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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1854
Erscheinungsdatum: 1854
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[273]

No. 24. 1854.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redakteur Ferdinand Stolle.
Wöchentlich 11/2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 121/2 Ngr. zu beziehen.

Das Haus am Meeresstrande.
Eine pommersche Geschichte von Oswald Tiedemann.
(Fortsetzung.)

„Eine Uebereilung? Wie klug die Dirne zu reden weiß! Aber das ist nichts, der ganze Handel kommt an den Tag. Ich habe eine ungerathene Dirne auferzogen, ein verleumderisches Kind, das sich nicht scheut, gegen den Vater zu zeugen. Muß ich so was Arges noch in meinen alten Tagen erleben! Sieh’, ich könnte Dich erwürgen, wenn die Strafe nicht all zu gering für Dein entartetes Beginnen! Sie ist schön, hat von ihrer Mutter gar manche Tugend geerbt, aber die Entartung lauerte darunter, die Tollsucht der Leidenschaft; sie kamen erst jetzt an Tageslicht. Soll ich’s anders nennen? Du hast einen braven Kerl zum Liebsten, der gegen diesen Junker aussieht, wie ein blühender Stamm gegen einen giftigen Pilz, Du hast eine schöne Zukunft, aber Dir geht das Gelüst über Alles. Sieh’, Katharine, mein Haar ist grau, willst Du, daß es vor Zeiten weiß werden soll? Ich habe Dich gehegt und gepflegt, als Deine Mutter starb, ihre Stelle vertreten. Ich habe gehungert, ich kann es Dir wohl sagen, um Dich nicht darben zu lassen. Du solltest die Freude meines Alters werden; das ist nun aus. Es sitzt mir nun hier im Herzen, da wird es sitzen bleiben, um sich fressen, bis ich zu Grabe fahre. Möge es der Himmel fügen, daß es zeitig geschehe, denn nun ist auch die einzige Hoffnung meines Lebens dahin. Was wird Rudolf sagen? Ich höre ihn Dich verwünschen und sehe ihn die Hände ringen. Geh’ wohin Du willst, ich halte Dich nicht, ich warne Dich auch nicht mehr. Wer den Vater und den Geliebten zugleich betrügen kann, dem kann man nur den Fluch zum Geleit geben, oder, wenn man ihn zu sehr geliebt, für ihn beten: Herr, laß ihn sterben in dieser Stunde!“ – –

Der alte Soldat weinte fast, und ballte krampfhaft die Hände. So schwankte er gegen das Haus. Die Pause die eintrat, benutzte der Junker, indem er rasch auf die regungslose Katharina zuschritt und ihr zuflüsterte: „Ich gehe; ich bin kein Freund von väterlichen Predigten. Ich erwarte Dich auf dem gewohnten Platze. Du kommst?“ – Mechanisch nickte Katharina mit dem Kopfe. Pfeifend entfernte er sich. Als er fort war, zuckte Katharina auf, ihr Blick folgte dem Junker, bis er im Walde verschwand, dann stürzte sie zu ihrem Vater, der sich zitternd an die Thürpfosten lehnte, und vor ihm nieder auf die Kniee. „Vater!“ rief sie dabei odemlos, „vergieb mir! Nichts Böses hab’ ich dabei im Sinne gehabt, als ich’s dem Junker erzählte. Ich war weit entfernt davon, zu glauben, es könnte Dir Schlimmes begegnet sein, was Du den Leuten nicht sagen dürftest. Wahrhaftig, Vater, ich rede die Wahrheit! Auch sagte der Junker damals nichts, daß Du bei dem Handel gewesen. Er hätt’s gewiß gethan, wenn Du ihn angefallen. Zu mir hätt’ er’s ganz gewiß gesagt.“

„Zu Dir? Also Du gestehst ein, daß Du ein Verhältniß mit ihm hast? Katharina! Katharina! ich wollt’ ich läge neben Deiner Mutter, tief unter der Erde. Ein alter Soldat hat nichts als seine Ehre, Du häufst Schande auf mein Herz. Du nimmst mir die Ehre. Du hast aufgehört mein Kind zu sein. Noch einmal sag’ ich Dir’s, mit gebrochenem Herzen, geh’ von meiner Schwelle, ich dulde Dich nicht mehr, wo ich verweile!“ Er nahm seine ganze Kraft zusammen, um die Worte mit Nachdruck zu sprechen, aber die Vaterliebe schwächte den Willen.

Katharina stand auf und entgegnete: „Vater, ich habe nichts einzugestehen, was ich nicht vor Gott verantworten könnte.“

„Und Deine Zusammenkünfte? Dein Heimlichthun mit dem Junker?“

„Ich liebe ihn nicht; ich liebe nur Rudolf.“

„Und wirst Du noch ferner mit dem Junker zusammenkommen? Mir schwamm es vor den Augen, aber doch glaubt’ ich zu sehen, daß er Dir etwas in’s Ohr flüsterte, daß Du Ihm zunicktest? War’s nicht so, Katharina?“

Er hing an ihren Lippen, als schwebe auf ihnen eine Entscheidung von Leben und Tod.

Katharina sprach: „Du hast recht gesehen, Vater. Ich werde dem Junker folgen und ihn sprechen.“ –

„Fluch Dir, verworfene Heuchlerin! Mit Lügen und Ränken willst Du noch meinen Verstand umstricken, nachdem Du mir das Herz mit Deinem Thun zerschnitten? Ich hätte beinah’ geweint, ich, ein alter Soldat, als ich Dich verlieren sollte; schämen muß ich mich, mir in’s Gesicht schlagen, daß ich mich so schwach zeigen konnte. Nun bist Du entlarvt. Ich werde nicht mehr weinen, aber ich schwör’ es Dir zu Gott, betrittst Du noch einmal meine Schwelle, und hast mit dem Junker gesprochen, Du hast den Himmel zum letzten Male gesehen. Dein Junker mag thun mit mir, was er will, mich soll’s nicht rühren. Ich habe nichts mit ihm zu thun gehabt, ich bin unschuldig an seiner Wunde; aber was seine Bosheit mir noch bringen kann, brauch’ ich nicht zu fürchten. Das Elend ist recht über mich gekommen. Recht geschieht mir! Hab’ ich doch immer gemurrt und geklagt. Geh’, geh’ fort, ich mein’ es gut! Der Zorn könnte mich noch vorher zu einer That verleiten, die Dir den Garaus machte. Grüß’ Deinen Junker! Vielleicht, wenn Du recht gefällig gegen ihn bist, scheert er sich nicht mehr um den grauköpfigen Thoren, dem Du das Leben verdankst!“ –

[274] „Vater!“ – Sie eilte ihm nach, schnell war er aber in’s Haus getreten und hatte den Riegel vorgeschoben. – Sie ließ den erhobenen Arm sinken, blickte starr nach der Thüre, dann vor sich hin und, wie verzweiflungsvoll, stürzte sie vor der Bank des Hauses nieder. – Die Arme aufgelehnt, darauf das Haupt, so lag sie in die Knie gesunken lange, lange Zeit. Sie regte sich nicht, aber ihr Athem ging tief und schwer, zuweilen zitterte ihr Körper. Es schien, als wolle sie aufhören zu leben. –

Eine Zeit verging und noch immer verharrte sie in ihrer Stellung. Sie bemerkte nicht, daß sich der bis dahin klare Tag verwandelte. Die Sonne verhüllte sich hinter einer schwarzen Wolke, graue Nebelschleier wallten über das Meer und verbreiteten sich allwärts über Himmel und Erde. Die Luft wurde feucht und kalt, es rieselte wie feine Nadeln herab. Dumpf und hohl brauste die See, die Wellen erhoben sich und zogen schäumend an’s Land und wieder zurück, weiter dahin, nach Schwedens Küste. Der Sturmvogel ließ sein pfeifendes Geschrei ertönen, die Möven flatterten ängstlich hin und her. Durch die Föhren zog es wie ein ängstliches Getön, es schwellte sich an zu einem hohlen Brausen. Die Zweige schüttelten sich angstvoll, und eine Schaar Dohlen flog kreischend über den Wald und suchte den Thurm des Dorfes Kloster-Riedd. –

Die Schauer des Nebels erweckten Katharina aus ihrem Hinbrüten. Sie stand langsam auf, sah sich um, als wüßte sie nicht recht, wo sie sich befinde, und schüttelte sich, als empfinde sie Frost. Sie schien nicht mehr zu wissen, wie lange sie wohl hier gelegen, und leise sprach sie vor sich hin: „Ob er wohl noch warten mag? Ich muß ihn sprechen.“ –

Sie ging langsam erst, dann immer schneller durch den Wald. Bald war sie an dem Plätzchen, dem Wiesfleck, wo Buchen und Eichen standen, die einzigen in dieser Gegend. Sie warf scheue Blicke um sich; es’ war ihr, als wäre ihr Jemand begegnet, den sie zu fürchten habe. – Es mochte wohl die Stimme ihres Gewissens gewesen sein, denn immer rief es ihr heimlich und warnend zu: „Gehe nicht, bleib’ zurück bei dem Vater!“ – – Sie stand hier eine kurze Weile, da rauschte es wie ein Fußtritt in dem herabgefallenen Laube. Bald stand der Junker von Riedd vor ihr. –

Kaum daß er sie sah, so verklärte sich auch sein Gesicht, er kam schnell auf sie zu, erfaßte ihre Hand und sagte: „Du hast mich lange warten lassen. Katharina! Schon dreimal bin ich hier gewesen und wieder weggegangen. Was hast Du so lange gezögert? Es ist inzwischen schlechtes Wetter geworden; Du mußt jetzt doppelt freundlich sein, daß ich Beides vergesse, mein langes Warten und das verteufelte Wetter. Sei, ich bitte Dich, nicht wieder so kurz angebunden, wie Du es gewöhnlich bist. Ich bin ohnehin nicht ganz guter Laune, durchfroren bis an’s Herz. Sei heiß, Katharina, ruf einmal Deine Leidenschaft auf und erwärme mich!“

„Es ist jetzt nicht Zeit zu Scherzen, Herr Junker!“

„Scherzen? Beim Henker, das ist ein toller Ausdruck. Es ist mir so ernst mit meinem Verlangen, wie mir nur je etwas gewesen ist. Was braucht’s da lange Erklärungen und Vorbereitungen? Ich habe Dir nun alle Tage, die wir zusammen waren, erklärt, daß ich Dich liebe, daß ich Dich dem tölpischen Maler nicht lassen kann. Anfangs war es Spielerei, die ich mit Dir trieb, ich will’s Dir nicht verhehlen; aber nun ist es so furchtbarer Ernst mit meiner Liebe zu Dir geworden, daß ich nirgendmehr Ruhe finde, daß ich nur Dich sehe, all überall, bei Tag und Nacht, ich kann nicht mehr von Dir lassen. Du kannst von mir verlangen, was Du willst, Katharina, aber gewähren mußt Du. Rede ein Wort, was ich thun soll, es geschieht. Ich gehe fort mit Dir, weit weg von Allen, wenn es Dir im Sinne liegt. Du sollst mir befehlen, ich will Dir gehorchen! Du mußt das, Katharina, denn Du hast Theil und Schuld an meiner hirnverrückenden Liebe. Du kamst hierher, wenn ich darum bat, ja. Du kamst freiwillig. Du hast mir zwar nie gesagt, aber gezeigt, daß Du mich liebst.“ –

Sie erglühte. „Wie hab’ ich Euch das gezeigt, Junker? Daß ich kam? Daß ich mit Euch hier zusammentraf? Der Weg führt für Jeden, denn er gehört dem Kreuzwirth; ich kam wohl auch, weil unsereins, eine Bauerndirne, wohl gern mit einem vornehmen Herrn plaudern mag.“ –

Der Junker sah sie starr an, als zweifle er, ob er recht gehört. Sein aufgeregtes Blut rollte heißer durch seine Adern; ihr fortwährender Widerstand nahm ihm fast die Besinnung. Er wäre im Stande gewesen, vor ihr niederzusinken, um sie so zu beschwören, denn wirklich liebte er Katharina; seine Leidenschaft war zu einer gefährlichen Größe angewachsen. –

„Deshalb kamst Du nur, Katharina? Deshalb?“ fragte er bebend, während alle Röthe aus seinem Antlitz für einen Augenblick entwich. „Du sagtest, ich habe doch damals recht gehört, ich bin doch nicht taub, daß es möglich wäre, daß Du mich lieben könntest, einst, wenn ich es Dir bewiese, daß ich Dich liebe. That ich das nicht? Ich bin fast hirnverrückt, alle Pulse wollen mir reißen; ich sage, wiederhole es Dir: ich liebe Dich! Fordere, was ich thun kann, gewähre und es geschieht. – Sprich, sprich! Steh’ nicht da, so kalt, so steinern, wie Marmor, der sich nicht erweichen läßt. Hast Du denn kein Herz? Ich könnte Dich hassen, wenn ich Dich nicht so unglückselig liebte!“

„Ihr liebt mich?“ rief Katharina mit erhöhter Stimme und flammender Röthe im Gesicht. „Ihr wagt mir das zu sagen, auch jetzt noch, da Ihr meinem Vater eine Kränkung bereitet, die ihn verzweifeln läßt? Hab’ ich es denn nicht auch gehört, Herr Junker, daß Ihr ihn anklagen wollt, als Euren Mörder? Ist seine Beschimpfung nicht die meine? Dürft Ihr die Tochter eines entehrten Mannes lieben? Er hat nichts, als seine Ehre, mein Vater. Ich bin eine schlechte Dirne, aber ich müßte die schlechteste sein, wenn ich mich Euch anwerfen wollte, nachdem Ihr dies gethan. Mit Fingern würden die Leute auf mich weisen, mir in’s Gesicht spucken, und mir bliebe nichts, als in’s Meer zu laufen. Das ist eine schöne Liebe von Euch, Junker, aber bei mir müßt Ihr sie nicht anwenden.“ –

