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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[465]

No. 40. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.


Kopf und Herz.

Von A. v. W.

I.

Es war an einem der letzten schönen Herbsttage des Jahres 1840, als Morgens gegen neun Uhr das Thor des Schlosses Adersheim geöffnet ward, und ein leichter Jagdwagen, mit zwei muthigen Pferden bespannt, über die Brücke rollte, welche die beiden Ufer des ziemlich breiten Schloßgrabens verband. In dem Sitze des offenen, eleganten Wagens saßen zwei Männer, deren Ausrüstung ihre Absicht errathen ließ. Ein Jeder trug an der Seite Tasche und Pulverhorn, und vor sich hielt er ein doppelläufiges Gewehr. Auf dem niedern Bocke neben dem schon ergrauten Kutscher saß ein schlanker, brauner Hühnerhund, der Liebling des alten Barons von Adersheim; zwei andere jagten kläffend hinter dem Wagen her.

Der ältere der beiden Jäger war der Besitzer des Schlosses, Friedrich Baron von Adersheim. Er war ein großer, stattlicher Mann von gesundem Aussehen, und obgleich er bereits achtundfünfzig Jahre zählte, obgleich sein Haupt und sein großer Schnurrbart mehr weiße als dunkele Haare enthielt, so erlaubte ihm dennoch seine kräftige Constitution, daß er seiner leidenschaftlichen Liebe zur Jagd ohne Beschwerden nachhängen konnte. Der Baron war nicht nur als ein passionirter Jäger, sondern auch als ein guter, wackerer Mann bekannt, der allgemein geachtet und geliebt ward. Er hatte früher als Oberst in der königlichen Armee gedient, war vor zwölf Jahren ausgeschieden, und lebte seit dieser Zeit auf dem von dem Vater ererbten Rittergute, das für die reichste Besitzung in der ganzen Provinz galt.

Der Oberst war nicht verheirathet, obgleich er die Frauen gern sah. Bei seinem großen Vermögen und seinem leutseligen, verträglichen Charakter blieb seine Ehestandslosigkeit ein Räthsel; doch einige Jugendfreunde, zu denen auch sein gegenwärtiger Begleiter gehörte, wußten, daß er nicht aus Abneigung oder Vorurtheil unvermählt geblieben, sondern daß er das Andenken an seine erste Jugendliebe heilig hielt, deren Gegenstand, ein reizend schönes Mädchen aus dem Bürgerstande, ihm durch den Tod entrissen war. So lebte er einsam auf seinem Schlosse; die Leitung seiner ausgebreiteten Oekonomie war seine Beschäftigung, und die Jagd seine Freude und Zerstreuung.

Friedrich war zur Zeit, in der unsere Erzählung beginnt, der einzige Repräsentant der alten Familie Adersheim, denn sein jüngerer Bruder war vor zwei Jahren gestorben, nachdem er ein ziemlich bedeutendes Vermögen vergeudet hatte, so daß seiner einzigen Tochter Franziska, einem stolzen, hochfahrenden Fräulein, nichts geblieben, als die kleine Hinterlassenschaft der Mutter, die aus Gram über den zum Spiele und Trunke geneigten Gatten drei Jahre früher gestorben war. Die Feindschaft, die seit langer Zeit zwischen den beiden Brüdern geherrscht, hatte ihren ersten Grund in der Charakterverschiedenheit, und später in dem wüsten Leben, dem sich der Verstorbene ergeben. Franziska hatte die Abneigung ihres Vaters gegen den Obersten getheilt, und nicht selten mit großer Heftigkeit über den filzigen Hagestolz, wie sie ihn nannte, gesprochen. Seit dem Tode ihres Vaters jedoch hatte sie sich dem Onkel, den sie sonst verächtlich gemieden, wieder zu nähern gesucht, und sie war einige Mal auf Adersheim gewesen, ohne den Onkel anzutreffen. Der Oberst, obgleich Gehässigkeit nicht in seinem Charakter lag, suchte sich der Annäherung seiner Nichte, deren Grund er kannte, zu entziehen. Hatte er auch die von dem übermüthigen Fräulein erlittenen Kränkungen vergessen, so konnte er sich dennoch nicht entschließen, sie in dem verschwenderischen Leben des Vaters zu unterstützen, das sie auf ihre Weise fortsetzte.

Der Begleiter des Barons war ein westphälischer Edelmann, Eberhard von Detmar. Beide waren zu gleicher Zeit in die Armee eingetreten, hatten zusammen die Kadettenschule besucht, und jene Freundschaft sich bewahrt, die, in der Jugend angeknüpft, unwandelbar für das ganze Leben bleibt. Eberhard war auf einer Geschäftsreise begriffen, und verweilte einige Tage bei seinem Freunde, den er seit einer langen Reihe von Jahren nicht gesehen hatte. Beide fuhren heute, an dem letzten Tage ihres Beisammenseins, auf die Jagd. Der Morgen war schön, und die Freunde befanden sich in der heitern Laune, die günstiges Jagdwetter bei den Jägern stets zu erzeugen pflegt.

Unter Gesprächen, die sich meist um die fröhlich verlebten Jugendjahre drehten, hatte man nach einer halben Stunde ein anmuthiges Wäldchen erreicht. Am Rande desselben lag ein kleines, reinliches Gehöft, dessen rothes Ziegeldach und schneeweiße Mauern freundlich durch die gelben Bäume blickten. Der glatte Feldweg führte dicht an dem Thore vorüber, in dem ein junger Mann stand, und ehrerbietig grüßte.

„Guten Morgen, Philipp!“ rief der Baron. „Wie geht es Deiner alten Mutter?“

„Sie befindet sich wohl, gnädiger Herr!“

„Sage ihr, daß sie mich nächsten Sonntag besucht.“

„Zu dienen!“

„Auch läßt Marianne grüßen.“

„Danke, danke!“ rief Philipp dem dahinfahrenden Wagen nach, der in der nächsten Minute hinter einer Waldecke verschwand [466] „Jener junge Bauer,“ sagte der Oberst, „ist ein Verwandter meiner Marianne. Wunderst Du Dich nicht darüber,“ fragte er lächelnd, „daß sie dem Bauernstande angehört, nachdem Du sie kennen gelernt hast?“

„Da ich weiß, daß Du selbst keine Tochter hast,“ antwortete Eberhard von Detmar, „so habe ich sie für eine Verwandte, vielleicht für eine Tochter Deines verstorbenen Bruders gehalten. Das Mädchen ist nicht allein schön und gut, sie besitzt auch Kenntnisse und eine Tournüre, die nur in den höhern Ständen heimisch zu sein pflegt.“

„Wollte Gott, Franziska, meine Nichte, hätte Marianne’s Charakter, ich würde viel darum geben. Beide sind zwar sehr schöne Mädchen, aber in Bezug auf Sinnesart kann ich sie mit dem Nord- und Südpol vergleichen. Franziska hat alle Fehler ihres Vaters geerbt. Sie liebt den Aufwand, sie spielt, reitet und lästert wie ihr Vater. Und dabei sind ihre Einkünfte so gering, daß sie kaum zur Bestreitung eines bescheidenen Haushaltes ausreichen. Von mir hat die übermüthige Verschwenderin nichts zu erwarten, denn ich halte es für eine Sünde, einer leichtsinnigen, und fast möchte ich sagen, verderbten Person Vorschub zu leisten. Marianne hingegen ist ein Muster von weiblichen Tugenden – sie besitzt nützliche Kenntnisse, ist die Seele meiner großen Wirthschaft und wird von Allen geschätzt, die sie kennen. Und dabei spricht sie Französisch, spielt fertig das Piano und singt wie die Sontag.“

„Das ist viel,“ antwortete von Detmar. „Wenn man bedenkt, daß sie aus dem Bauernstande hervorgegangen.“ –

„Du weist noch nicht Alles!“ rief der Oberst, der mit großer Liebe von dem Mädchen sprach. „Sieh’ dorthin!“

Er zeigte auf ein verfallenes, mit schwarzem Stroh bedecktes Häuschen, das in einer Entfernung von vielleicht fünfzig Schritten an dem Abhange eines Hügels lag. Die beiden kleinen Fenster desselben waren durch zerbrochene Laden geschlossen, der Schornstein war zur Hälfte eingestürzt, und an den Lehmwänden empor wucherte das Unkraut.

„Meinst Du jene elende Hütte?“ fragte Eberhard.

„Ja!“

„Nun, was ist es damit?“

„Diese elende Hütte ist der Geburtsort Marianne’s.“

Eberhard sah seinen alten Freund verwundert an. Der Gesichtsausdruck des Obersten war plötzlich ein anderer geworden, mit ernsten, wehmüthigen Blicken sah er nach den Ruinen des Häuschens hinüber.

„Wir haben noch eine halbe Stunde bis zu dem Reviere, das wir heute durchstreichen wollen,“ sagte er, indem er gewaltsam seine Blicke von dem Punkte losriß. „Du bist mein ältester, mein bester Freund, Eberhard, und damit Du den Grund meiner besondern Vorliebe zu Marianne, die Dir vielleicht ein wenig seltsam erschienen sein mag, kennen lernst, und damit Du siehst, daß ich als alter Junggeselle dennoch eine Tochter besitze, muß ich Dir die Geschichte dieses verfallenen Häuschens erzählen, das auf mein Leben einen merkwürdigen Einfluß ausgeübt hat. In dieser Zeit,“ fügte er hinzu, „wo Franziska Alles aufbietet, sich in mein bisher so ruhiges Leben einzudrängen, fühle ich das Bedürfniß, mich der Vergangenheit recht deutlich zu erinnern und das Urtheil eines Freundes zu vernehmen. Darum höre mich an, Eberhard.“

„Ich kenne Dein Herz, Friedrich, und darum glaube ich Deine Handlungen richtig beurtheilen zu können.“

„Es sind diesen Herbst elf Jahre, daß ich, nur von meinem Kammerdiener begleitet, jenen Busch durchstrich, um ein Reh zu verfolgen, das uns schon mehr als einmal entgangen war. Du kennst den Eifer eines Jägers, wenn es gilt, ein schönes Stück Wild zu erlegen, aber Du kennst auch den Groll, der erwacht, wenn man sich am Ziele wähnt und getäuscht wird. War es doch, als ob dieses Reh sich ein Vergnügen daraus machte, mich zu necken. Vier, fünf Mal stand es in der besten Schußweite, und eben so oft setzte es raschelnd durch das Unterholz, wenn ich das Gewehr anlegte, obgleich ich mich mit der größten Vorsicht genähert hatte. Die Dämmerung war schon angebrochen, als ich nach zweistündigem Suchen endlich die Fährte wieder erwischte. Mein Begleiter hatte eine andere Richtung eingeschlagen, um mir das Wild entgegen zu treiben. Ich war allein. Jetzt denke Dir meine Freude, als ich plötzlich das Thier bei einer Quelle erblicke, die aus einem Felsen rinnt, bei der ich kürzlich erst ein Reh erlegt hatte. Deutlich sah ich es zwischen den Blättern stehen, den Kopf zu dem Wasser hinabgesenkt. Diesmal sollst du nicht wieder davonkommen, dachte ich, legte an, zielte einen Augenblick, und feuerte ab. Dem Knalle folgte ein Rascheln in den Gebüschen, und das Thier verschwand. Ich stürze nach, aber kaum hatte ich die Quelle erreicht, als ich neben mir ein dumpfes Stöhnen und den Ausruf höre: Großer Gott, sorge für mein Weib und mein Kind! Meine Jägerfreude verwandelte sich plötzlich in einen furchtbaren Schrecken, und indem ich die Zweige auseinanderbiege, sehe ich einen Mann in dem trockenen Laube liegen, der sich vor Schmerzen wie ein Wurm krümmte. Daß ihn mein Schuß getroffen, unterlag keinem Zweifel. Ich bin nicht feig, Eberhard, aber in diesem Augenblicke fehlte es mir dennoch an Muth, das Opfer meines Jagdeifers näher zu untersuchen, denn der Gedanke, einen Menschen getödtet zu haben, lähmte mir alle Glieder. Das Gewehr entsank meiner Hand, und ich sah bestürzt auf den armen Mann hinab, der vor Schmerzen laut jammerte und klagte.

„Ich bin kein Wilddieb!“ stöhnte er. „Warum haben Sie auf mich geschossen? Meine Frau liegt krank – ich wollte Quellwasser holen. Mein Gott, mein Gott, wer wird für sie sorgen – ich muß sterben!“

„Wer seid Ihr denn, mein armer Freund?“ fragte ich.

„„Georg Lorenz – wohne nicht weit von hier – am Saume des Busches.“

„Der Verwundete lag regungslos am Boden. Hier muß rasche Hülfe geschafft werden, dachte ich, und ohne mich lange zu besinnen, hob ich den Mann empor, um ihn nach dem nahen Häuschen zu tragen, das ich kannte. Noch hatte ich den Ausgang des Gehölzes nicht erreicht, als mein Kammerdiener, durch den Schuß angelockt, mir eilig entgegenkam. Schon von Weitem rief er mir zu, ob ich endlich das Thier erlegt habe, denn es sei nach dieser Ecke des Busches geflohen.

„Hilf mir diesen armen Menschen tragen, Gottfried!“ rief ich aus.

„„Was ist’s mit ihm?“

„Ich habe, von der Dämmerung verblendet, auf ihn geschossen.

„„Dem Wilddiebe ist recht geschehen!“ rief Gottfried, der in demselben Augenblicke zu mir herantrat, als ich den Verwundeten in das Gras niederlegte.

„„Georg Lorenz ist kein Wilddieb.“

„Bei Nennung dieses Namens zuckte Gottfried, ein guter Bursche, heftig zusammen. Trotz der Dämmerung konnte ich den erschütternden Eindruck gewahren, den meine Unglücksbotschaft auf den treuen Diener ausübte.

„„Georg Lorenz?“ wiederholte er mit bebender Stimme. Dann schwieg er, als ob er mir geheim halten wollte, daß ich einen braven Mann unglücklich gemacht habe. Nach einigen Augenblicken beugte er sich zu Lorenz hinab. Ich sah, wie er zurückbebte, aber dennoch seine Fassung zu bewahren suchte.

„„Treten Sie den Rückweg an!“ murmelte Gottfried. „Ich werde für den Verwundeten sorgen. Dort am Raine wartet der Wagen.“

„Die Regungslosigkeit des Opfers meiner Unvorsichtigkeit erfüllte mich mit einer gräßlichen Befürchtung. Ich hatte es von jeher vorgezogen, mir in allen Lagen des Lebens so viel als möglich Gewißheit zu verschaffen, und auch hier konnte ich es nicht über mich gewinnen, mit der Ungewißheit über das Schicksal des armen Lorenz heimzukehren. Rasch kniete ich auf den Boden, und ergriff die Hand des Unglücklichen. Sie war kalt und starr. Bestürzt sah ich meinen Kammerdiener an.

„„Der Bauer ist ohnmächtig geworden!“ rief er aus, um mich zu trösten.

„Ich eilte nach der Quelle zurück, um in meinem Hute Wasser zu holen – da fand ich den irdnen Krug, den Lorenz, wie er mir gesagt, für seine kranke Frau hatte füllen wollen. Der Anblick des Gefäßes trieb mir die Thränen in die Augen, und zum ersten Male in meinem Leben verwünschte ich die Jagd. Ich schöpfte Wasser, und stürzte zu dem Verwundeten zurück. Alles Bemühen blieb vergebens – Lorenz war tod. Eberhard, wie soll ich Dir meinen Zustand beschreiben! Da stand ich an der Leiche Dessen, den ich gemordet hatte! Ach, wie gern hätte ich mit meinem ganzen Vermögen das Leben des armen Landmanns [467] zurückgekauft. Die That war geschehen, und nichts in der Welt konnte sie rückgängig machen.

„„Der Mann hat eine kranke Frau,“ sagte Gottfried; „wir wollen ihn in das Nachbargehöft schaffen.“

„Mit Hülfe meinen Wagens brachten wir den Todten nun in das Gehöft, in dessen Thore Du vorhin den jungen Mann erblicktest. Der Vater desselben, ein wackerer Bauer, suchte mich über den Unfall zu trösten; aber dessen ungeachtet, und obgleich ich wußte, daß ich nicht vorsätzlich den schrecklichen Schuß gethan, kehrte ich in einer martervollen Verfassung nach meinem Schlosse zurück. Nach einer schlaflos verbrachten Nacht ging ich am frühen Morgen zu Lorenz’ Hütte. Die klare Morgensonne beschien freundlich das ärmliche Gebäude, dessen niedere, schwarze Thür halb geöffnet war. Ein Pudel sprang daraus hervor, sah mich einen Augenblick an, lief dann zurück und kratzte an einer Thür, als ob er mich veranlassen wollte, sie zu öffnen. Leise trat ich in das kleine Stübchen. Welch ein Anblick bot sich mir dar! In dem einzigen, armseligen Bette sah ich ein mageres, leichenblasses Frauengesicht mit gebrochenen, weit geöffneten, Augen. Der rechte Arm dieser Frau hielt den Kopf eines kleinen Mädchens umschlungen, das auf einem Stuhle neben dem Bette saß, mit dem Oberkörper auf das Kissen gesunken und eingeschlafen war. Das blühende Kind lag süß schlummernd in dem Arme der todten Mutter. Ich schäme mich nicht zu bekennen, daß mir die Thränen in die Augen traten, und daß ich einige Minuten still weinte, während der treue Pudel mir die herabhängende Hand leckte.

„Das ist mein Kind! sagte ich zu mir. Gott selbst giebt mir ein Mittel an die Hand, mein sträfliches Versehen wieder auszugleichen.

„Während ich gedankenvoll an dem Bette des Todes und des aufblühenden Lebens stand, hörte ich draußen unter dem Fenster die Stimme eines Kindes rufen: „„Marianne, komm heraus, wir wollen Sultan an den Wagen spannen!“ Und gleich darauf sah ich hinter der trüben Scheibe des Fensters, das sich neben dem Bette befand, den braunen Lockenkopf eines rothwangigen Knaben. Lächelnd blickte er in das Zimmer. Als er mich gewahrte, verschwand er wieder. Ich trat hinaus vor die Thür. Da stand das Kind mit einem kleinen, selbstverfertigten Wagen hinter sich.

