Die Entlastung des Reichsgerichts

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Autor: Karl Schulz
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Titel: Die Entlastung des Reichsgerichts
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Fünftes Hauptstück: Die Rechtsprechung, Abschnitt 25, S. 344−353
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[344]
b) Die Entlastung des Reichsgerichts.
Von
Geh. Regierungsrat Prof. Dr. K. Schulz,
Bibliothekdirektor bei dem Reichsgericht.


Literatur: Bearbeiten

Verhandlungen des 29. Juristentags. Gutachten von Hamm und Syring über die Frage: Empfiehlt sich eine Änderung des Rechtsmittels der Revision in Zivilsachen? 3. Band S. 39–50 und 129–186. Stenographische Berichte. 5. Band S. 700–774.
Bericht der XII. Kommission des Deutschen Reichstags über den Entwurf eines Gesetzes betr. Änderungen der Zivilprozessordnung vom 10. Mai 1905.
Bericht der 14. Kommission des Deutschen Reichstags über die Entwürfe a) eines Gesetzes betr. die Zuständigkeit des Reichsgerichts, b) eines Gesetzes betr. Änderungen der Rechtsanwaltsordnung vom 29. April 1901.

[345]

Peters, Das englische bürgerliche Streitverfahren und die deutsche Zivilprozessreform. Berlin 1908.
Salinger, Max. Die Änderung des Rechtsmittels der Revision die dringlichste Frage des deutschen Zivilprozesses. Berlin 1909.
Der Kampf um ein geistig hochstehendes Reichsgericht. Von einem Juristen (Karl Schulz). Berlin 1910.
Putzler, Die Überlastung des Reichsgerichts und die Abhilfevorschläge. Leipzig 1910.
Krantz, Ernst. Reichsgerichtsreform. Bemerkungen zu dem Gesetzentwurfe, betr. die Zuständigkeit des Reichsgerichts. Berlin 1910.
Ott, Emil. Die in Österreich geplante Beschränkung der Revision mit Rückblick auf deren Geschicke in Deutschland. Wien 1911.

In Art und Umfang der Tätigkeit der obersten Gerichtshöfe in den Kulturländern besteht eine grosse Verschiedenheit. An den französischen Kassationshof gelangen jährlich nur 700 bis 800 Kassationsgesuche. Zivil- und Strafsachen werden von je einem einheitlichen Senate entschieden, soweit sie nicht von der Chambre des requêtes nach einer Vorprüfung zurückgewiesen werden. Noch enger sind die Arbeitsgebiete des obersten Bundesgerichtshofes der Vereinigten Staaten von Amerika, der jährlich nur etwa 250 Rechtsfälle entscheidet, und des englischen obersten Gerichts. Auf der Geschlossenheit und Einheitlichkeit der Rechtsprechung dieser Gerichtshöfe beruht ganz wesentlich ihr unbestrittenes Ansehen und ihr grosser Einfluss. Nur ausgezeichnete Juristen allerersten Ranges werden für sie ernannt. Im englisch-amerikanischen Recht ist die Fortbildung des Rechts direkt an die einzelnen Persönlichkeiten der Richter geknüpft, die in den Urteilen aufgestellten Rechtssätze werden unter dem Namen des Richters, der sie bei der Begründung des Urteils ausgesprochen hat, in Literatur und Praxis aufgeführt.

Den grössten Gegensatz zu diesen Gerichtshöfen bildet, was den Umfang der Arbeit anlangt, das Deutsche Reichsgericht. Mit dem Eintreten normaler Verhältnisse nach der Überleitung aus dem früheren Rechtszustand wurden von 1884 ab etwa 2100 Revisionen in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten eingelegt, von 1893 bis 1901 stiegen sie auf 3000, dann ganz schnell von 1902 bis 1904 auf 4000, 1909 auf 4595. An Stelle der ursprünglichen fünf Zivilsenate sind deren sieben getreten. Auch die Revisionen in Strafsachen haben sich so vermehrt, dass statt drei Senaten fünf zu ihrer Aburteilung nötig geworden sind. Trotz dieser Vermehrung war den Senaten eine rasche Abwickelung der Prozesse nicht möglich. In Zivilsachen konnten die Verhandlungstermine erst 10 bis 14 Monate nach dem Einbringen des Rechtsmittels abgehalten werden. Der Übelstand wäre durch eine weitere Vermehrung der Senate des Reichsgerichts zu beheben, wenn mit einer solchen Vergrösserung des Gerichts nicht der grosse Nachteil verbunden wäre, dass zwischen den vielen Senaten in ihrer Rechtsprechung Widersprüche entstehen und dass der Vorteil einer einheitlichen Rechtsprechung und der auf einer solchen beruhenden Fortbildung des Rechts verloren geht. Das Mittel, die Einheitlichkeit durch Plenarentscheidungen aufrecht zu erhalten, bewährt sich wohl bei einfacheren, mehr formalen Rechtsfragen, wie etwa solchen des Prozesses, der Verjährung und ähnlichen, nicht immer aber bei schwierigen und verzweigten Fragen. Umfassende vom Referenten und Korreferenten als Vertretern der entgegengesetzten Meinungen ausgearbeitete und an die Mitglieder verteilte Referate geben der Beratung eine sichere Unterlage. Die Debatte selbst vermag, weil die Zahl der Mitglieder viel zu gross ist, dem Wissen und der Erfahrung der Einzelnen Raum und Betätigung nicht hinreichend zu gewähren. Nach gesetzlicher Vorschrift hat das Plenum nicht den Prozess, sondern die Rechtsfrage zu entscheiden. Die Schwierigkeit liegt hier bereits in der Fassung der zu beantwortenden Frage und weiter in der Erwägung, ob für künftige vielleicht nicht ganz gleiche Fälle die Entscheidung der Frage passt. Vielfach wird die Entscheidung der Rechtsfrage im einzelnen gegebenen Fall zweifellos richtig und treffend sein, die durch die Plenarentscheidung aufgenötigte Generalisierung aber bedenklich erscheinen und später zu einem geistigen Zwange oder zu einer neuen abweichenden Plenarentscheidung führen.

