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Die Quelle der Arethusa ist nächst den Ruinen von Aitos für den Alterthumsforscher, wie für den Gebildeten überhaupt, der interessanteste Punkt auf dem kleinen Eilande. Sie versorgte, wie Homer uns berichtet, die Stadt des Odysseus mit dem klarsten Brunnenwasser. Noch hat sie den alten Namen; aber mit den alten Göttern scheint auch die Nymphe entflohen zu seyn. Die Quelle ist zur sumpfigen, froschbevölkerten Lache geworden, und ihr Abfluß dient den Hirten der Gegend zur Viehtränke. – Als die Franzosen die Insel eroberten (1798), reinigten sie den Brunnen und errichteten neben demselben einen steinernen Sitz, und, damit es die Nachwelt nicht vergesse, wer ihn gemacht habe, gruben sie dem Steine die Worte ein: VIVE LA REPUBLIQUE! – LIBERTÉ, EGALITÉ ET FRATERNITÉ AUX PEUPLES DE L’UNIVERS! – Eine spätere Hand hat die Inschrift übertüncht und mit rother Farbe den Gegenspruch darauf gepinselt: VIVE LA RESTAURATION! – aber eine höhere Hand, die Hand der Zeit, hat auch diesen Firniß schon wieder gelockert, und lesbar sieht wieder die alte Inschrift hervor.




LXXXIII. Die Gallerie von Gondo an der Simplon-Strasse.




Die Straße über den Simplon, in den Jahren 1801–1806 von Napoleon angelegt, ist die einzige, auf welcher Lastwagen aus der Schweiz über die Alpen nach Italien fahren können. Sie ist 14 Stunden lang, überall 25 Fuß breit, nirgends stark ansteigend und daher selbst für die schwersten Fuhrwerke fahrbar. Es giebt keine Straße in der Welt, bei deren Erbauung so viele und so große Hindernisse und Schwierigkeiten zu bekämpfen waren, als bei dieser. Häufig windet sie sich an jähen Abgründen hin, in deren Tiefen wilde Bergwasser braußen; oft geht sie im Zickzack senkrechten Bergwänden hinan; oft mußten Felsen durchbrochen werden und sie durchläuft unterirdische Gänge, die mehre Hundert Schritte lang sind und durch schlotähnliche Oeffnungen beleuchtet werden. Ueberraschend ist es, aus diesen Gallerieen bald in liebliche Thalgründe mit Sennhütten zu treten, bald von hohen Felsenzinnen über schwarze Tannenwälder hinweg auf schimmernde Gletscher und Schneeberge zu blicken, oder über tiefliegende Thäler in das Blau des Himmels. An mehren Stellen führen kühne Brücken von einem Berge zum andern und über Schluchten von unabsehbarer Tiefe. Manche dieser Bauten scheinen das Werk dämonischer Mächte; nicht daß des schwachen Menschen.