Die Gallerie von Gondo an der Simplon-Strasse

LXXXII. Ithaka Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Zweiter Band (1835) von Joseph Meyer
LXXXIII. Die Gallerie von Gondo an der Simplon-Strasse
LXXXIV. Ruinen von Phylae in Oberägypten
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GALLERIE VON GONDO
(Simplon-Strasse.)

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LXXXIII. Die Gallerie von Gondo an der Simplon-Strasse.




Die Straße über den Simplon, in den Jahren 1801–1806 von Napoleon angelegt, ist die einzige, auf welcher Lastwagen aus der Schweiz über die Alpen nach Italien fahren können. Sie ist 14 Stunden lang, überall 25 Fuß breit, nirgends stark ansteigend und daher selbst für die schwersten Fuhrwerke fahrbar. Es giebt keine Straße in der Welt, bei deren Erbauung so viele und so große Hindernisse und Schwierigkeiten zu bekämpfen waren, als bei dieser. Häufig windet sie sich an jähen Abgründen hin, in deren Tiefen wilde Bergwasser braußen; oft geht sie im Zickzack senkrechten Bergwänden hinan; oft mußten Felsen durchbrochen werden und sie durchläuft unterirdische Gänge, die mehre Hundert Schritte lang sind und durch schlotähnliche Oeffnungen beleuchtet werden. Ueberraschend ist es, aus diesen Gallerieen bald in liebliche Thalgründe mit Sennhütten zu treten, bald von hohen Felsenzinnen über schwarze Tannenwälder hinweg auf schimmernde Gletscher und Schneeberge zu blicken, oder über tiefliegende Thäler in das Blau des Himmels. An mehren Stellen führen kühne Brücken von einem Berge zum andern und über Schluchten von unabsehbarer Tiefe. Manche dieser Bauten scheinen das Werk dämonischer Mächte; nicht daß des schwachen Menschen.

[91] Die Straße beginnt bei dem Flecken Brigg und steigt auf den Col des Simplon bis zur Höhe von 6000 Fuß an. – Schon tausend Fuß tiefer, bei der sogenannten Gletschergallerie, wo der Weg knapp am Fuße der Eisberge und zum Theil unter denselben hin durch lange Gallerieen führt, hört der Baumwuchs auf. Auf der Höhe steht ein Hospitium für Reisende, ein von Napoleon großartig begonnenes, nach seinem Sturz aber unvollendet gebliebenes Gebäude, jetzt den Vätern des Klosters auf dem Bernhardtsberge gehörig, welche hier, zum Schutz und zur Rettung Hülfe bedürfender Reisender, das ganze Jahr hindurch eine Station unterhalten. In geringer Entfernung davon ist ein Chausseehaus, in der Tiefe aber das alte, jetzt verlassene Hospiz. Die Höhe ist ein Plateau, eine schauerliche Oede, an dessen Seite der Simplon noch 4000 Fuß höher in die Wolken sich verliert und um welche andere Alphörner, malerisch gruppirt, emporsteigen. Das Auge findet nur wenige Durchsichten: schauerliche in die Hochalpen Berns und in die Gletscherwelt um die Quellen der Rhone. –

Anderthalb Stunden vom Gipfel auf der italienischen Seite liegt das Dorf Simplon, fünftehalbtausend Fuß über dem Meere. Bald hinter demselben führt der Weg einer engen Schlucht zu, in welcher der wilde Dovedro braußt. Hier beginnen die BELLES HORREURS der Straße. Enger und immer enger wird die Stromschlucht und oft treten die beiden Bergwände, die sie bilden, so enge zusammen, daß auf weiten Strecken der Weg aus ihren Seiten gehöhlt werden mußte. Rechts und links stürzen, oft viele Hundert Fuß hoch, Gießbäche donnernd herab, vor deren Fluthen gewölbte Bogengänge schützen. Manchmal überhängt der Weg, von in die Bergwände eingelassenen Streben getragen, die Abgründe, oder er zieht hoch auf Brücken hin, deren Pfeiler in den Vorsprüngen der Felsen ruhen. –

Der schauerlichsten und berühmtesten Stellen eine ist die hieneben abgebildete unweit Gondo. Die Schlucht, aus welcher der Dovedro als Cascade hervorstürzt, hat sich hier fast gänzlich geschlossen, und eine hohe Bergwand, an deren Seite donnernd und schäumend aus ungemessener Höhe der mächtige Frosinone herabbraußt, versperrt den Ausgang. Durch diesen Felsen mußte in einer Länge von sechshundert Fuß der Weg gehöhlt werden, ein Riesenwerk, die dreijährige Arbeit von 2000 Menschen; denn das zu durchbrechende Gestein war harter Granit. – Den Frosinone überspannt dicht vor der Mündung des Tunnels eine Brücke, von der man, in der Tiefe, der Vermählung der beiden Ströme zusieht, einem Chaos von Schaum- und Wasserwogen, von deren Gewalt die Felsen zittern.