Aus diesem sehr berechtigten Grunde hat man der Vermehrung der Senate ernstlichen Widerstand entgegengesetzt, bis zur übermässigen Inanspruchnahme der Kräfte der Richter und bis zu einer als unmöglich empfundenen Verzögerung der Prozesse. Die zweckmässige Lösung der angedeuteten Schwierigkeiten bildet das Problem der Entlastung des Reichsgerichts.

Eine ideale Auffassung ist geneigt, die Prüfung aller Endurteile durch einen höchsten Gerichtshof für wünschen wert zu halten. Die praktische Notwendigkeit zwingt zu einer Begrenzung und [346] Auswahl der Rechtssachen. Die bei den Amtsgerichten anhängigen bürgerlichen Prozesse enden mit der Entscheidung der Landgerichte auf die eingewendete Berufung. Das Bedürfnis der Begrenzung tritt gebieterisch auf bei den von den Oberlandesgerichten auf Berufung gefällten Endurteilen. Ein grösserer Staat vermag hier nicht die Oberberufung zu gewähren, nämlich die Prüfung von Rechts- und Tatfrage, sondern er muss sich auf ein Rechtsmittel beschränken, welches nur die Prüfung der Rechtsfrage zulässt, die Nichtigkeitsbeschwerde oder nach der deutschen Zivilprozessordnung die Revision. Die Unterscheidung nach Faktum und Jus ist alt und schon von den römischen Juristen gehandhabt, der Versuch einer Trennung von Tat- und Rechtsfrage in ihrer formalistischen Durchbildung und mit ihren juristischen Folgerungen ist ein Ergebnis französischer Doktrin und Praxis bei Kassation und Schwurgericht. Die Kassation ist bei der Gestaltung des auf die Rechtsfrage beschränkten Rechtsmittels im deutschen Zivilprozess nur bis zu einem gewissen Grade das Vorbild gewesen. Man hat den Ausdruck , „Nichtigkeitsbeschwerde“ vermieden, „weil er zu sehr an den Kassationsrekurs des französischen Rechts erinnerte, mit diesem aber der Sache und den Formen nach vollständig gebrochen werden sollte“. Die Revision wurde „als eine frei gestaltete revisio in jure konstruiert“, sie sollte als „beschränkte Berufung“, nicht als „erweiterte Nichtigkeitsbeschwerde“ aufgefasst werden.

Mit dieser freieren Gestaltung war auch die freiere Handhabung durch den Gerichtshof notwendig gegeben. Das Auseinanderhalten von tatsächlicher Feststellung und rechtlicher Erwägung, welches im französischen Prozess durch die Bearbeitung des tatsächlichen Teils des Urteils seitens der Anwälte erleichtert wird, hat sich in der deutschen Praxis und Wissenschaft nicht in dem erwarteten Masse durchführen lassen. In dem begrifflichen Erfassen tatsächlicher Vorgänge liegt vielfach ein Element rechtlicher Erwägung. So hat die Begrenzung der Revision unter den Zivilsenaten des Reichsgerichts zu verschiedener Auffassung geführt, Mitglieder der Oberlandesgerichte haben über „Eingriffe des Reichsgerichts in die Beurteilung der Tatfrage“ lebhaft geklagt. Jedenfalls hat die freiere Handhabung der „beschränkten Berufung“ dazu beigetragen, dass dies Rechtsmittel auch in Fällen eingelegt wurde, wo eine strengere Auffassung das Urteil als nur auf tatsächliche Erwägung gegründet ansehen konnte. Die auf diesem Gesichtspunkt beruhende Beschränkung des Rechtsmittels hat danach nicht so vollkommen gewirkt, wie erwartet wurde, und es ist nicht anzunehmen, dass man sich jemals zu der formalistischen Handhabung entschliessen wird, bei der die volle Wirkung der Beschränkung eintreten würde; der 1910 gemachte Versuch einer grösseren Sicherstellung der tatsächlichen Feststellungen der Instanzgerichte gegen Revisionsangriffe durch gesetzliche Vorschriften ist, abgesehen von dem neuen § 561, Absatz 2, vom Reichstag abgelehnt worden. Vereinzelte Stimmen haben wegen dieser Unsicherheit der Scheidung die Beschränkung auf die Prüfung der Rechtsfrage aufheben und dem Reichsgericht auch die Beurteilung der Tatfragen überweisen wollen. Die neue ungarische Zivilprozessordnung hat sich auf diesen Standpunkt gestellt. Für das Deutsche Reich dürfte sich jedoch der Schritt nicht empfehlen, nicht bloss, weil die Zahl der Revisionen stark zunehmen würde, sondern auch, weil bei der tatsächlichen Prüfung die Vorinstanzen in einer vorteilhafteren Lage sind, als das Reichsgericht. Es lässt sich freilich nicht verkennen, dass oberlandesgerichtliche Urteile zuweilen gerade in tatsächlicher Hinsicht zu lebhaftem Widerspruch herausfordern; aber eine so eingreifende Massregel würde nur bei einer völligen prinzipiellen Umgestaltung des Rechtsmittels sich rechtfertigen lassen. Zurzeit werden nicht bloss viele Revisionen zurückgewiesen, weil die Urteile auf tatsächlicher Erwägung beruhen und einen Rechtsirrtum nicht erkennen lassen, sondern es wird auch in unbestreitbar so gearteten Fällen das Rechtsmittel gar nicht eingewendet. Welchen Prozentsatz diese letzteren Fälle ausmachen, lässt sich nicht berechnen.

