung zu geben, d. h. ich sparte und kargte Alles zusammen, um eine hohe Pension in einer „anständigen“ Schule für junge Gentlemen zu bezahlen und ihn stets in neuer Kleidung zu erhalten. Er schien auch alle [360] unsere Hoffnungen zu erfüllen, denn seine Zeugnisse waren stets von der allerbesten Art.
„Da er sich für den heiligen Stand der Kirche bestimmte, so setzte er nach wohlbestandener Prüfung seine Studien im King’s-College fort. Während dieser Zeit hatte er die Bekanntschaft einer jungen Dame von vornehmer Herkunft gemacht, die ihm auch ihre Hand versprach, wenn er am Ende seiner Studienzeit – das war Anfangs August d. J. – den ersten Preis der Anstalt erhalten würde. Er hat deshalb während der letzten sechs Monate im wahren Sinne des Wortes Tag und Nacht gearbeitet und gelernt, denn er schlief nur jede dritte Nacht etwa drei oder vier Stunden und, um während der übrigen Zeit nicht vom Schlafe überwältigt zu werden, pflegte er seine Füße wohl in kaltes Wasser zu stellen.
„Doch endlich kam die Entscheidung. Die Examination dauerte drei Tage, und es waren für den ersten Preis etwa zwanzig Bewerber aufgetreten. An den beiden ersten Tagen wurden die erforderlichen schriftlichen Arbeiten angefertigt, und darnach die drei besten Candidaten für das mündliche Examen des dritten Tages ausgewählt. Mein Sohn gehörte zu diesen und erregten namentlich seine griechischen Arbeiten, die in den besten antiken Versen geschrieben waren, die höchste Bewunderung der ganzen Anstalt, und man hielt es für ausgemacht, daß er Sieger sein werde und das mündliche Examen werde nur noch so pro forma abgehalten. Von allen Seiten gratulirte man ihm und er selbst schien seines Sieges gewiß zu sein; denn er war nie so ruhig und so guten Muthes gewesen, als an diesem letzten Tage der Entscheidung. Von seinen Mitbewerbern war der eine der Vetter des Hauptexaminators. Zu Anfang ging Alles wohl, doch kam man bald an eine – ich glaube „verlorene“ Stelle des Plato, die ein Steckenpferd des Examinators ist, weil er auf „eigene“ Kosten ein dickes Buch über ein daselbst – wie er meint – zu setzendes Jota subscriptum hat drucken lassen. Mein Sohn war unvorsichtig genug, die entgegengesetzte Meinung zu vertheidigen und sogar einige sarkastische Bemerkungen gegen die Ansichten des gelehrten Herrn Examinators fallen zu lassen, was diesen natürlich gegen ihn aufbringen mußte, und die Prüfung bekam bald einen äußerst gereizten Charakter, und es war nun mehr ein Kampf auf Leben und Tod zwischen zwei eifersüchtigen Rivalen, als eine ruhige Examination eines Studenten; doch das Ende war, daß dem Verwandten des Examinatoren der Preis zuerkannt, und mein Sohn mit einer Art väterlicher Ermahnung entlassen wurde. Ich und mehrere seiner Freunde erwarteten in ängstlicher Spannung auf dem Hofe der Anstalt den Ausgang der Prüfung, und ich werde nie das todtenbleiche Gesicht und die zerstörten Züge vergessen, mit denen er auf uns zugestürzt kam und aus vollem Halse lachend rief: „Ich bin durchgefallen! ha, ha!“ Dies sind die einzigen und letzten Worte, welche er seit jener Zeit gesprochen hat; denn er verfiel sofort in eine Art Trübsinn, aus dem ihn Nichts aufzumuntern vermag, und er ist nun seit sechs Wochen in diesem Hospitale.“
Die Erzählung war gerade beendigt, als der Oberarzt der Anstalt, Dr. Hood, hereinkam, und ich theilte ihm nun meinen Wunsch mit, daß ich das Hospital besuchen möchte, um darüber etwas für die deutsche Presse zu schreiben. Und obwohl ich mit keiner Empfehlung eines Bankers aus der Lombardstreet bewaffnet, noch durch einen ehrwürdigen Geistlichen introducirt war, welches überall erforderlich ist, wenn man in England das Geringste erreichen will, und überhaupt nichts aufzuweisen hatte, als ein ehrlich deutsches Gesicht und ein Monatsheft der „Gartenlaube“, womit ich im Namen des Verlegers die Bibliothek der Anstalt bereicherte, so wurde mir doch mit der größten Bereitwilligkeit mein Wunsch gewährt, und mir auch auf meine Bitte die erforderlichen statistischen Notizen über die Anstalt verabreicht. Doch ehe ich die Wanderung durch das Hospital selbst beginne, scheint es passend zu sein, über die Behandlungsweise der Kranken in dieser Anstalt einige Worte vorauszuschicken, denn dieselbe ist insofern von der allerhöchsten Bedeutung und dem lebhaftesten Interesse, weil man hier zuerst ein neues System, das sogenannte „Nicht Zwangssystem“ in größerem Maßstabe in Ausübung gebracht hat, und welches nach dem Zeugnisse des Herrn Dr. Hood mit dem allerglänzendsten Erfolge gekrönt worden ist. Man war früher nämlich allgemein der Ansicht, daß mechanischer Zwang, vermittelst schwerer Ketten, eisernen Kugeln an den Füßen, Handschellen, Zwangsjacken etc. etc. in der Behandlung der Geisteskranken unumgänglich nothwendig sei. Die berühmtesten Aerzte, unter anderen der wohlbekannte Thomas Willis, empfahlen Fesseln, Prügelstrafe und Zwang als die besten Mittel einer Kur und daß die Nahrung dürftig, die Kleidung grob, das Bett hart und die Behandlung strenge und militairisch sein sollte. Die Verbesserung der Zwangsjacke oder eines anderen dieser Marterinstrumente, wurde dafür in dieser Zeit als ein Triumph der Wissenschaft betrachtet und königlich belohnt, und man glaubte allgemein, um in den eigenen Worten des berühmten Boyan Crowther zu reden, „daß wir durchaus keine Kontrole über widerspenstige Kranke haben würden, wenn wir nicht die Zwangsjacke und das schwarze Loch hätten“, und er fügt dann herzlos hinzu: „die Illustration der Angemessenheit einer Behandlungsweise vermöge der speciellen Aufzählung verschiedener Fälle würde nichts mehr oder weniger sein, als eine ausführliche Geschichte der Zwangsjacke mit den anderen Zwangsmitteln als Zugabe.“ Von dieser Beschaffenheit waren alle Irrenanstalten bis zu Anfange dieses Jahrhunderts, so daß Dr. Powell noch im Jahre 1807 als Zeuge vor dem Comitee des Hauses der Gemeinen erklären konnte, „daß die Irrenhäuser vielmehr Plätze für die sichere Aufbewahrung der Geisteskranken, als Heilanstalten genannt werden könnten.“
Die Baschi-Bozuks, der türkische Landsturm.