„Wie heißt Du? fragte ich.

„„Philipp!“ war die unbefangene Antwort. „Ich will mit Marianne spielen.“

„So wecke sie, sie schläft noch.

„Ich führte den Knaben in das Stübchen. Kaum waren wir eingetreten, als er ausrief: Frau Lorenz schläft auch noch! Nach meiner dazu ergangenen Aufforderung trat Philipp, der barfuß ging, an das Bett, und berührte Marianne’s Hand. Das Kind erwachte und sah mit großen Augen um sich. Der Anblick des freundlichen Spielgesellen erfüllte sie mit einer sichtlichen Freude. Leise, als ob sie die Mutter nicht im Schlafe stören wollte, entwand sie sich dem sie umschlingenden Arme derselben, und setzte ihre kleinen nackten Füße auf den Boden.

„„Was ist denn das?“ rief Philipp erschreckt. „Deine kranke Mutter hat ein schneeweißes Gesicht.“

„Marianne trat rasch zu dem Bett zurück.

„„Mutter,“ rief sie, und rüttelte die Hand derselben – „Mutter, bist Du noch kränker geworden?“

„Die arme Mutter blieb regungslos, sie hörte ja das Rufen des Kindes nicht mehr.

„„Ihre Hand ist kalt!“ schluchzte das Mädchen. „Wo nur der Vater bleibt?“ fragte sie ängstlich. „Mutter wollte trinken, und da ist er zur Quelle im Walde gegangen, weil das Wasser im Bache so schlecht ist!“

„Ein kalter Schauder durchrieselte meinen ganzen Körper. Ich hatte ja dem Kinde den Vater geraubt! Diese für mich so peinliche Scene ward durch Philipp’s Vater unterbrochen, der mit einem Arzte aus dem benachbarten Städtchen eintrat. Der Letztere erklärte, ein Lungenschlag habe die Leiden der armen Frau geendet. Nachdem ich zur Bestreitung der Begräbnißkosten meine Börse hinterlassen, führte ich die beiden Kinder hinweg auf mein Schloß. Philipp sollte einige Zeit bei Marianne bleiben. Denselben Tag noch ließ ich das Gericht kommen, erklärte den Thatbestand zu Protokolle, und übernahm die Verpflichtung, das verwaiste Kind zu erziehen. Eine Strafe ward weiter nicht über mich verhängt, da man mich kannte, und von einem vorsetzlichen Morde nicht die Rede sein konnte.

„Zwei Jahre blieb nun Marianne in meinem Hause, und der Anblick des fröhlich aufblühenden Kindes verscheuchte die trüben Gedanken, welche die Erinnerung an die Unglücksgeschichte nur zu häufig anregte. Philipp erschien fast täglich, um mit der muntern Marianne seine Spiele zu treiben, die jedoch mit dem Fortschreiten des Alters ernsterer Natur wurden. Beide liebten und betrachteten sich als Geschwister, zumal da Philipp’s Mutter Marianne’s Pathe war. Auch das Glück des Knaben lag mir am Herzen, und um es zu begründen, schenkte ich dem Vater, dessen einziger Erbe er war, einige Ackerstücke und Wiesen, die an sein Gütchen grenzten. So entstand nach und nach jener hübsche Meierhof, den Du gesehen hast, und ich kann wohl sagen, er ist mehr das Werk meiner Pflegetochter, als mein eigenes.

„Bis zu ihrem zwölften Jahre hatte Marianne gemeinschaftlich mit Philipp den Unterricht meines Pfarrers genossen, es war nun Zeit, sie für die Sphäre ausbilden zu lassen, der sie künftig als meine Schutzbefohlene angehören sollte. Ich brachte sie in ein Pensionat der Residenz. Das Mädchen machte bewundernswürdige Fortschritte, und schon nach drei Jahren war sie eine junge Dame geworden, die durch Geist, Liebenswürdigkeit und Schönheit großes Aufsehen erregte. Niemand ahnte ihre niedere Abkunft, man hielt sie allgemein für eine Verwandte des reichen Barons von Adersheim, und zeichnete sie aus, wo sie erschien. Ich liebte die Tochter des erschossenen Lorenz wie meine eigene, und es schmeichelte meiner väterlichen Eitelkeit nicht wenig, wenn ich von allen Seiten ihr Lob hörte. Dazu kam noch der nimmer ruhende Drang meines Herzens, das an dem Vater begangene Vergehen an der Tochter in der größten Ausdehnung gut zu machen. Um ihrer Erziehung die höchste Vollendung zu geben, brachte ich sie in eine Bildungsanstalt, die wegen der großen Kostspieligkeit nur den reichsten Leuten zugänglich war. Auch hier ward sie bald die erste Schülerin, und die erste Schönheit.

„Zu ihrem Unglücke traf sie in diesem Institute mit Franziska, der Tochter meines Bruders, zusammen. Letztere ist zwar nicht minder schön und geistreich, aber ihr stolzer und übermüthiger Charakter vermindert den Eindruck, den ihre Erscheinung im ersten Augenblicke ausübt. Marianne’s Siege machten sie neidisch, und sie verschmähte keine Gelegenheit, die gefährliche Rivalin zu kränken. Je geduldiger Marianne selbst die boshaftesten Angriffe ertrug, je erbitterter ward Franziska, und mehr als einmal hat das arme Kind den Vorwurf ihrer niedern Abkunft hören müssen. Ein Zufall setzte mich davon in Kenntniß, und ich nahm mein Kind zurück.

„Während Marianne sich zu einer aristokratischen Dame herangebildet, war aus Philipp ein tüchtiger Landwirth und ein braver junger Mann geworden. In den Ferien sahen sich die beiden jungen Leute öfter, und ich mußte Marianne’s Takt bewundern, mit dem sie den Jugendgespielen, der hinsichtlich der Bildung tief unter ihr stand, behandelte. Sie wußte den eingetretenen Abstand so zart zu verdecken, daß der junge Bauer zwar eine gewisse Hochachtung, aber immer noch jene Zuneigung empfand, mit der er an dem kleinen Mädchen in den zerlumpten Kleidern gehangen hatte. Als sie später für immer auf dem Schlosse blieb, kam er seltener, und ich sehe ihn jetzt nur, wenn ihn sein Vater in Geschäften sendet. Dann begrüßt er unbefangen seine Jugendgespielin, und entfernt sich mit demselben heitern Gesichte, mit dem er gekommen ist.“

„Wie mir scheint,“ sagte lächelnd Eberhard von Detmar, „so ist die künftige Erbin von Adersheim gefunden. Nach der Beschreibung, die Du mir von Franziska gemacht, wüßte ich keine würdigere als Marianne.“

„O gewiß, Freund, gewiß!“ rief der Oberst. „Ist es nicht meine Pflicht, Mariannen das Leben zu schaffen und zu erhalten, für das ich es habe erziehen lassen? Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, wenn ich eine vollendete aristokratische Dame dem niedern Stande wollte anheimfallen lassen. Marianne ist nicht an Arbeit gewöhnt, und es wäre nicht minder für mich als für sie eine Blamage, wenn sie einmal mit den Kenntnissen, durch die sie glänzt, ihr Brot verdienen müßte. Diesen Triumph gönne ich der neidischen Franziska nicht. Aber sie bleibt dessen ungeachtet immer die verarmte Tochter meines Bruders, und deshalb werde ich ihr helfen, sobald sie meiner Hülfe werth ist. Trotz der Beleidigungen, [468] die Marianne erlitten, spielt sie dennoch den versöhnenden Engel zwischen mir und Franziska, bei jeder Gelegenheit sucht sie das Treiben ihrer Feindin in ein mildes Licht zu stellen. Doch halt, hier beginnt das Revier! Marianne erwartet einen leckern Rehbraten, und wir dürfen diese Erwartung nicht täuschen.“

Der Wagen hielt, und die Freunde stiegen aus, um die reizende Waldung zu begehen, die sich an einem sanften Hügelabhange ausbreitete. Die geladenen Gewehre auf der Schulter, verschwanden sie in den Gebüschen.

(Fortsetzung folgt.)




Amerikanische Briefe.

V.0 Quebeck.
Nächtliche Dampfschifffahrt von Montreal nach Quebeck. – Die Physiognomie Quebecks. – Die entscheidende Schlacht bei Quebeck. – Pelz- und Holzhandel. – Lage der Auswanderer. – Klima. – Steinkohlenvorrath auf 20,000 Jahre. – Zunehmende Wichtigkeit der Deutschen in Amerika. – Die Montmorenci-Wasserfälle. – Für 66 Millionen Thaler neue Eisenbahn. – Deutsches Paßwesen und amerikanische, gesunde Unpäßlichkeit. – Die Salons erster und dritter Klasse im amerikanischen Flußdampf-Omnibus.

Unser Schiff war ein drei Stockwerke hoher, unendlich langer Feenpalast, das gegen Abend mit Hunderten von Passagieren sich für die Nacht kühn den gewaltigen Lawrencefluthen anvertraute, die wegen ihrer Feindseligkeit gegen Schiffe kaum weniger berüchtigt sind, als der Mississippi. So lange die Ufer zu sehen waren, erschienen sie größtentheils eben und unansehnlich. Der Lawrence sieht klar aus, so daß die schmutzigen Massen, welche der ungeheuere Ottawa aus den wilden Gegenden hereinwirft, wo die Beamten und wilden Jäger verschiedener Rauchwerk- und Fellhandel-Compagnieen hausen, noch lange darin zu unterscheiden waren. Die anderen zum Theil bedeutenden Flüsse, welche von den vereinigten Staaten her (Richelieu, Yamaska, St. Francis, Nicolet, Chaudière mit einem Wasserfall) und vom Norden (Trois Rivieres d. h. drei Flüsse, Batiscan und nach mehreren andern der Montmorenci mit den großartigsten Wasserfällen nach denen des Niagara) zwischen Montreal und Quebeck in den Lawrence fallen und die Städte, die sich daran ausbreiten, passirten wir in der Nacht, so daß sich nichts davon sagen läßt. Als sich die Erde mit Morgenroth lichtete, sahen wir auch schon an beiden Seiten des eine englische Meile breiten Flusses die hohen felsigen Ufer, das Diamantkap (an Ehrenbreitenstein am Rhein erinnernd) und die Abrahamshöhen, die Quebeck umgeben und vor 95 Jahren das Schicksal Canada’s entschieden. Ich besuchte später das berühmte Schlachtfeld, wo der englische General Wolfe nach der kühnsten Landung die Franzosen unter Montcalm besiegte und letztere nöthigte, Canada den Engländern zu überlassen. Sieger und Besiegter, beide starben auf dem Schlachtfelde, auf welchem eine einfache Säule mit der Inschrift: „Hier starb Wolfe als Sieger“ die Stelle bezeichnet, wo er fiel. Im Schloßgarten der Stadt ließ der General-Gouverneur von Canada, Lord Dalhousie im Jahre 1827, mit mehr Geschmack und Gerechtigkeit einen Obelisk zum gemeinschaftlichen Andenken beider Helden errichten.

Diese wichtige Schlacht, welche das Schicksal einer der wichtigsten Ländermassen des neuen Continents entschied, verdiente wohl eine nähere Besichtigung, da sie in strategischer, wie in kulturhistorischer Beziehung merkwürdiger sein soll, als die Schlachten bei Leipzig und Waterloo, aber vom strategischen Theile verstehe ich nichts und der andere entwickelt sich noch in einer Breite und mit einer zunehmenden Geschwindigkeit und Energie, die noch keinen Ruhepunkt und keinen Rückblick zuläßt.

Während das Dampfschiff zwischen den wilden felsigen Ufern an der Vorstadt Quebecks unten vorbei schoß, hatte das Auge so viel zu thun und wurde von einer Menge so großartiger Eindrücke überschwemmt, daß mir nur ein wirres Bild geblieben ist, aus welchem nur die Levi-Spitze mit seiner lebhaften, von Fahrzeugen und gigantischen, bebauten Holzflößen aller Art umschwärmten Stadt an der rechten Seite, die hohe, bewaldete Orleansinsel weit über Quebeck hinaus, die den Lawrence in zwei Arme theilt, und die imposante Hochstadt Quebeck selbst an der linken Seite klar hervorragen. Ich schicke Ihnen eine in den Umrissen richtige, sonst aber ziemlich nachlässig gemachte Ansicht Quebecks vom Lawrence aus mit, wie ich sie hier gerade vorfand und überlasse es Ihnen, ob Sie dieselbe in verbesserter technischer Ausführung benutzen wollen. Ich bemerke nur noch, daß das Dampfschiff in der Mitte ein kleines Porträt der Paläste ist, welche zwischen Montreal und Quebeck regelmäßig jede Nacht die 180 englischen Meilen in 12 Stunden zurücklegen, wenn sie unterwegs nicht zerstoßen werden. Auf einer der großen Flößen, die aus den ungeheuern kanadischen Wäldern herabkommen und oft von fünfzig, sechzig bis hundert Menschen bewohnt sind, habe ich einige Stunden zugebracht und mir Wunderdinge erzählen lassen von dem canadischen Holzhandel und den wilden englischen, französischen, amerikanischen und indianischen Colonien und Stationen, welche dem unermeßlichen Norden Amerika’s seit länger als einem Jahrhundert die kostbaren Pelze abziehen, die Indianer und Jäger verwildert, ausgehungert und zum Theil vertilgt, England aber um mehr als 20 Mill. Pf. Sterling oder mehr als 130 Millionen Thaler bereichert haben, ohne daß die Londoner Hudsons-Bay-Compagnie, welche dieses Geld „machte,“ auf den Tausenden von Quadratmeilen, die sie beherrscht, nur eine einzige Schule oder Kirche errichten ließ, so daß die Indianer, denen sie die kostbaren Biber- und weißen Fuchsfelle abkauft (z. B. ein Biberfell, das in London mit zwölf, fünfzehn bis zwanzig Thalern bezahlt wird, für ein baumwollenes Tuch, welches der Compagnie 43/4 Penny, also etwa 4 Neugroschen kostete) noch jetzt oft im Winter ihre eigenen Kinder aufessen, um nicht zu verhungern. Diese wildeste und großartigste aller Jagd-Industrieen im unermeßlichen Norden Amerika’s auf Rechnung englischer, französischer, russischer und einheimischer Compagnien und auf eigene Rechnung der Heere von Freischützen interessirt mich so, daß ich sie noch besonders studiren und Ihnen schildern werde. Die mir mitgetheilten Thatsachen tragen ein so urwäldliches, wildromantisches und heroisches Gepräge, daß sie in einer übersichtlichen Darstellung gewiß jeden Leser lebhaft unterhalten werden.

Von dem großen, wimmelnden, hölzernen, schwimmenden Landungsplatze von einem irländischen Droschkenkutscher durch enge, zum Theil wie Felsen steil in die Höhe steigende Straßen in die Oberstadt hinaufgepeitscht, stieg ich auf einem großen, viereckigen Platze ab, wo großartige Hotels und stolze, alte Privatpaläste, mürrische, klosterartige Gebäude und mittelalterliche Kirchen dahinter, bärtige Gesichter und blaue Kittel mit einem Blicke zeigten, daß hier noch das alte, französische Gepräge vorherrscht. Erst im Jahre 1763 ward Quebeck definitiv unter englische Verwaltung gebracht. Mit Aufzählung merkwürdiger Gebäude und Stellen will ich den Leser nicht aufhalten. Seitdem nun auch das neue Parlamentsgebäude wieder abgebrannt ist, nachdem die Vertreter Canada’s auch in Montreal ausgebrannt worden waren, weiß ich kaum ein architektonisches Werk, das als solches auf besondere Aufmerksamkeit Anspruch machen könnte. Literarische Institute, Vereine mit Bibliotheken und Verträgen, wissenschaftliche, artistische und Erziehungsinstitute, große Zeitungen und viel Literaturabsatz verstehen sich in allen größeren selbst kleineren Städten allemal von selbst, eben so Kirchen für jedes Glaubensbedürfniß. Außer den Franzosen treten noch die Engländer, Schotten und Ireländer hervor. In den bisher besuchten Städten fand ich nur wenige, zerstreute Deutsche. Viele davon vertheilen sich auf dem Lande und concentriren sich in Canada bis jetzt besonders nach Detroit hin. Von den Deutschen in Amerika werde ich erst in New-York, Cincinnati, Philadelphia u. s. w. mehr erfahren. Ihre materielle, sociale, moralische und politische Wichtigkeit in Amerika steigt mit jedem Tage, so daß es wohl der Mühe werth ist, sich dieselben einmal näher und zugleich in ihrer Gesammtbedeutung anzusehen. Hoffentlich gewinn’ ich noch Zeit genug dazu, obgleich, wie Sie wissen, der eigentliche Zweck meiner Reise viel Zeit und Aufmerksamkeit in ganz andere Richtungen zieht.

So viel habe ich schon erfahren, daß es allen Auswanderern durch ganz Canada sehr gut geht und sie bei der überaus schnell wachsenden [469] rüstigen Bevölkerung, den sich täglich erweiternden Verkehrsstraßen und Absatzquellen, der rasch aufblühenden und sich verdichtenden Civilisation mit Fleiß und Ausdauer, was sie auch ergreifen, schnell in die Höhe kommen und sehr comfortable leben, wohnen, essen und trinken können. Ein großes Uebel ist allerdings der fünf Monate lang anhaltende und tief in die Erde frierende harte, scharfe Winter. Aber dagegen giebt’s Holz genug und einen üppig Blüthen und Früchte treibenden heißen Sommer, zunehmend gesundes Klima in jeder Jahreszeit, unbehindert rasch zunehmender Wohlstand, ohne polizeiliche Aufsicht üppig gedeihende Freiheit und steigende Achtung vor solider Arbeit jeder Art.

Quebeck.