Unzweifelhaft ist noch eine weitere Einschränkung der Zulässigkeit des Rechtsmittels nötig. Der dem Reichstag vorgelegte Entwurf der Zivilprozessordnung beschränkte den Zutritt zu dem höchsten Gerichte durch das Erfordernis der Difformität der Vorentscheidungen. Der Reichstag nahm in den Jahren 1875 und 1870 diese Beschränkung nicht an, sondern ersetzte sie durch die Einführung einer Revisionssumme von 1500 Mark. Damit geschah ein tiefer Eingriff in das Wesen des geplanten Prozesses, eine prinzipielle Abweichung von der ursprünglich beabsichtigten Begrenzung des Arbeitsstoffes für den obersten Gerichtshof. Was vorauszusehen war und vorausgesehen wurde, [347] dass die Revisionssumme öfter erhöht werden müsse, ist nur zu bald eingetreten. 1905 setzte man die Revisionssumme auf 2500 Mark fest, der Vorschlag der Regierung, bei sententiae difformes 2000 Mark, bei sententiae conformes 3000 Mark, anzunehmen, wurde abgelehnt. 1910 haben die schweren Bedenken, die gegen eine weitere Erhöhung der Revisionssumme bestehen, die Regierungen veranlasst, als Hauptmittel der Entlastung des Reichsgerichts unter Aufrechterhaltung der bestehenden Revisionssumme nochmals die Einführung des Difformitätsprinzips, d. h. den Ausschluss der Revision bei konformen Entscheidungen vorzuschlagen. Aus theoretischen, praktisch unerprobten Bedenken ist dies Prinzip wiederum vom Reichstag verworfen und dafür die Erhöhung der Revisionssumme auf 4000 Mark beschlossen worden.

Unterstützend soll daneben auf Verringerung der Arbeitslast einwirken die Beseitigung der Beschwerdeinstanz, auf die Verminderung der Revisionen der Ausschluss der Revision bei Arresten und einstweiligen Verfügungen, die vorläufige Vollstreckbarkeit der Urteile der Oberlandesgerichte sowie die Erhöhung der Gerichts- und Anwaltskosten nebst Einziehung eines Kostenvorschusses.

Zudem sind zur Aufarbeitung der Prozesse 11 Hilfsrichter bestellt worden. Neue Senate hat man nicht gebildet, die Hilfsrichter wurden vielmehr zur Verstärkung der sieben Zivilsenate verwandt, die alle 14 Tage neben den beiden in der Woche stattfindenden Sitzungen eine dritte unter dem Vorsitz des ältesten Rates abhalten.

Die Wirkung der Reform lässt sich schon jetzt übersehen. Das Gesetz vom 22. Mai 1910 betr. die Zuständigkeit des Reichsgerichts ist am 1. Juli 1910 in Kraft getreten. Vom Januar bis Juni 1910 wurden 2677 Revisionen eingelegt, vom Juli bis Dezember 1667. Nur für diese letzte Hälfte des Jahres wirkte das erwähnte Gesetz. Statt der 4595 Revisionen des Jahres 1909 finden wir 4314 des Jahres 1910, also 251 weniger. 1911 hat sich die Zahl der eingewendeten Rechtsmittel um weitere 813 gegenüber der von 1910 verringert, sie beträgt 3531.[1] Auf einen weiteren Rückgang ist nicht zu rechnen, die Vermehrung der Bevölkerung und Ausdehnung der Tätigkeit von Gewerbe, Industrie und Handel werden vielmehr wieder eine jährliche Steigerung der Ziffer im Gefolge haben. Dann ist eine Verminderung der Zahl der Zivilrichter nicht möglich. Was einsichtige Beurteiler voraussahen, dass die Erhöhung der Revisionssumme nicht den erwarteten und nur einen auf kurze Zeit wirkenden Erfolg haben werde, ist eingetreten. Die Ablehnung der Regierungsvorlage erweist sich als ein bedauerlicher Missgriff. Hinsichtlich der Strafsenate schwebt die Reform der Strafprozessordnung. Wird sie weiter hinausgeschoben oder führt sie zu keiner Veränderung, so wird eine schon jetzt zu spürende Vermehrung der Revisionen in Strafsachen voraussichtlich in einigen Jahren zur Errichtung eines sechsten Strafsenats führen.[2] Man wird also zu einer geringeren Zahl als 100 Mitglieder des Gerichts schwerlich wieder gelangen, auch wenn es möglich würde, mit der abgelaufenen Zeit auf die Mitwirkung der Hilfsrichter zu verzichten. Es bleibt voraussichtlich ein Zustand bestehen, den die Begründung des Entwurfs der Zivilprozessordnung „als Unmöglichkeit oder doch als eine fehlsame Institution“ bezeichnete,[3] ein Urteil, welches auch in den Motiven der Novelle von 1910 aufrecht erhalten wurde.

Das schwerste Bedenken gegen das Difformitätsprinzip ist darin gefunden worden, dass sich ein Rechtspartikularismus, eine Sonderrechtsprechung in den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken geltend machen werde. Die Regierungen wollten dem dadurch entgegenwirken, dass die Revision [348] bei konformen Entscheidungen für solche Fälle gegeben sein sollte, in denen das Berufungsurteil auf der Auslegung eines Gesetzes beruht, die mit einer früheren Entscheidung des Reichsgerichts oder eines Obersten Landesgerichts in Widerspruch steht. Die Geltendmachung eines solchen Widerspruchs sollte dem Privatinteresse der Partei überlassen bleiben. Sehr allgemein wendete man dagegen ein, dass dadurch ein starker Anreiz zur Formulierung von Rechtssätzen aus Urteilen, welche nur den einzelnen Fall zu entscheiden bestimmt sind, gegeben sei und die Verstärkung des Präjudizienunwesens daraus hervorgehen werde. Jedenfalls würde eine grosse Anzahl von Revisionen mit einer auf jene Ausnahme hinzielenden Begründung eingewendet werden. Meines Erachtens wäre der Vorschlag der Regierungen annehmbar gewesen, wenn die Formulierung von Rechtssätzen aus den Urteilen ausschliesslich dem erkennenden Senat überlassen bliebe. Es wäre die einstige Gepflogenheit des Reichsgerichts, in dazu geeigneten Rechtsfällen kurze Rechtssätze oder Grundsätze – ähnlich wie die vom Plenum entschiedenen Rechtsfragen – aufzustellen und als „Notizen“ unter den Senaten des Reichsgerichts auszutauschen, wieder aufzunehmen gewesen. Durch Veröffentlichung hätte man ihnen eine grössere Verbreitung geben müssen. Nur das Abweichen von diesen Sätzen dürfte als Revisionsgrund gelten. So würde das Reichsgericht selbst den prinzipiellen Teil seiner Rechtsprechung von dem mehr zufälligen, in seiner Wirkung auf den einzelnen Fall beschränkten scheiden. Oder die Prüfung des Widerspruchs hätte nur aus öffentlichem Interesse durch eine öffentliche Behörde geschehen dürfen. Von anderer Seite ist zur Verminderung der Bedenken gegen das Difformitätsprinzip die Zulassung der Revision trotz konformer Entscheidungen bei einer Revisionssumme von 5000 bis 10 000 Mark vorgeschlagen worden.[4]