Ein bunteres Gemisch von Bewaffneten als die Baschi-Bozuks, läßt sich kaum erdenken, und das nachstehende Bild mag eine Andeutung davon geben. Bezeichnend ist übrigens schon dieser ihr Name Baschi-Bozuks, denn er bedeutet verdorbene Köpfe (von Basch Kopf und bozuk, verdorben). Sie nehmen in der türkischen Militärorganisation ziemlich dieselbe Stellung ein wie in der preußischen der Landsturm, denn die Grundzüge des preußischen Wehrsystems sind auf das türkische übertragen worden, weil die jetzt bestehende Einrichtung größtentheils von preußischen Offizieren ausgegangen ist.
Das türkische Militär zerfällt in die Linie, die wirkliche im Dienst befindliche Armee[WS 7], Nizam genannt, welche aus sechs Armeecorps (ordus), nach den sechs Provinzen des Reichs, je mit einem Obergeneral oder Feldmarschall (muschir), besteht, und die Reserve oder Landwehr, redif genannt, ebenfalls aus sechs Corps. Die Dienstzeit in der Linie beträgt finf, die in der Reserve sieben Jahre. Die Letztere wird in Friedenszeiten jährlich einen Monat lang zu Uebungen einberufen, in Kriegszeiten aber muß sie gleichen Dienst thun wie die Linie, und in dem jetzigen Kriege ist sie bereits seit 1853 vollständig einberufen.
Die dritte Abtheilung des türkischen Wehrsystems endlich bilden unsere Baschi-Bozuks, der Landsturm, zu welchem nicht blos die ausgedienten Landwehrmänner, sondern auch die Mannschaften gehören, welche die in dem seit 1843 eingeführtem Rekrutirungsgesetz noch nicht unterworfenen Provinzen, sowie die der Pforte tributpflichtigen Länder in Kriegszeiten zu stellen verpflichtet sind, ferner die in manchen Theilen des Reiches bestehenden irregulären Truppen, welche im Nothfalle auf Kriegsfuß gesetzt werden können, und endlich die Freischärler, die Freiwilligen, welche aus allen Theilen des großen osmanischen Reiches zur Vertheidigung des Landes zusammenströmen.
Die Baschi-Bozuks bestehen demnach aus den verschiedenartigsten Elementen, aus Jünglingen und Greisen, aus Menschen von den mannichfaltigsten Berufsarten, aus Europäern, Asiaten und Afrikanern. Jeder erscheint und verbleibt in seiner gewöhnlichen Kleidung, die bald kostbar, bald zerlumpt ist; jeder bewaffnet sich wie er kann oder wie es ihm beliebt, kommt zu Pferd oder zu Fuß und schließt sich dem oder jenem Haufen an, denn dieses seltsame Corps ist weder in Bataillone noch Schwadronen eingetheilt, noch hat es eine bestimmte Anzahl von Offizieren.
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Zwar erhalten die Baschi-Bozuks nur einen kleinen Sold, aber für denselben müssen sie sich Gewehre, Munition und Lebensmittel selbst anschaffen, und da von Mannszucht unter ihnen selbst gar nicht die Rede ist, so kann man sich leicht vorstellen, welche Plage sie für die Gegenden sind, in denen sie liegen. Sie treiben die Bewohner durch Raub, Mord und Rohheit aller Art zur Verzweiflung und Omer Pascha hat die strengsten Maßregeln anwenden müssen, um diese Freischaaren- und Landsturmmassen einigermaßen im Zaume zu halten. Der Sultan sah sich sogar genöthigt, am 24. April vorigen Jahres einen Ferman zu erlassen, in welchem es heißt: „so lange die Baschi-Bozuks sich in achtbarer Weise betragen, sind sie als Glieder der kaiserlichen Armee zu betrachten; sobald sie aber [362] Verbrechen gegen das Eigenthum, die Ehre und das Leben meiner Unterthanen begehen u. s. w. sind sie nur als Räuber und Mörder anzusehen, und als solche zu bestrafen.“
Nicht gar selten desertiren ganze Haufen und ziehen auf eigne Faust, d. h. als Räuber umher. Im Kampfe gegen den Feind benutzt man sie meist nur als Kanonenfutter, und wirkliche wesentliche Dienste haben sie in dem Kriege bisher nur dadurch geleistet, daß sie fortwährend in kleinen Abtheilungen tollkühn über die Donau setzten, die Russen neckten, ihnen keine Ruhe gönnten und unaufhörlich kleine Verluste beibrachten. Neuerdings haben sie bei Eupatoria nicht unwichtige Dienste geleistet.