Von meinem Ausfluge auf der Nordseite des Lawrence hinunter durch Dörfer und einzeln gesäete Landhäuser und Meiereien, über Brücken und vor verschiedenen historischen Merkwürdigkeiten vorbei bis zu den 11/2 deutsche Meilen von Quebeck tosenden Fällen des Montmorenci könnte ich Vieles erzählen: ich beschränke mich auf die kürzeste Skizze dieses größten Wunders Unter-Canada’s, indem ich zugleich verspreche, bei dem größten von Ober-Canada, den Niagara-Fällen, ganz nüchtern zu bleiben, wie ein Yankee. Der Montmorenci zwingt erst seine Wassermassen durch ausgehöhlte Kalksteinfelsen, die nach unten hier und da durchscheinen, springt dann gleichsam stufenweise Felsentreppen hinunter in dunkele Schluchten, über welchen wilde, felsige Vorsprünge von Strauchwerk bedeckt, kühn hervorragen. Die rechte Seite des Ufers ist so zerrissen und kantig, daß man den Weg nicht weiter verfolgen kann, so daß wir über die Brücke auf die andere Seite gingen, wo wir bald die eigentlichen Fälle vor uns sahen. Die ganze Wassermasse schießt hier von einem 250 Fuß hohen Felsen plötzlich in die Tiefe hinunter, wo sie zerstoben in weißen Schaum fortwährend niederdonnert, sich aber schon 1/4 Meile weiter wieder so beruhigt, daß sie ganz sanft beinahe in einem rechten Winkel sich mit dem Lawrence vereinigt.

Ein felsiger Vorsprung unweit des großartigen Schauspiels breitet vor uns rechts die hohe Quebeck, gerad vor uns den ungeheuern insulirten Waldberg, die Orleansinsel und weiterhin den 1 deutsche Meile breiten Lawrence, hinter uns in der Ferne graue Berge und in der Nähe große, schnarchende Sägemühlen zu einem unbeschreiblich reichen und großartigen Panorama aus. Die bedeutenden Mühlen werden durch eine ganz kleine Ader, die man oberhalb den Falles künstlich geschlagen, so kräftig getrieben, als arbeitete hier die Dampfkraft von vielen hundert Pferden. Man denke sich einmal den Yankee-Vorschlag ausgeführt, die Wasserkräfte des Niagara und Montmorenci statt des fabrizirenden Dampfes anzustellen! Die Kraft des Niagarafalles soll allein alle Dampfmaschinen der Erde zu Wasser und zu Lande bei Weitem übertreffen.

Quebeck ist als Sitz der Regierung, Hauptstapelplatz des Holzhandels, durch seine Schiffsbauten und als erste Station des reichen Verkehrs vom Meere den Lawrence herauf, wo die Auswanderer gern landen, um sich von hier aus nach allen Richtungen zu vertheilen, von rasch zunehmender Bedeutung. Auswanderer finden in dem Bureau des Emigrations-Agenten Buchanan am Quay unten nicht nur guten Rath, sondern auch eine Menge Dienst- und Beschäftigungs-Anerbietungen, denen man auf Dampfschiffen und Eisenbahnen nach allen Richtungen rasch und wohlfeil zueilen kann. Dampf führt täglich in den elegantesten Palästen nach Montreal, Kingsston, Toranto, Hamilton und weiter nach allen Theilen der großen Seen. Von Hamilton führt die große Nordwest-Eisenbahn gerade durch das fruchtbare, westliche Canada bis Detroit, wo man verjüngtes deutsches Leben, eine deutsche [470] Zeitung und darin Einladungen zu Bier, Tanz, Büchern, deutschen Geschäften und Läden aller Art findet.

Diesen Juli wurde ein Zweig der großen canadischen Eisenbahn zwischen Quebeck und Longueil eröffnet, von wo die zwei englische Meilen lange Eisenbahn-Lawrence-Brücke nach Montreal führt, welches bald das Hauptcentrum der canadischen Dampfcommunicationsmittel zu Wasser und zu Lande werden wird. Die große Bahn ist eins der riesigsten Unternehmungen dieses Jahrhunderts. Die Kosten sind auf 66 Millionen Thaler (9,500,000 Pfund) veranschlagt und werden jedenfalls bedeutend überschritten werden müssen. Mir wurde gesagt, daß über 10,000 Menschen daran arbeiten. Sie wird ihre eisernen Füße über ein Gebiet von 1200 englischen Meilen erstrecken und nach ihrer Vollendung (1858) von Quebeck aus nach allen Richtungen der Windrose für geringes Geld jedem Reisenden Flügel geben. In Verbindung mit den bestehenden und den Bahnen der vereinigten Staaten, im Anschluß an die jetzt gebauten Seedampfschiffe, die immer in 6-7 Tagen die Reise zwischen Liverpool und Quebeck (oder Portland im Winter) zurückschleudern wollen, wird sie nicht nur alle amerikanischen Hauptstädte bis an die Ufer des Mississippi in regelmäßige, lebendige Verbindung bringen, sondern auch ihre warmen, frischen Lebensblutpulsschläge bis Liverpool und London und von da bis Paris, Amsterdam, Rotterdam, Ostende, Hamburg und von da bis Köln, Berlin, Halle, Leipzig, Dresden u. s. w. ausdehnen, ohne daß man jenseits Frankreich und Hamburg jemals auf Tausenden von Meilen nach einem Passe gefragt wird, so daß man sich ihn auch niemals zu visiren lassen braucht. Ich fiel bei dem Manne, der mir ein Zimmer abgelassen hatte, ganz in Ungnade, nachdem ich ihm vom deutschen Paßwesen erzählt. Er sagte, so etwas könne kein Mensch vertragen, das sei unmöglich und ich wolle ihn nur mit abenteuerlichen Geschichten foppen. So wenig kann der Amerikaner unsere geordneten, polizeilichen Verhältnisse begreifen!

Wir freilich können uns eben so wenig eine Vorstellung davon machen, wie der Amerikaner ohne Polizei und Staat nicht blos zur lebendigsten Ordnung und Regelmäßigkeit, sondern auch zu einer Eleganz und einem Privatstaat kommen konnte, wodurch ich bei dem deutschen Leser in Ungnade fallen könnte, wenn ich Alles genau beschriebe. Ich denke hier zunächst an den Salon des Dampfschiffes, in welchem ich nach Montreal zurückfuhr. Der Mann, der mich in Montreal brauchte (Privatangelegenheiten, die ich stets unberührt lasse), hatte für mich erste Klasse bezahlt. So ruhten meine Stiefeln auf dem kostbarsten persischen Teppich, während ich halb liegend in einem prächtigen, weichen Armsessel mich wiegte. Vor mir ein riesiger, spiegelblanker Marmortisch auf vergoldeten Füßen, auf welchem sich besonders eine prächtig gebundene Bibel zwischen krystallenen Wasserflaschen vom feinsten Schliff bemerkbar machte. Von Oben glänzen prächtige Kronenleuchter herab und besehen sich in riesigen Spiegeln, an welchen sich große, feine Vasen mit kostbaren Blumen erheben. Klingel-, Thürgriffe und Klinken sind von Porcellan mit ächter Vergoldung oder Elfenbein. Die Sopha’s ringsum erröthen in lauter ächtem Sammet. Und der so ausmeublirte Salon war 150 Fuß lang, dessen Beleuchtung durch Himmelslicht von Oben („Himmelslicht“ heißen die Fenster in der Decke), am Tage eben so bezaubernd aussah, wie des Nachts in der brillantesten Beleuchtung. Die eine weitere Hälfte des Salons hat Seitenfenster, die andere ist ringsum mit Privatzimmern umgeben; jedes bequem ausmeublirt und mit zwei Betten versehen. In der Mitte am Ausschnitte für die Maschinen macht ein eleganter Barbierladen brillante Geschäfte, da Engländer und Amerikaner sich mindestens jeden Tag einmal, oft zweimal rasiren oder rasiren lassen, wenigstens alle, die erste Klasse fahren. Sie sind mehr oder weniger alle Sklaven ihres Backenbartes und der Angst um ein glattes Kinn.

In dem Salon der dritten Klasse sah es desto bärtiger und natürlicher aus, wo Auswanderer mit Weibern, Kindern, Koffern, Kesseln, Betten, Speisen und Getränken wie Kraut und Rüben durcheinander wühlten. In der einen Ecke stand ein Schilderhaus d. h. eine Schenke, aus welcher starke Recepte gegen Mäßigkeit und Nüchternheit verabreicht wurden, die auch ganz stark zu wirken schienen. Wenigstens bewiesen dies einige Irländer mit Frauen dazwischen, die sich über Koffer und Menschen weg boxten und bei den Haaren zerrten, so daß sie bald aufsprangen, bald niederstürzten und in einanderverschlungen herumkollerten. Man schickte nach dem Capitain, welcher jedoch auch bei den Irländern die Freiheit so respectirte, daß er antwortete: „Na, sie mögen’s ausfechten – unter sich selbst abmachen.“

Von Montreal werde ich nach Toronto, zum Niagara, nach Kingston, Boston, New-York und dann wahrscheinlich in Gegenden kommen, deren Namen und Lage ich selbst noch nicht kenne. Das Meiste hängt natürlich von dem Erfolge meines eigentlichen Reisezweckes ab.




Die Pflege der Augen bei Erwachsenen.

Bei Bestimmung des Berufes nach den Schuljahren sollte weit mehr Rücksicht auf die Beschaffenheit der Augen genommen werden, als dies zur Zeit geschieht. Daher kommt es denn aber auch, daß Viele nur zu bald durch Augenleiden für ihren Beruf untauglich und unglücklich werden. Arlt in seiner Schrift: „die Pflege der Augen im gesunden und kranken Zustande“ spricht sich hierüber etwa in der folgenden Weise aus. „Wer ein ganz gesundes Auge hat, mag nach Belieben seinen Beruf wählen, wer aber schwach- oder kurzsichtig ist, oder wessen Augen sehr zu Entzündungen geneigt sind, der vergegenwärtige sich so genau als möglich die Anforderungen, welche der eben zu wählende Beruf an seine Sehkraft wahrscheinlicher Weise stellen wird und die verschiedenen Schädlichkeiten, welche diese oder jene Arbeit für seine Augen nothwendig mit sich bringt. – Wer blos kurzsichtig ist, auch die feinsten Gegenstände unterscheiden und lange betrachten kann, sobald dieselben dem Auge nur gehörig (bis auf 4–10 Zoll) genähert werden, der kann Arbeiten vornehmen, welche ein genaues und angestrengtes Sehen erfordern. Jedoch ist es hier schon gewagt, sich eine Beschäftigung zu wählen, wobei man bald nähere, bald fernere Gegenstände genau zu betrachten hat, und zwar um so mehr, je größer die Kurzsichtigkeit und je bedeutender der Abstand zwischen den Gegenständen ist. – Wer an Schwäche des Gesichts leidet, feinere Gegenstände, auch wenn sie ganz nahe an das Auge gehalten werden, entweder gar nicht unterscheidet oder doch nicht hinreichend lange, der hüte sich vor der Wahl eines Standes, welcher den anhaltenden, besonders einförmigen Gebrauch der Augen zu kleineren, geschweige denn zu sehr kleinen Gegenständen erfordert. Hierbei werden deshalb so oft und so große Fehler begangen, weil man so häufig Menschen mit einer stumpfen, schwachen Sehkraft für kurzsichtige hält. Auch Diejenigen, welche nur auf einem Auge an Schwäche des Gesichts leiden, müssen von einer Beschäftigung abstehen, bei welcher kleinere Gegenstände lange anzusehen sind. Man bedenke hierbei, daß Einförmigkeit der zu betrachtenden Gegenstände in Bezug auf Entfernung, Größe, Farbe und Beleuchtung einen weit größern Aufwand von Sehkraft erfordert, als wenn Abwechselung hierin stattfindet und daß, wo diese oder öftere Pausen in der Arbeit stattfinden, selbst ein minder kräftiges Sehorgan, länger ausdauern kann. – Wer in der Jugend viel an Augenentzündungen gelitten hat und noch leidet, sowie eine besondere Neigung zu Rückfällen an sich trägt, sollte nie zu Arbeiten bestimmt werden, bei welchen die Einwirkung von Staub (besonders Wollstaub), Rauch, scharfen Ausdünstungen oder von Feuer und Hitze nicht wohl zu vermeiden ist. – Schwächliche, bleichsüchtige, blutarme Mädchen (s. Gartenlaube Jahrgang I. Nr. 49 S. 538), wenn sie sich dem Nähen, Sticken und dergl. widmen, laufen sehr leicht Gefahr, über kurz oder lang in Folge von Augenschwäche untauglich zu diesen Beschäftigungen zu werden.“ – Möchten die Aeltern, Lehrer und Vormünder die vorstehenden Winke bei der Wahl des Berufes ihrer Kinder und Pfleglinge nicht unbeachtet lassen.

Erwachsene haben ebenfalls Verpflichtungen gegen [471] ihre Augen, denn diesen können von verschiedenen Seiten her sehr leicht Nachtheile erwachsen. – Das Licht und die Beleuchtung können insofern nachtheiligen Einfluß auf das Auge äußern, als ebensowohl längere Entziehung des Lichts, wie übermäßig starkes Licht, besonders wenn letzteres plötzlich nach vorausgegangener Dunkelheit oder längere Zeit unausgesetzt einwirkt, die Sehkraft schwächen und lähmen können. Ein sehr schädlicher Vorwitz ist das Schauen in die Sonne; das Betrachten einer Sonnenfinsterniß ohne schützendes Glas hat schon öfters Augenleiden nach sich gezogen; selbst das längere Betrachten des Vollmonds und das Sehen in’s Feuer kann nachtheilig auf die Sehhaut wirken; auch ist bei Feuerwerken und heftigen Blitzen in der Nacht das Auge zu schonen. Der schnelle Uebergang vom Dunklen zum Hellen zeigt sich hauptsächlich des Morgens beim Erwachen schädlich, zumal wenn gleich Sonnenlicht in das Auge fällt. Deshalb schlafe man entweder in keinem gegen Sonnenaufgang gelegenen Schlafzimmer oder verhänge in einem solchen die Fenster und stelle das Bett passend. Das Oeffnen der Fensterläden eines Schlafzimmers geschehe ebenfalls mit Vorsicht und so, daß nicht die volle Dunkelheit plötzlich in hellen Tag verwandelt wird. Den Fensterläden sind Jalousien und graue oder blaue Fenstervorhänge weit vorzuziehen. Wer eine Nachtlampe brennt, der treffe eine solche Vorrichtung, daß ihr Licht weder unmittelbar noch mittelbar (durch Abprallen von heller Wand oder Decke) in die Augen fällt, sowohl beim Erwachen als beim Schlafen. Sehr nachtheilig wirkt das von hellen oder glänzenden Gegenständen (von Schneeflächen, Sandsteppen, Kalkfelsen, hellen Wänden, Wasserflächen, glatten Fußboden, polirten Möbeln) zurückgeworfene Licht. Als Schutz gegen die nachtheilige Wirkung dieses Lichtes dienen blaue Brillen, blaue Schleier, Beschatten des Auges durch breite Schirme und das öftere Ausruhen des Auges durch Ansehen beschatteter oder mattgefärbter Gegenstände. Stets erinnere man sich übrigens daran, daß auch das stärkste Licht, wenn es nur von oben einfällt, weit eher vertragen wird, als ein schwächeres, welches von unten oder von der Seite her das Auge trifft. – Ganz besonders aufmerksam auf das Licht und die Beleuchtung muß derjenige sein, der durch seinen Beruf vorzugsweise auf den Gebrauch der Augen angewiesen ist. Er muß um so mehr auf eine gehörige Beleuchtung bei seinen Arbeiten bedacht sein, je feiner diese sind, je weniger Zeit zur Ruhe sie gestatten, und je weniger Abwechselung sie dem Auge darbieten. Denn bei fehlerhafter Beleuchtung verliert auch das gesündeste Auge früher oder später an Schärfe und Ausdauer im Sehen, verfällt in Kurz- oder Weitsichtigkeit. Fehlerhaft und dem angestrengten Auge insbesondere schädlich ist die Beleuchtung, wenn das Licht zu schwach und deshalb unzureichend, wenn es zu stark, grell und blendend, wenn es unstät, bald stärker, bald schwächer, wenn es ungleich vertheilt, durch Schatten unterbrochen, wenn es unrein, in seiner Zusammensetzung vom reinen Tagesleicht abweicht, und wenn es in fehlerhafter Richtung einfällt. Da die künstliche Beleuchtung, durch Kerzen- oder Lampenlicht, die genannten Fehler am häufigsten, ja einige derselben sogar unvermeidlich an sich trägt, so wird für die, welche bei künstlicher Beleuchtung ihre Augen anzustrengen gezwungen sind, ganz besondere Vorsicht nöthig. Zuvörderst müssen durchaus Lichtschirme angewendet werden und diese dürfen nie ganz undurchsichtig sein, sondern müssen noch eine gewisse Menge Lichts durchlassen. Bei Oellampen kann der Schirm aus mattgrauem oder bläulichem Glase, bei Kerzen aus blauem oder grünem Taffet bestehen; die Glaskugeln, deren sich manche Arbeiter bedienen und welche den Argand’schen Lampen immer nachstehen, müssen mit bläulichem Wasser gefüllt sein. Dieses Wasser bereitet man sich durch Kupferammoniak, von dem man dem Wasser so viel zusetzt, daß ein weißes Papier durch die Flüssigkeit angesehen, schön himmelblau erscheint. – Die Unstätheit des künstlichen Lichtes zeigt sich am meisten bei den gewöhnlichen Kerzen und offenen Lampen, weil dieses sets flackern; deshalb sind mit Cylindern umgebene Flammen vorzuziehen. – In Bezug auf Reinheit und Gleichmäßigkeit der Flamme verdienen Wachskerzen den Vorzug vor Stearinkerzen und diese vor Talglichtern. Das reinste und gleichförmigste Licht geben gut gebaute und richtig beschirmte Argand’sche Lampen, nur kann man sich dabei leicht ein zu starkes und schädliches Licht beim Arbeiten angewöhnen. Wenn man nämlich nach langem Lesen, Schreiben und dergleichen weniger deutlich sieht, so ist man der Meinung, die Lampe leuchte weniger, während doch Ermüdung des Auges daran Schuld ist. Bei diesen Lampen, so wie auch bei Anwendung von Schirmen, hat man ferner darauf zu achten, daß das Auge nicht durch grelle Unterschiede zwischen Licht und Schatten beleidigt werde; die ungleiche Vertheilung des künstlichen Lichtes, so wie glänzende Fußgestelle der Lampen und Leuchter schaden vorzüglich empfindlicheren Augen sehr leicht. – Eine unzweckmäßige Stellung des künstlichen Lichtes, so daß die Lichtstrahlen mittelbar oder unmittelbar, von der Seite oder von unten in das Auge fallen (besonders beim Lesen im Bette bei künstlichem Lichte), bringt stets Nachtheile für das Auge und man sehe deshalb darauf, daß das Licht mindestens einige Zoll höher steht, als die Augen und nicht zu sehr zur Seite oder wohl gar zwischen dem Auge und dem Gegenstande.