Die frühere praktische Betätigung des Difformitätsprinzips in Ländern des jetzigen Deutschen Reichs (bei der preussischen Revision und im hamburgischen, badischen und braunschweigischen Prozess) ist eine zu beschränkte gewesen, um daraus Gründe für oder gegen seine Einführung zu entnehmen. Wichtiger ist die längere Geltung des Grundsatzes in Österreich. Hier wird er auch bei der jetzt noch schwebenden Reform des Rechtsmittels der Revision seine Mitwirkung bei der Begrenzung behaupten. Die österreichische Regierung hat vorgeschlagen, die Revisionen gegen gleichlautende Zivilurteile nur dann zuzulassen, wenn die Revisionssumme in bezirksgerichtlichen Rechtssachen 1000 Kronen, in Gerichtshofssachen 2000 Kronen überstiege. Das Herrenhaus hat statt dessen die Unzulässigkeit von Revisionen gegen bestätigende Berufungsurteile in allen bezirksgerichtlichen Rechtssachen ferner in Wechsel- und Scheckprozessen bis einschliesslich 1000 Kronen beschlossen.[5]

Die Einheit der Rechtsprechung ist ein Grundsatz, der nicht ohne Begrenzung und verständige Abwägung geltend gemacht werden kann. Die Fülle des individuellen Rechtslebens soll durch ihn nicht eingeengt werden, die Entscheidungen dürfen nicht dem Schematismus verfallen. Aber die Sicherheit des Rechtsverkehrs und das Ansehen der Gerichte beeinträchtigende Widersprüche sollen verringert und womöglich ausgeschlossen werden. Die zahlreichen Klagen in der Literatur über widersprechende Urteile betreffen vorzugsweise die Rechtsprechung des Reichsgerichts. Diese unterscheidet sich durch den präjudiziellen Charakter vieler ihrer Urteile wesentlich von der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte. Auch da, wo diese in letzter Instanz Recht sprechen, können ihre Urteile nicht die vorbildliche und massgebende Bedeutung gewinnen wie die des Reichsgerichts; sie können „endgültige Rechtssätze“ nicht aufstellen. Erst in der obersten Instanz tritt das Bedürfnis einheitlicher Rechtsprechung zwingend hervor. Die Bedingungen für diese herzustellen und aufrechtzuerhalten ist daher von besonderer Wichtigkeit.

Die Begrenzung des Arbeitsstoffs des Reichsgerichts durch die Erhöhung der Revisionssumme behandelt völlig ungleich Sachen, die sich in Geld schätzen lassen und solche, bei denen dies ausgeschlossen ist; sie beruht auf einem völlig äusserlichen Gesichtspunkt. Das Difformitätsprinzip legt dagegen der Übereinstimmung zweier Instanzen im Ergebnis, wenn auch aus verschiedenen [349] Gründen, eine innere, moralische Bedeutung bei, welche schwerer wiegt, als die Abschätzung in Geld mit ihrem rein zufälligen und leicht beeinflussbaren Charakter. Gewiss wird unter Umständen durch den Ausschluss der Revision bei gleichlautenden Entscheidungen ein maasgebendes und bedeutsames Eingreifen des Reichsgerichts verhindert. Aber das ist auch der Fall in den Rechtssachen mit einer Beschwerdesumme zwischen 2500 und 4000 Mark. Bei dem Difformitätsprinzip führt die Differenz der beiden Instanzen in diesen Fällen die Zulässigkeit der Revision herbei, die jetzt überhaupt ausgeschlossen ist. Es ist auch nicht zu verkennen, dass durch die Erhöhung der Revisionssumme ganze Rechtsgebiete, bei denen die Streitobjekte nicht so hoch bewertet werden können, der einheitlichen Regelung durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts in einem viel höheren Grade entzogen werden, als durch den Ausschluss des Rechtsmittels bei konformen Entscheidungen mit den obenerwähnten Kautelen.

Wie das Difformitätsprinzip auf die praktische Tätigkeit der Oberlandesgerichte einwirken würde, ist sehr verschieden beurteilt worden. Ich glaube, dass die vermehrte Selbständigkeit nicht zu einer oberflächlicheren, sondern zu einer gründlicheren Bearbeitung der nicht revisiblen Entscheidungen und damit zu einer Stärkung und Hebung der Oberlandesgerichte sowie zu einem grösseren Interesse der Regierungen für ihre Förderung und gute Besetzung geführt hätte.[6]

Wiederholt ist bei der Beratung der Prozessnovelle von 1910 betont worden, dass als wirksame Mittel der Entlastung, falls man nicht Senate und Mitglieder des Reichsgerichts dauernd vermehren will, nur Difformitätsprinzip und Erhöhung der Revisionssumme in Betracht kommen. Auf die anderweit vorgeschlagenen Hilfsmittel möge daher hier nur kurz hingewiesen sein.