„Weib!“ – Der Junker wußte gar nicht, wie ihm geschah, es flirrte vor seinen Augen; so hatte das Mädchen nie mit ihm gesprochen. „Was für ein Teufel ist denn in Dich gefahren. Katharina? Bist Du es denn wirklich? Ich muß mich an den Kopf fassen, um nur zu glauben, daß ich nicht träume. Ruhig, demüthig fast, stand’st Du immer vor mir, und jetzt? – Eine Schlange entringelst Du Deine Tücke und Falschheit. Bring’ mich nicht zum Rasen, ich rathe Dir’s. Ich kann Dich zertreten.“

„Ihr droht mir? Ich fürcht’ mich nicht. Ich bin auch keine Schlange, bin nicht falsch und tückisch. Glauben mögt Ihr’s, ich weiß es wohl. Habt Ihr aber nicht selbst gesagt, daß ich nie zu Euch von meiner Liebe gesprochen? Wenn Ihr das Euch eingeredet, so ist das nicht meine Schuld. Und daß ich bis jetzt immer ruhig gewesen, demüthig? – Ich hab’ Euch als meinen Herrn betrachtet, darum gehorcht, wenn Ihr aber was anders wollt, so hört die Demuth von selbst auf! Ihr seid klüger wie ich, Ihr hättet das bedenken sollen.“

„Katharina!“ – Der Junker gab sich Mühe, so sanft wie möglich zu erscheinen, da er durch ihre plötzliche Ruhe immer verwirrter wurde, aber doch so viel einsah, daß er es mit einem Wesen zu thun hatte, das sich durch Drohungen nicht einschüchtern ließ. „Katharina, ich werde wahnsinnig, wenn Du mich nicht liebst. Was kann ich thun, um Dein Herz zu gewinnen?“

„Ob das geschehen kann,“ erwiederte sie nachdenkend, „weiß ich nicht zu sagen. Macht Euch keine große Hoffnung.“ – Sie wachte eine kurze Pause und fragte dann: „Ihr liebt mich also wirklich, Junker?“ –

„Wie mein Leben!“ betheuerte er, indem er die Hand auf die Brust legte.

„So geht zu meinem Vater und bittet ihm ab, was Ihr ihm Leides zugefügt.“ –

„Katharina!“ – Alles Blut stockte in seinen Adern.

„Wenn Ihr nicht wollt, ich quäl’ Euch nicht. Aber das sag’ ich Euch, wir haben heute zum letzten Male miteinander gesprochen.“ – Sie wandte sich nach der Gegend, von der sie gekommen.

Vor seinen Augen schwamm es wie ein Feuermeer, sie wurden feucht vor Glut, es drängte ihn zur Gewalt – er griff nach seinem Gewehr – trat auf sie zu – mit starker Hand umfaßte er sie – eine andere schleuderte ihn zurück – der Maler Rudolf Elmer stand vor ihm. –

Er und Katharina hatten sich bereits entfernt und noch immer verweilte der Junker regungslos auf dem Platze. Er wußte nicht, wie ihm geschehen war, wie festgewurzelt hatte ihn die Ueberraschung. – Er gab sich unsägliche Mühe, alles Geschehene [275] zusammenzufassen, aber er bedurfte lange Zeit, bis es ihm klar wurde. Er fühlte und beachtete den Nebel nicht, der nach und nach in feinen Regen übergegangen war, er hörte kaum das Brausen des Meeres, das sich immer stärker erhob, nicht das Aechzen und Stöhnen des Waldes, nicht das Knattern krachender Aeste. – Langsam kam er zu sich, langsam hob er das herabgefallene Gewehr auf, und eben so langsam schlug er den Weg nach dem Schlosse ein. –

Beim Nachhausekommen begab er sich sogleich in sein Zimmer, ohne vorher zu seinem Vater, dem alten Freiherrn hinüberzugehen, wie er sonst zu thun pflegte. Es war ihm nicht möglich, Jemand zu sehen. Die widerstrebendsten Gefühle wogten in seiner Brust. Seine ersten Gedanken waren Rache, eine verderbenvolle Vergeltung, aber das reizende Bild Katharina’s verdrängte bald diesen Vorsatz; es erschien ihm eben nie verlockender als jetzt, da er sie aufgeben sollte. Ihr hartnäckiger Widerstand, dazu in dieser Weise so unerwartet, verstärkte vollends seine Leidenschaft, die, er fühlte es wohl, er kaum mehr im Stande war, zu bewältigen. Aber freilich, der schwere Preis, seine Ehre, und ohne daran eine gewisse sichere Hoffnung knüpfen zu dürfen. Er sollte ihrem Vater Abbitte leisten, er, der Sohn eines reichen Freiherrn aus dem ältesten Geschlechte Pommerns, einem ehemaligen Unteroffizier, einem armen Fischer, der von Bauern stammte und nicht besser war, wie der gemeinste der Arbeiter auf Schloß Riedd. Der Gedanke empörte ihn, sein ganzer Stolz erhob sich dagegen, aber er hatte mit seiner Leidenschaft zu kämpfen, und die überwog Beides. – Der Charakter Katharina’s war ihm unerklärlich. Sie hatte ihm eine Seite desselben gezeigt, die er nie erwartet hatte; in einer so scharfen Weise, daß sich seiner Leidenschaft etwas wie Furcht beimischte; aber da er nicht im Stande war, sich derselben vernunftgemäß zu entledigen, so wurde es nur noch ein Reiz mehr, der ihn an Katharina fesselte. Es war dies die natürliche Folge seiner innerlich schwachen Gesinnung. Sein Stolz, sein Uebermuth wurzelten in seiner Erziehung, in Standesvorurtheilen, er war voll der nichtigsten Grundsätze; er wurde überall nach Art tyrannischer Naturen schwach da, wo er energischen Widerstand fand. Dem wahren Stolze, der geistigen Ueberlegenheit wußt’ er nichts entgegen zu setzen, als sein Wappen und seine Geburt. Kam es gar arg, reichte er mit seinem Dünkel nicht aus; fühlte er, daß er nicht weiter könne, so zog er sich zurück. Er hatte das in dem Streite mit Rudolf deutlich gezeigt. Seine Drohungen waren an dessen grundsatzvoller Festigkeit gescheitert, er unterlag einer moralischen Kraft, die er nicht schätzte, weil er sie nicht kannte, die aber durch ihren natürlichen hohen Werth überall siegen muß, auch wenn sie nicht verstanden wird. Er war davon gegangen, mit der Absicht, den Maler durch kleinliche Beschränkungen auf dem gutsherrlichen Gebiet sein Uebergewicht fühlen zu lassen; zu lauern, bis sich ihm eine günstigere Gelegenheit zu einer vollkommenen Genugthuung bieten würde; aber er unterließ das Erste, weil er befürchtete, Rudolf könne bei seinem Vater, dem alten Freiherrn, klagbar gegen ihn auftreten. War dieser auch voll Vorurtheile, wie sein Sohn, so war andererseits ein Gefühl von Gerechtigkeit in ihm, eine gewisse biedere Geradheit, die er unter keinen Umständen verläugnete, und die ihn auch zuweilen seinen Sohn nicht schonen ließ.

Rudolf, der Maler, war nun freilich weit entfernt davon, einer Unerheblichkeit wegen, die er längst vergessen haben würde, wäre der Junker nicht in anderer Weise zum Gegenstande seines Nachdenkens geworden, gegen ihn, wie überhaupt gegen irgend Jemand klagbar zu werden. – Durch den letzten Vorfall indeß waren seine Gedanken mit Katharina nicht minder wie die den Junkers, freilich in anderer Weise, beschäftigt.

Von Unruhe getrieben, von Eifersucht gepeinigt, war er nach dem Gespräche mit dem Kreuzwirth, den Tag darauf, in den Wald hinausgegangen. Er hatte sich vorgenommen, Katharina heute nicht zu besuchen, aber wie das bei Liebenden gewöhnlich ist, der Vorsatz wurde nicht zur Erfüllung. Als er eine Zeit lang auf dem Wiesenfleck gewartet hatte und Niemanden kommen sah, so war er ungeachtet des veränderten Wetters auf dem Wege zu Katharina’s Wohnung gewesen, als er sie selbst, in Nachdenken versunken, eilig dem Walde zukommen sah. Rasch trat er hinter einen Baum, ließ sie vorübergehen und folgte ihr dann mit hochklopfendem Herzen in einiger Entfernung. Er wurde Zeuge ihres Gespräches mit dem Erben von Riedd. Wer möchte seine Gefühle beschreiben! Sie überflutheten sich im wahrsten Sinne des Wortes. Bald wurde ihm siedendheiß, bald überlief es ihn wie Fieberfrost. Er führte die Katastrophe herbei.

Schweigend geleitete er Katharina nach Hause. Auch sie sprach nicht, nur eine seltene Befriedigung leuchtete aus ihren Augen, sie drückte sich dicht an den Arm Rudolfs, und schien zu erwarten, daß er ihr ein liebes Wort, eine Zärtlichkeit sagen würde, denn sie schmeichelte sich im Stillen mit dem Bewußtsein, daß sie es um ihn verdient. Ihre Voraussetzung wurde getäuscht. Keine Sylbe entfuhr dem Maler während des ganzen Weges, er war still und in sich gekehrt; und Katharina, als sie das bemerkte, schwieg nun ihrerseits aus Trotz, in den ihre Selbstbefriedigung überging. Sie war diesmal im Recht! sagte sie sich mit echt weiblicher Empfindsamkeit, und wie sie gegangen und gekommen waren, wollten sie auch wieder scheiden, wenn nicht eben jetzt Katharina ihr hartes Zerwürfniß mit ihrem Vater eingefallen wäre. Mit Zögern setzte sie Rudolf davon in Kenntniß. Statt aller Antwort trat er an’s Fenster, pochte, bis er gehört wurde, und von hier aus unterhandelte er mit dem Vater Katharina’s, bis die Versöhnung hergestellt war.

Dann ging er ohne einen Händedruck, ohne ein zärtliches Wort an Katharina. Jetzt wurde sie nun ihrerseits unruhig, und zum ersten Male drängte sich ihr die Frage auf: Ob sie auch an Rudolf recht gehandelt, ob sie auch gegen ihn verschwiegen sein durfte, wie sie es bin jetzt gegen Jedermann gewesen? Er war ihr als ein zu edler Mann bekannt, als daß sie nicht hätte prüfen müssen, ob er nicht ohne Grund in dieser kränkenden Weise von ihr gehe.

Und wohl hatte Rudolf dazu vollkommene Ursache. Der Junker hatte Katharina Falschheit und Tücke vorgeworfen, war das so ganz und gar aus der Luft gegriffen? Lag nicht etwas davon in ihrer Handlungsweise? Sie liebte ihn, Rudolf, sie wußte, daß sie ihm ganz angehören sollte, er hatte das ausschließliche Recht auf ihre volle Hingebung und auf ihr Vertrauen; sie aber kam mit dem Junker, einem Nebenbuhler, zusammen, auch dann, als ein Streit zwischen Beiden vorgefallen, der sie zu Feinden machte, der ihren Geliebten bedrohte. Sie schwieg gegen ihren Vater, sie hatte gehört und gesehen, in welcher beleidigenden Weise der Junker sich gegen denselben benahm, und dennoch ging sie den Augenblick darauf zu einer Zusammenkunft mit Rudolf’s und ihres Vaters Feinde. Wenn denn auch das Gespräch ein anderes war, als wohl der Junker erwartete, es lag immer ein Grad von auffälliger Sonderbarkeit in diesem Schritte. War man berechtigt, konnte man geneigt sein, diesen Schritt zum Guten zu deuten? Sie spielte ein erwiesenes Spiel, und warum und mit wem? Wenn auch die Wahrscheinlichkeit vorlag, daß sie dieses Spiel mit dem Junker trieb, so mußte es dennoch jedem Geradsinnigen und dabei wenn auch nur unmittelbar Betheiligten, um so mehr auffallen und mit Befürchtung erfüllen, als die Verschlagenheit und Falschheit, einmal angewandt und erkannt, zu der Voraussetzung berechtigen, daß sie vorkommenden Falls Niemanden verschonen. Es heißt die Liebe entwürdigen, wenn man wahrhaft zu lieben glaubt und doch die schmeichelnden Betheuerungen eines Dritten ruhig mit anhört; es zeugt von wenig Selbstgefühl, wenn man eine große Rücksicht einer kleinen zu opfern vermag. Die Liebe soll veredeln und erheben, nicht anreizen und verlocken zu Nebendingen, die eine Untreue gegen den Adel der Seele bilden. Wer sich selbst untreu ist, der ist es gegen Andere, und das Mißtrauen ist Tod aller Ruhe und alles Friedens.

Rudolf sagte sich das Alles und mit dem bittersten Gefühl, das er je im Leben empfunden, durchwachte er eine lange Nacht. Er konnte nicht mit sich in’s Reine kommen, er liebte Katharina unendlich, aber seine Vernunft, seine beleidigte Ehre ermahnten ihn eben so fortwährend, ihnen gemäß zu handeln, als die Liebe heftiger an seinem Herzen stürmte. – Was konnte er für die Zukunft zu erwarten haben, in der Ehe, wenn er jetzt schon Befürchtungen gegen die aufrichtige Gesinnung seiner Verlobten haben mußte? Handelt so ein liebenden Weib, das nur den Geliebten im Herzen hat? Gewiß nicht! Gewiß nicht! Er wiederholte sich das immer, so oft er in seinem gefaßten Entschlusse schwankend wurde. Eins war ihm unerklärlich, er verschwendete vergeblich all’ seine Gedanken und Meinungen, um dahinter zu kommen. Warum nur, aus welchem Grunde hielt Katharina diese Zusammenkünfte mit dem Junker, da er doch Zeuge des Gespräches war, [276] bei welchem sie ihm geradezu erklärte, daß sie ihn nicht liebte, nachdem sie aber vorher durch lange Zeit stillschweigend seine Liebeserklärungen geduldet? – War sie auch nun und nimmer zu entschuldigen, es reizte ihn doch, den Grund ihrer Handlungsweise zu wissen. Daß dieser kein gewöhnlicher sein konnte, das sagte ihm der übrige Charakter Katharina’s, der sich nicht zu Kleinlichem neigte.