Auch rücksichtlich der Beleuchtung am Tage werden zum Nachtheile des Sehorgans sehr häufig grobe Fehler begangen und nicht die nöthigen Vorsichtsmaßregeln beobachtet. So arbeiten Manche bei viel zu starkem, ja sogar im unmittelbaren Sonnenlichte, Andere dagegen wieder bei unzureichendem Lichte, in der Abenddämmerung, noch Andere bei einer Mischung von künstlichem und natürlichem Lichte, wenn zu zeitig, bei noch vorhandenem Tageslichte, Kerzen oder Lampen angezündet werden. – Nachtheilig ist es ferner, hinter grünen oder rothen Fenstervorhängen zu arbeiten oder bei vielfach gebrochenen und ungleich vertheiltem Lichte, wie hinter Gittern; das Licht muß stets nur von Einer Richtung her auf den Gegenstand fallen. Ebenso ist auch steter Wechsel in der Beleuchtung (wie beim Lesen im Freien unter Bäumen, beim Gehen und Fahren) schädlich. – Man sehe ja auch darauf, daß beim Arbeiten kein falsche Licht, von entgegengesetzter Richtung, von unten oder von der Seite auf den Gegenstand falle. Deshalb wird der Arbeitstisch am besten so gestellt, daß das Licht weder gerade von vorn, noch gerade von der Seite, sondern in der mittlern Richtung, schräg von oben, vorn und links darauf fällt. Wo eine solche Stellung unmöglich ist, müssen die untern Fensterscheiben durch bläuliche Vorsetzer verdunkelt werden. – Da die Kräfte es Auges, wie die aller Organe unseres Körpers beschränkt sind, und dies besonders vor der Zeit der völligen Entwickelung und Ausbildung des Körpers, so fordere man von demselben nicht zu viel und berücksichtige das Gefühl der Ermüdung. Wo aber unabänderliche Verhältnisse stärkere Anstrengung der Sehkraft erheischen, da sei man auf Abwechselung in der Beschäftigung bedacht, denn man vergesse nicht, daß das Auge weit mehr aushält, wenn der Gegenstand der Beschäftigung in gewissen Zwischenräumen gewechselt wird. Ist dies nicht möglich, dann müssen dem Auge wenigstens alle Stunden einige Minuten Ruhe gegönnt werden, wobei der Blick auf entfernte und beschattete oder mattgefärbte Gegenstände zu richten ist.

Außer unzweckmäßigem Lichte und falscher Beleuchtung können nun aber auch noch unreine Luft, Verkältungen, so wie mechanische und chemische Verletzungen dem Gesichtssinne schaden. Die Beschaffenheit der Luft ist insofern von Einfluß auf das Auge, als Staub, Rauch oder scharfe Dünste in derselben das Auge reizen und in Entzündung versetzen können. Wer sich einer solch unreinen Luft häufig aussetzen muß, der reinige seine Augen öfter mit kaltem (weichen) Wasser, nur aber nicht dann, wenn es erhitzt ist, damit die Augen nicht zu schnell abgekühlt werden. Deshalb taugt auch das Waschen der Augen mit kaltem Wasser des Morgens gleich nach dem Erwachen nichts, besonders wenn man im Schlafe geschwitzt hat. Nie bediene man sich zum Waschen der Augen eines Schwammes, lieber der bloßen Hände oder eines leinenen Tuches. Bei starkem Winde und auf Reisen in staubigen Gegenden sind Schleier und große runde Staubbrillen (aus farblosen oder blaßblauen Plangläsern) von Vortheil. – Zugluft, besonders in feiner unmerklicher Strömung (durch das Fenster), erregt ebenfalls leicht Augenentzündung. – Fremde Körper, welche in das Auge gedrungen sind, wolle man ja nicht durch Reiben daraus entfernen, sondern man suche die Augenliedspalte von selbst oder mittels der Finger offen zu erhalten, richte den Blick stark über die dem kranken Auge entsprechende Achsel und dann schnell nach der Nasenspitze und umgekehrt, oder stark nach oben und unten abwechselnd, zwischendurch das Auge mit kaltem Wasser waschend. Sollte dieses Verfahren vergeblich sein, so suche man den fremden Körper vor dem Spiegel oder durch jemand Andern, [472] mit dem Zipfel eines leinenen Tuches zu entfernen. Gelingt die Entfernung nicht bald, dann lasse man einen Arzt rufen, vermeide aber bis zu dessen Ankunft alles Reiben der Lider und wende unterdessen kalte Umschläge an. Die Empfindung, als läge der fremde Körper noch im Auge, dauert nach dessen Entfernung gewöhnlich noch einige Zeit fort. Meistens gelingt das Entfernen kleiner Körperchen deshalb nicht, weil sie zwischen dem obern Augenlide und Augapfel festgehalten werden; um sie von hier zu entfernen, fasse man das Lid an den Wimpern, ziehe es stark vom Augapfel ab und blicke nach unten. – Sind Mineralsäuren oder siedendes Wasser in das Auge gekommen, so suche man sobald als möglich ärztlichen Rath und wende indessen kalte Umschläge an. Beim Eingedrungensein von Kalk, Asche, Tabak und dergleichen ätzenden Substanzen, bringe man Oel, weiche Butter oder Rahm in die Augenlidspalte, um den fremden Körper einzuhüllen und wo möglich wegzuspülen, und mache sodann so lange kalte Umschläge, bis der Arzt kommt. – Ein sehr dummer Spaß ist das Zuhalten der Augen eines Andern von rückwärts, weil hierbei durch starken Druck sofort Blindheit entstehen kann.

Da das Auge nur ein Glied des ganzen Organismus ist, so hängt sein Wohlbefinden immer mehr oder weniger auch von dem Zustande des letztern ab. Den meisten Einfluß auf das Auge äußert natürlich das Gehirn, da zwischen diesen beiden Theilen eine sehr enge Verbindung besteht. Jedoch kann auch vom übrigen Körper aus dem Auge Nachtheil erwachsen und hierüber findet der Leser, dem es um die richtige Erhaltung seiner Augen zu thun ist, die beste Belehrung in der oben angeführten Schrift von Arlt.B. 




Das Maltesergäßchen.

Reiseskizze aus dem Orient von Hans Wachenhusen.

Die große, jetzt endlich in’s Werk gesetzte Pontus-Expedition der Westmächte stand bereits in Aussicht, die Wellen des schwarzen Meeres rollten sich schäumend gegen die Mauern der Festung Varna, als wollten sie den französischen Marschall herausfordern, dessen Zinnen den Hafen der Festung beherrschten und der von hier aus die Russen mit gewaltigen Worten zu schlagen suchte. Die Flotte der Westmächte sonnte sich noch in Baltschik, auf die Zelte der französischen, englischen, türkischen und ägyptischen Lager brannte die Sonne mit versengender Gluth herab und in der Stadt selbst wogte der große militärische Jahrmarkt der Nationen in einer Atmosphäre, die schon damals den Saamen zu jener entsetzlichen Ernte ausstreute, welche wenige Wochen später der Tod dort hielt.

Es war in der Mitte des Monat Juli, als ich von Schumla aus in diesen tausendfarbigen und tausendzüngigen Wirrwar gerieth, und obgleich schon ziemlich mürbe gemacht durch ein viermonatliches Abenteuern am Kriegsschauplatze der Donau, mich doch mit frischer Courage in den Strudel dieser äußersten und isolirten Station des Abendlandes hineinwarf, um mich von hier nach Konstantinopel und wenn es Zeit und Umstände gestatteten, noch nach dem asiatischen Kriegsschauplatze zu begeben. Hier war ich nicht mehr „der Giaur“, mit welchem Epitheton mich das Türkenthum bisher verächtlich oder mitleidig titulirt hatte, hier war ich ein Giaur unter lauter Giaurs und mit einer gewissen humoristischen Genugthuung sah ich die alten türkischen Philister in die Vorstadt wanken, sich vor die Brust schlagen und sagen: „Allah, ich danke dir, daß ich nicht bin wie Jene!“ – Seltsames Paradoxon: als ich in Varna einritt und vor dem Kaffeehause hielt, das von einer Gesellschaft singender und trinkender Franzosen umlagert war, trat gerade der Hodscha auf die Gallerie der gegenüber stehenden Minarets und rief in die Welt hinein: „Es ist nur ein Gott und Mahomet ist sein Prophet!“ – „Mein Herr, das ist nicht wahr!“ rief einer der Franzosen lachend dem Hodscha zu, „ich werde Ihnen die Wahrheit sagen, es giebt nur einen Gott und dieser Gott ist unser Gott, der gute Gott!“ – Unwillkürlich mußte ich über diese religiöse Naivetät lachen, aber sie traf doch den Nagel auf den Kopf. Der Franzose und der Türke hatten Beide ihren aparten Gott, und jeder von ihnen hielt den seinen für den richtigen. Der Hodscha seinerseits ließ sich nicht irre machen, er schrie sein Glaubensbekenntniß in alle Himmelsgegenden hinaus, und in allen Himmelsgegenden dachte man: das ist nicht wahr!

In der That galten in Varna weniger die Propheten als vielmehr die Moneten, und selbst für letztere war kaum ein Obdach zu erhalten; ich theilte daher meine Nächte in das dunkle Loch, für welches ich täglich 20 Piaster zahlen mußte, und in eine harte Bank im Speisezimmer des „restaurant des officiers“, bei welchem man einzig und allein ein anständiges Mahl für unanständig hohe Bezahlung fand. Dort auch war es, wo eines Abends, als die Gäste sich verzogen hatten, ich mich zum Schlafen auf die Bank streckte und mich, da ich den Mantel nicht bei mir hatte, mit einem großen Tischlaken zudeckte, sich ein Gast neben mich auf die Bank legte. Unwillig beschaute ich mir den Schlafgenossen, während dieser auch mich mit seinen großen schwarzen Augen maß. „Ah, monsieur, c’est vous!“ rief er lachend; „geben Sie mir die Hälfte von Ihrer Decke!“ Mit diesen Worten wickelte er sich in die andere Hälfte des Tischlakens, und machte sich das Lager so bequem, wie es eben die harte Pritsche gestatten wollte.

Mein Schlafnachbar war ein junger französischer Offizier von der Linie, mit dem ich vorgestern zum ersten Male zusammengetroffen war, als ich in einer der französischen Boutiquen saß, und in Gesellschaft mehrer Offiziere aus freier Faust ein Stück Käse und Wurst als Frühstück verzehrte, wie dies in Varna eine lobenswerthe Sitte war. Wir wurden schnell bekannt, blieben beisammen und stiegen am Nachmittag zu dem „Grand café d’Orient“ hinauf, einer Baracke, die etwa unsern heimischen Dorfschenken ähnlich. Dort erzählte mir mein neuer Bekannter, er habe soeben auf vierzehn Tage Urlaub genommen, und denke über Burgas nach Constantinopel zu gehen. Heitere, unbändige Temperamente wie das dieses jungen Offiziers sind mir immer unschätzbar, wir tauschten unsere Karten. Ich las auf der seinigen „Mr. Edouard de Carmond“ und theilte ihm mit, daß auch ich mit dem nächsten Postdampfer, der aber erst in sechs Tagen gehen sollte, meine Reise nach Konstantinopel fortsetzen werde. „C’est à ravir, je vous trouverai à Constantinople!“ rief er, mir die Hände drückend, und von da ab waren wir die besten Freunde.

An jenem Abend, wo ich mit ihm unter einer Tischdecke lag, erzählte er mir, er habe soeben das Lager verlassen und werde morgen vor Tagesanbruch mit einer französischen Dampfcorvette nach Burgas gehen. An Schlummer war bei einem so lebendigen Nachbarn gar nicht zu denken; er erzählte mir hunderterlei dumme Geschichten, schilderte mir, wie er heute einer wunderschönen Türkin begegnet sei, diese bis zu ihrem Hause in der Vorstadt verfolgt, und als man ihn nicht habe in’s Haus lassen wollen, sich vor die Thür desselben auf die Schwelle gesetzt habe, bis man ihm endlich ein paar Kavassen auf den Hals geschickt und ihn in die Flucht geschlagen habe. – Endlich, nachdem er so ein paar Stunden verplaudert, erklärte er, das Ungeziefer peinige ihn auf dieser Bank, er könne nicht schlafen, er wolle den Kellner wecken und mit mir noch ein paar Flaschen Bordeaux trinken, bis er auf’s Schiff müsse. Zwischen einer schlaflosen Nacht auf der Pritsche und einer schlaflosen Nacht bei der Weinflasche, wählte ich das kleinste Uebel, und so sah uns denn das erste Morgengrauen noch am Tische sitzen. Carmond sagte mir Adieu und ich legte mich auf meine Pritsche, um wenigstens noch einige Stunden Schlummer zu suchen.

Sechs Tage später befand ich mich an Bord des „Ferdinando primo“, der am Freitage, dem türkischen Sonntag, nach Konstantinopel abging, und auf dem ich zum ersten Male die auf den levantinischen Schiffen übliche strenge Trennung beider Geschlechter durch eine Achtung gebietende Barriere erblickte. Da saßen auf der einen Seite des Verdecks erster Klasse ein paar von Kopf bis zu Füßen schneeweiß gekleidete Engländer mit kostbaren Tschibucks und dem unvermeidlichen weißen Shawl um den hellen Filzhut; da kokettirte die niedliche junge Frau des ersten Capitains im [473] schwarzen Atlaskleide mit ihren schelmischen Augen und den blendend weißen, nackten Armen auf dem Verdeck herum und hatte für jeden der sie anredenden Herren irgend ein freundliches Wort bei der Hand. Dicht nebenan hingegen, auf der andern Seite der Barriere saßen oder lagen ein Dutzend orientalischer Weiber in ihren weiten farbigen Mänteln auf den Teppichen, das Gesicht in den Jaschmack gehüllt, der nur den großen, geisterhaften, schwarzen Augen freien Spielraum ließ. Neben diesen, wiederum durch eine Barriere abgesperrt, lagen Türken, Griechen, Armenier und Gott weiß, was sonst für phantastisch gekleidete Gestalten auf den Teppichen, und speisten ihre rohen Gurken, ihre Wassermelonen oder ihren Knoblauch, der eine mir verhaßte Atmosphäre auf dem Schiffe verbreitete. Und endlich unten in einer der Kabinen saßen drei junge türkische Weiber eingeschlossen, die von einem Kavassen oder Eunuchen irgendwo hin transportirt werden sollten und von denen ich weiter nichtzu sehen bekommen habe, als den Zipfel eines weißen Mantels und den Blitz eines funkelnden schwarzen Auges, das sich unverkennbar nach einer Freiheit sehnte, die ihm nicht beschieden war. Eine ganze Welt lag zwischen dieser auf dem Verdeck tändelnden jungen Frau und den armen hier unten eingesperrten Weibern! – Wie mir der Capitain später sagte, waren diese Gefangenen die Frauen eines reichen Türken in Varna, die jetzt nach Konstantinopel geschickt wurden und ihre Versetzung jedenfalls dem Unfuge verdankten, welcher vor einigen Tagen von einem Trupp junger Franzosen verübt worden, als diese sich mit Gewalt den Eingang in irgend ein Haus zu erzwingen versuchten, in welchem sie mehre junge Weiber vermutheten. – Der arme Gatte, er war seines eignen türkischen Ehestandes nicht mehr sicher, und mußte sie nach Stambul schicken, um sie vor den Giaurs zu retten! – –

Es war Abend, als wir in die Bucht von Burgas einliefen. – Ich habe daheim in mancher schönen Sternennacht geweltschmerzt; ich habe an den Ufern des Torneå und an den Felsen des Nordkap den Schein des Nordlichtes beobachtet; ich habe vor Kurzem noch in stillen Nächten vor den Zelten der Türkenlager zur Sternenwelt hinaufgeschaut und beim Geplauder der Donauwogen an die Heimath gedacht, von wo mir keine Post eine Botschaft daher tragen konnte – ich hatte mit einem Wort den Zauber der orientalischen Nächte genossen, die schönste aber sollte ich hier erleben. Mit einer leisen, bläulichen Tinte überzogen, streckte sich das hohe Ufer von Burgas in einem Halbkreis vor mir aus; in kurzer Entfernung schimmerten die Lichter des Ortes durch den Nebelschleier, der sich in Aetherwolken über die schwarze Wasserfläche rollte und von dem Schein des Vollmondes, gleichsam mit Flitteratomen durchwebt wurde. Dort hinter uns lag das „Monaster“, ein Kloster, das als drohendes Fort die Bucht beherrschte, und von dem die Sage erzählt, daß in seinen unterirdischen Räumen unermeßliche Schätze aufgethürmt und von drei großen, gespensterischen Hunden bewacht seien. Unsre junge Italienerin, die Frau des Capitains, fand den Himmel „mirabile“ und ich meinerseits fand den Himmel sowohl wie die junge Frau mirabile, denn wie sie in ihrem schwarzen Atlaskleide mit dem blendenden Teint und den schneeweißen Armen dastand, war sie wirklich „mirabile“.