Pariser Bilder und Geschichten.
Kennt Ihr Herrn Beaufils? Ein interessanter Mann. Herr Beaufils ist ein fast schon gebrechlicher Alter, der nur selten spricht, aber dafür ohne Unterlaß pfeift. Seine Fabrik besteht in einem ungeheuren Vogelkäfige; überall sieht man bei ihm nichts als Nachtigallen, Canarien und Hänflinge. Alle Mauern sind mit Käfigen behängt; auf allen Möbeln stehen sie, an der Decke hängen welche, die Fenster sind damit ausgestopft. Die Ohren summen Einem von diesem Gezwitscher.
Mitten im Zimmer steht ein Thronhimmel, unter den sich der Herr Professor stellt, um seinen musikalischen Curs zu halten. Sein kleines Orgelkästchen auf den Knien, mit der ernstesten Miene von der Welt trägt er dann seine Romanzen und Opernarien auf: „Die Wolke sinkt, mein Schäferkind!“ oder „Ein Ritter der muß tapfer sein,“ oder „Es war um halber halber Neune“ u. s. w.
Ein gewöhnlicher Canarie kostet 30 Sous, ein holländischer oft 3 Franks. Wenn er aber aus den Händen des alten Beaufils kommt, der seine Erziehung vollendet hat, steigt bei Liebhabern der Preis oft auf’s Vierfache.
Herr Beaufils nimmt Zöglinge in Kost und leitet die Erziehung auch außer Haus. Zu diesem Zwecke leiht er vollkommen dressirte Canarien aus, die man dann mit einem Neulinge zusammen einsperrt, den man erziehen will. So kann ein Canarie sechs bis acht Wochen seinen Conservationscurs durchmachen. Er singt dann ganz erträglich zwei bis drei Arien und ist erster Tenor oder Soprano in seiner Art. Um auf diese Weise seine Roger und Frezzolini zu bilden, läßt sich Herr Beaufils 5 Franks für eine vollständige Erziehung zahlen, oder 10 Sous die Woche für’s Ausleihen seines kleinen Professors.
Die Singschule Herrn Beaufils liegt in einer Gasse nahe beim Temple; dieses Quartier hat er gewählt, weil die Weiber des Temple-Marktes und alle ihre Arbeiterinnen ganz närrisch auf dieses Geflügel sind, seit Eugen Sue mit seiner Rigolette die Canarien in die Mode gebracht hat.
Uebrigens sollte man kaum glauben, wie sehr die Pariser alle Arten von Thieren hätscheln, die Pferde ausgenommen. Viele Leute legen sich alle Arten von Entbehrungen auf, um einen Hund, eine Katze, eine Elster oder einen Papagei aufzuziehen etc. … darauf beruhen nun gewisse Gewerbe. Ich kenne eine ganze Familie, wo alle Glieder sich damit beschäftigen, Thiere aufzufangen und ihrem Herrn heimzuführen. Denn täglich versprechen die Anschlagzettel 25, 50, 100 Franks selbst für einen verlaufenen Mops u. s. w., während so viele Männer und Weiber sich in unserm socialen Leben verlieren, ohne daß Jemand einen Franks dafür anbietet. Die Nahrung der Katzen allein ist in den volkreichen Quartieren ein ganzer kleiner Industriezweig.
Davon lebt unter Anderem Bernier und seine ganze Familie; er macht im eigentlichen Sinne des Wortes Katzenrindfleisch. Der Mann ist ein Kind der Auvergne; früher Kohlenhändler, hat ihn ein Zufall aus dieser Stellung in diejenige geschleudert, in der er sich jetzt befindet.
Er wohnt in einem guten Arbeiterviertel; in jedem Hause gab es Hunde und Katzen; es fiel im ein Rindfleisch für die Einen, Pasteten für die Andern zu fabriziren, und fügte zu dieser Profession noch die eines kleinen Handels mit Kalbsköpfen hinzu. Bald stand sein Ruf in diesem Quartier auf soliden Füßen; die Kunden kamen in Masse in seine Boutique. Heutzutage würde man glauben, seinen Hund oder eine Katze schlecht zu traktiren, wenn man nicht sein Essen von Bernier kommen ließe; wenigstens im Quartier des Temple gilt das als Grundsatz. Bernier ist dort das Faktotum. Von Bernier versorgen sich manches Haus entfernter Quartiere, und manche Angorakatze einer Gräfin tafelt die Pasteten Bernier’s, die ein livrirter Bedienter eigends geholt hat. Die Boutique Bernier’s trägt die bescheidene Aufschrift: „Zur alten und wahren Viehkost.“
Jetzt werde ich Sie in die erheiternden Künste einführen, in den Artikel Phantasie, in das utile dulci, wie die Lateiner sagten. Kommen Sie zu Madame Vanard, sie war im Stande, diese schwierigen Dinge in einer einzigen Profession zu vereinigen.