Da nur etwa ein Fünftel der eingewendeten Revisionen von Erfolg ist, liegt die Erwägung nahe, dass bei einem Teile der erfolglosen vier Fünftel die Erfolglosigkeit mit einer annähernden Sicherheit hätte vorausgesehen werden können. Der Wunsch, dass die Rechtsanwaltschaft am Reichsgericht strenger in der Auswahl der zur Revision geeigneten Rechtssachen verfahre, ist von ihr nicht leicht zu erfüllen, nicht sowohl weil die Rechtsanwälte erster und zweiter Instanz mit der beschränkenden Handhabung der Revision durch die absichtlich in begrenzter Anzahl gehaltene Rechtsanwaltschaft am Reichsgerichte aufs äusserste unzufrieden sind, sondern weil die Erfolglosigkeit bei der verschiedenen Praxis der Senate nicht sicher beurteilt werden kann Sehr eingreifend ist, dass Personen in verantwortlicher Stellung, wie Vorstände von Korporationen usw. zu ihrer Entlastung die Durchführung des Prozesses bis zur letzten möglichen Instanz nötig haben. Hierin eine praktische Änderung eintreten zu lassen, ist sehr schwer. Zu dem vorgeschlagenen allgemeinen oder nur fakultativen Ausschluss der mündlichen Verhandlung vor dem Reichsgericht – der letztere war im Entwurf der Novelle von 1910 vorgesehen – hat man sich nicht entschliessen können, weil der lebendige mündliche Vortrag von beiden Parteien zur raschen Erfassung der Prozesslage und zur Würdigung aller rechtlichen Gesichtspunkte vorteilhafter erscheint, als der Vortrag durch einen Referenten. Die Vorprüfung der Revisionen kann von wesentlichem Vorteil für die Entlastung nur dann sein, wenn sie nicht durch den Senat geschieht, sondern nur durch ein oder zwei Mitglieder. Dem Bedenken, dass dann nicht ein Spruch des Gerichts vorliegt, ist eine entscheidende Bedeutung nicht beizulegen. Jedenfalls würde diese Vorprüfung wirksamer sein, als die zurzeit durch die Rechtsanwaltschaft ausgeübte; bei dieser wiegt zudem das erwähnte Bedenken noch schwerer. Die Ablehnung der Einlegung der Revision durch die Rechtsanwälte am Reichsgericht wird zuweilen als eine Härte empfunden, bei der die rechtfertigende Autorität vermisst wird. Die Vorprüfung durch Mitglieder des Gerichts hat innerhalb des Gerichtshofes selbst entschiedene Befürworter.[7] Der Einwand, dass sie dem Prinzip der Mündlichkeit widerspreche, ist als rein theoretisch nicht ausschlaggebend; die Tragweite des Hilfsmittels ist jedoch ohne praktische Erprobung schwer zu übersehen. Würde seine Einführung die Zahl der zur Beratung und Entscheidung durch das Gericht gelangenden Revisionen verringern, so wird sie andererseits die der eingelegten Rechtsmittel doch wohl vermehren. Die von vereinzelter Stimme[8] befürworteten [350] Sukkumbenzstrafen des französischen Rechts sind eng verbunden mit dem formalen Charakter der Kassation; sie würden für unser Empfinden nur bei frivoler Einlegung des Rechtsmittels erträglich, bei der Seltenheit solcher Fälle aber unwirksam sein.

Die Herabsetzung der Mitgliederzahl der Senate von sieben auf fünf würde geringen praktischen Nutzen bringen und doch in vereinzelten Fällen, bei weittragenden nur mit Majorität zur Entscheidung kommenden Fragen die geistige Potenz des Senats und die Erwägung der Frage von allen Seiten beeinträchtigen. Die Überweisung der Prozesse, bei denen Landesrecht als verletzt gerügt wird, an oberste Landesgerichte,[9] wie sie für Bayern besteht, könnte nur wenig helfen, zumal sie nur für Preussen ernstlich in Betracht zu kommen hätte. Die Forderung, die Rechtssachen, in denen die Entscheidung Fragen des öffentlichen Rechts behandeln muss, vom Reichsgericht noch mehr fern zu halten,[10] als es durch die bisherige Gesetzgebung und Praxis geschieht, verkennt das Ineinandergreifen von öffentlichem und Privat-Recht im einzelnen Fall. Die Ausscheidung strenger durchzuführen ist, eine kaum zu lösende gesetzgeberische Aufgabe.

Der Vorschlag, statt eines Reichsgerichts solcher mehrere, etwa „zwei, drei oder lieber gleich vier“ zu errichten[11] und dem freien Wettbewerb um die bessere Einsicht die Einheit der Rechtsprechung zu überlassen, bedarf wohl keiner ernstlichen Widerlegung. Er mutet uns einen Verzicht auf Errungenschaften der deutschen Einheitsbewegung zu, die niemand preisgeben will. Italien ist bestrebt, seine fünf Kassationshöfe in Zivilsachen durch einen einheitlichen Gerichtshof zu ersetzen. Der Plan eines Oberreichsgerichts als einer vierten Instanz würde bei vier Reichsgerichten wohl nicht lange auf sich warten lassen.