Allmälig belebte sich unser Bild. Wir sahen mehre schwarze Punkte auf den Wasserspiegel näher kommen, und in wenigen Minuten waren wir von einer ganzen Flotille türkischer Böte umgeben. Ich besitze nicht viel mehr Romantik, als eben zum Hausbedarf nothwendig ist, aber als ich diese abenteuerlich bunt kostümirte Besatzung der Böte, diese griechischen und türkischen Kostüme, dazwischen blitzende Waffen und verbrannte, theilverwitterte Gesichter erblickte, als ich diese Flotille in einem dicken Knäuel an unserm Schiffe liegen, als ich diese Menschen, die in ihrer Faulheit nichts vornehmen können, ohne ein gewaltiges Geschrei anzustimmen, sich lärmend und keuchend um unser Schiff bewegen sah, war’s mir unwillkürlich, als seien wir von einer Anzahl griechischer Piraten umgeben. Es waren Handelsleute und Kaikschi’s, die an und auf dem Schiffe zu thun hatten und deren Treiben ich, über die Reling gelehnt, mit Vergnügen zusah.

Plötzlich lenkte ein Gegenstand meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf sich; es war ein rother Soldatenfeß, an welchen genialer Weise, zum Schutz vor der Sonne, ein kleiner schwarzer Schirm genäht war. Diesen Feß kannte ich, denn dieser existirte nur einmal: „Monsieur de Carmond!“ rief ich, als ich meinen Freund im Begriff sah, aus einem der Böte auf’s Schiff zu steigen. – Carmond kam an Bord, war höchst erfreut, mich zu finden und verwünschte das langweilige Nest, das Burgas, in welchem er vier Tage zu verweilen genöthigt gewesen, da die Corvette ihre Fahrt nach Constantinopel erst in nächster Woche machen konnte.

Am andern Morgen um neun Uhr lag unser Schiff vor der Seraispitze von Constantinopel, der Stadt, die „von Feen erdacht und von Elfen erbaut,“ und von der ich wünschte, daß sie nur erdacht und nicht erbaut wäre, damit das Letztere den Zauber des Erstern nicht störe.

Schon während der ersten Tage meiner Anwesenheit ging dieser Zauber für mich zum Theil verloren und war nur wieder zu gewinnen, wenn ich im goldnen Horn, im Bosporus oder im Marmor-Meer schiffte und mich satt sah, an der Stelle, von welcher aus „man die Erde betrachten möchte, wenn Einem nur ein einziger Blick auf dieselbe gestattet wäre.“ In Schumla nämlich war mir von einem meiner Freunde, der soeben aus Constantinopel gekommen, ein Hotel in Galata empfohlen worden, in welchem ich für einen billigern Preis als in den Pera-Hotels dieselben Leistungen aber eine aufmerksamere Begegnung von Seiten des Wirths, eines Deutschen, finden würde. Carmond wollte wissen, in welchem Hotel ich logiren werde, damit er, der bei einem im Verpflegungs-Bureau beschäftigten Verwandten wohnen müsse, mich finden könne; ich nannte ihm das „Hotel de Mediterranée“, so nämlich nannte sich dieses Haus in sehr wunderlichem Französisch. Carmond paßte dies vortrefflich, da auch er, wie er sagte, in Galata wohnen sollte. Hätte ich früher die Lokalität Constantinopels gekannt, ich würde nicht in diesem Hotel logirt haben, und zwar aus Gründen, die ich weiter unten erzähle.

Zu den scheußlichsten Wohlthaten, für welche sich nämlich Constantinopel bei dem englischen Gouverneur in Malta zu bedanken hat, gehört die große Anzahl von Verbrechern und Taugenichtsen, welche von Malta verbannt, ihr Domizil in Constantinopel nimmt und dort eine Bande von Gaunern und Meuchelmördern bildet, der man, wenn es einmal auf uns gemünzt ist, vergeblich aus dem Wege zu gehen suchen würde. Sprüchwörtlich ist die Verrufenheit der Malteser in Constantinopel; Alles, was den Strick verdient hätte, heißt daselbst Malteser, gleich viel, ob von dort stammend oder nicht. Unter dem Schatten der ohnmächtigen Polizei in Constantinopel war es diesen Strolchen möglich, schon seit langer Zeit ihr Gewerbe frank und frei auf den Straßen zu üben, ja es gab sogar noch kürzlich eine Zeit, wo es unmöglich war, Abends ohne Lebensgefahr sich von einer Straße zur andern zu begeben. Das hauptsächlichste Standquartier (denn Schlupfwinkel darf man es nicht nennen) dieser Banditen war und ist heute noch das berüchtigte Maltesergäßchen, eine enge, auf eine Hauptstraße Galata’s auslaufende Gasse, deren Nähe man bisher scheute wie eine Räuberhöhle, die sie denn auch in Wirklichkeit ist.

In neuester Zeit freilich, als dieses Gesindel sein Handwerk, von dem feigen Griechenthum unterstützt, so offen und frech trieb, daß besonders die fremden Gesandtschaften auf Grund mehrer Attentate auf das Leben ihrer Schutzbefohlenen, bei der türkischen Regierung eine Säuberung der Straßen von Pera und Galata verlangten, sah sich die letztere veranlaßt, Polizeimaßregeln zu ergreifen, die aber von wenig Bedeutung sind. Das Nachtwächterthum wurde mehr ausgebildet; diese guten Leute durchzogen in größerer Anzahl die Straßen, aber da es ihre Gewohnheit ist, bei jedem Schritte mit ihrer großen, eisenbeschlagenen Keule auf das Steinpflaster zu klopfen, so weiß ihnen natürlich jeder aus dem Wege zu gehen, der nichts mit ihnen zu thun haben will. Gleichgültig vor sich hintappend, glauben diese guten Leute, ihr ganzer Beruf bestehe darin, möglichst viel Lärm mit ihrer Keule zu machen und dies thun sie redlich in dem Maße, daß sie Alle aus dem Schlafe wecken, die nicht an ihren Rumor gewohnt sind. Auch Kavassen-Patrouillen wurden angeordnet und wirklich in’s Werk gesetzt; die Kavassen aber treten ihre Patrouillen von ihren resp. Wachlokalen an, setzen sich in irgend ein Kaffeehaus, so lange diese geöffnet sind, und erfüllen ihre schwere Polizeipflicht in stumpfsinnigem Rauchen ihrer Tschibuks und im Kaffeetrinken. Zu halben Dutzenden sah ich diese patrouillirenden Polizeidiener an Sommerabenden auf dem „piccolo campo“, dem Promenadenort der feinen Welt von Pera sitzen, und vor den Kaffehäusern den Fremden die Plätze wegnehmen. – Das nennt man türkisches Polizeiwesen.

[474] Schon bei meinem ersten Gange vom Hotel nach dem österreichischen Consulat in Pera machte mich der Wirth, mein Führer, mit diesem Maltesergäßchen bekannt, und zu meinem eben nicht angenehmen Erstaunen sah ich, daß dasselbe gerade in die Straße meines Hotels mündete und sich höchstens 150 Schritte von diesem befand.

„Sehr angenehm für Ihre Gäste, diese Nachbarschaft,“ sagte ich zum Wirth.

„O, es hat nichts zu bedeuten, meinte dieser, „am Tage ist diese Gasse ja unschädlich und Abends gehen meine Gäste wenig aus; übrigens ist seit Kurzem ein Nachtwächterposten diesem Gäßchen gegenüber aufgestellt.“

„Erlauben Sie mir die Bemerkung, Herr M.,“ antwortete ich auf diese naive Aeußerung, „daß ich gerade des Abends auszugehen pflege und in so fern also eine Ausnahme von Ihren übrigen Gästen machen werde. Uebrigens hat diese Nachbarschaft, was mich betrifft, wirklich nichts zu bedeuten, sie ist mir im Gegentheil ganz interessant.“

Nichtsdestoweniger war ich mit dieser Nachbarschaft bald doch nicht so einverstanden, wie ich vorgegeben hatte; mein Weg führte mich stets nach Pera hinauf, und ebenso war es eine meiner liebsten Zerstreuungen, die Abende auf dem piccolo campo, auf der Höhe von Pera, zu verbringen und von dort über den sich tief hinabgehenden Kirchhof mit seinen geheimnißvollen dunklen Cypressen und über das im Mondenschein glitzernde goldne Horn nach Stambul hinabzuschauen, das sich dann wie eine im Mondlicht gehüllte vielgestaltige Masse vor mir ausbreitete. Mein Weg nach Galata zurück war in später Nacht kein angenehmer, zumal ich in der Regel meine Papierlaterne nicht bei mir zu haben pflegte. Die nach Galata steil hinabführende, kaum fünf Fuß breite Straße war schon bei Tage halsbrechend genug, bei Nacht aber, wenn die niedrigen Vordächer der Häuser keinen Schimmer des Mondes hereinließen, war sie kaum zu passiren; mühsam muß man an den Häusern hinabtappen und jeden Augenblick riskiren, über einen schlafenden Hund oder einen Kothhaufen zu stolpern. Noch wenig orientirt in den engen Gassen, welche sich in Galata unten nach beiden Seiten hinziehen, war es dann in der Regel mein Schicksal, mich in denselben zu verlaufen; zwei-, dreimal riefen mich türkische Wachen oder Nachtwächter an, denen ich (ohne Laterne) Rede stehen mußte, und wenn ich dann endlich meine Straße erreicht, hatte ich nicht ohne einiges Unbehagen an dem Maltesergäßchen vorbei zu gehen, das mir auf Grund von allerlei albernen oder vernünftigen Erzählungen ziemlich unheimlich geworden war. Die Gassen eines Dorfes können Nachts nicht so todt und finster sein, wie diese riesige Weltstadt, die sich schon nach Sonnenuntergang zu entvölkern beginnt und in der man am späten Abend keiner sterblichen Seele begegnet.

Am vierten Tage meiner Anwesenheit in Constantinopel kehrte ich schon um neun Uhr Abends mit Carmond vom piccolo campo zurück; unser Weg führte uns in der steilen Galata-Straße an der „London-Tavern“ vorbei, in welcher Carmond vorzüglichen Wein entdeckt, und in welcher er gern einzukehren pflegte. An zu Bette gehen wurde von uns noch nicht gedacht, wir traten in diese Taverne und fanden in dem Zelt im Hofe eine kleine Gesellschaft von Männern der verschiedensten Nationen, welche mit dem edlen Hazardspiel beschäftigt war. Eh’ ich mich dessen versah, hatte Carmond an demselben Theil genommen und seine mit englischen Lires gefüllte Börse vor sich auf den Tisch gelegt. Ich schaute mit Vergnügen zu; Carmond schien Glück zu haben und blieb im Glück, bis ich mich von ihm trennte, um noch einem hannöverschen jungen Arzte im Hotel Adieu zu sagen, der am andern Morgen zur anatolischen Armee abgehen sollte. Es war elf Uhr, als ich das Hotel erreichte, auch Carmond’s Weg nach Hause war kein weiter, da er in einer der angrenzenden Gassen wohnte.

Eine Stunde saß ich mit dem Dr. L. auf der Veranda im Hofe des Hotels, als wir hastig und stark mit dem Klopfer der Hausthür lärmen und einen lebhaften, abgebrochenen Wortwechsel auf der Straße hörten. Der Hausknecht und der Cameriera eilten hinab, um zu öffnen, denn sie waren die einzigen, die außer uns noch im Hotel wachten – Carmond wankte athemlos in die Veranda und warf sich neben uns auf die Bank: er war bleich, ohne Kopfbedeckung und preßte die Hand krampfhaft in die Hüfte. Ich glaube, ich war bleicher als er, als ich meinen sonst so aufgeräumten Freund in dieser Verfassung sah, und bestürmte ihn mit Fragen. Er nahm die Hand von der Hüfte, sie war blutig. Jetzt sprang auch Dr. L. auf; da Carmond so athemlos war, daß er nicht sprechen konnte und nach Luft schnappte, so untersuchte L. schweigend seine Hüfte und zeigte mir einen Messerstich, den Carmon hinterrücks zwischen der letzten Rippe und dem Hüftknochen erhalten, der jedoch nur die Oberfläche des Fleisches gestreift hatte. Carmond litt offenbar mehr an den Folgen seines panischen Schrecks als an heftigem Schmerz, da die Wunde nicht gefährlich sein konnte.

Das ganze Haus wurde nun wach getrommelt, L. legte dem jungen Franzosen einen leichten Verband an und dieser kam wieder zu sich. War die Sache nicht gefährlich, so war sie doch äußerst interessant; das ganze Ereigniß war Folgendes: Carmond hatte mit anhaltendem ziemlichem Glück gespielt und etwa zwanzig Lires gewonnen. Die Gesellschaft hatte sich um halb zwölf Uhr aufgelöst und Carmond hatte mit einem der Herren, der sich für einen Syrioten ausgegeben und sehr elegant gekleidet war, zusammen den Weg nach Galata hinab eingeschlagen, auch dessen weitere Gesellschaft gern angenommen, als er auf die Frage des Syrioten geantwortet, daß er seine Straße zwar nicht genau kenne, sie jedoch zu finden hoffe. Unten angekommen hatte der Fremde, in demselben Moment, wo sie die Keule des Nachtwächters nach der entgegengesetzten Richtung, also sich entfernend, auf dem Pflaster gehört, Carmond plötzlich an der Ecke aufgehalten und ihm eine kurze Anekdote in der Dunkelheit erzählt. Der Nachtwächter hatte sich entfernt und beide waren um die Ecke in die Straße eingebogen, in welcher mein Hotel sich befand, was aber Carmond nicht beobachtet hatte, da er über seine Straße bereits hinaus war. Plötzlich war sein Begleiter ihm von der Seite verschwunden, Carmond stand einen Augenblick da, um sich zu orientiren, und sah dann in dem Gäßchen, vor welchem er stand, einen Schatten, in welchem er seinen Begleiter zu erkennen glaubte. Er eilte ihm nach in die Gasse und rief ihn an, um von ihm, der sich so ungalant entfernt, wenigstens zu erfahren, wohin er selbst sich jetzt wenden müsse. Der Schatten war ihm vor den Augen verschwunden, in demselben Moment aber erhielt er hinterrücks den Stich und wurde durch diesen zu Boden geworfen. Ein schneller Gedanke fuhr ihm durch den Kopf, der Gedanke an das Maltesergäßchen, von dem noch heute zufällig bei Gelegenheit eines an einem Engländer verübten Mordes die Rede gewesen. Gewandt wie er war, raffte er sich auf, stürzte aus der Gasse, lief die Straße hinab und wurde hier von einem aus dem Dunkel hervortretenden Nachtwächter angehalten, der ihm die Keule vor die Füße setzte und zu wissen verlangte, wer er sei. Hier hatte sich denn, als Carmond dem Nachtwächter französisch antwortete und dieser ihn hartnäckig nicht verstehen wollte, endlich ein Wortwechsel entsponnen, der Carmond vollends außer Athem brachte und damit endete, daß er den Nachtwächter bei Seite schob, auf das Hotel zu sprang, dessen bis mitten auf die Straße Hangendes Schild er erkannt, und heftig mit dem Klopfer lärmte. „Sacre nom de Dieu, Monsieur, laissez moi et saisez vos meurtriers!“ schrie Carmond, als ihn der Nachtwächter auch dahin verfolgte, und fing von neuem an, mit dem Klopfer Sturm zu läuten. Jetzt war der Cameriera in der Hausthür erschienen, hatte dem Nachtwächter erklärt, daß der Herr in diesem Hotel wohne, und somit war Carmond salvirt – seine Börse aber war verschwunden und wahrscheinlich während der Anekdotenerzählung ihm von seinem Begleiter, dem Syrioten, aus der Tasche escamotirt worden. Wie sich die Sache mit dem Schatten verhielt, dem Carmond nachgelaufen, das blieb räthselhaft; Carmond behauptete, es sei der Syriote gewesen und er und kein Anderer habe ihm den bewußten Stahlstich versetzt. Während der Nacht, die er in meinem Zimmer verbrachte, fluchte er ein „sacristi“ nach dem Andern über den Syrioten und schwor, daß er den Kerl wiederfinden wolle und sollte er ihn auch am andern Ende der Welt suchen; ebenso wollte er am andern Morgen auf eine polizeiliche Untersuchung des Vorfalls dringen. Kluge Leute aber riethen ihm erstens: den Syrioten ruhig laufen zu lassen, ja ihm sogar aus dem Wege zu gehen, wo er ihn finde, damit er sich nicht neuen Verfolgungen aussetze; und zweitens: die Sache nicht anhängig zu machen, da Alles, was in der Türkei ohne Zeugen geschehe, überhaupt gar nicht geschehen ist. – Carmond hatte übrigens sowohl seine unbedeutende Wunde als seine Börse bald [475] verschmerzt, und sein größter Kummer blieb, daß er sich nicht mehr mit der Unbefangenheit amusiren könne, mit welcher er in Konstantinopel angelangt; eben deshalb verließ er die Stadt noch ehe sein Urlaub abgelaufen, begab sich nach Varna zurück und wird in diesem Augenblick wohl im Begriff sein, vor Sebastopol Wunder der Tapferkeit zu verrichten. – Was mich betrifft, so fand ich in dem obigen Abenteuer einen sehr willkommenen Vorwand, das Hotel in Galata zu verlassen und nach Pera zu ziehen.




Die Charaktere der Menschen.
2. Der Melancholiker.