Da sollte ich Ihnen eigentlich eine ganze rührende Geschichte von einer jungen Wittwe von achtzehn Jahren erzählen. Ihr Mann, der seiner liebenswürdigen Frau den nöthigen Wohlstand und einigen Luxus verschaffen wollte, hat sich zu Tode gearbeitet. Er hatte eine eine kleine Destillation errichtet, wo er für die Parfümeurs und Confiseurs arbeitete. Während der wenigen Tage des glücklichen Zusammenlebens der beiden jungen Gatten hatte die junge Frau vor lauter Zusehen endlich einige sogenannte chemische Geheimnisse gelernt; sie hatte es dahin gebracht, daß sie ihren Mann bei seinen Flaschen und Tiegeln ersetzen konnte, wenn er abwesend war. Trotz ihrer Untröstlichkeit wollte sie daher auch seinen Handel fortsetzen. Sie erinnerte sich, daß ihr Mann ihr oft bei Gelegenheit eines kleinen Diners im Restaurant, das er sich manchmal gönnte, beim Anblick der Citrone gesagt hatte: „Ein gescheidter Mann könnte in Paris sein Glück machen, rein nur mit solchen Schalen, die man wegwirft.“
Madame Vanard war gescheidt; sie nahm einen Korb unter den Arm und durchzog die Montorgueil-Gasse, dieses Land der Austern. Wenn die Lumpensammler die Kehrichthaufen nach allen Seiten umgekehrt hatten, um ihre Beute herauszuziehen, begann sie ihre Arbeit. Nachdem die Kellner der Restaurants mehrere Male bemerkt hatten, daß eine junge Frau mit so großer Aufmerksamkeit dort suchte, wo so viele andere Leute vorüber gegangen waren, versprachen sie ihr, in Zukunft die Schalen der Citronen und Pomeranzen bei Seite zu legen. Dasselbe thaten die Auskehrer der Theater.
Kurz, Madame Vanard brachte ihre kleine Werkstatt zusammen und nahm Aufklauber und Aufklauberinnen in Sold. Diese Werkstatt habe ich gesehen. Stellen Sie sich ein großes Zimmer vor, das von unten bis oben mit geflochtenen Hängematten bekleidet ist, und auf diesen Flechtwerken Millionen von Stückchen von Pomeranzen- und Citronen-Schalen. Mitten in diesem Zimmer sitzen um den Tisch zwanzig Mädchen, die unter Geplauder, Gelächter und Gesängen die Schalen ausläufeln. Dann giebt man sie in Säcke, in Kistchen und in große Kisten. So heißt die Schale nun Rinde. Von hier wird diese Rinde dann nach dem Auslande, in gewisse Fabriken von Paris geschickt und in die Provinz, wo nur holländischer Curaçao, Citronensyrup, Orangeade, Citronade, Limonade, Citronenessenz u. dergl. fabrizirt wird. Das ist nun die Industrie, womit eine liebenswürdige Creatur Glück gemacht hat, so daß sie nun ihrem Hange nachgehen und Kunst und Literatur pflegen kann, wöchentlich einmal eine Loge in der Comédie française und in der großen und italienischen Oper halten kann.
Es giebt noch eine andere Wittwe, die freilich nicht so jung und nicht so hübsch, nicht so gescheidt und am Allerwenigsten so elegant ist als Madame Vanard, aber doch Gelegenheit gefunden hat, sich ein anständiges Vermögen zu schaffen und zwar mit nichts Geringerem als mit dickem Kehricht. Die Wittwe Thibaudeau ist „Pächterin der Stiegenkehrung“ und zahlt mithin Arbeiter um die [363] Stiegen fremder Leute zu kehren. Madame Thibaudeau ist mit keinem angebornen Geschmack für Kehrbesen zur Welt gekommen. Man sagt zwar, daß Dichter ihre Vorliehe für Verse mit auf die Welt bringen, und Garköche einen gewissen Instinkt für Küchenherde; bei der alten Thibaudeau aber war es reine Berechnung, die sie bestimmte, sich zu ihrem Handwerke zu entschließen.
Früher war sie bescheidener Weise Hausmeisterin. Sie zog die Hausschnur in einem Hause, das in Paris in einer Gasse beim Temple liegt. Das ganze Haus hatten zwei Fabrikanten, zwei Juweliere inne. Nun hatte die Frau, in einem strengen Winter, den Einfall, ihren Ofen mit dem Kehricht zu heizen, den ihr Besen aufgetrieben hatte. Diese Idee war doppelt vortheilhaft. Sie bemerkte, daß das, was sie bisher als einen elenden Auswurf betrachtet hatte, vermischt mit Torf und Steinkohle ein ganz gutes Brennmaterial abgab. Dann als die schöne Jahreszeit kam, bemerkte sie ferner, daß beim Ausreiben ihres eisernen Küchenzeuges mitten zwischen dem davonfliegenden Staube etwas Hartes Widerstand leistete, das zuweilen gelb aufblitzte. Sie ließ diesen Ansatz examiniren, es war Gold. Madame Thibaudeau hatte den Stein der Weisen entdeckt, die Wissenschaft eines Nicolaus Flavel, eines Baracelsus und Balzaro enthüllt.