Mittelbar eine Entlastung des Reichsgerichts herbeizuführen beabsichtigt der Plan, ein eigenes „Amt oder einen Reichsgerichtshof für bindende Gesetzesauslegung“ zu schaffen.[12] Man verspricht sich eine Stärkung der Rechtssicherheit durch die Tätigkeit eines solchen Amtes. Würde diese auch in einzelnen mehr formalen Fragen möglich erscheinen, so würde sie doch in anderen Fällen leicht zu einem unerträglichen Zwang und zu einer Hemmung der freien Geistestätigkeit des Richters führen, die viel schlimmer wäre als das Übel, welches beseitigt werden soll. Das zu begründende neue Reichsamt hätte aus etwa 21 Mitgliedern (darunter 6 Richtern) zu bestehen. Es soll die bei der Rechtsprechung hervortretenden Unvollkommenheiten der Gesetzgebung und Rechtsanwendung durch neue bindende Vorschriften heilen. Diese würden so lange gelten und auch für das Reichsgericht verbindlich sein, bis sie vom Amt selbst oder durch Gesetzgebung wieder aufgehoben werden. Ich halte das für unvereinbar mit der Aufgabe eines obersten Gerichtshofs. Die bindende Gesetzauslegung zieht die Fesseln für erspriessliche richterliche Tätigkeit, wie sie die mangelhafte Gesetzgebung unserer Zeit mehrfach bietet, nur enger. Nur die Prüfung und Entscheidung der einzelnen Fälle ist die zweckmässige Grundlage für die Fortbildung des Rechts durch Auslegung. An der Mannigfaltigkeit der besonderen Fälle ist die Bedeutung und Tragweite der gesetzlichen Vorschriften zu messen und festzustellen. Nur so lässt sich in das Gefäss der Worte der Geist der Auslegung füllen.

Wie auch die Wirkungen des Gesetzes betr. die Zuständigkeit des Reichsgerichts vom 22. Mai 1910 sich endgültig gestalten werden, mit der allerseits für notwendig erachteten allgemeinen und gründlichen Reform der Zivilprozessordnung wird die Frage der zweckmässigen Gestaltung des Rechtsmittels letzter Instanz wieder brennend werden. Die stärkere Besetzung der Senate, die man bei der Ausführung des genannten Gesetzes anstatt einer Vermehrung derselben gewählt hat, ist nicht ohne nachteilige Wirkung auf den inneren Zusammenhang, auf die Festhaltung der Einheitlichkeit und auf den zusammenfassenden Einfluss des Präsidenten geblieben. Der von den Entscheidungen der Gerichte als menschlicher Einrichtungen nicht völlig fernzuhaltende zufällige oder aleatorische [351] Einschlag ist verstärkt worden. Als dauernde Einrichtung wird man die Verstärkung der Senate, sei es auch nur um 2 Mitglieder, und den Wechsel des Vorsitzes nicht beibehalten wollen.

Das Difformitätsprinzip vermag ich nicht für erledigt und dauernd beseitigt zu halten. Ich verkenne jedoch nicht, dass nur geringe Aussicht besteht, es im Reichstage durchzusetzen und zu einer praktischen Erfahrung über seine Wirkung zu gelangen.

In Erwägung zu ziehen ist der Verzicht auf die „freiere Gestaltung“ der revisio in jure, mit anderen Worten die Annäherung an den formalen Charakter der Kassation oder auch der preussischen Nichtigkeitsbeschwerde. Sieht man darin eine Unterbindung der besten Kraft des Reichsgerichts, so werden wieder alle bisher erörterten Mittel der Abhilfe, nämlich die weitere Erhöhung der Revisionssumme, Difformitätsprinzip, Vorprüfung, völlige oder fakultative Beseitigung der mündlichen Verhandlung, Ausscheiden landesrechtlicher Rechtssachen, Herabsetzung der Mitgliederzahl der Senate, Sukkumbenzstrafen und schliesslich auch die Vermehrung der Senate und die Beschränkung des Plenum auf die zwei dissentierenden Senate von den einen vorgeschlagen, von den anderen bekämpft werden. Ich möchte annehmen, dass die Wurzel dieses Zwiespaltes der Meinungen der unausgeglichene Gegensatz der Anschauungen über den eigentlichen Zweck der dritten Instanz ist. Soll sie dem Privatinteresse des Einzelnen, dem Ringen um sein Recht oder dem öffentlichen Zweck der einheitlichen Rechtsprechung und der Fortbildung des Rechts dienen? Das letztere haben die Regierungen und einflussreiche Vertreter von Wissenschaft und Praxis wiederholt und mit aller Schärfe betont, aber immer wieder hat der erstere Gesichtspunkt im Reichstag und namentlich bei der zur Verfolgung des Parteiinteresses berufenen Rechtsanwaltschaft eifrigste Vertretung gefunden. Stimmen der Wissenschaft haben gesagt: „Die Revision ist nur gegen solche Entscheidungen zulässig, welche gleichzeitig das Interesse der Partei an einem gerechten Rechtsschutz im Einzelfall wie das Interesse der Gesamtheit an einer einheitlichen Rechtsprechung des Gerichts in allen Fällen gefährden. Wo nur das eine Interesse ohne das andere verletzt ist, entfällt der Grund der Revision.“[13] Oder: „Das Privatinteresse ist bei der Revision das Vehikel des öffentlichen Interesses.“ Leider haben die Ausgestaltung des Rechtsmittels und die ihm gesetzten Beschränkungen dieses Ziel durchaus nicht erreicht. Tatsächlich bestimmt zurzeit das Privatinteresse die Einlegung der Revision. Ob eine andere Entscheidung des Prozesses als die der zweiten Instanz im öffentlichen Interesse liegt, ob die Einheitlichkeit der Rechtsprechung sie erfordert oder eine zweckmässige Fortbildung des Rechts – das alles wird nicht geprüft und von der Partei niemals erwogen. [14] So gelangt eine Fülle von Rechtssachen an den Gerichtshof, deren Entscheidung für dessen höheren Zweck völlig gleichgültig ist. Das Reichsgericht muss zu viel für seine wichtigere Bestimmung völlig unnütze Arbeit leisten. Das Privatinteresse bei der Einlegung der Revision erdrückt das öffentliche Interesse.