Wenn die sanguinischen und cholerischen Menschen zu den aktiven Naturen gezählt werden müssen, so stehen die phlegmatischen and melancholischen auf der Seite der passiven, so daß sich auch hier, wie überhaupt im Reiche der Natur, eine Zweiheit, eine Polarität offenbar macht, welche in dem nachher zu beschreibenden fünften Temperament, im genialen, ihre Ausgleichung und Vollendung findet. Das Element des melancholischen Naturells ist die Seite des Geisteslebens, welche wir die Empfindung im allgemeinern Sinne zu nennen pflegen: das Insichaufnehmen der Eindrücke. Ist diese Basis der Aufnahme sehr groß, ist die Reizempfänglichkeit bedeutend, so bemerken wir die Geneigtheit zum melancholischen Temperament. Ihm entspricht die Klasse der Weichthiere, wo die Haut, das Organ der Empfindung, der äußern Eindrücke, der vorherrschende oder einzige Sinn ist. Wenn diese Thierform (unter den „wahren Thieren“) die erste und unterste Entwicklungsstufe genannt werden muß, so steht das melancholische Temperament dem höchsten, dem genialen nahe, durch eine gewisse Totalität, Anlage zu Allem; – es kann, so zu sagen, noch Alles daraus werden, da die erste Bedingung, Empfänglichkeit für die Eindrücke von außen, in reichem Maße vorhanden ist und gleichsam die Ausartung in die Einseitigkeit der drei beschriebenen Temperamente noch nicht zur Entwickelung gekommen. Daher die Erscheinung, daß große Männer, namentlich Gelehrte und Künstler, häufig mit Entschiedenheit sich diesem Temperamente zuneigten. Das Zusammengehen und sich Anschließen der untersten Thierform an die obersten, der Weichthiere an die Ordnung des Säugethiertypus, scheint unter andern in der Natur darin angedeutet, daß es dieser Form gelungen ist, im Tintenfisch das höchste Resultat des Nerventhiers, das Auge, darzubilden, indem der Tintenfisch eine dem menschlichen Auge ähnliche Bildung aufweist. Melancholische Menschen (damit sollen nicht Trübsinnige bezeichnet werden) empfinden tiefer, als man glaubt; es schmerzt und freut sie Alles in reicherem Maße als andre Menschen; aber man merkt es ihnen nicht viel an, weil ihre Natur nicht die Elasticität hat, den empfangenen Eindruck zurückzuprallen und durch Worte oder Handlungen im Aeußern davon Zeugniß zu geben. Der Sanguiniker ist eben so reizempfänglich, aber der Reiz ist nicht nachhaltig; „es geht nicht tief“ und verschwindet bald wieder von der leicht erregten Fläche.

Beim Melancholiker aber haftet der Eindruck, er hat nicht die Gabe zu vergessen. Der Gegensatz zum Choleriker ist noch entschiedener: während dieser aus sich herausgeht, sich durch Aeußerung und Handlung gleichsam Luft macht, und die Eindrücke sich vom Halse schafft, nimmt sie der Melancholische immer tiefer in sich hinein und verschließt sie in seinem Innern. Die stets von Neuem auf ihn einstürmenden Eindrücke – er ist auch für die kleinsten empfänglich – lassen ihm weder Kraft noch Zeit, entgegen zu wirken, daher sind diese Naturen still, reich, tief, verschlossen, nicht selten unglücklich. Gegen die Unbilden der Welt und des Lebens setzen sie sich nicht stark zur Wehre – wenn auch von Zeit zu Zeit ihre Empfindung heftig, in unerwarteter Weise losbricht –; sie sind mehr duldende Naturen, denen man’s nicht anmerkt, wie tief sie aufgeregt oder verwundet sind. Es sind die „stillen Wasser“, welche „tief gründen“. Ebenso sind auch die freudigen Eindrücke weniger an ihnen wahrzunehmen, weil sie sich in stiller Heiterkeit zu freuen pflegen. Von ihrem Wissen und Können, von ihren Plänen and Absichten machen sie nicht viel Aufhebens, auch sind sie nicht mittheilsam, daher sie nicht selten durch tiefe Gedanken, merkwürdige Eigenschaften oder auffallende Handlungen überraschen. Dieses Temperament, welches durch einen gewissen gedankenvollen Ernst und durch eine sich abschließende Eigenheit kenntlich ist, artet gern in Menschenscheu aus, welche zuweilen, durch unglückliche Verhältnisse krankhaft erregt, mit Selbstmord endet.

Da die Gemüthswelt, das unbewußte Seelenleben, bei dem Melancholiker vorherrschend ausgebildet zu sein pflegt, so findet man wohl ein reiches Ahnungsvermögen, auch tiefe und große Gedanken und Empfindungen bei solchen Naturen, aber der Wille pflegt schwach zu sein. Es finden sich daher mehr weiche, verwöhnte, warm fühlende, als kräftige, frische und praktische Menschen unter dieser Temperamentsform. Da sie für das Aeußere wenig Sinn und Geschick haben, vielmehr in ihre reiche, innere Welt versunken sind, so sind Melancholiker gewöhnlich linkische, unbeholfene Menschen, zuweilen so arglos der Welt gegenüber, wie die Kinder. Man kann diesem Temperament eine warme Theilnahme und viel Wohlwollen nicht absprechen; überhaupt haben Melancholiker viel Anlage zum nobeln Charakter; aber über ihre Entschluß- und Thatlosigkeit hat man häufig Gelegenheit, sich zu ärgern. Da sie nicht nach scharfen, logischen Gesetzen zu urtheilen und zu schließen gewohnt sind, und zum Handeln die Energie nicht finden können, so sind sie in der Regel ihren Empfindungen und der Macht der Eindrücke preisgegeben, auch nicht selten willenlose Spielzeuge in den Händen geschickter Intriganten. Lessing war in seiner Schärfe und kühnen Thatenfrische das ächte Gegenbild des melancholischen Temperaments, während Shakespeare’s Hamlet, wie schon erwähnt, das ächte Muster des Melancholikers bleibt. Welch ein Reichthum, welche Fülle von Geist und Empfindung in diesem Königssohn – aber die Ohnmacht seines Willens läßt ihn nie weiter als zu grübelndem Räsonnements und zu tausend Anläufen zum Handeln kommen. Und welche Motive hatte er zur That! Der zürnende Geist seines gemordeten Vaters muß selbst aus dem Grabe steigen, um den Sohn zur Rache gegen den Mörder und Thronräuber aufzurufen. Und doch kommt er nicht zur That, bis ihm der Drang der Verhältnisse das Schwert in die Hand drückt und ihn auf den Schuldigen hinstößt. Es waren nicht Zweifel an der Wahrheit des Verbrechens, die ihn zurückhielten; es war nicht der Abscheu vor der blutigen Rache, ein unsicheres Gewissen – er bleibt bei der Ermordung des Polonius ungerührt und spottet über den Höfling; es war nicht Mangel an Empfindung, – sondern das Uebermaß derselben, welches alle Kraft zur That in ihm erstickte und niederhielt. Vermöge seiner eigenthümlichen Natur und seiner bis in die feinsten Fibern empfänglichen Seite, mußte Alles bei ihm in Gefühl und Empfindung ausarten – wie zu fette Pflanzen in’s Kraut schießen und keine Früchte tragen –; es war ihm ein Genuß, in diesen Gefühlen zu schwelgen und sich daran zu berauschen; darauf verwendete er seine ganze Kraft, so daß ihm für die That keine mehr übrig blieb. Welche Ströme und Fluthen von verwundenden, peinlichen Eindrücken ergossen sich aber auch über dieses edle, reiche Gemüth. Der Tod des Vaters, der unwürdige Oheim, die zu frühe Vermählung der Mutter mit diesem Elenden, die furchtbare Entdeckung des Geistes, schon die Wiederkehr des Vaters aus dem Reich der Nacht, und dann das Gefühl der eigenen Ohnmacht zur That, das Gefühl seiner Unwürdigkeit und Verwerflichkeit, aus dem er vermöge seiner Natur sich nicht erheben kann. Das Bild des Melancholikers ist nie tiefer und treffender gezeichnet worden, als in dieser unsterblichen Figur des großen britischen Dichters.

Man kann den Melancholiker nicht in gleicher Weise, wie den Verstandes-, Phantasie- und Willensmenschen, den Gefühlsmenschen nennen. Sein Temperament ist weniger einseitig, mehr zur Totalität angelegt und darum dem genialen Temperament, wie bemerkt, verwandter, weil das Regiment, unter welchem es steht, die Eindrücke sind, die Anschauungen, die zu Gedanken und zu Empfindungen werden können. Die Seele des Melancholischen ist ein fein empfindlicher, unbegrenzter Spiegel der Welt, in dem fortwährend zahllose Bilder reflektirt werden.

Wenn Tiefe, Gründlichkeit und ein dankenswerthes Ahnungsvermögen, [476] so wie Humanität und eine edle Gesinnung, überhaupt Großartigkeit, zu den Vorzügen des melancholischen Temperaments zu rechnen sind, so müssen Weichlichkeit, Mangel an Energie, Sonderbarkeit und Bizarrerie als seine Fehler bezeichnet werden. Man findet unter Künstlern, Gelehrten und Denkern, als den mehr der Welt entfremdeten, wenigstens vom alltäglichen, praktischen Lebensgang Abgeschlossenen, das melancholische Temperament am Häufigsten. Aber so oft man hier interessante Menschen, noble Charaktere und tief angelegte, über das Niveau des Gewöhnlichen hoch erhabene dabei antrifft, so häufig stößt man in diesen Lebenskreisen auf Sonderlinge, für die Welt und das Leben unbrauchbare Menschen, Unverträgliche, Eigensinnige, mißtrauische Einsiedler, wunderliche Kauze, Querköpfe und Narren.

Ein ziemlich sicheres Kennzeichen des melancholischen Temperaments, welches bei weitem nicht so klar als das sanguinische und cholerische zu Tage liegt, da die Verschlossenheit und Insichgezogenheit nothwendige Eigenschaften desselben sind, ist die Sucht, sich selbst zu quälen. Man findet nämlich bei Kindern sowohl, als bei Erwachsenen nicht selten die Neigung, einen Schmerz, ein Leiden absichtlich zu schärfen, zu vergrößern, um ja recht unglücklich zu sein. Es ist eine gewisse Selbstgefälligkeit im Unglück, eine Art des Kokettirens mit dem Schmerz, da der Mensch beständig zu sagen scheint: natürlich, mir mußte dieser Unfall passiren, ich bin zum Leiden bestimmt, ich kann nicht mehr froh werden, es ist Alles vorbei, nur immer zu, ich bin auf Alles gefaßt, es wird noch ärger kommen, denn das Schicksal hat von der ersten Stunde meiner Geburt an mich stets auf’s Sinnreichste und Grausamste gequält u. s. w.

Diese Resignation der Selbstquäler voll kleinlicher Bitterkeit geberdet sich oft so komisch und kindisch, daß man bei dem besten Vorsatz der Theilnahme mit dem Leidenden, unwillkürlich lachen muß, was er denn natürlich als einen weitern Zusatz zu dem Uebermaß seiner Prüfungen mit ingrimmiger Dankbarkeit auf dem verzerrten Gesichte hinnimmt. Dies ist einer der Wege, auf dem sich der kalte Menschenhaß in das Herz des Melancholikers schleicht, ein beklagenswerther Seelenzustand, welchen der Gemüthskranke durch seine Weichlichkeit und Willenlosigkeit, die gleichsam mit Vorbedacht der Vernunft beide Augen zuhält, großentheils selbst verschuldete.

Kinder von weichem, vollem Gefühl, von zarter Körperconstitution, – bei denen die Reizempfänglichkeit oft außerordentlich gesteigert ist und die Spuren von der erwähnten Selbstquälerei zeigen, sind durch alle möglichen Mittel vor der Ausartung ihres Temperaments zu bewahren. Stärkung des Körpers durch Bewegung im Freien, Turnen, Baden etc., Umgang mit lebhaften, kräftigen Naturen, die sich mehr Muthwillen und tolle Streiche, als Andere erlauben, möglichst frühe Vermittlung mit der Welt und dem Leben und sorgsames Bewahren vor aller Isolirung und Vereinsamung, namentlich durch anhaltendes Lesen, werden in den meisten Fällen geeignet sein, eine Natur, welche zum melancholischen Temperamente hingeneigt ist, vor Ausartungen und Verirrungen zu bewahren, welche gerade hier zu den beklagenswerthesten Extremen führen.




Die neue Synagoge in Leipzig.

Aeußere Ansicht der neuen Synagoge in Leipzig.

Am 7. d. M. wurde in Leipzig der Grundstein zu einer Synagoge der israelitischen Gemeinde gelegt.

Es ist dies ein Ereigniß von höherer Bedeutung, als wäre zu einem Tempel eines andern Glaubensbekenntnisses oder zu einem Palaste der Grundstein gelegt worden. Am genannten Tage – so sehen wir es an – wurde der Grundstein zu dem hehren Tempel der confessionellen Gleichberechtigung gelegt. Der erste liegt in Dresden, und über ihm wölbt sich bereits seit Jahren der fertige Bau, die von Semper, dem genialen Baumeister, erbaute erste jüdische Synagoge in Sachsen. Die zweite erbaut nun in der zweiten Stadt des Landes ein würdiger Schüler jenes Meisters.

Es ist eine überall zu machende Erfahrung, daß das Urtheil über die Juden da am ungünstigsten lautet, wo man am Wenigsten mit ihnen in Berührung kommt; wie diejenigen am meisten Gespenster fürchten, welche oft davon erzählen hörten, ohne in Lagen gekommen zu sein, wo die Erzähler sie gesehen zu haben behaupteten. Trifft nun auch die Umkehrung dieser Erfahrung in Leipzig nur mit der Einschränkung zu, daß die geringe Anzahl seiner jüdischen Bewohner fast durchweg der wohlhabenden und gebildeten Klasse angehören, welche nicht die Pariaäußerlichkeit des armen „Schacher“-Juden an sich tragen, – bedarf es also in Leipzig nicht erst eines äußeren Mittels, um die jüdische Gemeinde zu heben, so finden wir dennoch in der Erbauung der Synagoge auch das Gute, daß sie jener in den Augen ihrer christlichen Mitbürger ein Achtung gebietender Stützpunkt sein wird.

Nirgends mußte so sehr wie gerade in Leipzig, wo zur Zeit der Messen Tausende von Juden aus allen Weltgegenden zusammenströmen, der Mangel einer Synagoge den Bekennern des Judenthums die drückende Mahnung an ihre bürgerliche Nichtgleichstellung fort und fort zum Bewußtsein bringen. In die Zeit der Leipziger Messen fallen die bedeutendsten jüdischen Festtage, welche in mehr als 20 einzelnen, in allen Straßen der Stadt vertheilten Zimmern begangen werden mußten. Die rastlosen Bemühungen, welche Dr. Ad. Jellinek, der hochbegabte Prediger der Gemeinde, aufbot, um die Erbauung einer Synagoge durchzusetzen, haben daher auch für die sächsische Gesetzgebung die dankenswerthe [477] Folge, daß dieselbe laut und vor aller Welt bekennen wird, daß in Sachsen keine judenfeindliche Gesetzgebung besteht, woran derselben Unkundige zweifeln mußten. Freilich ist die Gleichstellung des jüdischen Cultus noch nicht gleichbedeutend mit bürgerlicher Gleichstellung, an welcher noch Manches zu wünschen übrig bleibt; obgleich bei der Wiederaufhebung der 1849 publizirten Grundrechte im Jahre 1854 gerade der die Juden betreffende Paragraph fast allein in Kraft geblieben ist. Immerhin aber mögen die Juden mit besonderem Vertrauen auf den neuen Inhaber des sächsischen Thrones blicken, der bei Gelegenheit der Kammerverhandlungen über die Freigebung des israelitischen Cultus die „wahrhaft

Innere Ansicht der neuen Synagoge in Leipzig.

königlichen“ Worte sprach – wie sie Dr. Jellinek in seiner Rede bei der Grundsteinlegung bezeichnete – daß es ihm leid thue, in einem Lande zu leben, wo Unterthanen um Gleichstellung der Juden erst bitten müßten. – Die treffliche Weiherede hob diese, ihren Urheber hoch ehrenden, Worte zu wiederholten Malen mit dankbarer Betonung hervor. Sie werden in ganz Sachsen mit ahnungsvoller Freude vernommen worden sein und bewahrt werden. Sie bildeten recht eigentlich den Geist, welcher die Feier der Grundsteinlegung durchwehete.

Da Dr. Jellinek der Reform des israelitischen Cultus mit Beharrlichkeit wenn auch mit vorsichtiger Mäßigung ergeben ist, so wird dereinst die leipziger Synagoge, eben weil sie zu den Messen alle Schattirungen des Judenthums aus allen Theilen Europas in ihren Mauern vereinigt sehen wird, der Mittelpunkt sein, von welchem aus nach allen Seiten sich die Strahlen der Reform ausbreiten.

In Folgendem geben wir nach den eigenen Mittheilungen des Baumeisters eine kurze Schilderung des werdenden Baues.

Bei Entwerfung des Planes zu einem Gebäude von nur mäßigen Dimensionen, umgeben von der imposanten Gruppe, welche die Centralhalle mit den umliegenden neuen Wohnhäusern bildet, konnte es nicht darauf angelegt sein, im Aeußeren durch Großartigkeit zu wirken. Der Uebelstand, daß die Grundform des acquirirten Bauplatzes eine höchst unregelmäßige, verschobene ist, drängte vielmehr den Architekten zur Bescheidenheit hin, noch mehr jedoch zu dem ernsten Bestreben, den vielen Anforderungen, die man mit Recht an ein kirchliches Bauwerk stellen darf, möglichst zu genügen, und alledem zum Trotz doch noch ein in sich harmonisch abgeschlossenes Kunstwerk zu liefern.

Bei der Lösung der sehr schwierigen Aufgabe, hat der Urheber des Bauplanes, Herr Architekt Otto Simonson aus Dresden, eine Meisterschaft bewiesen, welche mehr noch als aus unserer kleinen Abbildung der äußeren Ansicht, einst aus dem Gebäude [478] selbst hervorleuchten wird, wenn dieses beendet sein und mit seiner Umgebung – der Centralhalle und dem eben beendeten nach mexikanischem Geschmack aufgeführten Knauth’schen Hause – einen imposanten und eigenthümlich schmuckvollen Punkt des häuserreichen Leipzig bilden wird. Diese Aufgabe zu erfüllen, schien die Durchführung des maurischen Styls mit seinen eigenthümlichen Hufeisenbögen am Geeignetsten.