Nun pachtete sie das Auskehren der Häuser, wo Goldarbeiter wohnen, mit solchem Erfolge, daß sie ein kleines Vermögen zusammenscharrte; mit demselben unternahm sie dann gleichzeitig ein zweites Geschäft. Sie kaufte in der Nähe von Paris mehrere große Grundstücke, ließ gewisse Schweizerhäuschen daselbst aufbauen, nach denen die kleinen Bürger von Paris lüstern sind, die nun mitten in unserer flachen Umgebung jeden Sonntag singen können: „Hier will ich bleiben und in die Berge blicken.“
In einem andern Artikel habe ich Ihnen das Gewerbe eines Herrn Simon beschrieben, der die eigenthümliche ländliche Leidenschaft hat, seine Heerden nach Paris zwischen den vier Wänden seines Dachstübchens auf die Weide zu treiben, das er in einem fünften Stockwerke eines Hauses in der Vorstadt St. Denis gemiethet hat. Herr Simon hat sich seitdem über unsere Benennung „Schäfer im Zimmer“ beklagt und behauptet, er sei nur Tracteur! Meinetwegen! Ich benutze diese Berichtigung, um einige nähere Umstände zu denen hinzuzufügen, die wir schon bekannt gemacht haben.
Herr Simon geht als Bauer gekleidet; er trägt Holzschuhe und eine graue Blouse, und sieht also einem Hans Strumpf ähnlich. In seiner ganzen Schäferei habe ich keinen Schäferstab bemerkt, aber dafür ist seine Sprache ebenso blumenreich als im Waldgrund; Rosen und Honig fließen über seine Lippen mitten zwischen allerhand nicht minder parfümirten Vergleichungen. Für ihn sind die Idyllen der Tityrus und der Celadon ganz anständige historische Personen.
Als wir 90 Stufen gestiegen waren und in seinen Stall eintraten, standen wir vor Erstaunen stumm da; ich meinte in eine jener schönen Meiereien vom schottischen Hochland gerathen zu sein; Alles war so sauber und zierlich geordnet, wie in einer Liebhaberbibliothek; daß ich in einem Stalle war, konnte mir nicht einfallen.
Dieser Stall nun unseres Herrn Simon besteht aus zwei langen Räumen, die er in Viehstände eingetheilt hat, in Boxes, wie die Gentlemen sagen. In jeder solchen Abtheilung steht eine Ziege; im Ganzen zählte ich ihrer 52. Oberhalb des Kopfes des Thieres, wo gewöhnlich die Raufen für das Heu der Pferde sind, hat Simon eine Art Schrank angebracht; dieser ist aus weißem Holze, fein gewichst und gefirnißt und enthält das Futter der zarten Bestien. Die Inschriften in großen Buchstaben enthalten z. B. die Anzeigen: „Melie Morvangulotte. – Rübenfütterung für Frau von M…, die an der Leber leidet.“ – „Marie Noël, hier im Stalle geworfen im Jahre 1851. Aeltern: Johanna und Marius. – Jodheufütterung für den Sohn des Herrn O…, der an Blutarmuth leidet.“ – Und dann folgen die „besonderen Beobachtungen.“ Ich will Ihnen nicht all’ die Krankheiten aufzählen, die Simon mit Ziegenmilch kurirt, noch auch die wissenschaftlichen Benennungen wiederholen, mit denen er die Arzneien verhüllt, die er seinen Ziegen zu fressen giebt, die ihm als lebendige Apotheken dienen. Ich bin weder Arzt noch Chemiker, und kann daher über sein Verfahren, über seine Heilmethode nicht viel Entscheidendes sagen. Kurios ist diese ganze Heilanstalt und Schäferei jedenfalls.
Und jetzt will ich Sie mit Herrn Oscar Mithat Bekanntschaft machen lassen, der Schinkenknochen liefert. Er hat eine Handlung daraus gemacht und verfährt darin als gemachter Kenner, als Großhändler. Ich könnte Ihnen nun eine ganze statistische Abhandlung schreiben, um Ihnen zu sagen, daß man in Paris wenigstens zwei Drittel mehr Schinken ißt, als Schweine geschlachtet werden. Wenn man daher einen Schinken gegessen hatte, so ließ man die Knochen desselben für den Lehrjungen liegen oder für irgend Jemanden. Dieser trug den Knochen zum Fleischselcher und bekam dafür 2 Sous. Und nun tritt der Knochen seine neue Reise an und kommt wieder in den Handel. Daher suchte man den Schinkenknochen zu fabriziren, da der Fleischselcher den Schinken fabrizirt. Ein Schinken ist also in Paris ein bloßes Kunstwerk der Fleischselcherei, der Anatomie, das ein Jeder dieser Professionisten auszuführen im Stande sein muß. Mancher solcher Knochen circulirt also mehrere Jahre; jeden Morgen wurden sie geschmückt und geziert aus dem Laden getragen und kehrten Abends wieder nackt und geschunden heim.
Die schönen Tage aber für Lehrjungen und Laufburschen sind vorbei. Oscar Mithat liefert für 10 Sous das Dutzend solcher Schinkenknochen und ist im Stande, eine beliebig große Anzahl für den ganzen pariser Verbrauch zu liefern.