Die wichtigste Frage für die künftige Gestaltung des Rechtsmittels dürfte daher sein: Auf welche Weise könnte dem öffentlichen Interesse ein stärkerer Einfluss auf die Einlegung des Rechtsmittels verschafft werden?[15]

[352] Beseitigt würde das Privatinteresse bei der Einlegung der Revision, wenn das Gericht zweiter Instanz berechtigt und verpflichtet würde, mit seiner Entscheidung die Zulässigkeit der Revision gegen dieselbe auszusprechen. Ohne diesen Ausspruch wäre die Geltendmachung der Revision ausgeschlossen. Das Oberlandesgericht wäre dazu berechtigt in ihm zweifelhaft erscheinenden, für eine weitere Prüfung geeigneten Rechtsfällen. Durch gesetzliche Bestimmung wäre es zur Festsetzung der Zulässigkeit zu verpflichten, wenn es in vom Reichsgericht bereits entschiedenen gleichen oder ähnlichen Fällen von dessen Entscheidung abweicht und wenn andere Oberlandesgerichte in gleichen Fällen anders entschieden haben. Nach dem Gesetzentwurf von 1910 wäre die Prüfung dieser Voraussetzungen die Sache der Parteien gewesen. Die Erwägung durch die Gerichte selbst würde die in jenem Fall befürchteten Nachteile – Präjudizienkultus und häufige Rechtsmittel nicht nach sich gezogen haben. Die Grundlage wären auch hier die vom Reichsgericht selbst formulierten Rechtssätze. Durch eine öffentliche Behörde, eine Staatsanwaltschaft in Zivilsachen könnte diese Tätigkeit der Oberlandesgerichte überwacht und durch die Berechtigung, ihrerseits die Zulässigkeit der Revision auszusprechen, ergänzt werden.

Beiseite gesetzt würde das Privatinteresse auch, wenn das Aussprechen der Zulässigkeit der Revision ausschliesslich einer öffentlichen Behörde, einer Zivilstaatsanwaltschaft übertragen würde. Bei grösseren Oberlandesgerichten hätte die Behörde aus mehreren Personen zu bestehen. Durch ihre Ernennung aus Richterkreisen könnte ihre Unabhängigkeit gewährleistet werden

Durch beide Einrichtungen wäre das Privatinteresse beseitigt bei der Frage, ob das Rechtsmittel eingelegt werden darf. Es würde wieder eintreten bei der Durchführung derselben. Die Prozesse wären der Regel nach mit dem Spruch der zweiten Instanz zu Ende. Stellt das Oberlandesgericht oder die öffentliche Behörde fest, dass ein allgemeines Interesse an der nochmaligen Prüfung der Sache besteht, so eröffnen sie den Parteien dies und überlassen es der unterlegenen Partei, ihr Recht weiter zu verfechten. Verzichtet die Partei darauf, so muss auch das öffentliche Interesse schweigen.

Nur beschränkt würde das Privatinteresse, wenn man durch eine Vorprüfung seitens eines Senatsmitglieds und des Senatspräsidenten oder seitens zweier Mitglieder die Rechtssachen ausschiede, in denen die eingelegte Revision zweifellos einen Erfolg nicht haben kann. Wer sich nicht entschliessen kann, die Oberlandesgerichte selbst über die Zulässigkeit des Rechtsmittels bestimmen zu lassen und wer dies auch nicht einer öffentlichen, nichtrichterlichen Behörde anzuvertrauen vermag, wird der Vorprüfung durch einzelne Glieder des Gerichts seine Erwägung zuwenden müssen.[16] Liegt es zurzeit in der Macht des einzelnen Rechtsanwalts am Reichsgericht die Einlegung der Revision abzulehnen und sie als unzulässig oder bestimmt erfolglos zurückzuweisen – die anderen Rechtsanwälte am Reichsgericht pflegen dann auch ihrerseits die Vertretung zu versagen – , so wird die Zurückweisung ohne Verhandlung durch ein oder zwei Mitglieder des Gerichts die Parteien kaum ungünstiger stellen.

Als eine Beschränkung des Privatinteresses wäre endlich noch aufzufassen die gänzliche oder fakultative Beseitigung der mündlichen Verhandlung vor dem Reichsgericht.

In der einen oder anderen dieser Richtungen wäre der Kampf des Einzelnen um sein Recht zu beschränken und den höheren Interessen des Ganzen dienstbar zu machen. Gelänge es, das Privatinteresse bei der Einlegung der Revision, wie oben geschildert, ganz zu beseitigen, so könnte die Revisionssumme ermässigt werden, wenn nicht ganz wegfallen.

Ob es dieser Auffassung gelingen wird, sich gegenüber der Zähigkeit überlieferter Ansichten und der Macht beteiligter Interessen, denen sie entgegentreten muss, durchzusetzen, steht dahin. Von den Regierungen ist angekündigt, dass als Abhilfe für künftige Zeit vorerst nur Vermehrung der Mitglieder und der Senate ins Auge gefasst werden solle. Dem gegenüber muss immer wieder betont werden, dass ein oberster Gerichtshof in einem grossen Lande, der allzuviele Prozesse und dabei auch untergeordnete, nicht lediglich wichtige Fragen zu entscheiden hat, so viele Mitglieder erfordert, [353] dass zwischen ihnen geistiger Zusammenhang und Wechselwirkung nicht möglich sind und dass sie nicht so sorgsam ausgewählt werden können, wie es bei einer kleineren Zahl geschehen kann. Das Gericht muss in so viele Abteilungen zerfallen, dass es aufhört ein Gerichtshof zu sein und dass wechselnde und innerlich ungleichartige Entscheidungen, welche das Ansehen des Gerichts schädigen, unvermeidlich sind. Kritik und Beschwerde über sich widersprechende Urteile des Reichsgerichts bilden ein ständiges Thema in den Zeitschriften. Praxis und Rechtswissenschaft werden durch massenhafte Präjudizien, die in unkontrollierter Weise aufgestellt und von den Untergerichten auch da angewendet werden, wo sie nicht passen, beengt und gefährdet. Die den Ballast der Entscheidungen gewissenhaft verstauenden Kommentare zu den Gesetzbüchern werden immer umfangreicher und verengern mehr und mehr den Raum für das freie richterliche Urteil. Die Arbeit eines solchen allzugrossen Gerichtshofes wird vielleicht in einigen Fällen einer oder der anderen Prozesspartei zum Siege verhelfen, dem geistigen und wirtschaftlichen Leben des deutschen Volkes wird sie aber nicht den erwarteten Vorteil bringen, vielleicht sogar mehr schaden als nützen. Möge es gelingen, das Eintreten eines solchen Zustandes zu verhindern.