Die Hauptanordnung ist dem Prinzipe nach der Basilika entlehnt; wir finden hier das Hauptschiff, die Nebenschiffe wieder. Dem Mittelschiffe (in Anordnung, Maßen und Verhältnissen mit dem Tempel Salomonis übereinstimmend), dessen Längenachse dem Ritus gemäß von West nach Ost sich erstreckt, schließen sich die Seitenschiffe von der Form eines durch die örtlichen Verhältnisse sich ergebenden Paralleltrapezes zu beiden Seiten symmetrisch an.

Das Hauptportal liegt an der hintersten Ecke des Gebäudes etwas von der Straße zurück, im Hintergrunde eines von Gittern eingeschlossenen Vorhofes.

Steigen wir die wenigen Stufen hinan, um einen Blick in das Innere zu thun, so kommen wir zuerst in eine geräumige durch Oberlichtfenster erleuchtete Halle, zu deren Rechten sich ein Zimmer für den Prediger befindet, von welchem aus derselbe, wenn zur Winterszeit der Gottesdienst in dem heizbaren, von der an die Halle sich anschließenden Vorhalle aus gangbaren Betsaale abgehalten wird, direkt auf die Kanzel gelangen kann. An dem Ende der Vorhalle liegt eine Treppe von Sandstein, die nach den westlichen Emporen der das Stockwerk über dem Betsaale einnehmenden Castellanwohnung führt.

Wir stehen am Eingange, dem Blicke stellt sich dar das geräumige, hohe Mittelschiff, über welches das, durch zahlreiche dicht unter dem Plafond angebrachte Fenstergruppen herabfallende Licht eine magische Wirkung ausgießt. Diese Ansicht ist auf dem Bilde dargestellt.

Der oblonge Raum, der Tempel, ist mit Betstühlen erfüllt, der erhöhete Raum am östlichen Ende, das Heilige, gehört dem Ceremoniell beim Gottesdienste an; von hier aus führen breite Treppen zu dem noch höher gelegenen, durch Vorhänge abgetrennten Allerheiligsten (Thoraschrank), die Gesetzrollen enthaltend. Hier gruppirt sich die Predigtkanzel und der Rednerstuhl für die Trauungen und Confirmationen, das Pult für den Vorbeter, die Sitze für den Prediger und den fungirenden Vorsteher, die herabhängende ewige Lampe und der neunarmige Leuchter.

Aeußerlich stellt sich das Allerheiligste, wie bei der christlichen Kirche die Chornische, durch einen Rundbau (an der Straßenecke) dar, welchem, kuppelförmig überdacht und mit einem Oberlichtfenster versehen, eine große die Vorhangdrapirung bekrönende reichbemalte Rosette (im Grunde eines Bildes) ein mattes Licht leiht.

Drei Bogenöffnungen, je an den beiden Langseiten des Mittelschiffs, vereinigen dasselbe mit den Seitenschiffen, in denen sich zwei übereinanderstehende, auf eisernen Säulen ruhende Emporen befinden. Die Treppen, auf welchen man zu ihnen gelangt, liegen in den thurmartig erhöhten, mit Zinnen bekrönten Gebäudeecken. Die obere, dem Allerheiligsten gegenüberliegende westliche Empore nimmt den Sängerchor, und für den Fall, daß späterhin sich die Gemeinde noch darüber einigen sollte, die Orgel auf.

Das Gebäude wird 1600 Sitzplätze enthalten, demnach gegen 2000 Personen fassen, von welcher Zahl sich die kleinere Hälfte auf die Emporen vertheilen würde, von wo aus auf allen Plätzen, vermöge ihrer tribünenförmigen Anlage, das Ceremoniell wie der Prediger wahrgenommen werden können.

Und so möge denn der schöne Bau rüstig vorwärts schreiten und, ohne Störung und Unfälle beendet, ein neues Band um confessionell geschiedene Mitbürger sein; wie er immer ein ehrendes Denkmal sein wird für den Beistand, den bei seiner Gründung und Aufrichtung die Behörden und Bewohner Leipzigs ihren israelitischen Mitbürgern mit brüderlicher Bereitwilligkeit reichten.




Blätter und Blüthen.


Eine Drachenfahrt. Seitdem es in den Köpfen der Menschen heller geworden, sind die Ungeheuer der Fabel von der Erde verschwunden und treiben nur noch in den Köpfen der Dichter ihr Wesen. Das Ungethüm, vor dem einst, wie die Mythe berichtet, die Menschheit erzitterte, ist jetzt ein unschuldiges Spielwerk in der Hand der Kinder. Doch in dem kindischen Spiel liegt oft eine tiefer Sinn und so war auch der Drache, welcher bei seinem kühnen Flug durch die Lüfte die Kleinen ergötzt, zu etwas Höherem berufen. Ausgezeichnete Gelehrte verschmäheten es nicht, ihn zum Gegenstande scharfsinniger Abhandlungen zu machen; so Daniel Schwenter in seinen „mathematischen Erquickungsstunden, Nürnberg 1651“ und der gelehrte Musschenbroek. Hundert Jahre später leistete das Spielwerk der Kinder der ernsten Wissenschaft ersprießliche Dienste. Ein Jeder kennt den Versuch Franklin’s, wodurch er den Blitz aus den Wolken zur Erde herniederzog. Doch die näheren Umstände sind wohl nicht so allgemein bekannt und interessant genug, um hier in der Kürze vorgeführt zu werden.

Otto v. Guericke, der berühmte Bürgermeister von Magdeburg, der 1650 die Luftpumpe erfand, war es auch zuerst, der einen electrischen Funken beobachtete. Fast gleichzeitig mit ihm beobachtete Wall, ein englischer Physiker, diese Erscheinung in einem lebhafteren Glanze, als er einen großen Harzcylinder rieb und das dabei auftretende Geräusch veranlaßte ihn, beides mit den Erscheinungen beim Gewitter, dem Blitz und Donner zu vergleichen. Dieser kühne Ausspruch erregte große Aufmerksamkeit und weitläufige Erörterungen, jedoch waren diese kleinen Funken nicht ausreichend, um das Geheimniß, worin damals noch die großartigste Naturerscheinung gehüllt war, zu enthüllen. Der Beweis mußte direct an den Gewitterwolken geliefert werden und dazu forderte Franklin, dem es an Mitteln fehlte, die Gelehrten in Europa auf. Der vielen Worte wegen kam man hier nicht zur Sache und so blieb dem kühnen Amerikaner Zeit genug, selbst an’s Werk zu schreiten.

Sein Scharfsinn verhalf ihm dazu, alle Schwierigkeiten leicht zu überwinden. Ein winziges Ding, ein Spielzeug in den Händen der Kinder, diente dazu, seinen Ruhm zu vermehren. Ein Drache sollte ihm dazu dienen, die Electricität aus den Wolken zur Erde herabzuleiten, und das erste Gewitter wurde zur Ausführung des Versuches, dessen Gefahr dem Unternehmer selbst unbekannt war, bestimmt. Nur von seinem Sohne begleitet, begab er sich im Juni 1752 in’s Freie, weil er fürchtete, sich lächerlich zu machen, wenn der Versuch mißglückte. Letzteres hätte leicht geschehen können, weil man damals mit dem Wesen der Electricität, mit der Art ihrer Fortpflanzung noch nicht recht vertraut war. Die hanfene Schnur war wenig geeignet, die Electricität herniederzuführen und so stand denn Franklin lange Zeit mit der Schnur in der Hand, ohne daß sich irgend etwas Bemerkenswerthes zutrug, obgleich der Drache dicht unter einer Wolke schwebte, die mit Blitzen schwanger zu gehen schien. Die ernstesten Befürchtungen stiegen in ihm auf, daß seine Vorhersagungen scheitern würden, als der Zufall ihm gütig beisprang. Ein unbedeutender Regen befeuchtete die Schnur und verwandelte sie dadurch in einen guten Leiter für die Electricität. Alsobald beobachtete er, daß einige Fäden an der Schnur sich in die Höhe richteten. Dadurch wuchs sein Muth bedeutend. Voll Zuversicht näherte er seinen Finger der Schnur und siehe da, er war im Stande dieser einige kleine Funken zu entlocken. Um seine Freude zu begreifen, muß man ihn selbst diesen Augenblick schildern hören.

Man macht den Naturwissenschaften den Vorwurf, daß sie den poetischen Anschauungen, mit welchem Namen man die Ausgeburten des Aberglaubens sich selbst heute nicht scheut zu belegen, ein Ende mache. Es ist nicht zu leugnen, daß sie der größte Feind des Aberglaubens ist, gegen den sie schonungslos auftritt. Freilich sind in Folge der Entdeckungen, die uns die jüngste Zeit gebracht hat, manche poetischen Gebilde einer kindlichen Phantasie als unhaltbar erkannt, aber liegt in der Wahrheit, dem Verständniß der Vorgänge in der Natur nicht ein unendlich höherer Reiz? Die Dichter haben leider wenig Nutzen aus den reichen Schätzen der Wissenschaft zu ziehen gewußt. Mehr als tausend andere wichtige Dinge, durch welche Dichter sich begeistert fühlten, verdiente diese Entdeckung besungen zu werden. War sie auch eine Frucht des Denkens, so wurde sie doch durch eine Heldenthat in die Welt eingeführt. Denn leicht hätte es geschehen können, sobald die Schnur ganz feucht geworden wäre, oder aus einem besseren Leiter bestanden hätte, daß Franklin seine Kühnheit mit dem Leben hätte büßen müssen und Alles, was er nach dieser Zeit für die Wissenschaft und Freiheit Großes ausführte, wäre für die Nachwelt verloren gewesen.

So wurde zum zweitenmale ein Kinderspielzeug das Mittel der interessantesten wissenschaftlichen Entdeckung. Früher bediente sich Newton schon der Seifenblasen bei seinen Studien der Farben. Durch Franklin gelangte der Drache auch in der Wissenschaft zu Ehren; man bediente sich seiner von dieser Zeit her, nach dem Vorschlage Cavallo’s, zur täglichen Beobachtung[WS 1] der Luftelectricität. Doch die neuere Zeit brachte vortrefflichere Instrumente und so hieß es auch hier: „der Mohr hat seine Dienste gethan, der Mohr kann gehen.“ Das Kinderspielwerk verschwand aus der Reihe der gelehrten Apparate.

Vor fast dreißig Jahren machten die Drachen als Wunder verrichtend wieder viel von sich reden. Englische und französische Zeitungen berichteten Ausgangs 1826, daß der Professor Pocock zu Bristol mit diesem äotischen Gespann verschiedene Fahrten unternommen habe, bei denen selbst die schnellen Renner des Herzogs von Gloucester öfters besiegt worden wären. [479] Nun haben uns zwar die Mythologien der verschiedenen Völker und die Märchen der Zauberer und Feen eine reiche Sammlung der verschiedenartigsten Gespanne überliefert, mit denen sich die Götter und die ihnen an Macht gleichen guten und bösen Geister durch die Lüfte bewegten, aber bis zu den Drachen, weder dem Ungeheuer der Fabel noch dem Spielwerk der Kinder, hatte sich die Phantasie nicht verstiegen. Man war daher allgemein geneigt diese Nachricht für einen Hoax, eine Ente zu nehmen, wovon die Tagesliteratur zu allen Zeiten sehr reich gewesen ist. Doch bald fanden sich nicht allein zahlreiche Augenzeugen, welche die Wahrheit bezeugten, sondern es stellte sich auch heraus, daß bereits früher ein Herr Edgeworth mit vier Drachen in seinem Phäeton zum großen Erstaunen der Gaffer in England umher kutschirt sei und ein Anderer bereits 1799 sein Boot aus dem Longhdown mittelst eines Drachens bugsirt habe. Ja sogar das Repertory of Patent-Inventions berichtete, daß auf dieses abentenerliche Zugwerk ein Patent ertheilt worden sei. So wurde denn dies Wunder als ausgemachte Thatsache hingestellt und alle böswilligen Bemerkungen mußten verstummen.

Pocock fuhr unter anderem mit 3 Personen in einem leichten Wagen, vor welchen er zwei Drachen gespannt hatte, von Bristol nach London und legte hierbei durchschnittlich 18–20 engl. Meil. in 1 Stunde zurück. Der Hauptdrache war 20 Fuß hoch; ein kleinerer diente als Pilote. Er wurde zuerst losgelassen und nachdem er 240 bis 300 Fuß hoch gestiegen der andere, durch den die Schnur des ersteren hindurchlief. Die Vorderräder des Wagens lenkte man mittelst einer Kurbel. Die Kraft, mit welcher diese Drachen ziehen, soll so stark gewesen sein, daß sie eine Schnur, welche zwei Centner zu tragen im Stande war, mit Leichtigkeit absprengten. Es wird versichert, daß das seltsame Gespann eben so gut zu leiten sei wie Pferde und alle Hindernisse, die sich auf dem Wege entgegenstellten, seien leicht zu überwinden.

Für kurze Zeit wurde die Neugierde lebhaft in Anspruch genommen; von Dauer waren die Erfolge jedoch nicht, obgleich Pocock in einer eigenen Brochure mit beredter Sprache seine verschiedenen Drachenfahrten zu Wasser und zu Lande, so wie in einem fliegenden Wagen in der Luft beschreibt. Obgleich die Ruhmredigkeit mitunter stark in’s Lächerliche geht, verdiente Einiges jedoch beachtet zu werden. In der That lassen sich die Drachen in einem beschränkten Maßstabe zu mancherlei Zwecken in physikalischer, militärischer und commercieller Hinsicht benutzen, wir dürfen aber nicht vergessen, daß wir es hier ebenso, wie beim Luftballon, mit einem sehr veränderlichen Gesellen, dem Winde zu thun haben, dem wir ganz in die Hand gegeben sind. Vielleicht versteht eine spätere Zeit, das Spielwerk der Kinder, besonders bei der Schifffahrt mit einigem Vortheil zu verwenden, wenn nicht der Dampf, oder vielmehr die erhitzte Luft auf diesem Gebiet der Alleinherrscher wird.




Ein Sturm in Ostindien. Eine englisch-ostindische Zeitung (Calcutta Englishman) schildert einen Sturm, der am 10. April die Umgegend von Calcutta verwüstete, in seinen Wirkungen folgendermaßen. Da zwei Tage seit dem schrecklichen Ereignisse vergangen waren, fand ich es schon unmöglich, durch das Chaos von Ruinen weiter vorzudringen, da die schnelle Verwesung der umgekommenen Thiere und Menschen die Luft auf das Entsetzlichste verpestete. Ein Augenzeuge erzählte mir, daß während eines starken Südwestwindes sich eine kohlschwarze Wolke säulenartig und beinahe den Boden berührend genähert und mit beschleunigter Geschwindigkeit auf eine von entgegengesetzter Richtung, dem Wind entgegen eilende, ähnliche Wolke zugestürzt sei. Beide Wolken drehten sich nun mit furchtbarer Geschwindigkeit um einander, während die Hitze plötzlich zum Ersticken und Sengen zunahm und Alles, was sie in ihrem schwarzen Tanze berührten, in ihren Strudel hineinrissen: Häuser, Bäume, Menschen, Thiere, die durcheinander und gegeneinander geschleudert bald nach allen Seiten als Regen von Bäumen, Aesten, Häuserruinen, zerrissenen Gliedern von Thieren und Menschen und verstümmelten Leichen herabgeschleudert wurden. Auf beiden Seiten des Weges, welchen der elektrische Orcan zurückgelegt hatte, fand man außerdem ungeheuere Hagel- und Eiskrystalle bis zur Größe eines Mauersteins. Der Weg der Zerstörung war etwa 800 Yards breit, die Länge ist noch nicht bekannt, eben so wenig der Umfang der Verwüstungen, die nach dem, was ich sah, eben so entsetzlich als unberechnenbar sein müssen. In meiner nächsten Umgebung wurden allein sechzig todte und verunstaltete Menschenkörper gezählt, fünfzehn Personen hatte man unmittelbar nach dem Sturme zerrissen und mit zerbrochenen Gliedern in’s Hospital gebracht. Von den Bewohnern Calcutta’s wurden mindestens dreihundert Personen getödtet, Unzählige verwundet und noch mehr ihrer Häuser beraubt. Die Menge des in der Luft zerschmetterten Viehs ist nicht zu zählen. Furchtbare Massen durcheinander getriebener und hingeschleuderter Haufen von Wald und Häusern und Vieh und Menschen geben die Richtung an, in welcher der entsetzliche Sturm über das Land hin wüthete. Ueber den Haufen von Zerstörung und Leichen schweben und kreischen Adler und Geier, oder sie hacken in dieselben hinein, um Menschen, Ziegen, Pferde, Kühe, Jakals u. s. w. ihres verwesenden Fleisches zu entkleiden. Der entsetzlichste Anblick war mir bis zuletzt vorbehalten. Ein leichenfarbiges, zerlumptes Wesen mit verbundenem Kopfe und zerbrochenen Gliedern arbeitete sich kreischend aus Trümmern heraus und flehte mich um ein Stück Brot an. Er erzählte mir, daß er hier Tage und Nächte gegraben und gesucht, so gut es seine zerrütteten und geschundenen Glieder zuließen, um die Leichen von Vater, Mutter, Weib und Kindern, die hier in einem Hause friedlich bei einander gewohnt und plötzlich in die schwarze Wolke hineingerissen und zerschmettert worden seien, aufzufinden.“




Ein Früchtchen des Krieges. In einem Briefe aus Giurgewo an der Donau, Rustschuk gegenüber, heißt es: „Gleich nach meiner Ankunft genoß ich einen Anblick, den ich nie vergessen werde und der vielleicht einer der seltensten tragischen Eindrücke in der Welt sein mag – eine volle, moderne Stadt ohne eine Spur von Einwohnern. Einige Hausthüren waren geschlossen, andere klappten auf und zu und knarrten und quiekten im Winde, als wollten sie die traurige Oede im Innern verheimlichen und „Leben machen.“ Alle Zimmer im Innern tragen die Spuren hastiger Flucht der Bewohner. Blumentöpfe in vielen Fenstern blüthen noch fort, obgleich auch viele schon todtentraurig nieder hingen mit ihren Blüthen, die sonst so gern in die Sonne und den blauen Himmel empor blickten. Wo waren die zarten, weißen Hände, die sie jeden Morgen tränkten? In den Schlafzimmern standen noch Betten, Spiegel und Luxussachen von Damen. Auf einem erloschenen Feuer stand eine Pfanne mit Fleisch und Kartoffeln, halb verwest. Viele Gärten sahen noch hübsch grün und blumenreich aus, als ob die Eigenthümer sie erst gestern verlassen hätten; andere fingen schon an in Unkraut und Staub zu ersticken. Manche Zimmer von eleganter Ausstattung gaben noch Zeugniß von dem Leben und dem Putze der Damen: Spitzen, Halsketten und Kragen, Strümpfe, alte Schlafschuhe mit niedergetretenen Hacken, Steck- und Nähnadeln, Seife, Schminke und Kämme lagen umher, welche zusammen deutlich zeigten, daß die Damen geflohen waren, ohne ihre Toilette zu vollenden. Durch alle Straßen gähnte und grinzte Oede und Tod. Es war furchtbar, von Straße zu Straße zu wandern, ohne ein lebendes Wesen zu entdecken, als etwa hier und da einen halbverhungerten, zitternden Hund und nichts zu hören, als das Echo den weithinhallenden eigenen Schrittes. In einem entlegenen Stadttheile kroch mir plötzlich ein hohles Menschengerippe mit hohlen Augen aus schwarzem Bart und Haar hervorstarrend entgegen und winselte herzzerreißend: „Im Namen Allahs, Ungläubiger, „gieb mir Brot!“

Städte ohne Menschenleben, Wüsten voller Leichen und Lebendiger, die auf sie todt wiederhallen, darunter vielleicht 30,000 Soldaten – Franzosen, Engländer, Russen und Türken, die da fielen, ohne einen andern Feind zu sehen, als ihre eigenen Schachspieler, die ihre Bauern opfern, um ihre Diplomatie zu retten, – das sind vorläufig einige Früchtchen des für und gegen die „Integrität“ der Türkei herbeigezogenen Krieges.