Und hiermit habe ich die Ehre, Ihnen den berühmten Eduard, den Entenfabrikanten, den Straßenschreier par excellence vorzuführen. Jedermann kennt Monsieur Eduard; ganz Paris hat bei den Zugängen der Theater einen Mann mit herkulischem Knochenbaue bewundert, seine Stentorstimme, sein anmuthiges Lächeln, wie er sechs Stunden lang heult: „Sehen Sie, meine Herren, was soeben erscheint“ und Ihnen dabei eine Scharteke verkauft, die seit zwei Jahren „vergriffen“ ist. Freilich kann nicht Jeder, der will, sich zum Entenfabrikanten aufwerfen. Man muß sein Publikum herbeilocken können. Monsieur Eduard nun hat keinen Concurrenten. Er verkauft seine kleinen Bücher, unter anderen ein kurioses Gesetzbuch: den „Codex der Portiere.“ Und nun hören Sie, wie sich Monsieur Eduard dabei benimmt: „Meine Herren, der Codex der Portiere, oder die Ruhe der Miether! Das müssen Sie ansehen, meine Herren, das müssen Sie kennen. Wenn sie einen schlechten Portier haben, schicken Sie ihn mir. Ich decke das Unrecht auf, ich bin der Cabrion der Pipelets, der Schrecken der Thürsteherseelen. Alle Schnüre der pariser Thür-Sultane sind mir schon überschickt worden, um mich damit aufzuhängen. Ich habe mit Verachtung darauf geblickt, denn ich will durchaus meinen Mitbürgern einen Dienst erweisen. Da sehen Sie also her, lesen Sie mir das; ich kann Ihnen damit die Haare zu Berge treiben. Kaufen Sie meinen Codex der Portiere; schon wenn Sie ihn in der Tasche tragen, muß Ihrem Portier die Gänsehaut packen; beim ersten Glockenzuge springt die Thüre auf, selbst nach Mitternacht etc.“ Außer dem Codex der Portiere hat Eduard und Monsieur Jaeglé, sein Verleger, noch eine Menge von kleinen Büchern, zu einem Sou das Stück, herausgegeben. Da giebt es einen Codex für Eheleute, einen Codex für den Arbeiter, einen für den Bedienten, einen andern für die Todten und einen für Alles. Unter einer sehr leichten Form hat der Mann die gescheidte Idee gehabt, unter dem Volke eine gewisse Kenntniß von Gesetzen zu verbreiten, die Jeder zu wissen vorgiebt und kein Mensch kennt.
Ich will Sie nicht mit dem Codex der Todten behelligen; den praktischen Nutzen desselben habe ich nie recht begriffen; vielleicht ist Ihnen der Codex der Portiere ebenso unangenehm; ich fürchte die Portiere wenigstens ebenso sehr, als den Tod und seine Todten. Aber der Codex des Arbeiters ist ein wirklich ernsthaftes Werk. In einem kleinen faßlich geschriebenen Werkchen hat Jaeglé alle Pflichten und Rechte des Arbeiters zusammengestellt. Er lehrt ihn sein Vaterland lieben, das Gesetz zu achten und sein Recht zu vertheidigen. Bis Dato haben immer nur die Kalender und Almanachs mit ihren Schwänken und Possen die sogenannten populären Aufklärungen enthalten. Wenn man aber in großer Menge und daher zu wohlfeilen Preisen die nothwendigsten Begriffe von Religion, Moral, Geographie, Geschichte, Gesetzgebung, Ackerbau, Gartenkunst etc. verbreiten würde, namentlich in Dörfern und kleinen Städten, so würde der gute Einfluß dieser Bücher sehr bald sichtbar werden.
[364]Blätter und Blüthen.
Eine Vendetta. (Geschichte von der Insel Corsika.) Wohl Jeder hat schon von der Insel Corsika, wo Napoleon I. geboren ward, und von corsikanischer Vendetta oder Blutrache gehört und solche Vendetta-Geschichten gelesen, da sie dem Roman- und Novellenschreiber durch Leidenschaften wilder und dabei ausdauernder Art gar zu verlockende Gelegenheit geben, sich in Ausmalung socialer und moralischer Vulcanität zu zeigen. Die corsikanische Blutrache, noch jetzt trotz Polizei und starker Regierung nicht ausgerottet, ist vulcanische Eruption beleidigter Ehre, glühender Lava von Leidenschaft, die sich, wenn sie einmal ausgebrochen ist, unaufhaltsam aus Familien und Parteien über heimliche Familien und Parteien hinwälzt und nicht eher sich abkühlt, als das Blut des letzten Feindes vergossen ist. Wenn wir eine solche Vendetta-Geschichte aus der neuesten Zeit hier mittheilen, geschieht es nicht, um den Leser an fürchterlichen Leidenschafts- und Blutströmen hinzuführen, sondern blos wegen des Schlusses. –
Der Vendetta-Familienkrieg zwischen den Vincenti’s und Grimaldi’s (reichen corsikanischen Stämmen), entbrannte aus einem Streit über ein lächerliches Vorrecht, das die eine Familie gegen die andere allein zu haben glaubte. Die Vincenti’s trugen gezuberte Mäntel. d. h. solche, deren Kragen wie eine Mönchskappe über den Kopf gestülpt werden können; die Grimaldi’s trugen auch solche Mäntel und zwar in der Ueberzeugung, daß sie allein das Vorrecht dazu besäßen. Diese gegenseitige Kreuzung von Vorrechten gab an sich keinen Grund und kein Feuer zu einem Vendettakrieg, aber die gegenseitige Wuth führte bald zu blutigen Streitigkeiten, und als einmal Blut geflossen war, brachen die Vulkane los.