Er hatte Katharina mit ihrem Vater ausgesöhnt. Es war ihm schwer genug geworden, denn der alte Soldat war mit Rudolf einer Meinung, daß seine Tochter nicht redlich und aufrichtig gehandelt; durch die Mittheilung des Gespräches mit dem Junker, worin Katharina eine ganz andere Rolle spielte, als er vermuthet, hatte er sich endlich beschwichtigen lassen. – Diese Aussöhnung sollte, das sagte sich der Maler, der letzte Schritt sein, den er in ihrem Interesse unternommen. – Er litt unter diesem Vorsatze furchtbar, sein Herz blutete, aber die Vernunft gebot ihm, und was er einmal als richtig erkannt, das führte er aus, kostete es auch die schwersten Opfer. – –

Der Junker von Riedd schlief diese Nacht auch nicht. Schon mit dem frühesten Morgen stand er auf, aber mit so verändertem




Der neue Krystall-Palast in Sydenham in London.

Während wir friedliche Menschen trotz unserer deutschen Neutralität gar zu oft und lebhaft auf Krieg und Kriegsmänner unsere Aufmerksamkeit richten müssen, dürfen wir um so weniger versäumen, eins der erbaulichsten Friedensfeste – vielleicht das größte Kulturfest unsers Jahrhunderts, gebührend mitzufeiern. Die Eröffnung des neuen Krystalltempels in Sydenham bei London heute, den 10. Juni – „des Volkspalastes,“ wie ihn viele englische Blätter nennen, ist mitten im Kriege der herrlichste Triumph des Friedens auf Erden, aller Völker, aller Kunst und Wissenschaft. Er ist das erste große Gotteshaus der Kultur, das alle Zeiten und Völker in Ihren unsterblichen Werken, die sie im Dienste der Entwickelung der Menschheit schufen, zu einem einzigen einzigen Friedensparlamente versammelt [277] Gesicht, mit so deutlichen Spuren einer durchwachten sorgenvollen Nacht, daß, als er später beim Frühstück erschien, sein Zustand dem alten Freiherrn sogleich auffiel. Er fragte seinen Sohn nicht ohne Besorgniß, was ihm fehle; dieser antwortete nur einsilbig, und gab auf wiederholtes Andringen die Versicherung, daß er sich wohl befinde. Sobald es ihm aber erlaubt war, verließ er das Zimmer. Er hatte eigentlich keinen rechten Willen, er wußte selbst nicht, was er im Freien beginnen, wo es hinaus sollte, doch zog es ihn unwiderstehlich aus den beengenden Räumen des Schlosses. Er durchstrich mehrere Stunden lang Feld und Wald, ohne zu einem festen Entschlusse zu kommen, aber, wie es nun auch geschah, plötzlich war er auf dem Wege zu der Hütte am Meeresstrande. Es schien so unbewußt zu geschehen, daß er selbst überrascht am Saume des Walden stehen blieb, als ihm das Haus entgegenleuchtete. Er zögerte vorwärts zu gehen, und doch drängte es ihn mit unwiderstehlicher Gewalt dahin, wo sie verweilte, die alle seine Gedanken beschäftigte. Lange stand er so unentschlossen. Er blickte unverwandt nach dem Hause hinüber, das still dalag und in seiner Armseligkeit nur durch den Rauch, der leise aus dem Schornstein emporstieg, verrieth, daß es bewohnt sei.

(Fortsetzung folgt.) 




hat, damit sie von hier aus gründlich und praktisch die gemeinsamen Interessen der Nationen predigen, unbekümmert um politische Grenzen und Zolleinnehmer, die gemeinsamen Interessen der Menschen aller Farben und Zonen am Frieden, an der Bildung, am freien Austausche von Waaren und Ideen – doch diese Genien des Krystallpalastes gehören jetzt noch zu den unsichtbaren; wenigstens kann man sie vorläufig vor lauter Pulverdampf auf dem baltischen und schwarzen Meere, vor unsern Augen und in unsern Köpfen nicht sehen. Halten wir uns deshalb vorläufig an das Sichtbare.

Wir zeigen den Lesern zunächst die Hauptansicht des Krystallpalastes von der Londoner Seite her, wie man ihn an hellen [278] Tagen sechs englische Meilen weit her und viele rauchige Wohnungen Londons herab glänzen sehen kann. (Und die Wohnungen mit solcher Aussicht sind seitdem bedeutend theurer geworden.) Freilich eine wirkliche Ansicht und eine kleinlich schwarz auf weiß gezeichnete bilden hier einen wesentlicheren Unterschied als je. Welcher Maler kann den ätherischen Duft, diesen bläulichen, gehauchten Glanz des architektonischen Gewebes durch Wellen saftiger Landschaften, durch das heitere Spiel der Fontainen zwischen weißen Statuen, Blumen und Baumgruppen und lachende Rasenflächen, welcher Maler kann diese sichtbare magnetische Atmosphäre der großen Dichtung von Glas und Eisen auf dem Papiere wiedergeben? Die Schönheit der Baukunst, sonst durch künstlerische Proportionen von Säulen, Linien und Flächen oder durch arithmetisch bestimmte Massen wirkend, ist hier zu einer „gefrorenen Musik,“ so nennt Jean Paul die Baukunst, geworden, die fortwährend sichtbar gleichsam vor unsern Augen aufthaut und in Licht und Aether aufgeht. Doch auch dieses Licht und dieser Aether sind noch kein faßliches Bild. Fassen wir das Gebäude also derber in’s Auge.

Von seinen Größenverhältnissen haben wir schon in einer frühern Mittheilung gesprochen. Wir fügen nur noch einige weitere, interessante Thatsachen hinzu. Der Curiosität wegen erwähnen wir zunächst, daß der ganze Raum, den der Krystallpalast einnimmt, etwa 40 Millionen Kubikfuß beträgt, d. h. ein Drittheil mehr als der Ausstellungspalast von 1851 und viermal mehr als die wegen ihrer kolossalen Ausdehnung weltberühmte Paulskirche in London. Jeder der beiden Seitentransepte, deren Bogen wir auf dem Bilde sehen, ist so groß, wie der bewunderte Haupttransept der „Ausstellung.“ Die andern Raumverhältnisse kann man in dem frühern Artikel nachlesen. Nur noch einen Blick in die zwei Etagen der Unterwelt des Krystallpalastes mit seinem 1608 Fuß langen „Paxton-Tunnel,“ wo auf der einen Seite ausgestellte Maschinen und auf der andern die Herzkammern des ganzen Gebäudes, das Lebensblut für 15–20,000 Pflanzen, Bäume und Gewächse aller Zonen kochen, nämlich Dampfmaschinen mit ungeheuern Wasserkesseln, aus denen die verschiedenen Wärmegrade für die Pflanzen durch ein Röhrenadersystem getrieben werden, welches in einer großen Linie über funfzig englische Meilen lang sein würde.

Jetzt hinauf. Treten wir zunächst in einen der vielen offenen Portikus, welche die zauberischen Ansichten über die Garten- und Parkanlagen, Statuen, Fontainen, Seen, Inseln und die vorsündfluthlichen Ungeheuer, die darauf hausen (vergl. Nr. 10 1853 und Nr. 13 1854 der Gartenlaube]]) und weiterhin auf die gesegneten Wellenlinien des nach allen Seiten in die Ferne verschwimmenden Landes gewähren (der Krystallpalast erhebt sich auf dem höchsten Hügel dieser Gegend, dem Pengehügel). Doch auch dies muß mit einem Blick abgemacht sein, da wir heute in einem einzigen kleinen Artikel den ganzen Reichthum dieser Schöpfung in einer entzückten Eile durchfliegen wollen.

Also nun gleich mitten hinein und aufgeschaut. Hohe Säulen und Bogen und Perspektiven! Und in den Bogen blaue goldeingefaßte Felder und an den Säulen riesige Schlingpflanzen, die sich an ihnen hinaufwinden. Dabei plätschert lustig der Springbrunnen auf Nereiden herab, die auf Delphinen reiten, und auf seltsame, thauige Wasserpflanzen, unter denen die blühende „Victoria“ als Königin ihr Blumenhaupt aus dem Basin erhebt. Die Pflanzen setzen sich mit Statuen und ethnologischen Gruppen (lebenswahr und lebensgroß dargestellten Vertretern der verschiedenen Racen und Nationen der Erde und ihrer Lebensweise) durch das ganze Hauptschiff durch fort und gehen allmälig von den Vegetationsbildern der heißen Zonen bis zu denen der kältesten über.

Demnächst bilden den Hauptreiz die verschiedenen „Courts“ oder Höfe d. h. historischen Kunsthallen, welche sich hinter den Säulen des Hauptschiffs ausdehnen. Sie geben in Architektur, Sculptur, Inschriften und sonstigen Denkmalen eine glänzende Verkörperung der Kulturentwickelung der Menschheit. Wir befinden uns zuerst „in diesen heiligen Hallen“ Sarastro’s, zwischen den zu hieroglyphenbunten Säulen gewordenen Lotosblumen altägyptischer Tempel, aus denen nach den neuesten Forschungen die erste Kultur, die erste Philosophie und alle antike Weisheit der Menschheit floß, nachdem sie freilich Jahrtausende lang von Löwen und Sphinxen, die auch hier den Tempel umlagern, als „Geheimniß“ bewacht worden war. Außerdem ist Aegypten durch zwei Memnon’sstatuen, à 90 Fuß hoch und zwölf Sphinxe, 20 Fuß lang und 12 Fuß hoch jede, im südlichen Transepte wahrhaft gewaltig vertreten. Assyrien, neuerdings durch Entdeckung Ninivehs von den Todten erstanden, ist neben Aegypten dann auch glänzend durch eine Halle (assyrischen Prachtpalast) vertreten, dessen eigenthümliche Säulen und Nimrod’s und schön frisirten Ochsen mit Menschenköpfen und Adlerflügeln wir hier freilich nicht näher ansehen dürfen, wenn wir weiter kommen wollen.

Zunächst in die griechische Kunsthalle mit seinen edeln, ruhigen dorischen Säulen und seinen klaren, schönen, freien Menschen- und Gottgestalten, die den Ochsenkörper für die Kraft ihrer Schönheit und die Adlerflügel nicht mehr bedürfen, um uns auf den Fittigen der heiter und edel angeregten Phantasie in eine (nicht jenseitige) Idealwelt zu tragen. Wir erwähnen hier nur, daß in dieser Halle alle die durch Europa zerstreuten Originale berühmter griechischer Statuen in schönen, getreuen Kopien versammelt sind. Noch nie sah sie Jemand beisammen, noch nie in der ihnen eigenen architektonischen Sphäre. Man könnte hier ein Heide werden vor Andacht. Nach einem solchen Besuche muß man Schillers „Götter Griechenlands,“ lesen. – In der grandiosen Römerhalle sehen wir, wie die idealen Gesichter und Gestalten statt der griechischen eine Römernase bekamen, menschlicher werden oder Griechenland copiren, bis ein römischer Kaiser in dem elenden Stolze seiner Weltherrschaft einem Gottheitsbilde den Kopf abschlägt, um seine Büste darauf zu setzen. Das hieß „von Gottes Gnaden“ zu stark mißbrauchen. Rom starb einen kläglichen Tod auf einem Jahrhunderte langen Krankenbette und dann starb es vor vier Jahrhunderten noch einmal als oströmisches Kaiserthum und noch kläglicher, so daß ihm seine jetzigen Wiederauferstehungsversuche schwerlich gelingen werden. – Der christlich-germanische Geist war auf die Weltbühne getreten. Sehen wir in der Halle des Mittelalters und in unzähligen wegen ihrer Größe anderweitig placirten Denkmälern, wie er an gothischen Spitzbogen und in klösterlicher Andacht, an Heiligenbildern und Strebepfeilern über das entgötterte Irdische hinauszuklimmen und den Himmel zu erreichen sucht, der sich ihm so weit, so unerreichbar da oben ausspannt mit seinen Engeln und Heiligen. Dem Oriente war dies zu hoch und unbequem; er machte sich deshalb das Christenthum irdisch zurecht. So entstand der Muhamedanismus, der in seiner irdischen Pracht, Verschwendung und lebhaften Farbenfülle so anschaulich in seiner Halle uns umgiebt, daß man meinen sollte, man könne ihn hier ordentlich verstehen lernen und so die „orientalische Frage“ befriedigend lösen.

Die mittelalterlich-christliche Kultur konnte sich mit ihrer Zerspaltung und Auseinanderreißung von Himmel und Erde eben so wenig halten, wie es der versinnlichte Muhamedanismus vermag. Deshalb ließ man von Italien aus das heitere Griechenland wieder auferstehen, um die Erde wieder schön zu machen. Durch einige Mittelstufen drang dieser aus dem Alterthum neu belebte Geist auch in einen wittenberger Mönch. Und so platzten die Geister und bald auch die Schwerter „auf einander,“ um eine ganze tausendjährige Kultur zu verwüsten und eine neue zu schaffen. Die neue Kultur, insofern sie sich in der Plastik und Architektur verkörperte, findet zunächst in einer italienischen Halle ihren Tempel, den Michel-Angelo’s Riesengestalten als hohe Priester dieses neuen Kultus beherrschen.