Der brennende Sultan. Gleich nach der Thronbesteigung des jetzigen Sultans machten die Ulema’s und Geistlichen umfassende Anstrengungen, den neuen Herrscher von der Bahn der Reformen, welche sein Vater eröffnet hatte, abzuschrecken. Unter Anderem hatten die Mufti’s auch seinen Vater, den Reformer, für sich gewonnen, denn so oft der junge Herrscher nach türkischer Sitte an dem Grabe seines Vaters betete, rief er mit jämmerlicher hohler Stimme von Unten herauf: „Ich brenne!“ Der Sultan wandte sich an das Haupt der Geistlichkeit, den Chef der Imans, daß er ihm sagen möge, was dieser türkische Hamlet zu bedeuten habe. Der muhamedanische Papst fand keine andere Auslegung, als daß der Herr Vater, sonst ein großer Mann, sich zu sehr der Sünden der Reform hingegeben, daß er ordentliche Hosen, Messer und Gabeln, bessere Verwaltung, gleichmäßigere Gerechtigkeitspflege u. s. w. eingeführt habe, lauter „subversive Dinge,“ welche das Bestehen der Türkei gefährdeten. Der Sultan sandte hierauf seinen Schwager zum Grabe, zu beten, hernach auch Andere. Alle hatten das furchtbare, dumpfe: „Ich brenne!“ vernommen. Eines Tages nun brach der Sultan in großer Staats-Prozession, begleitet von den höchsten weltlichen und geistlichen Beamten und obersten Richtern, zu dem Grabe seinen Vaters auf. Während er hier betete, erscholl das schauerliche „Ich brenne!“ wieder. Der Sultan schien vor Furcht zu zittern. Er sah seine ganze Regierung nach der Reihe an, ob sie auch zitterten. Aber alle schienen taktfest. Das fiel ihm auf. Er erhob sich von seinem Teppich, rief seine Leibgarde heran und befahl, das Grab vollständig zu öffnen. Weltliche und geistliche Herren stürzten sich ihm zu Füßen, daß er nur solche Entheiligung der Todten nicht begehen solle, aber ohne darauf zu achten, trieb er seine Soldaten zur Eile an, die denn auch bald in einer Seitenhöhle nicht den brennenden Sultan, sondern einen Derwisch ausgruben, dem es wohl kalt über den Rücken laufen mochte. Der Sultan sah ihn ziemlich lange fest und schweigend an und fragte dann ganz kaltblütig: „Du brennst? Ich will Dich denn kühlen lassen im Bosporus.“ Er ließ ihn also in einen Sack stecken und in den Bosporus werfen. Man hat dies für ein Zeichen der Klugheit, Aufklärung und Gerechtigkeit des Sultans gehalten, offenbar mit Unrecht. Der Derwisch war vielleicht der Unschuldigste, wenigstens doch wohl nur ein willenloses Werkzeug. Er hätte müssen mit einer Reformspritze die Häupter des conservativen alten Türkenthums, die jeden Andersgläubigen einen Hund und jeden vernünftigen Gedanken eine Gotteslästerung nennen, so lange waschen lassen, bis ihnen der Kopf ab- oder wenigstens gewaschen war.




Eine Scene beim König von Dahomey. Man wird von diesem afrikanischen, schwarzen Sklavenhandelskönig mit seiner Armee von 25,000 Weibern gehört haben. Er lebte bisher blos davon, daß er von seinen Weibern Leute anderer Staaten rauben ließ, um sie als Sklaven nach Amerika zu verkaufen. Neuerdings haben die Engländer ihn auf bessere Gedanken gebracht und ihm gezeigt, daß er anständigere und sicherere Einkünfte haben werde, wenn er seiner Armee Palmöl auspressen und so nicht nur zur Civilisation seines Landes, sondern auch der Stearinlichtaufklärung Europa’s beitrage. Dieser Civilisationsproceß geht denn auch im Lande Dahomey jetzt rasch vorwärts. An seinem Hofe geht’s vorläufig freilich noch sehr „ländlich, sittlich“ zu. Ein Engländer, der ihn zuletzt besuchte und schilderte, erzählt folgende Scene: „Ich fand in dem Könige einen imponirenden, klug aussehenden, stolzen, ernsten und hochmüthigen Kerl. Er saß, einfach gekleidet, in der Mitte seiner Weiber und Minister. Er fragte mich besonders ausführlich nach den Verhältnissen der schwarzen Republik Liberia und ihrem Präsidenten Robert. Ich antwortete nach meinem besten Wissen, daß Robert, sein Parlament, seine Zeitung, sein Volk, sein Handel und Gewerbe die besten Hoffnungen nährten und erzählte ihm von den Erfindungen, Fabrikationen, Freiheiten und Schönheiten des civilisirten Lebens. Während er andächtig zuhörte, brachte man [480] ihm die Nachricht, daß eine Stadt, die so lange der wüthenden Macht seiner Weiber getrotzt, erobert, verbrannt und deren Bewohner theils ermordet, theils als Waare für den Sklavenmarkt gesichert seien. „Das wird meinem Vater große Freude machen“, sagte König Gezo, „ich will es ihn gleich wissen lassen. Schickt mir einen Sklaven!“ Der Sklave trat ruhig ein und hörte ganz kaltblütig die Siegesnachricht mit an. Hierauf nickte er seinem Premierminister, der sofort eine rohe Holzaxt nahm und damit dem ruhig stehenden Sklaven mit einem Hiebe den Kopf abschlug, „Ich habe noch etwas vergessen“, sagte jetzt der König ganz gemüthlich, „schickt mir einen Andern!“ Der Andere trat ein, hörte ruhig an, was der König seinem Vater noch zu sagen hatte und ließ sich dann ebenfalls ohne irgend ein Zeichen des Schreckens den Kopf vor die Füße legen.

Im Innersten erschreckt und empört über diese blödsinnige Grausamkeit, frug ich: „Was soll das bedeuten? Wozu das?“ „Nun,“ sagte König Gezo, „weißt Du nicht, daß mein Vater im Lande der Geister ist? Und giebt es eine andere Art, ihm wissen zu lassen, was mir so viele Freude macht und ihm noch mehr?“ – Das ist gewiß eine sonderbare Post und Correspondenz zwischen Himmel und Erde.




Leipzig hat vor einigen Tagen die älteste und zugleich eine seiner größten Verlagshandlungen, die Weidmann’sche Buchhandlung verloren. Der jetzige Besitzer, Herr C. A. Reimer, ist mit derselben nach Berlin, seiner Geburtsstadt, übergesiedelt. Gegründet wurde diese Handlung im Jahre 1680 durch M. G. Weidmann aus Speyer, dessen Kinder und Enkel sie bis zum Jahre 1822 mit stets großem Erfolg fortsetzten. Im Jahre 1759 übernahm dieses Geschäft den bekannten Leipziger Meßkatalog, der 1594 von dem Buchhändler Henning Große begründet, in der Michael-Messe dieses Jahres zum ersten Male erschien und selbst während des dreißigjährigen Krieges stets fortgesetzt ward. Von 1822 ab ging die Weidmann’sche Buchhandlung in den Besitz des vielbekannten Berliner Buchhändlers Reimer über, dessen Sohn jetzt, nachdem längere Zeit Herr Salomon Hirzel Mitbesitzer gewesen, sie aus Gründen verschiedener Art, hauptsächlich wegen des Abgangs der Professoren Haupt und Mommsen nach Berlin verlegt. Außer vielen großen und wichtigen philologischen und theologischen Werken erschienen in dieser Handlung z. E. Ariost rasender Roland, übersetzt von Gries. – Fast alle Schriften des alten Arndt.Chamisso’s Werke. – Dahlmann’s Schriften. – Gellert’s Schriften. – Grimm’s Wörterbuch.– Anast. Grün’s sämmtl. Gedichtwerke. – Musenalmanach von Chamisso und Schwab. – Rückert, Weisheit der Brahmanen. – A. W. v. Schlegel’s Werke.– Tasso befreites Jerusalem, übersetzt von Gries. – Vega logarith. Handbuch. – Wieland’s Abderiten und Oberon. – Zollikofer’s Schriften. – Jedenfalls verliert der leipziger Buchhandel in ihr eine der ehrenwerthesten und berühmtesten Verlagshandlungen.




Bäume und Steine von lebendigen Menschen. Ein Reisender in Abyssinien bemerkte, als er von dem Flusse Moischime seinen Rückzug angetreten, unweit des Weges alte verdorrte Bäume und Steine, die er den Tag vorher nicht bemerkt hatte. Einer seiner Begleiter, ein Eingeborner, rief beim Anblick dieser alten Baumstümpfe sogleich aus: „Das sind Räuber, die uns überfallen wollen!“ Ich lachte, denn in einem der nächsten Bäume erkannte ich deutlich einen alten, vom Feuer verkohlten Stumpf. Um mir zu beweisen, daß es nichts, als nackte Bareo’s (abyssinische Sklaven) waren, nahm er seine Flinte, kroch in dem langen Grase unbemerkt vorwärts und schoß den nächsten Baum nieder, der denn auch schreiend hinstürzte. Der Schuß wirkte auf die andern Bäume und die Steine, wie einst die Lyra des Orpheus. Alle bekamen Leben, und lösten sich in schnelllaufende, schwarze Menschen auf, die freilich nicht, wie die Bäume des Orpheus, vor Freude auf uns zu, sondern aus Furcht von uns wegtanzten. Mir schien es unmöglich, daß die Kerls sich so täuschend in Bäume und Steine verwandeln könnten, bis einige Mitglieder meines Gefolges, die einst mit zu dem „Geschäft“ gehört hatten, mich überzeugten, indem sie sich theils zu Steinen zusammenwickelten, theils zu Bäumen mit grotesken Aesten und Zweigen gliederten. Einige Stellungen dabei waren so verrenkt und anstrengend, daß die Leute damit in Europa als gymnastische Künstler wahrhaftes Furore und mehr Geld machen würden, als in den menschenleeren Gebirgen und Hochebenen Abyssiniens.




Literarisches. Den Freunden Heine’schen Muse steht in nächster Zeit ein neuer Genuß bevor. So eben kündigt Campe in Hamburg 3 Bände neue Schriften von Heinrich Heine an, mit folgendem Inhalt: 1. Bd. Geständnisse (Vorläufer seiner Memoiren) – Neue Gedichte. – Die Götter im Exil. – Die Göttin Diana. – Ludwig Marcus. – 2. u. 3. Bd.: Lutezia, Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. Der Verleger spricht mit Zuversicht die Behauptung aus, daß Heine’s Lutezia das geistreichste Buch dieses Jahren sein wird. Ein nach anderer Richtung hin mindestens eben so interessantes Buch wird von Moleschott erscheinen, unter dem Titel: Georg Forster, der Naturforscher des Volkes. Moleschott’s Plan geht dahin, Forster, den er als den Lessing der Naturwissenschaften bezeichnet, als Begründer einer neuen Epoche wissenschaftlicher Reisen, als einen der fruchtbarsten und sinnigsten Gründer einer einheitlichen echt philosophischen Naturwissenschaft, als einen Weisen, bei dem der Gelehrte im Menschen und der Lehrer im Leben aufging, dem allgemein Gebildeten sowohl als speciell den Männern vom Fache näher zu bringen. Forster, der als einer der edelsten und gediegensten Vorkämpfer der neuen Weltanschauung betrachtet werden kann, gewinnt mit jedem Tage an Bedeutung, und es dürfte für die allgemeine Bildungsgeschichte von hohem Werthe sein, wenn auch Naturforscher wie Moleschott dazu beitragen, eine so hohe Erscheinung wissenschaftlich gebührend zu würdigen. Das Buch wird zum Säcularfest von Forster’s Geburtstag am 26. Novbr. d. J. erscheinen.

Gutzkow, der bekanntlich den Weimarischen Falkenorden erhalten, ist zugleich mit [[Ludwig Bechstein|Ludwig Bechstein zum Ritter geschlagen worden. Man sieht, kein Glück ohne Unglück! Das heißt, Gutzkow’s Verdienste anerkennen und zugleich herabsetzen! – An Neuigkeiten sind in letzter Zeit noch angekommen: E. Willkomm: In Wald und am Gestade. Th. Fontane. Ein Sommer in London. – Cl. v. Glümer. Aus den Pyrenäen. 2 Bde. – Banner. Die Rebellen in Lübeck. 2 Bde. – Gust. Kühne. Die Freimaurer. 3 Bde. – Von Gerstäcker wird ein Volksbuch: „Nach Amerika“ mit Illustrationen von Hosemann angezeigt. Wie Hosemann, der berliner Humorist, diese Aufgabe genügend lösen soll, verstehen wir nicht recht.


Erklärung.

Es ist mir ein Verzeichniß von Romanen zugekommen, welches der Buchhändler Herr E. F. Schmidt in Leipzig vor wenigen Tagen ausgegeben hat, und worin er den Leihbibliotheken und Antiquaren den Band für 5 Sgr. anbietet. Unter diesen Romanen sind angeführt:

Storch, L., Pepita, die Auswanderin. Roman und doch Wahrheit. 2 Bde.
     –     –     Raudon, Crotinus und seine Genossen. 2 Bde.
     –     –     Caroline, die Wiener Barrikadenheldin, Jäger Carl genannt.
     –     –     Nur eine Weberstochter. Historischer Roman. 3 Bde.
Swea. Kleine Romane und Schilderungen aus der Gegenwart, von Friederike Bremer, E. Carlén, Frau v. Knorring u. A. von L. Storch. 2 Bde.
Die meisten Leser, ja ich fürchte, fast alle werden diesen Namen L. Storch für den meinigen: Ludwig Storch lesen; die wenigsten werden aus den Titeln schon schließen, daß ich unmöglich der Verfasser dieser Bücher sein kann, und sich erinnern, daß ich meinen Namen stets vollständig ausschreibe. Und darauf ist die schmutzige Spekulation berechnet. Die Leihbibliotheken meinen, Bücher von mir zu kaufen, der Leser meint ein Buch von mir zu leihen, und sie ahnen den Betrug erst, wenn es zu spät ist. Man sieht, es ist da eine ganze Romanfabrik auf meinen Namen etablirt, ganz in der Art, wie falsche Eau-de-Cologne mit der Firma der ächten, Tabacke, Pillen etc. mit falschen Etiketten betrügerisch verkauft werden. Es ist großartige deutsche Industrie hier wie dort. Und kein Gesetz schützt mich gegen diesen ehrlosen Mißbrauch meines Namens. Ich muß ihn mir gefallen lassen. Kaum daß den Nachdrucker-Dieben das ehrlose Handwerk gelegt ist, so wird ein beliebter Schriftsteller von Namen-Dieben überfallen. Ich hatte bis jetzt nur Kenntniß von dem letzten der oben genannten Romane, welcher unmittelbar nach meinem „deutschen Leinweber“ im Verlag einer bekannten Buchhandlung in Grimma erschien, und ich erkundigte mich bei einem leipziger Rechtsgelehrten, wie ich den Herausgeber zur gerichtlichen Verantwortung ziehen könne. Ich erhielt zur Antwort, daß mit einer Klage nichts auszurichten sei, weil kein Gesetz für diesen Fall bestehe und der Verleger dieses Machwerks behaupten werde: L. Storch heiße nicht Ludwig Storch, sondern Leopold Storch. So will ich denn wenigstens Jedermann vor der neuen Romanfabrik L. Storch hiermit warnen und nochmals bemerken, daß auf allen von mir geschriebenen Büchern mein voller Name steht.
Ludwig Storch. 

Waltershausen, im Herzogthum Gotha, 9. September 1854.

N. S. Ich bitte alle mir freundlich gesinnten Redaktionen um Aufnahme dieser Erklärung in die Spalten ihrer Blätter.
D. V. 

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Beobtung