Ein Vincenti ließ eines Tages eine beleidigende Bemerkung gegen einen Grimaldi fallen. Der Grimaldi stürzte sich auf den Vincenti, mit Namen Orso Paolo, und nachdem er geschossen, stach er. Beide Parteien sammelten sich um ihre Häupter und schossen, stachen und schlugen auf einander mit gellendem Rachegeschrei. Es war in der Nähe der Kirche, wo gerade Gottesdienst war. Das Volk stürzte heraus, Männer, Weiber, Kinder und die Priester mit Krucifixen in den Händen, um den Sturm zu beschwichtigen. Aber die Wuth hatte schon ein Hauptopfer verschlungen, Antonio, den ältesten Sohn Ruggero’s, des Hauptes der Grimaldi-Familie. Orso hatte ihn erschossen. Der Racheschrei der Grimaldi’s gegen den Mörder wurde augenblicklich Pathos und Leidenschaft der ganzen Masse, welche mit den Grimaldi’s, über Priester und deren Krucifixe hinweg, den fliehenden Orso verfolgten. Letzterer lief wie ein gejagtes Wild nach dem benachbarten Walde, um dort ein Versteck zu suchen. Aber die Verfolger waren dicht hinter seinen Fersen: ihre Kugeln sausten um seine Ohren; ihr kreischendes Rachegeschrei wälzte sich wie eine Lawine gegen den abwärts Fliehenden. Mitten in athemloser Flucht überlegte er, ob eine Möglichkeit sei, in dem Walde Sicherheit zu finden. Sie kam ihm unwahrscheinlich vor, da er annahm, daß die Feinde jeden Strauch, jede Höhle untersuchen würden.
So entschloß er sich plötzlich, in das einzige, allein stehende Haus, an welchem er vorbei kam, zu flüchten, und sich hier nach besten Kräften zu vertheidigen. Er wußte, daß es das Haus seines tödtlichsten Feindes, Ruggero’s, war und daß es jedenfalls leer sei, da in solchen Fällen aufkochender Blutrache Alt und Jung, Weib und Kind thätigen Antheil nehmen. Er war gut gewaffnet, seine „Carchera“ voller Patronen, das Haus voller Lebensmittel. Das gab eine Möglichkeit, sich tagelang zu halten. Orso verbarrikadirte sich in dem Hause und stellte sich mit geladener Büchse an’s Fenster. Die Grimaldi’s und die Volksmassen sahen ihn und hörten ihn schwören, daß er Jedem, der dem Hause nahe, eine Kugel durch’s Hirn jagen werde. Jeder schwankte zurück. Ruggero wüthete wie ein Wahnsinniger, daß der Feind in seinem eigenen Hause Schutz gefunden. Er schrie zum Sturme, Niemand wollte ihm folgen. Da ergriff er eine Pechfackel, zündete sie an und stürzte auf einem Umwege auf sein eigenes Haus, um es anzuzünden. Sein Weib eilte und gellte ihm nach: „Wahnsinniger, unser eigenes, unser einziges, unser letztes Kind schläft in dem Hause! Willst Du Dein eigenes, Dein letztes Kind morden?“
„Laß sie Beide verbrennen,“ knirschte Ruggero, „wenn nur Orso mit verbrennt! Hussah, Orso soll verbrennen!“
So raste Ruggero weiter und warf den Brand in sein Haus. Er fing. Rasch erhob sich die Flamme und die tanzenden Funken fuhren knisternd im Winde umher. Ruggero’s Weib war auf dem Wege zum Hause bewußtlos zusammengesunken und wurde fortgetragen. Ruggero stand vor seinem brennenden Hause inmitten der Seinigen, die mit geladenen Gewehren lauerten, daß Orso nicht lebendig entfliehe. Mit stieren Augen, vorgebogenem Körper, lautlos starrte er in die lodernden, knisternden Flammen. Und als die brennenden Balken einer nach dem andern zusammenkrachten, lachte er plötzlich auf im wilden Jubel und schrie: „Einer wird ihn treffen, einer wird ihn treffen! Ha, wie er sich darunter wälzt und zweifachen Tod stirbt, er verbrennt und er erstickt! Verbrennt, erstickt, zerquetscht! Ha, ha, ha! Ich sehe ihn noch! Ich sehe ihn noch! Schießt ihn todt, wie einen Hund, schießt ihn todt, wenn er flieht! Hat er das Kind auf dem Arme? Hat Einer gesehen, daß er mein Kind auf dem Arme – mein Kind – mein letztes, mein –“
Das ganze Dach brach jetzt krachend zusammen und aus der dicken Rauchsäule züngelten neue frische Flammen hoch auf. Auch Ruggero war nach einem heulenden Schrei zusammengebrochen und wurde in ein Haus getragen, wo seine Frau im Wahnsinn fieberte und sein Sohn Antonio mit der Kugel Orso’s im Herzen im Sterben lag. Als er wieder zur Besinnung kam, blieb er lange unfähig zu begreifen, was eigentlich geschehen sei. Endlich sah er sich mit dem Brande, sein schreiendes, zusammensinkendes Weib, sein brennendes Haus, sein brennendes, letztes, unschuldiges Kind. Er starrte einige Minuten vor sich hin, dann zog er seinen Dolch und wollte ihn sich in’s Herz stoßen. Nur der von Freunden mit Gewalt und Ausdauer gehaltene Arm hinderte ihn daran. Endlich entwaffnete man ihn und entfernte Alles aus seiner Nähe, womit er sich hätte ein Leids anthun können.