Die neue Sculptur, durch den großen Krystallpalast reichlich vertreten, zeigt hier, daß sie durchaus nicht so arm ist, als sie verschrieen war. Canova’s, Thorwaldsen’s, Rauch’s, Tiek’s, Schwanthaler’s und mancher Franzosen und Italiener in Marmor vergöttlichte moderne Ideen sehen uns vertraulicher, individueller, anatomisch richtiger und physiologisch wahrer an, als die Bewohner den Olymp. Die moderne Sculptur ist im Krystallpalaste so umfassend reich vertreten, daß man sich hier vielleicht zum ersten Male wirklich von der höhern Schönheit der modernen Sculptur gegen die griechische überzeugen kann. Alle die berühmten klassischen Darstellungen der Schönheit des weiblichen Körpers unter dem Namen Venus – haben sich hier versammelt. Die modernen mit den Grübchen in den Backen sind offenbar schöner, als die mediceische. Einige schlafende oder in muskulöser Thätigkeit aufgefaßte nackte Männergestalten sind offenbar nicht nur wahrer, sondern auch schöner, als der Apollo von Belvedere. (Ich kehre mich nicht daran, daß mich hier jeder schulgerechte Aesthetiker von vorn herein ohne weitere Untersuchung als einen Ketzer verurtheilen [279] wird.) Der Triumph moderner Sculptur ist das – Portrait. Man muß die „Walhalla“ des Krystallpalastes sehen, um das zu glauben. Was sind die Zeusstirnen und Apollogesichter gegen Goethe’s, Shakespeare’s, Lessing’s, Friedrichs des Großen, Napoleon’s, Washington’s und von 300 andern berühmten Männern, die hier neben einander stehen und durch ihre bloße Schädel- und Gesichtsbildung sich als Werkstätten der tiefsten Gedanken und höchsten Ideen ankündigen? Es ist mehr als ein phrenologischer Genuß, zwischen diesen Stirnen, aus denen die Minerven der modernen Civilisation gegen Censur und Polizei hervorsprangen, hin- und herzuwandern.

Die getreue Copirung des maurischen Alhambra-Palastes und eines pompejanischen Hauses können wir kaum erwähnen, ohne das Gefühl, uns zu versündigen, daß wir ihnen nicht drei Bogen widmen. Wir wollen die Sünde durch ein Frühstück, das wir darin einzunehmen gedenken, sühnen. Sie dienen nämlich zugleich als Erfrischungs-Hallen der „Weltmasse“, in dem „Völker-Bazaar“ zur Ausstellung und zum Verkaufe von Industrie- und Kunstartikeln aller Völker gewidmet sprechen wir uns noch besonders, wie wir auch außerdem den Industrie-Hallen, welche die andere Hälfte des Krystall-Palastes hinter dem Hauptschiffe einnehmen, der Halle für Schreibmaterialien (im weitesten englischen „Stateonery-“Sinne), den Eisen-Hallen von Sheffield und Birmingham, dem Musiktempel, der Kirche für Kattune und Callicos, dem Palaste für Sammet und Seide (nach einem Entwurfe des Professor Semper aus Dresden) und dem Saale für Meubles wohl noch besondere Aufmerksamkeit schuldig sind.

So sehen wir uns wohl eines Montags, Dienstags, Mittwochs oder Donnerstags (wo die Reise von London hin und her und Entree zusammen 1 Shilling 6 p. kostet, Freitags das Doppelte, Sonnabends für geldstolze Leute das Vierfache) wieder in diesem Leib und Leben gewordenen Universal-Lexikon.

Wer die zehnte Auflage des Brockhaus’schen und die zweite des Paxton’schen aus- und inwendig kann, der kann sich mit gutem Gewissen zu den „Beiden“ stellen, die „auf der Menschheit Höhen stehen.“
Beta. 




Homöopathie und homöopathische Gaben.

Samuel Hahnemann, im Jahre 1755 zu Meißen geboren und 1843 zu Paris gestorben, gründete (um das Jahr 1796) ein Heilsystem, welches er homöopathisches taufte, weil er Aehnliches mit Aehnlichem heilen wollte, d. h. die Krankheiten durch solche Arzneimittel kuriren, welche in einem gesunden Körper ähnliche Erscheinungen hervorriefen, wie die der Krankheit sind. Denn homoios (ὅμοιος), ein griechisches Wort, heißt ähnlich und pathos (πάϑος), das Leiden. Um nun aber die schon kranken Organe durch diese Arzneimittel nicht etwa noch mehr zu incommodiren und kränker zu machen, gab er seine Arzneien in so äußerst kleinen Gaben, daß eine Berechnung dieser Verkleinerung dem Leser Spaß machen und ein helles Licht auf die Verstandeskräfte derjenigen werfen muß, welche an die Wirksamkeit solcher Gaben (die sogar monate- und jahrelang hinaus dauern soll) wirklich glauben können. Doch zuvor erfahre der Leser, wie Hahnemann zur Kenntniß der bei den Krankheiten passenden Arzneimittel gelangte. Einem Menschen, der scheinbar gesund war, gab man irgend Etwas ein und nun wurde Alles, was diesem Menschen in der nächsten Zeit passirte und wo die Ursache nicht geradezu in die Augen sprang, dem Mittel zugeschrieben, dieses Mittel aber dann als Heilmittel gegen solche abnorme Zustände einregistrirt, welche den nach dem Einnehmen des Mittels folgenden Erscheinungen ähnlich waren. Z. B. man genießt nur ein winziges Bischen von einem einzigen Caviarkörnchen und merkt dann hinterher Zucken an Mittelfinger und Neigung zum Schlafe, man träumt von der Pepita und stöhnt dabei dreimal u. s. w., so würde diese Mittel heilsam beim Pepitatraume, dreimaligen Stöhnen im Schlafe, Mittelfingerzucken etc. sein. Sollte etwa Jemand glauben, daß dieser erdichtete Unsinn ein unpassendes Gleichniß für die homöopathischen Arzneiversuche wäre, so lese er nur in Hahnemann’s und seiner Schüler Werken und er wird von der Wahrheit des Gesagten überzeugt werden. Wie wär’s denn sonst auch möglich, daß der homöopathische Arzt gegen fast Alles, was nur im menschlichen Körper Absonderliches vorgeht, ein Mittelchen haben könnte. Verordnete doch kürzlich erst ein Homöopath einem jungen Mädchen meiner Bekanntschaft, damit sie nicht so schnell wachse, Ignatiusbohne in homöopathischer Gabe, und daß durch solche Gaben unheilbare Krebsübel und Schwindsuchten in kurzer Zeit heilen, sterbende Cholerakranke in einigen Stunden munter und gesund sein, hirnarme Blödsinnige kluge Leute werden sollen u. s. f.; das muß man leider oft gerade genug behaupten hören. Doch jetzt zur homöopathischen Gabe.

Die Zubereitung der homöopathischen Medicamente, durch welche die decillion- und vigintillionmal verdünnt werden können, geschieht so, daß man einen Tropfen einer Tinktur mit 100 Tropfen Wassers oder Alcohols durch kräftiges Schütteln vermischt und nun von dieser Lösung 1 Tropfen wiederum in 100 Tropfen Wassers fallen läßt und dies dann 30 bis 60 Mal so fortsetzt. Auf diese Weise enthält die 1ste Verdünnung 1/100 eines Tropfens, die 2te 1/1000, die dritte einen Millionstheil, die 4te einen Hundert-Millionstheil, die 5te einen Tausend-Millionstheil, die 6te einen Billionstheil, die 9te einen Trillionstheil, die 12te einen Quadrillionstheil, die 15te eine Quinquillionstheil, die 18te eine Sextillionstheil, die 30ste einen Decillionstheil (eine Decillion wird bekanntlich durch eine 1 mit 60 Nullen geschrieben) und die 60ste einen Vigintillionstheil. Mit der Verdünnung steigt nach der Ansicht der Homöopathen die Wirksamkeit des Mittels. – Nehmen wir nun einmal an, die Theilbarkeit der Körper erstrecke sich wirklich so weit als die homöopathischen Verdünnungen gehen, so läßt sich von der Größe dieser Verdünnungen nur dann eine richtige Vorstellung machen, wenn man sich die Größe des Wasserbehälters veranschaulicht, der den einen Tropfen Tinctur aufnehmen muß, wenn er Decillionmal verdünnt werden soll. Dächte man hierbei an Seen, an den großen Ocean oder an eine Wasserkugel von der Größe des Erdballs, so würde man soweit von der Wahrheit abweichen, daß man ausgelacht zu werden verdiente. Die Rechnung, durch welche die Größe einer Wasserkugel für die decillionste Verdünnung bestimmt werden kann, ist nun aber mit Hülfe der Logarithmen keineswegs schwierig.

Nimmt man an, daß durchschnittlich 600 Tropfen auf das Volumen eines sächsischen Cubikzolls und 13,100 sächsische Ellen auf die Länge einer deutschen Meilen gehen, setzt man ferner den Durchmesser des Erdkörpers zu 1719 Meilen und den Cubikinhalt der Erde zu 25559,700000 Cubikmeilen voraus, so würden erst 20,163000,000000,000000,000000,000000 Erdkörper die Größe der verlangten Wasserkugel darstellen. Gegen eine Wasserkugel von dieser Größe wurde selbst der Umfang eines ganzen Planetensystems oder Sonnengebietes als etwas Unbedeutendes erscheinen. Denn setzt man die Entfernung des Uranus von unserer Sonne in runder Zahl auf 400 Millionen Meilen und nimmt man beispielsweise an, daß die Wirksamkeit der Sonne sich nach allen Seiten hin selbst auf das Hundertfache einer Uranusweite erstrecke, so findet sich, daß der Halbmesser dieses kugelförmigen Sonnengebietes in dem Halbmesser jener berechneten Wasserkugel volle 584 Mal enthalten ist, und daß folglich, da die kubischen Inhalte zweier Kugeln sich zu einander wie die Würfel ihrer Halbmesser verhalten, für 200 Millionen Sonnengebiete in jener Wassermasse Raum sein würde. Man muß Fixstern-Entfernungen zu Hülfe nehmen, um mit Zahlen, die weniger beschwerlich durch ihre Größe sind, Räume von jener Ausdehnung sich zu vergegenwärtigen. Die Entfernung des Sirius dürfte nicht leicht mehr als 10 Billionen Meilen betragen. Nimmt man diese Zahl als Einheit zum Maßstabe, so stellt sich die Länge des Halbmessers jener Wasserkugel (mit der decillionsten Verdünnung des Tropfens) zu beinahe drittehalb Siriusweiten dar. Und von einer solchen Verdünnung der sogenannten Kockelskörner sah Hahnemann Lähmung der ganzen linken Körperhälfte eintreten. Diese Spielerei Hahnemann’s mit Zahlen läßt sich auch noch deutlich aus folgender Berechnung (von Brandes) [280] erkennen. wenn ein Arzt seit Adam’s Zeiten allen lebenden Menschen in jeder Secunde einen Quintillionstheil eines Granes irgend eines Arzneimittels gegeben hätte, so würde dennoch der ganze Verbrauch bis jetzt noch nicht auf ein Tausendtheil vom Milliontel eines Grans sich belaufen.

Durch solche Berechnungen seiner Gegner auf das Lächerliche seiner Verdünnungen aufmerksam gemacht, behauptete endlich Hahnemann, – da er sich denn doch schämte, eine durch die Verdünnung hervorgerufene Steigerung der chemischen und physikalischen Eigenschaften der Mittel als Erklärungsgrund so eminenter Wirkungen zu gebrauchen und er doch die Wirksamkeit der so verdünnten Arzneimittel nicht aufgeben wollte, – daß durch diese Verdünnungen die Mittel entkörpert würden und zu lauter arzneilichen Geistern aufgingen. Ueber die Macht dieser Geister weiter noch zu reden wäre ebenso thöricht, wie Jemanden von dem kindischen Glauben an das übernatürliche Wissen der Tischklopfgeister und der Somnambülen oder Magnetisirten, die sogar mit dem Bauche lesen sollen, abbringen zu wollen. Nur trauern kann man darüber, daß eine Menge der Geschöpfe, welchen von Natur so viel Materie zum Verständigwerden gegeben, in Folge verkehrter Erziehung so entsetzlich unverständig ist.
(B.) 




Pariser Bilder und Geschichten.
Das Proletariat.
Die Stadt der Proletarier. - Minister Persigny. - Das Elend des Proletarierthums. – Die Geschichte eines jungen Mädchens. – Der Pariser Arbeiter. – Verhältniß zwischen Arbeitgeber und Arbeiter. – Die alten Arbeiter und ihr Ansehen.

Paris ist so recht eigentlich die Stadt der Proletarier, es ist der Mehrzahl nach von Leuten bewohnt, die nichts haben, als ihre brennenden Wünsche zu besitzen und zu genießen, ihre Projekte, ihren Ehrgeiz, ihre Fähigkeit und – ihre Illusionen. Paris ist eine heiße gefährliche Arena, in die sich Tausende und aber Tausende von Wettkämpfern stürzen, um den Preis zu gewinnen. Wie Wenige werden gekrönt, wie Viele unterliegen der Mühseligkeit des Kampfes, und über die zu Boden Gestreckten brausen erbarmungslos die Sieger, die andern Kämpfer.