  1. Es kommen immer noch etwa 500 Rechtssachen auf jeden Zivilsenat im Jahr. Der Erfolg, dass die Termine nicht mehr so weit hinaus angesetzt zu werden brauchen, ist nicht gleichmässig eingetreten. Am Ende des Jahres 1911 hat der I. Zivilsenat seine Termine angesetzt im Oktober 1912, der II. im März. der III. im Juni, der IV. im Mai, der V. im März, der VI. im Juni, der VII. im März. Die vorläufige Vollstreckbarkeit und die Erhöhung der Kosten scheinen nahezu wirkungslos geblieben zu sein. Eine stärkere von der Einlegung des Rechtsmittels zurückhaltende Wirkung übt der auferlegte Kostenvorschuss. Wegen nicht geleisteten Kostenvorschusses sind 1911 70 Revisionen zurückgewiesen worden.
  2. Beschleunigt wird dies durch die ganz ungewöhnliche Vermehrung der Fälle des Verrats militärischer Geheimnisse, deren jeder drei Strafsenate beschäftigt. Möchte in dieser Hinsicht doch eine Entlastung durch Verweisung unbedeutender Fälle an andere Gerichte und durch Besetzung des verhandelnden Gerichts mit nur einem Senat bewirkt werden.
  3. Hahn, Die gesamten Materialien zur Zivilprozessordnung. 1. Abt. S. 143.
  4. Düringer, Richter und Rechtsprechung. Leipzig 1909. S. 58–59. Derselbe: Zum Entwurf eines Gesetzes zur Entlastung des Reichsgerichts. Deutsche Juristen-Zeitung. XV. Jahrg., S. 331.
  5. Die Bedeutung des Difformitätsprinzips im österreichischen Prozess ist gründlich erörtert von Ott a. a. O. S. 57 ff. Vergl. auch: Leonhard. Die Einschränkung des Rechtsmittelzuges im österr. Zivilprozesse. Zeitschrift für Notariat und freiwillige Gerichtsbarkeit in Österreich. 1912 S. 13 ff.
  6. Weitere Ausführungen über das Difformitätsprinzip s. in Schulz, Der Kampf S. 33 ff.
  7. Hagens. Die Entlastung des Reichsgerichts, D. Jur. Zeit. 1909 S. 1110 ff. Krantz a. a. O. S. 33 ff.
  8. Peters a. a. O. S. 112 ff. Übrigens stellt die 1910 erfolgte Erhöhung der Gerichts- und Anwaltskosten bereite eine ganz gehörige Sukkumbenzstrafe dar.
  9. Hagens a. a. O. ; Hellwig, Die Notlage des Reichsgerichts. Jurist. Wochenschr. 1910 S. 308, Neumann daselbst S. 315.
  10. Hartmann in D. Jur. Zeit. 1909 S. 1407 und 1910 S. 279.
  11. Bekker, Grundbegriffe des Rechts. Berlin 1910. S. 310.
  12. Zeiler, Ein Gerichtshof für bindende Gesetzesauslegung. München 1911. Dagegen Silberschmidt, Die deutsche Rechtseinheit. Berlin 1911 S. 39 ff.
  13. Schmidt, Lehrbuch des Zivilprozessrechts. 2. Aufl. S. 797.
  14. Junck in einer im Reichstag am 14. April 1910 gehaltenen Rede. Stenographische Berichte S. 2359 D. Junck behauptet, die Partei werde es nicht verstehen, dass ihr die Revision versagt sei, weil die Entscheidung ihres Prozesses nicht zur Erhaltung der Rechtseinheit nötig sei. Zugegeben. Nur wird die Partei es ebenso wenig verstehen, wenn der Rechtsanwalt die Einlegung der Revision verweigert, weil das Urteil 2. Instanz auf tatsächlicher Erwägung beruht oder die Beschwerdesumme nur 3000 Mk. beträgt. Das Privatinteresse lehnt sich gegen jede Beschränkung der Revision auf. Das Reichsgericht ist nicht geschaffen, um den „Rechtsanspruch des Deutschen Bürgers zu sichern“. Das ist die Aufgabe der ersten und zweiten Instanz.
  15. Gänzlichen Ausschluss des Privatinteresses bei der Revision erstreben die Ausführungen von Wildhagen bereits in D. Jur. Zeit. 1908 S. 924. Der Gedanke ist weiter verfolgt in Wildhagen, Der bürgerliche Rechtsstreit. Berlin, 1912. In dieser sehr beachtenswerten und eindrucksvollen Schrift werden die zweifellosen Missstände in der Revisionsinstanz auf die bestehende Verknüpfung des privaten mit dem öffentlichen Interesse zurückgeführt und deshalb die dritte Instanz ausschliesslich für das öffentliche Interesse der Erhaltung und Förderung der Rechtseinheit gefordert. Es sind auch Vorschläge gemacht, wie die Gerichte der ersten und zweiten Instanz zu organisieren und wie das Verfahren zu ordnen ist, damit zwei Instanzen dem privaten Interesse der Rechtsuchenden ausreichend genügen.
  16. Hagen s. a. a. O. will auch, wenn das Berufungsurteil an Mängeln leidet, die dessen Aufhebung und zugleich die weitere Entscheidung in einem bestimmten Sinne unbedenklich gebieten, namens des Senats endgültige Entscheidung durch zwei Mitglieder desselben nach Gehör des Revisionsgegners ergehen lassen.