Was war aus Orso Paolo und dem Kinde Ruggero’s, Franzesko, geworden? Als Ersterer das Haus in Flammen sah, suchte er nach einer Zuflucht, einem Keller, einer Höhle, was ihm Schutz gegen den erstickenden Rauch und die um sich greifenden Flammen gewähren könne. Als er von Zimmer zu Zimmer lief, hörte er das Geschrei des erwachten, erschreckten Kindes. Er sprang hinzu. Das Kind streckte in lebhaftester Angst schreiend seine Aermchen nach ihm aus. Es war Ruggero’s Kind. Er ergriff es, um es in die Flammen zu werfen, um die letzte Hoffnung der Grimaldi’s zu vertilgen. Die Glut der Rache brannte in ihm heißer als die Flammen um ihn. Er stürzte sich mit dem Kinde an’s Fenster, um es erst seinen Feinden zu zeigen und dann wo möglich vor deren Augen in die Flammen zu werfen. Aber unterwegs berührte ihn die schöne, runde Wange des Kindes und traf ihn das schöne, große, bittende, angstvolle Auge der Unschuld plötzlich bis in’s innerste Mark. Nein, solche Augen, solche blühende Wangen, solche spielende Locken, solch’ ein aufblühendes, heiliges Wesen der Unschuld war mächtiger als das verzehrende Feuer seiner Rache. An seine Wange gelehnt und sich beruhigend – dieses Kindes-Vertrauen war mächtiger als Alles, wie er hernach bekannte – lehnte das Kind auf seinem Arm. Durch Rauch und Flammen graspte er sich hindurch, um einen Ausweg und Schutz zu suchen. Inzwischen stürmten die Leute Castel d’Acquas, eines Verwandten von Orso Paolo, mit Hörnergeschmetter und Schüssen heran und schlugen die Grimaldi’s in die Flucht. Als sie das brennende Haus umgaben und hineinschrien, daß Orso nun sicher sei, brach das Haus vollends zu einem brennenden Schutthaufen zusammen. Niemand konnte sich dem Rauche und der glühenden Hitze nähern.
Eine furchtbare halbe Stunde verging. Plötzlich schwoll ein Freudengeschrei von dem benachbarten Orte Olmo. „Cuviva, Orso Paolo! Cuviva, Orso Paolo!“ Ruggero’s Weib flog an’s Fenster, und mit einem wilden Freudengeschrei eilte sie hinunter auf die Straße, hinter ihr her Ruggero und dessen Freunde. Durch jubelnde Volksmassen hindurch trug Orso Paolo, geschwärzt, versengt und verwildert das Kind Ruggero’s unversehrt auf dem Arme. Er hatte sich in einem Keller den Flammen zu entziehen gewußt. Die Mutter des Kindes warf sich an die Brust ihres Feindes und des Retters und bedeckte das Kind mit wilden Thränen und Küssen. Ruggero aber stürzte sich stumm und das Gesicht verhüllend zu seinen Füßen.
„Steh’ auf, Freund Grimaldi,“ sagte Paolo. „Möge Gott uns Beiden vergeben, wie wir uns einander.“
Die Feinde sanken einander in die Arme, und da sich auch später Antonio erholte, feierten sie ein Versöhnungs- und Freudenfest, das von Olivenzweigen, Musik von Weingläsern, Violinen, Mandolinen und Freudenschüssen überfloß und die ganze Bevölkerung von Olmo mitfeierte. Die Freundschaft der beiden Familien ist seitdem die innigste und treueste geblieben.
Chinesische Uhren. Der berühmte französische Thibet- und China-Reisende, Le Huc, erzählt folgende Art und Weise, wie die gemeinen Chinesen nach der Uhr sehen: „Eines Tages, als wir unsere zum Christenthum bekehrte chinesische Gemeinde besuchen wollten, begegneten wir unterwegs einem Jungen, der einen Ochsen hütete. Wir fragten ihn im Vorbeigehen, ob es schon 12 Uhr sei. Der Junge guckte nach der Sonne, aber sie steckte hinter dicken Wolken, so daß er diese Uhr nicht zu Rathe ziehen konnte.
„Der Himmel ist so voll Wolken,“ sagte er, „aber wartet einen Augenblick.“ So lief er in den benachbarten Bauernhof hinein und kam in einer Minute mit einer Katze auf dem Arme zurück. „Seht,“ sagte er, „’s ist noch nicht 12 Uhr.“ Dabei zeigte er uns die Augen der Katze, indem er deren Lider aufwärts schob. Wir sahen den Jungen erstaunt an, aber er war augenscheinlich im vollen Ernst, und die Katze, obgleich ihr die Operation unangenehm schien, war doch offenbar daran gewöhnt und benahm sich sehr verständig, als wäre es ihr eigentliches Geschäft, Uhr zu sein. Wir sagten: „Sehr gut, mein Junge, besten Dank,“ und lachten, da wir uns schämten, uns von dem Jungen belehren zu lassen. Als wir aber unsere Freunde fanden, war es unser Erstes, nach dem Sinne dieser Operation mit der Katze zu fragen. Sie wunderten sich sehr über unsere Unwissenheit und sammelten bald ein paar Dutzend Katzen aus der ganzen Nachbarschaft, um uns zu zeigen, daß die Uhren in deren Augen alle richtig gingen. Die Pupillen der Katzenaugen wurden bis Mittags 12 Uhr immer kleiner, und erreichen dann ihre engste Zusammenziehung in Form einer feinen Linie, wie ein Haar, perpendiculär über das Auge gezogen. Dann dehnt sie sich allmälig wieder aus, bis sie Nachts 12 Uhr die Form einer ziemlich großen Kugel erreichen. Man versicherte uns, daß jedes Kind bald eine große Fertigkeit und Genauigkeit in Angabe der Zeit aus den Katzenaugen erreiche. Wir selbst überzeugten uns sofort, daß die Uhren sehr richtig gingen und genau übereinstimmten. Wir wollen hoffen, daß wir mit Enthüllung dieser chinesischen Art, Chronometer und Uhren zu ersetzen, die edle Kunst unserer Herren Uhrmacher nicht beeinträchtigen. Minutenzeiger fehlen doch immer noch in den Pupillen von Hinz dem Kater und Suse der Katerine.