In Paris fängt das Proletariat in den Dachstuben an und hört in den glänzendsten Salons nicht auf. In allen Höhen und in allen Tiefen dieser ewig bewegten Gesellschaft dieselbe Unzufriedenheit, dieselbe Unruhe, dieselbe fieberhafte Gier nach einer bequemen gesicherten Lage, derselbe Durst nach Geld, dem Götzen, der mächtiger ist als Jugend und Schönheit, Verdienst und Talent, da er sie hier doch alle entthront, die ursprünglichen Gottheiten der schönen Erde. Das erste Lallen des Kindes, das letzte Stöhnen des Greises ist: Geld!

Den eigenthümlichen Charakter, seine kochende Leidenschaft und fieberhafte Kraftanstrengung, das Wirbelhafte des Lebens, die heftigen Reibungen und Anstöße der arbeitenden Elemente erhält Paris schon aus der Art und Weise, wie es sich bevölkert und durch die Natur des Franzosen, der heißblütig, von lebhafter Phantasie, zu heftigen Anläufen geschaffen, der Ausdauer ermangelt und nie erreicht, was er nicht rasch gewinnt, den ein stilles genügsames Leben so sehr langweilt, daß er den Sturz in die Brandung, den Kampf mit dem Strom und Wellen, der ruhigen Ansiedelung am Ufer vorzieht.

Paris bevölkert sich nur sehr wenig durch sich selbst, sondern zieht zum größten Theil aus den Provinzen seine Einwohner. Und es übt wahrhaftig nicht auf die bescheidensten geordnetsten Naturen seine größte Anziehungskraft.

Das Mädchen, welchem seine häuslichen Verhältnisse drückend oder ungenügend erscheinen, das beeinträchtigt, oder im Zaume gehalten wird, das Unrecht oder billige Zurückhaltung ungeziemender Neigungen erfährt, glaubt sich zu retten oder zu befreien, indem sie dem glänzenden Traume folgt, den sie von Kindheit an geträumt: sie eilt nach Paris; die Arme folgt mit Wahnsinnsschauern diesem dunkeln Verhängniß, das[WS 1] sie zurückschreckt, aber doch noch mächtiger anzieht. Nun kann sie ungescheut all ihren Trieben folgen. Ueberall offene Wege; an welches Ziel wird sie gelangen, nachdem sie mit dem Kreis gebrochen, der sie beschränkt, aber auch geborgen?

Eine Andere sieht sich in ihrem Dorfe oder Städtchen von der Gesellschaft nicht ohne Grund zurückgestoßen; sie geht nach Paris, wo sie für den Verlust der ehrbaren Gesellschaft sich durch eine andere, die sich gewiß nicht weigert, sie aufzunehmen, entschädigt.

Ein ungerathener Sohn in der Provinz, der der strengen Zucht seines Vaters und der Arbeit entrinnen will und der sich Genie genug zutraut, um in der großen Welt sein Glück zu machen, jagt mit Dampfesschnelle nach Paris.

Der Spekulant, der hoch hinaus will und die Beschränktheit der Mittel auf dem Lande als ein Hemmniß seiner Laufbahn betrachtet, eilt nach Paris, dem Mittelpunkte der Unternehmungen.

Wer moralisch oder materiell, schuldig oder unschuldig, so tief herabgekommen, daß er in seiner Umgebung auf keine hülfreiche Hand, weder auf Theilnahme noch auf Vertrauen für sein Leben mehr zählen kann, der setzt Alles auf die letzte Karte; er geht nach Paris, um entweder emporzukommen oder in der Seine zu enden.

Jeder der verdient oder unverdient in Verruf gekommen, der entweder mit sich oder mit der Gesellschaft oder mit beiden zu grollen Ursache hat, der entweder Unrecht gethan oder erlitten; wer nur immer aus den Geleisen des gewöhnlichen Lebens durch sein eigenes Wesen oder durch ein Geschick hinausgezogen wird, was die kleineren Gemeinschaften der Provinz nicht dulden oder nicht verzeihen, der sucht sich in Paris weitere Kreise und freieren Athem.

Der Denker, der Forscher, der Träumer, der Künstler, Jeder, der einen großen Gedanken oder eine große Leidenschaft, eine große Fähigkeit oder einen großen Charakter an sich trägt, für die es nicht Raum genug giebt in der engen Welt der Provinz, die Thier’s, die Lafitte’s, die Hugo’s, die Lamennai’s, die Arago’s, die ziehen nach Paris, um ihr Kapital zu finden, Ehren, Ruhm und Einfluß zu gewinnen.

So rekrutirt sich das Proletariat und so aus diesem wieder die Welt von Einfluß und Gewicht.

Der Minister Persigny, um nicht noch höher emporzusteigen, hat vor wenigen Jahren bei Herrn Havas in der Straße Jean Jacques Rousseau für 100 Franken monatlich lithographirte Berichte abgeschrieben, glücklich auf diese Weise sein Leben zu fristen. Heute sind sein Gehalt und seine Ansprüche um ein Bedeutendes gesteigert. Der ehemalige Proletarier hilft nun das Schicksal Frankreichs lenken.

Das Elend des Proletarierthums hat seine Abstufungen. Eins jedoch ist gewiß, daß keine Entbehrung mächtig genug ist, der Anziehung der Hauptstadt an der Seine das Gleichgewicht zu halten.

Ich kannte ein junges Mädchen, das aus Sens gebürtig, nach Paris gekommen war, um sich da durch Arbeit zu ernähren; sie hatte ihr väterliches Haus verlassen, weil sie einen Heirathsantrag zurückgewiesen, zu dessen Annahme man sie durch Hinweisung auf eine reichliche Versorgung veranlassen gewollt. Ihr Vater hatte ihr die ernste Vorstellung gemacht, daß sie mehrere jüngere Geschwister habe und seine Verhältnisse nicht günstig genug seien, um ohne drückende Beschwerde den Unterhalt der Seinigen zu bestreiten: daß sie also kein Recht habe, ein Glück von sich zu weisen, das nicht nur ihr selbst, sondern der ganzen Familie zu Gute käme. „Wenn es sich blos um die Last handelt, welche ich Ihnen auflege, von der kann ich Sie befreien, ohne daß ich mich zu einer Verbindung hergebe, die meinem Geschmack und meinem Herzen widerstrebt. Ich habe die nöthige Geschicklichkeit und den nöthigen Muth zur Arbeit. Ich werde mich so gut wie jede Andere selbst erhalten. In den nächsten Tagen gehe ich nach Paris, da werde ich mein Glück schon machen;“ so antwortete das [281] Mädchen. Ihre Aeltern, welche sie im Grunde lieb hatten, boten zwar Alles auf, sie von ihrem Vorsatze abzubringen, allein das Mädchen blieb unerschütterlich.

Kaum 18 Jahre alt, kam sie ganz allein nach Paris; sie miethete anfangs ein leidliches Zimmer und da sie hinlängliche Fertigkeit im Nähen besaß, suchte sie dieselbe zu verwerthen. Es gelang ihr, nach kurzem Aufenthalt, hinlänglich Aufträge und Beschäftigung zu erhalten. Da sie aber durch zwölf Stunden anstrengender Arbeit nicht mehr denn 11/2 Franken täglich gewann, mußte sie ihre halbwegs bequeme Wohnung aufgeben, die zwanzig Franken monatlich kostete, weil sonst die Einnahme für den nothwendigsten Bedarf nicht reichte. Das Mädchen miethete ein Dachstübchen von so kläglicher Konstruktion, daß sie in demselben nicht aufrecht stehen konnte, nicht zu reden von dem kargen Licht, das nicht geeignet war, ihr die Arbeit zu erleichtern, von der erstickenden Hitze im Sommer, von der erstarrenden Kälte im Winter. Obgleich an ein angenehmes, leichtes Leben von Haus aus gewöhnt, unterzog sich das arme Geschöpf den furchtbaren Beschwerden mit einer Geduld, mit einer Entschiedenheit, die gewiß Bewunderung verdienen. Die Blüthe der Jugend verblaßte auf ihren Wangen. Die schlechte, spärliche Nahrung, die Arbeit und die dumpfe Luft der engen Stube wirkten nachtheilig auf ihre Gesundheit; sie litt ab und zu an einem Augenübel, dessen Grund ebenfalls in dieser Lebensweise zu suchen war; allein das Mädchen ließ sich nicht entmuthigen; sie dauerte aus, wie eine echte Heldin, ohne Klage, ohne Prahlerei, und in den Briefen an ihre Aeltern, welche sie mir zeigte, las ich die Versicherung ausgesprochen, daß sie sich ganz wohl befinde.

Wenn ich ihr sagte: „Aber, Fräulein Julie, wäre es denn nicht besser, sie wären ganz offen mit ihren Aeltern, geständen ein, in welcher Lage sie sich befinden, und trachteten, wieder heimzukommen an den väterlichen Herd, wo es für Sie am besten ist, wo Sie Ihre leidende Gesundheit wieder herstellen und das behagliche Leben wie ehemals fortführen könnten?“

Antwortete sie mir: „Was fällt Ihnen ein. Wenn man sich ein Schicksal wählt, muß man es auch ertragen können; ich habe eine Versorgung ausgeschlagen; ich muß meinem Vater beweisen, daß ich dazu ein Recht gehabt. Ich strecke nicht so leicht wie Sie meine Waffen. Ich habe so gut meinen Stolz, wie ein Anderer.“

So war Julie und in der That war der Stolz in ihrer verzweifelten Lage ihr guter Engel; ihr Stolz stand wie ein Wächter vor ihrer Seele und ihrem Herzen und wehrte jedem schlimmen Gedanken, sogar jedem bittern Gefühle den Eingang. Sie war fast immer heiter bis zur Lustigkeit; und wenn sie ein kleines Vergnügen sich zu verschaffen Gelegenheit hatte, genoß sie es so ganz und mit solcher Hingebung, als gäbe es für sie keine Sorge in der Welt.

Mir aber beengte es die Brust, wenn ich dieses Opfer der selbstgeschaffenen Marter sah.

Und nach langer Bemühung gelang es mir, eine Stelle für dieses würdige unglückliche Geschöpf bei einer anständigen, wohlhabenden Familie zu Amiens zu finden.

Mit welcher freudigen Eile hinterbrachte ich der Arbeiterin die frohe Botschaft.

Sie aber frug mich gedehnt, indem sie kaum von der Arbeit aufblickte: „Wo ist, sagen Sie, der Wohnort dieser Familie?“

„Zu Amiens,“ antwortete ich.

„Wo liegt das?“ frug sie weiter.

„In der Picardie.“

„Wie weit von Paris?“

„Kaum eine halbe Tagereise per Eisenbahn.“

„Es thut mir leid.“

„Was liegt daran, ob Sie etwas weiter oder weniger weit von Paris entfernt leben, wenn Sie nur gut aufgehoben und gut gestellt sind.“

„Sie haben vollkommen recht, etwas näher oder weiter, das bleibt sich gleich.“

„Ich habe mir, offen gestanden, die Aufnahme meiner Nachricht lebhafter gedacht!“

„Verzeihen Sie; ich bin Ihnen wirklich von Herzen dankbar für Ihre freundliche Absicht und Bemühung, allein ich mag Paris nicht verlassen.“

Ich blickte erstaunt auf. Das unglückliche Geschöpf, wie es vor mir saß, über die Arbeit tief herabgebogen, die Augen geröthet, blaß mit eingefallenen Wangen, die magern Hände in unablässiger Thätigkeit, dem unsäglichen Elend verfallen und von noch größerem bedroht; ich traute meinen Ohren kaum, als ich sie einen Antrag zurückweisen hörte, der ihr Erlösung von so viel Kümmernissen und Beschwerlichkeiten versprach.

„Aber um des Himmels Willen“ rief ich, „was haben Sie denn unter solchen Verhältnissen von Paris?“

„Das weiß ich selbst nicht so recht. – Paris“ – antwortete sie ganz ruhig.

„Fühlen Sie es denn nicht, daß Sie Ihre Gesundheit aufreiben?“

„Wenn ich nicht lange zu leben habe, so ist das ein Grund mehr hier zu bleiben. Ich will wenigstens noch die kurze Zeit genießen.“

„Genießen!“ wiederholte ich mit einer seltsamen Betonung, indem ich das Mädchen mitleidig anblickte.

„Wie ich Ihnen sage, das verwundert Sie, weil Sie noch nicht nachgedacht haben, wie viel Annehmlickkeiten man in Paris findet, die Einem entgegenkommen, ohne daß man sich um sie zu bemühen braucht.“

„Welche sind diese?“

„Rechnen Sie für nichts, was man Alles sieht, wenn man ausgeht um Arbeit zu holen oder wegzutragen. Die schönen Häuser, die Boulevards, die geputzten Menschen und reichen Auslagen. Und dann, wie fein und höflich hier Einem ein Jeder entgegenkommt, wo Sie was kaufen oder Arbeit liefern, und wie sich doch Niemand um Sie und um ihre Verhältnisse kümmert, und wie Sie mit Ihrer Armuth eben so gut, wie mit Ihrem Wohlstand nach Ihrem Belieben leben können, ohne daß Sie sich zu schämen brauchen oder deshalb Geringschätzung erfahren. Das ist Alles mehr werth als ein gutes Auskommen. Und das hat man hier auch mehr Gelegenheit als anderswo zu finden. Es giebt hier so viele Straßen, durch die das Glück zu Einem kommen kann.“

„Aber auch das Unglück,“ murmelte ich kaum vernehmbar und unterließ jede weitere Einwendung gegen den Entschluß der Nätherin, von welchem sie abzubringen, ich keine Hoffnung hatte.

So wirkt Paris. Wie die Flamme auf den armen Falter, die ihn anzieht und tödtet.

Der Charakter der armen Nätherin war von spröderem Stoff, als viele ihrer Schwestern. Sie blieb in ihrer Dachstube, während die meisten Andern in Abgründe sinken, aus denen kaum wieder ein Emporkommen möglich ist. Julie hat wirklich ihr Glück gemacht. Ein arbeitsamer Mann lernte sie kennen und ihren Werth schätzen, was zu einer ehelichen Verbindung führte, die so gedeihlich ausfiel, als man es in Paris nur erwarten kann, wo der Boden nicht sehr günstig für ein bescheidenes häusliches Leben ist.

Wie das Proletariat in Paris nach oben hin die eigentlich schaffenden, hervorbringenden, in Kunst, Wissenschaft und Politik wirksamsten Kräfte liefert, so setzt es nach unten hin den Schlamm, den Bodensatz der Gesellschaft ab und giebt den verschiedensten Gerichtshöfen fortdauernde Beschäftigung. Der untere Theil des Proletariats fristet sein Leben durch Verbrechen. Die Meisten dieser Classe sind in steter Flucht vor der Polizei, von der sie unablässig beaufsichtigt und verfolgt werden und mit der sie an geistreichen Erfindungen, an List und Verschlagenheit wetteifern. Sie bilden mit der Polizei zwei feindliche Elemente im fortwährenden Kampf miteinander, der sehr häufig zu einer Art schlauen Schachspiels wird. Angriff auf der einen, Abwehr auf der andern Seite mit der scharfsinnigsten Berechnung. – Wir werden auf diesen Krankheitsstoff der pariser Gesellschaft bei einer anderen Gelegenheit des Ausführlicheren zurückkommen.

Zwischen diesen äußersten Polen in der Mitte ist der eigentliche Arbeiter, der durch Kraft und mechanische Geschicklichkeit seinen Unterhalt gewinnt. Der pariser Arbeiter hat sein ganz besonderes Gepräge. Zunächst verleiht ihm das Gefühl der Gleichheit, die in Frankreich wie in gar keinem andern Lande – ich nehme selbst die vereinigten Staaten nicht aus – eine Wahrheit geworden, eine Sicherheit und Unbefangenheit des Auftretens, die ihn vor seinen Brüdern anderswo merklich unterscheidet. Dem pariser Arbeiter ist jede Demüthigung erspart, folglich auch jede Erbitterung benommen. Der Groll des Zurückgesetzten ist ihm fremd. Darum [282] ist er höflich, fein, geschmeidiger; ohne Anmaßung und Kriecherei. Er ist so recht eigentlich der Schmied seines Schicksals; denn er hat keine Schichten zu durchbrechen, die drücken und hemmen, um emporzukommen.

Tauscht er eines Festtags wegen, oder wegen einer dauernden Glückswendung die Blouse gegen den Ueberrock um, so gilt er so viel wie jeder Andere und sein Fünffrankenstück, das er in der Tasche trägt, hat denselben Werth, wie das des hochgestelltesten Mannes. Darum liegt auch für ihn wie für die ganze übrige Gesellschaft in diesem klingenden Vorzug das Geheimniß der Geltung. Das weiß und fühlt der pariser Arbeiter genau. Darum dieselbe krankhafte Sucht nach Erwerb bei ihm, wie bei den Andern; darum die grenzenlose Habsucht, die nur durch das Streben nach Vergnügen und Genuß geschwächt wird. Er ist rasch und geschickt bei der Arbeit; allein es ist ihm ein Bedürfniß zwei bis drei Tage der Woche in Müssiggang und Wohlleben mit lustiger Gesellschaft zu verbrausen, wodurch seine ökonomischen Verhältnisse bedeutend zerrüttet werden, da er in diesen Freudentagen nicht selten den Gewinn der ganzen Woche todtschlägt. Ueberhaupt hat der pariser Arbeiter, damit an der Gleichheit ja nichts fehle, die Laster und die Lebensart der mehr begünstigten Classen angenommen. Er hat seine besondern Viertel, seine besondere Kneipe, seine besondern Kaffee- und Gasthäuser, seine Liebschaften. Er hat seine traurigen Familiengeschichten, seine häuslichen Zerrüttungen, dieselbe Zügellosigkeit der Begierden und Leidenschaften, kurz, er treibt Alles, auch die Liederlichkeiten, mit seinen beschränkten Mitteln und im verjüngten Maßstabe, wie man es in der großen Welt treibt. Es geht in gewisser Beziehung im 7. und 12. Arrondissement eben so locker zu, wie am Hofe Ludwig XV., nur daß der Glanz fehlt und die Mittel anderen Charakters sind.

Der pariser Arbeiter hat die unvertilgbare Fröhlichkeit, die dem französischen Charakter eigen, er weiß sich anmuthig und fein zu benehmen, ja mit Geist und Witz das Wort zu gebrauchen; er ist sehr galant gegen das schöne Geschlecht, ohne daß er jedoch von der tiefgehenden Verehrung der Frau, die der Deutsche mehr fühlt als ausdrückt, einen Begriff hat. Wenn man ihm einen Frack anzieht, wird er sich mit mehr Leichtigkeit in einem Salon bewegen, als mancher Commerzienrath, der sich nicht wenig auf sein feines Benehmen zu Gute thut. Einen Vorzug hat der Arbeiter vor den übrigen Classen der Bevölkerung, daß ihm die Mühseligkeit der Arbeit mehr Muth und Thatkraft verleiht, als die Entnervung den Andern übrig läßt.

Der pariser Arbeiter steht seinem Patron nicht etwa wie der Diener dem Herrn gegenüber; sie behandeln sich gegenseitig mit nüchterner Höflichkeit und sie betrachten sich wie zwei Geschäftsleute, welche mit einander, laut getroffener Uebereinkunft, Arbeit und Geld austauschen. Selbst ein Diener ist hier bei weitem nicht so erniedrigt, wie anderswo. Das gänzliche Sichaufgeben seiner Persönlichkeit, wie ich es oft gesehen, kommt hier gar nicht vor, und ein französischer Diener betrachtet sich als ein Individuum, dem man seine menschliche Würde schonen muß. Ich weiß von dem Fall, daß ein Diener augenblicklich ein Haus verließ, weil ihm die Hausfrau auf ihrem schon benutzten Teller zu essen geben wollte. Diese Frau war eine Deutsche. Eine Französin hätte die Empfindlichkeit des Dieners von dieser Seite nicht zu verletzen gewagt. Diese einzige Frucht haben die politischen Umwälzungen getragen, daß der Franzose bei jeder Gelegenheit die menschliche Würde bei Andern respektirt und stets bei sich respektirt haben will. Dem gesunkensten Proletarier bleibt daher noch ein bischen Stolz, ein Funken bessern Geistes. Ganz verthiert sich nur selten ein Franzose.

Die ältern und verheiratheten Arbeiter, welche ein Leben voll der härtesten Prüfungen durchgemacht, sind schweigsam, abgeschlossen und in sich gekehrt, sie fliehen und verachten die Lustbarkeiten und Schwelgereien der Jüngern, sie liegen mit mehr Ernst der Arbeit ob, und treten nur bei besondern Gelegenheiten heraus aus ihrer dunkeln Zurückgezogenheit. Sie stehen in großem Ansehen bei ihren jüngern Kameraden und man betrachtet sie als die Träger der alten Traditionen. Die Regierung bietet Alles auf, diese finstern Männer zufrieden zu stellen, welche den Kern gewisser Vorstädte bilden.




Blätter und Blüthen.

Zur Leidensgeschichte eines Journalisten. Es ist schon Vielerlei über die Schwierigkeiten aller Art berichtet worden, mit welchen die von den größern politischen Zeitungen eigens nach dem Kriegsschauplatze im Orient geschickten Korrespondenten zu kämpfen haben, wenn sie ihre Aufgabe gehörig erfüllen wollen. Einer dieser Korrespondenten hatte sich am Bord des „Goldenen Vließes“ in Malta eingeschifft, und in der Times wird nun in folgender Weise mitgetheilt, wie es diesem Unglücklichen am Palmensonntage auf der Rhede von Gallipoli erging.

Das Goldene Vließ hatte am Sonnabende vorher sämmtliche mitgebrachte Truppen ausgeschifft. Unser Correspondent, der zu den Passagieren gehörte, war in die Stadt gegangen und hatte eine Wohnung gemiethet. welche bis dahin einer alten Griechin, fünf Kindern und einer Unzahl sehr kriegerisch gesinnten Hühnern und Gänsen zum Quartier gedient. In Betracht, daß es ihm nicht gelang, diese ganze Gesellschaft schnell genug zum Ausziehen zu bewegen, um ihm für den nämlichen Abend noch seine neue Wohnung einzuräumen, und auch von dem Wunsche getrieben, noch eine gute Nacht zuzubringen, entschloß er sich ein letztes Mal am Bord des Schiffes zu schlafen. Ein kluger Mann war’s jedenfalls, der zuerst gesagt hat, daß man nie am Bord eines Schiffes schlafen soll, wenn man am Lande schlafen kann. Dieser Grundsatz bewahrheitet sich in diesen Gewässern noch mehr als anderswo.

Kurz nach Mitternacht, während der Correspondent in süßem Schlafe träumte, erhob sich ein ziemlich heftiger Nordwind, das Goldene Vließ lichtete die Anker, wurde einige Meilen weit durch die Strömung fortgetrieben und gerieth, weit von den Dardanellen weg, nahe an die Küste Asiens. Der Kapitain hatte am Abend vorher vom General Befehl erhalten, in aller Frühe nach Malta zurückzusegeln, und als echter Marineoffizier war er nur auf die Mittel bedacht, die Reise so viel wie möglich abzukürzen. So kam es denn auch, daß als unser Correspondent, der das Versprechen erhalten hatte, in einer Barke an’s Land gesetzt zu werden, gegen sieben Uhr Morgens auf dem Verdeck erschien, außer der Überraschung sich nicht mehr am gleichen Platze zu befinden, auch noch zu seinem großen Leidwesen vernehmen mußte, daß die Befehle des Commandanten dahin gingen, ihn am Bord des nächsten Schiffes abzusetzen, indem es bei dem eingetretenen Winde und der Beschaffenheit des Meeres zu viel Zeit erfordern würde, um ein Boot vom Goldenen Vließ aus nach Gallipoli abzuschicken.

Diese Nachricht war nichts weniger als angenehm. Der Morgen war frisch, ein heftiger Nordwind verwandelte die ganze Dardanellenstraße in eine weißschäumende Masse und der von allen Seiten bedeckte Himmel ließ keine Hoffnung auf einen Sonnenstrahl übrig. Die weißen Minarets von Gallipoli traten, von dem dunkeln Gewölk gehoben, in der Ferne hervor, an beiden Ufern der Meerenge brachen sich hohe Wogen, und in nächster Sicht des Dampfers bemerkte man nur einige kleine Briggs und Schooner, welche mühsam gegen Wind und Meer ankämpften. Auf der schützenden Rhede von Gallipoli gelegen, gewahrte man außerdem die Schiffe der französischen Eskadre, doch mochte die Entfernung dahin über zwei Meilen betragen.

Als nächsten Fahrzeug fand sich eine ziemlich schwerfällig aussehende Brigg vor, welche ungefähr zweihundert Klaftern weg vom Goldenen Vließ vor Anker lag. Nicht ohne Schwierigkeit, denn Wind und Meer waren höchst ungünstig, gelang es, ein Boot am Fuß einer von dem Dampfer herabgelassenen Leiter zu bringen. Vier stämmige Bursche kamen indeß zu Stande und der Correspondent nahm neben ihnen mit seinem Gepäck Platz. In einigen Minuten befanden sie sich an der Seite der Brigg, die wie ausgestorben schien. Sechs Fuß ungefähr über dem Wasser und unter dem Geländer, welchen das Verdeck jedes Schiffes umgiebt, hing eine alte kaum noch brauchbare Barke. Die Mannschaft des Bootes ruderte auf diese Stelle zu, und sobald sie sich unter der alten Barke befand, warf sie das Gepäck des Korrespondenten hinein. Dieser selbst folgte einen Augenblick später nach und das Boot schickte sich wieder an, nach dem Goldenen Vließe zurückzukehren.

Da die Barke, in welche unser Correspondent, so zu sagen, geschmissen worden war, eine ziemliche Menge Wasser enthielt, so war seine erste Sorge, das Gepäck auf die Ruderbänke zu legen; hierauf versuchte er selbst auf das Verdeck der Brigg zu klettern. In dem Augenblicke, wo er das Ende eines Seiles ergriff, um besser empor zu klimmen, löste sich dieses, obschon es befestigt schien, von dem Verdeck los und fiel zu seinen Füßen nieder. Gleichzeitig richtete sich eine, durchaus kein Zutrauen einflößende Gestalt am Bord empor und ein häßlicher Mund ließ die Worte vernehmen: „Wir, Griechen! nichts Engländer! Fort, fort! Wir in Quarantaine!“ Der Correspondent theilte sogleich diesen Umstand dem Offiziere des Bootes mit, das ihn hergebracht hatte und welches noch in der Nähe gegen Wind und Wogen ankämpfte. Dieser erwiederte, daß er den Kapitain von der Sachlage unterrichten würde, mit welchem Troste er den unglücklichen Zeitungsschreiber zurückließ.

Der Zurückgelassene folgte unruhigen Blicks allen Bewegungen des ungastlichen Bootes, als er bemerkte, daß er die Zielscheibe der halb höhnischen, halb drohenden Blicke eines halben Dutzends Bursche war, welche ohne alle Phantasie für Piraten erster Klasse gehalten werden konnten. [283] Daß er vor Kälte zitterte, bis auf die Haut durchnäßt war und unaufhörlich in der zwischen Himmel und Erde schwebenden Barke von den Wogen überspült wurde, schien ihnen geradezu Vergnügen zu gewähren.

Das Boot, auf welches unser Engländer fortwährend den Blick ängstlich gerichtet hielt, erreichte endlich nach vieler Anstrengung das Goldene Vlies. Für ihn war dies ein Augenblick höchster Qual, und man kann sich denken, wie ihm zu Muthe wurde, als er einige Minuten später das Boot an seiner gewöhnlichen Stelle hängen sah. Noch mochte er sich nicht zu dem Glauben entschließen, daß nur einigermaßen gefühlvolle Menschen einen der Ihrigen in einer so kritischen Lage lassen könnten, und von Augenblick zu Augenblick erwartete er immer noch, eine gut bemannte Barke, zu seiner Abholung abstoßen zu sehen.

Die an ihren Ankern schaukelnde Brigg entzog momentweise das Goldene Vließ seinen Blicken, und jedes Mal wenn er das landsmännische Schiff so aus den Augen verlor, stellte ihm seine Einbildungskraft einen Theil der Matrosen mit den nöthigen Vorbereitungen, ihm zu Hülfe zu kommen, beschäftigt vor. Leider aber entdeckte sein Auge immer nur wieder die an ihren Seilen befestigte Barke, nebst allen Anzeichen, daß das Schiff weiter zu segeln im Begriff stand.

Als die Griechen die gleiche Wahrnehmung machten und bemerkten, wie der Correspondent vergeblich telegraphirte, wurden sie noch unverschämter. Mit höhnischem Lächeln deuteten sie auf das Meer, und schienen zu berathen, ob sie ihre Barke nicht losbinden und den Ankömmling darin den Wogen überlassen sollten; gleich darauf schienen sie sich jedoch eines Andern zu besinnen, zogen sorgfältig alle Seile zurück, die über das Schiff herabhingen und verschwanden.

Die Lage konnte nicht wohl mißlicher sein; die Kälte war empfindlich, jeden Augenblick gingen die Wellen über die Barke weg. Unser Held raffte seinen Muth zu einer letzten Anstrengung zusammen und an den die Barke haltenden Seilen gelang es ihm, bis an das Geländer des Verdecks emporzuklettern. Ein Matrose mit einer Pelzmütze und Schaffelljacke hielt ihn aber hier angelangt auf und erklärte ihm sehr kurz, daß er nicht an Bord kommen dürfe. Zur Noth hätten den Burschen offenbar sechs oder sieben andere unterstützt, welche auf dem Verdeck umherlagen, und sich bei Annäherung des Bootes einen Augenblick erhoben hatten. Es konnte mithin dem Correspondenten nicht in den Sinn kommen, Gewalt anzuwenden, und außerdem befanden sich seine Pistolen, wie dies gewöhnlich der Fall ist, wenn man ihrer bedarf, in einem seiner Reisesäcke eingepackt. Anderseits konnte er ebenso wenig am Geländer des Verdecks in der Schwebe hängen bleiben.

Demosthenes selbst, wenn er das italienische Patois verstanden hätte, in welchem die Verhandlung geführt wurde, würde nicht ohne Bewunderung und vielleicht nicht ohne Neid die pomphafte und prophetische Anrede gehört haben, welche der unglückliche Britte an seine Landsleute richtete. Diese aber blieben aller Beredtsamkeit unzugänglich, bis Einer von ihnen, der schlauer und berechnender als die Uebrigen war, plötzlich den Redner mit der Frage unterbrach: „Wie viel wollen Sie zahlen?“

Ein für die Erlaubniß das Verdeck zu betreten sofort angebotenen Goldstück brachte mehr Wirkung hervor als die herrlichsten Argumente; nach einigen Minuten, die unserm Correspondenten wie Jahrhunderte vorkamen, wurde das Anerbieten angenommen. Der Engländer zahlte das Geld aus und durfte hierauf das Verdeck besteigen; neue Gefahren erwarteten ihn jedoch hier. Die Griechen umringten ihn alsbald und mit wilden Grimmassen, die bei ihnen vielleicht für liebenswürdiges Lächeln galten, begannen sie seine Taschen zu befühlen und wußten bald aufs Genaueste, was sie enthielten; zugleich luden sie ihn ein, durch eine im Verdeck angebrachte Oeffnung hinunterzusteigen und sich in ihrem Salon auszuruhen. Ueber die Absichten, in denen diese gastfreundlichen Anerbietungen gemacht wurden, konnte kein Zweifel möglich sein, sie wurden daher entschieden zurückgewiesen und der unglückliche Correspondent entschloß sich zu einer letzten Appellation an das Goldene Vließ. Von Hunger und Müdigkeit dem Umfallen nahe, dazu halb erfroren, kletterte er so gut es ging auf das Bugspriet und ließ sein Schnupftuch in der Luft wehen.

Das Signal konnte von der Mannschaft des Dampfers ganz deutlich wahrgenommen werden, und wurde es zweifelsohne auch; allein man kehrte sich nicht daran. So lange ihr Gast oder vielmehr ihr Schlachtopfer das weiße Batisttuch schwenkte, welches den Seinigen seine Noth verkünden sollte, weilten die Griechen unbeweglich am Fuße des Hauptmastes, die Augen dem Dampfer zugewandt und in voller Erwartung, was dieser thun würde. Endlich schien sich das Wasser zu bewegen und das Hintertheil des Schiffes zu drehen; die Schraube begann ihre ersten Bewegungen, die nach und nach immer rascher wurden, und die Brigg weit hinter sich zurücklassend, fuhr der Dampfer die Dardanellenstraße hinab dem offenen Meere zu.

Die Griechen wechselten einige leise Worte untereinander, und während der Eine von ihnen hinauf mit bedeutungsvollem Lächeln nach dem sich immer mehr entfernenden Fahrzeug wies, sagte er: „Hollah, John, es ist keine Rede mehr davon; komm nur wieder herunter, wir sind ehrliche Leute! gut! sehr gut!“ Was aber diese Ehrlichkeitsversicherungen werth waren, erhellte schon aus dem Umstande, daß die Bursche bereits eine ihrem Gaste gehörige Kiste zu erbrechen begannen. Da es nur eine schwache Kiste war, so wurden die Griechen leicht damit fertig; die Plünderung begann also, und wenn einmal der Anfang gemacht war, so ließ sich kein Ende voraussehen. Der Correspondent verließ daher sofort seinen Posten auf dem Bugspriet und kam an’s Verdeck zurück, wo er seine Bitte erneuerte, um eine ihn an’s Land führende Barke zu erhalten. Die Griechen antworteten kopfschüttelnd mit Murren und Grunzen, was nichts Gutes andeutete. Sie umringten ihren unglücklichen Gast, und der Kreis, in welchem sich dieser eingeschlossen sah, wurde immer enger. Einer der verdächtigst aussehenden erfrechte sich endlich sogar, Hand an das schwarzlederne Etui zu legen, in welchem der Korrespondent sein Fernrohr umgehängt trug, und das Jenen Waffen zu enthalten schien. Der auf’s Aeußerste empörte Engländer stieß den Unverschämten mit der Faust zurück, und da das Schiff in demselben Augenblick stark schwankte, so strauchelte der Bandit an das Geländer hin. Nach seinem Dolche greifen und auf den Engländer unter fürchterlichen Flüchen losstürzen, war für den Strolch Sache eines Augenblicks; einer seiner Kameraden hielt ihn zwar noch zurück, allein da die Mehrzahl der Matrosen durch diesen Vorgang sichtlich noch übler gestimmt worden, so mußte der arme Journalist auf Alles gefaßt sein.

Plötzlich fiel ihm ein, wie ein Schiff von dieser Bedeutung doch durch einen, einer höhern Klasse angehörigen Mann, den er noch nicht gesehen hatte, befehligt werden müsse. Von diesem Gedanken ergriffen, bahnte er sich einen Weg durch die ihn umstehenden Kerle und eilte, ohne sie deshalb ganz aus dem Auge zu verlieren, nach dem Hintertheil des Schiffes. Die Andern sprangen ihm nach, da er jedoch vor ihnen an der nach der Kajüte führenden Treppe anlangte, so stieg er schnell hinunter und befand sich zu seiner Freude in Gegenwart des Kapitains, der auf einer Art Divan sich behaglich pflegte. Unser Correspondent begann sogleich die Ursache seines unerwarteten Erscheinens zu erklären, was er so gut wie möglich in italienischer Sprache that, wurde aber von dem Kapitain mit den Worten unterbrochen: „Sprechen Sie englisch, ich werde Sie besser verstehen.“ Der Kapitain sprach wirklich ein völlig reines Englisch, dem man kaum einen fremden Accent anhörte.

Als er die Ursache vernommen, weshalb der Britte sich so ohne alle Umstände in seiner Kajüte eingeführt, gerieth er in heftigen Zorn. Er müsse, sagte er, das offene Meer vor einer halben Stunde gewinnen, er sei von Konstantinopel ohne alle Papiere fortgejagt worden und könne, Dank den Franzosen und Engländern, durch das erste beste Kriegsschiff, das ihm begegnen möchte, als Pirat weggenommen werden; die Engländer hätten ihn und seine Leute ruinirt; sie hätten den Türken geholfen, seine Landsleute zu unterdrücken und zu ermorden, und gleichwohl wollten sie Christen sein; er gäbe keine Barke her um an’s Land zu fahren; übrigens könne er, selbst wenn er wollte, keine Barke hergeben; der Engländer habe mithin das Fahrzeug zu verlassen und seinen Weg, wie er könne, fortzusetzen; zum Schluße fügte er noch hinzu, wenn er Engländer wäre, so würde er lieber tausend Todesqualen ausstehen, oder sich von den Wogen verschlingen lassen, als ein griechisches Fahrzeug betreten oder Hülfe und Schutz von einem griechischen Seemann verlangen.

Die Aussicht, in’s offene Meer mitgenommen, dann vielleicht unterwegs erschlagen und in irgend einen Abgrund geworfen zu werden, drängte sich jetzt dem Geiste des Engländers sehr unangenehm auf. Der Wind brauchte nur günstig zu werden, so waren die Anker in einigen Minuten gelichtet und die Brigg flog mit vollen Segeln blitzschnell die Strömung der Dardanellenstraße entlang. Wer konnte alsdann ein Verbrechen hindern? Wer würde je sagen können, was aus dem unglücklichen Engländer geworden war, den der Kapitain des Dampfers am Bord eines in der Meerenge der Dardarnellen ankernden Schiffes um halb acht Uhr Morgens bei stürmischem Wetter hatte absetzen lassen? Gottes Auge allein wäre Zeuge den Verbrechens gewesen, das sich auf dem Verdeck dieser unbekannten Brigg zutragen konnte, und kein Arm, kein menschliches Gewissen wäre zugegen gewesen, um es zu verhindern oder die Bestrafung der Schuldigen anzubahnen.

Der Kapitaln hatte erklärt, daß er nicht mehr von dem Engländer sprechen hören wollte und ließ demgemäß alle an ihn gerichteten Fragen unbeantwortet. Nur einmal, als ihn der gepeinigte Journalist gefragt, ob er in England gewesen wäre, hatte er heftig versetzt: „Zu oft! Zu oft!“ Es blieb mithin offenbar nichts Anderes übrig, als den Gang der Begebenheiten abzuwarten. Die Leute von der Mannschaft hielten untereinander Rath, nach dessen Beendigung einer der Matrosen den Kapitain aufsuchte und mit demselben in eine lebhafte Erörterung gerieth. Ihre Blicke wendeten sich einem trotz des Nebels schon sichtbar werdenden Dampfschiffe zu, welches vom Marmor-Meere her in der Richtung von Gallipoli kam. Gleichzeitig schien sich ihre Aufmerksamkeit zu wiederholten Malen auf die näher befindlichen Fahrzeuge zu richten, die auf der Rhede lagen. Die Mannschaft schien begierig das Ergebniß dieser Unterredung zu erwarten.

Der Engländer hatte bemerkt, daß einige Flaschen Sherry aus seiner Lebensmittelkiste verschwunden waren und er zweifelte nicht daran, daß sie von den Matrosen getrunken worden; für den Augenblick jedoch nahmen ihn diese Kleinigkeiten weit weniger in Anspruch als das erwähnte Zwiegespräch, bei welchem jedes Wort mit lebhaften Geberden, funkelnden Augen und Fußstampfen, wie es unter in Zank gerathenen Personen vorkommt, begleitet war. Der Kapitain glaubte dabei einmal wahrzunehmen, daß unser Correspondent wie um besser zu hören, den Kopf vorgestreckt habe, und rief deshalb zornig: „Was machen Sie da? Stehen Sie gerade! Sie haben hier nichts zu hören!“ Die Geduld des Letzteren riß aber hierüber, und die Besorgniß benutzend, welche die näher liegenden Fahrzeuge seinen Peinigern einflößten, versetzte er: „Gut, gut, mein bester Herr; allein belieben Sie sich etwas weniger grob auszudrücken und vergessen Sie nicht, daß hier englische Schiffe vor Anker liegen (was zwar nicht der Fall war) und englische Soldaten am Ufer lagern. Bedenken Sie wohl, daß wenn mir von Ihrer Seite die geringste Unbill widerfährt, dieser Tag für Sie zur unangenehmen Erinnerung werden möchte.“

Mittlerweile hatte sich der vom Bosporus herkommende Dampfer genähert, und seinem Lauf nach zu schließen, mußte er bald an der Stelle anlangen, wo sich die geschilderte Scene zutrug. Dieser Umstand schien auf die Entschlüsse der Griechen nachdrücklich einzuwirken und außerdem machte sie offenbar auch die in den Worten unsers Journalisten enthaltene Drohung und die Ruhe, mit welcher er einen Stuhl nahm und sich auf’s Verdeck setzte, bedenklich. Der Kapitain und der Abgeordnete der Mannschaft traten jetzt wieder zu der Hauptgruppe, und die Arme, Augen und Füße begannen von Neuem ihr Pantomimenspiel. Endlich näherte sich der Kapitain dem Corrrspondenten und sagte, daß obschon er heftig darüber aufgebracht sei, daß ein Engländer ihm den Schimpf angethan habe, sich ohne seine Erlaubniß am Bord seines Schiffes einzufinden, er doch seine [284] Leute bestimmt habe, ihn in der für ein so heftig gehendes Meer zwar kleinen und zerbrechlichen Barke fortzuschaffen und daß sie versuchen würden, ihn nach einer italienischen Brigantine zu bringen, welche unter Wind vor Anker lag. Der Kapitain setzte hinzu, daß er für sich von einem Engländer keinen Pfennig haben möchte, wohl aber seien seine Leute arme Schlucker und würden, ohne gut bezahlt zu werden, ihr Leben eines Fremden wegen nicht auf’s Spiel setzen.

Der Correspondent bot ein Goldstück (einen Augenblick vorher würde er gern sechs gegeben haben, wenn man sie verlangt hätte) und der Grieche schien das Gebot als befriedigend zu betrachten. Nach einer neuen Unterredung mit seinen Leuten, von denen einige beharrlich auf keinen Vorschlag eingingen, gelang es dem Kapitain, vier Mann zu überreden, die sich hierauf sofort nach der aufgewundenen Barke begaben. Der Engländer folgte ihnen freudigen Herzens. Es war in der That ein sehr kleines und gebrechliches Fahrzeug, und die See ging heftig bewegt; die vier Mann, welche sich der Fahrt unterzogen hatten, konnten bei aller Kraft die Barke kaum durch die von allen Seiten überstürzenden Wogen lenken. Es handelte sich um das Leben, allein wie groß auch die Gefahr war, der Correspondent zog alles Andere der Brigg und den auf ihr befindlichen Strolchen vor.

Zu mehreren Malen standen die griechischen Matrosen auf dem Punkte, das Beginnen aufzugeben und nach ihrem Schiffe zurückzukehren, die Aussicht auf das Goldstück jedoch und die Furcht vor dem, was sich am Ufer ereignen konnte, trieb sie immer wieder auf’s Neue an. Hinüber und herüber geworfen, bald oben auf einer Woge tanzend, bald wieder tief hinab gezogen, gelangte bei aller Anstrengung die Barke nur langsam vorwärts; endlich nach geraumer Zeit legte sie an dem Hintertheil der genuesischen Brigantine „Minerva“ an.

Der Kapitain dieses Fahrzeugs hatte nicht ganz ohne Besorgniß die von der griechischen Brigg abgeschickte Schaluppe gesehen, deren vier Mann Besatzung ihm höchst verdächtig aussahen. (Wie der fünfte aussah, der im Hintertheil der elenden Barke saß, vor Kälte zitterte, vor Hunger sterben wollte und bis auf die Haut durchnäßt war, wissen wir nicht.) Es war in der That kein Grund vorhanden, allzu große Beruhigung zu fassen, und so beeilte sich denn auch der Kapitain, als er die Barke näher kommen sah, sie mit den Worten anzurufen: „Was wollen Sie, meine Herren?“

Der Hauptherr war zu sehr von dem Wunsche beseelt, an Bord zu gelangen, um daß er erst noch geantwortet hätte. Ein Seil hing am Schiff herunter. Unser Correspondent ergriff es in einem Momente, wo die Barke gerade von einer Woge empor gehoben wurde, und ohne Erklärung, ohne Rücksicht auf seine Schienbeine, die er sich fürchterlich verletzte, mit der Energie, der Energie der Verzweiflung kletterte und kletterte er empor, bis er athemlos und erschöpft mitten unter der erstaunten Mannschaft auf dem Verdecke hinsank.

Einige Worte reichten hin, um den Kapitain von Allem in Kenntniß zu setzen und seine Befürchtungen zu zerstreuen. Der freundliche Italiener empfing unsern Correspondenten mit offenen Armen und ließ sofort sein Gepäck aus der Schaluppe nach der Brigantine bringen. Er selbst beabsichtigte, sobald der Sturm sich ein wenig legen würde, die Anker zu lichten und nach Genua abzusegeln, versprach aber nicht eher aufzubrechen, als bis er den hartgeprüften Journalisten am Ufer in Sicherheit wissen würde. Ueber die Art, wie diesen die Griechen behandelt, schien er mehr unwillig als erstaunt, und um den Namen dieser ungastlichen Brigg zu kennen, richtete er sein Fernrohr nach ihr, wo er dann auf einer weißlichen Linie mit goldenen Buchstaben geschrieben „Nikolaus“ las. In diesem Augenblick spannte die Brigg alle ihre Segel auf und schoß pfeilgeschwind die Dardanellenstraße hinab; einige Minuten später war sie schon hinter einer Landspitze verschwunden.

Gegen Mittag legte sich der Sturm und das Meer wurde ruhiger. Sechs kräftige Genuesen stiegen in die Schaluppe der Minerva, der Engländer und der wackere Kapitain schieden auf dem Verdeck der Brigantine wie alte Freunde, und die Schaluppe ruderte dann dem Lande zu. Man kann sich denken, welche Gefühle das Herz unsers Correspondenten bewegten, als er endlich den Fuß bei Gallipoli an’s Land setzte und sich unter dem Schutze und der Fürsorge des englischen Kommissariats in voller Sicherheit fühlte.




Barnum, der Erbauer und Eigenthümer des bekannten Museums in New-York, der Erfinder und König des Humbugs, in dessen Sälen und Corridors aus allen Ecken und Enden der Welt, ohne Wahl und Kritik, hunderttausend leblose und lebendige Dinge, – Kuriositäten, Kunsterzeugnisse und naturhistorische Sammlungen, Riesen und Zwerge, ägyptische Mumien und Schädel berühmter Männer, – aufgestapelt sind, ist in seiner Weise ein Genie, – ein Genie freilich, das ihn in der alten Welt auf die Galeere oder in’s Zuchthaus gebracht haben würde, während es in der neuen sein Glück gemacht hat. Barnum, seines Zeichens ein Kürschnergesell, commandirt jetzt eine Million Dollars, ist der größte Güterbesitzer in Connecticut und Ohio, Partner oder Direktor mehrer Banken; sein Name figurirt auf den Kandidatenlisten bei den Wahlen von Governors[WS 2] und Senatoren; der Mann präsidirt in politischen und landwirthschaftlichen Vereinen, er empfängt als Mäcen der Wissenschaften und Künste die Huldigungen der Dichter. Er hat es mit Vielem versucht, ehe er den rechten Weg zum Glück ausgemittelt. Er war nach einander Seifensieder, Essigbereiter, Schriftsetzer, Buchdrucker, Wahlagent, Stumpredner, Schiffsmäkler und nebenbei ein Lump überall. In einer sonnigen Schicksalsstunde gerieth er auf den Einfall, einem bankerotten Menagerieführer seine verhungerten Bestien abzukaufen – und gefunden war die Leiter des Glücks, auf der er von Staffel zu Staffel emporstieg, bis er im Stande war, sein Museum zu bauen für 120,000 Dollars, fünfzig Federn zu miethen und fünfhundert Zeitungen zu bestechen, um seinen Humbug durch die Union zu posaunen, täglich 150,000 Straßenecken, Omnibusse, Dampfboote, Wirthsstuben und Ladenwände mit seinen Placaten und Annoncen zu bekleben, und bald den General Tom Dumb, bald die Jenny Lind an seinen Triumphwagen zu spannen. In der Wahl der Mittel macht sich Barnun niemals Skrupel. Er näht ein Rudel Büffel in Bisonfelle ein, streicht ein halb Dutzend junger Bursche, echte Kinder von New-York, roth an, putzt sie mit Federmütze, Köcher und Bogen als Indianer des Felsengebirgs heraus und ladet dann zun Schauspiel einer Bisonjagd ein; er läßt aus Pferdeknochen und Fischgräten unbekannte, riesige Ungeheuer der Vorwelt zusammensetzen und bringt die gelehrte Welt mit „unzweifelhaften Zeugnissen“ ihrer Echtheit und mit „glaubwürdigen Berichten“ über Vorkommen und Fundorte in Staunen und Streit; er verwandelt weißhäutige Knaben in schwarze Aethiopier; er räumt die Trödelbude eines Hebräers aus, um die Lumpen und Lappen, die alten Tabaksdosen und ausgedienten Spazierstöcke, die verrosteten Degen und Pistolen etc. als Reliquien von Fürsten des Geistes und von Helden der Schlachten in vergoldeten Schränken hinter Spiegelgläsern zu zeigen. Zur Zeit des mexikanischen Krieges producirte er das Bein von Santa Anna in einer ungeheuern Spiritusflasche, obschon dem mexikanischen Feldherrn in der Schlacht von Buena-Vista nur ein Stück seines hölzernen Stumpfs abgeschossen worden war, da er das Bein selbst schon zehn Jahre früher vor Vera-Cruz verloren hatte; und wenn eine Zeitungs-Ente durch die Union schwimmt, ein Bericht von einen fabelhaften Geschöpf der Tiefe, einer Meermaid oder einer Seeschlange, – so kannst Du gewiß sein, es nach wenigen Wochen bei Barnum zu sehen. Das Publikum rennt, läuft, zahlt, schaut; es lacht, betrogen, seine eigene Leichtgläubigkeit aus, oder es murrt, schimpft, schreit Humbug! – aber Barnum setzt der guten, wie der bösen Laune stoische Gleichgültigkeit entgegen, freut sich seiner goldenen Ernte, lacht sich in’s Fäustchen und macht den Spektakel durch einen neuen Humbug vergessen. Der Tom-Dumb Humbug. – er ließ den Zwerg auf einem, aus einer Schildkrötenschale gefertigten, mit Silber verzierten Wägelchen von acht Elephanten durch die Stadt ziehen. – warf ihm 60,000 Dollars ab; der Jenny-Lind-Humbug, für den er mit einem Aufwande von 50,000 Dollars alle Componisten, Redacteure, Autoren, Buch- und Musikalienhändler, alle Haarkräusler, Putzmacherinnen und alle Künste der Reclame in Bewegung setzte, um das ganze Land für seine schwedische Nachtigall toll zu machen, brachte ihm über 200,000 Dollars ein; und jetzt, wo der Mann eine Million sein nennt, erinnert man sich kaum mehr des Schmutzes und der Unehre, die daran haftet, und Barnum gilt in der neuen Welt als „ein großer Geschäftsmann“, glücklicher als Cagliostro und St. Germain, die mit weit größeren Fähigkeiten in der alten Welt es nie über den Ruf „famoser Betrüger“ bringen konnten.




Die Wallachen. Man sieht immer deutlicher ein, daß die Integrität der Türkei gar nicht erhalten werden kann, da in ihren socialen Zuständen nichts Haltbares mehr gefunden werden kann. Der Krieg hat dann auch blos noch den Sinn, daß der wunderschöne, reiche Boden der Türkei möglichst unter den Einfluß des civilisirten Westens komme. – Ohne neue Menschen und Institutionen kommt auch die reformirte Türkei nicht vorwärts. Die Wallachen gehören noch zu den stärksten und besten Volksarten, welche sich in unzähligen Massen uad Mischungen unter dem Begriffe Türkei vereinigen, und doch sieht es ganz miserabel unter ihnen aus. Es ist noch rohestes Mittelalter unter ihnen mit modernester Sittenverderbniß. Der von der Pforte alle drei Jahre gewählte Hospodar, d. h. der, welcher die größte Summe an den türkischen Minister gezahlt, benutzt seine kurze Regentschaft, möglichst viel aus den Leuten zu pressen und alle mögliche Bestechungen anzunehmen. Der Ackerbau, das Hauptgeschäft, ist durch Heerden von Griechen total demoralisirt worden. Die Landeigenthümer, vom Hospodar gepreßt, pressen ihre Leibeigenen und können doch nicht genug schaffen, so verkaufen sie Land an die Griechen, die immer Geld haben (man weiß nicht, woher?), welche damit nun den ausgedehntesten Schacher treiben. Die Leibeigenen thun nur so viel, als die hinter ihnen geschwungene Peitsche aus ihnen heraushaut, sonst gehen sie aus einer Branntweinsbude in die andere und trinken und tanzen zur Zigeunerfidel, bis Gleichgewicht und Geld verloren sind. Aus dem tiefen Schlafe in ihrer Höhle haut sie die Peitsche des Häschers wieder zur Arbeit. Von Natur wohlgebaut, stark, geschickt und in der Unabhängigkeit auch sehr thätig sind sie doch unter Jahrhunderte langer Tyrannei, Erpressung und Peitsche total demoralisirt, und Bauern und Städter stehen nicht an, durch ihre eigenen Töchter von Fremden in Bucharest u. s. w. sich Kuppelpelze zu verdienen. – Ihre Nationalgesänge sind schön und voller Poesie, und ihre malerischen Tänze, von schönen Chorgesängen begleitet, beneidenswerth. Sie tanzen und gesticuliren mit dramatischer Lebendigkeit, wobei namentlich die Mädchen in bunten, malerischen Trachten sich reizend ausnehmen; aber nach solchen Nationalscenen gehen sie von Schenke zu Schenke und vertilgen den scheußlichsten Fusel, bis sie in die tiefste, thierische Verächtlichkeit zusammensinken. Gegen ihre Peiniger werden sie nicht selten rebellisch und zerschlagen oder tödten sie um Mitternacht und stecken ihnen die Häuser an, aber das macht weder Peitschende noch Gepeitschte besser. Den Ausbruch von 1848–49 verhinderten russische und türkische Truppen im Verein, ohne die Wurzeln ausrotten zu können. Andere Menschen, vernünftige Boden- und Eigenthumsverhältnisse, sociale Reformen nur können die Türkei retten, nichts aus ihr selbst.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: daß
  2. Vorlage: Govornors